Focus, Vitznau: Neue Schweizer Küche

Focus, Vitznau: Neue Schweizer Küche
11.06.2015
Das Restaurant: Treue Leser wissen, in den kleinen Kreis meiner Lieblingsrestaurants gehört das
«Focus» im Parkhotel Vitznau. Ein Lieblingsrestaurant wird dazu aus meist zwei Gründen: Geschmack und Persönlichkeit. Ich mag die Geschmackswelt, die charakteristisch für den jungen,
hochtalentierten Küchenchef Nenad Mlinarevic ist. Mir ist aber auch der Koch selbst sympathisch,
der mit viel Hingabe, Einsatz und nicht zuletzt mit Humor seiner Arbeit nachgeht.
Mlinarevics neuester Coup, sorgfältig gereift im Laufe des letzten Jahres ist ein Küchenkonzept, das
ausschliesslich auf Schweizer Produkten beruht. Nun ist die kleine Mannschaft im «Focus» natürlich nicht die erste, die auf Haute Cuisine mit Lokalkolorit setzt. Aber – mit Ausnahme vielleicht
von Stefan Wiesner im Entlebuch – hatte noch kein Schweizer Koch auf diesem Niveau (2 Sterne,
17 Punkte) den Mut, ganz auf Meerfisch, Foie Gras oder Périgordtrüffel zu verzichten.
Das Essen: Konzepte sind aber in einem Restaurant immer nur so gut, bis das erste mittelmässige Gericht kommt. Das, soviel vorneweg, kommt in dem Menü, das ich vor einigen Wochen am
Vierwaldstättersee gegessen habe nicht vor. Meinen Platz hatte ich am Chef‘s Table in der Küche
reserviert, wo man zu elektronischer Musik Mlinarevic und seinem Team dabei zusehen kann, wie
es mit der perfekten Mischung aus Konzentration und Lockerheit seine neue Schweizer Küche auf
die Teller bringt.
Zu Beginn gibt es sieben kleine Snacks wie ein geräuchertes Felchenmousse mit Eigelb und Leindotter, dann das gebeizte Felchenfilet mit Felchenrogen, Sauerrahm und Knäckebrot. Zum grossartigen Sauerteigbrot der Bäckerei Eigenbrötler in Wauwil wird eine Art Brotzeit aufgetragen, Butterschmalz mit Röstzwiebeln sowie eine Butter mit Rinderschmalz. Zu den gehaltvollen Aufstrichen
sind die gepickelten Gemüsekugeln eine passende Ergänzung. Schliesslich esse ich einen fleischigfesten Beef Jerky aus eigener Trocknung.
Den Auftakt ins Menü macht ein handgeschnittenes Tatar, das sinnvollerweise aus dem gehaltvolleren Nierstück statt dem oft etwas ausdrucksarmen Filet gewonnen wurde. Darauf liegt eine Scheibe
Kräutergelee, darauf wiederum Kräutergel und Selleriecreme, frische wilde Kräuter, ein Kräuteröl,
eine Kalbskopfvinaigrette und schliesslich gepuffter Buchweizen, der die verschiedenen weichen,
cremigen Texturen um einen Knuspermoment ergänzt. Ein frisches, ätherisches Gericht mit feiner
Säure und viel Geschmack auf kleinstem Raum.
Eine butterzarte, minimal gegarte Weissforelle aus der Brüggli-Zucht in Sattel wird nun mit frischem, knackigen Apfel und Rettich serviert. Gefrorene Senfpearls aus einem waadländer Baumnusssenf geben ihre nussige, leicht scharfe Note am Gaumen schrittweise frei und schliesslich ergänzt eine mit Whiskyfässerchips zart aromatisierte Apfelvinaigrette die Komination um ein höchst
spannungsreiches Bouquet aus Frucht-, Säure- und Rauchnoten. Am Ende bleibt der Eindruck von
geschmacklicher Harmonie und einer leichten aromatischen Spannung.
Aus der selben Zucht kommt nun eine feine Lachsforelle aus Sattel, die gebeizt und dann heiss
geräuchert wurde. Bloss mit etwas Sauerrahm, Forellenrogen, Meerrettich und einer Dillvinaigrette
resultiert daraus eine kräftige, vielschichtige Kombination. Sie wird ergänzt durch leicht knusprige
Maluns aus Bergkartoffeln, die sich harmonisierend ins Gesamtbild einfügen.
Der dritte Fisch ist ein zarter saftiger Zander. Daneben liegen gefaltete Randenscheiben mit einer
Füllung aus Rotweinschalotten. Die süsse Kraft der Schalotten und das säuerliche, erdige Aroma
der Randen geben schon eine sinnvolle Kombination ab. Eine Schnittlauchvinaigrette mit Rindermark erweitert dann nochmals die Dimensionen um eine frühlingshafte Frische und gleichzeitig um
ein kräftiges, fettiges, geschmacksverstärkendes Element.
Das erste Fleischgericht besteht aus zweierlei Zubereitungen vom Stubenküken. Brust und Schenkel
werden separat zubereitet, beide sind zart und aromatisch. Der Schenkel ist von einer Art knuspriger
Panade aus Sonnenblumenkernen und Hühnerhaut umgeben, während die Brust leicht arosiert wurde. Eine Sonnenblumencreme sorgt für eine schön eingebundener Säure und Nussigkeit, während
ein Shitakepüree und ein Geflügeljus die Umami-Note einbringen. Aus relativ einfachen Zutaten ist
damit ein vollmundiges, charaktervolles Gericht geworden.
Während der Schweinebauch in den guten Restaurants rauf- und runterdekliniert wurde, ist der
Lammbauch bisher nicht zu solchen Ehren gekommen. Schade eigentlich, denn er vereint die
Vorzüge des Schweinebauchs (zartes Fleisch mit knuspriger Haut) mit dem typischen Lammgeschmack. Das kräftige Fleisch verträgt kräftige Begleiter an der Seite: ein Auberginenpüree, Artischockenherzen und schliesslich die herbe, frische Knoblauchnote einer Bärlauchsauce.
Nenad Mlinarevic hat nicht nur ein sehr klares Konzept, er hat in den letzten Jahren auch seinen
Stil geschärft und zu einem reifen Purismus zugespitzt. Davon zeugt der nächste, wohltuend übersichtliche Teller, auf dem ein leicht glasiertes Rinderfilet liegt, dazu Erbsenpüree, frische Erbsen,
in Himbeeressig eingelegte Zwiebeln und etwas Püree schliesslich von karamellisierten Schalotten.
Das bringt Süsse und Säure, frische und dunkle Aromen. Ein leicht verständlicher Hauptgang, der
aber bis ins Detail auf den Punkt gekocht ist.
Der Käsegang wird sozusagen als kuratierte Auswahl von Star-Käser Willi Schmid serviert. Drei
Sorten (Mühlistein, Reblochon und der berühmte Jersey Blue), dazu aus «Focus»-Produktion ein
Zwiebelkompott, Löwenzahnhonig und Biberli.
Als säuerliche, kühle Erfrischung dient nun cremige, gestockte Hafermilch mit Quittenmelasse und
Quitten-Kombucha-Granité. Das schmeckt ungewohnt, aber überraschend grossartig, säuerlich,
nussig und fruchtig.
In den Desserts pflegt Mlinarevic eine sehr gradlinige, eigene Handschrift, die sich von den Werken
der meisten Patissiers deutlich abhebt. Hier etwa mit Apfelscheiben, Apfelkompott, Malzkeks und
Milcheis. Das ist schlicht, präzise, fruchtig und leicht und wird besonders durch die leicht bittere
Malznote.
Grandios ist zum Schluss das Weizengrassorbet mit einem Ziegenfrischkäsespoom, Aniscrumble,
Weizengrassud und Rapsöl vom Haldihof. Das ist vielleicht kein Dessert im klassischen Sinn, aber
wer es gegessen hat, will es wieder haben. Kurz: Diese besondere Süssspeise hat das Zeug zum
Klassiker, zum «Signature Dish», wie man sagt.
Klein, aber sehr fein – dies gilt abschliessend für die Petit Fours: Tannengelee, Salzkaramell,
Schlorzifladen und ein Schokoladetaler mit Granola.
Fazit: Keine Frage – über die Frage, ob es eine hervorragende Gourmetküche aus streng regionalen
Zutaten im Binnenland Schweiz geben kann, kann man gut und gerne diskutieren. Es gibt in Vitznau zum Beispiel vielleicht keinen Steinbutt, keine Muscheln und Krebstiere, aber hervorragenden
Süsswasserfisch, ausgezeichnetes Fleisch, Gemüse, Obst oder Milchprodukte, die zu den besten der
Welt gehören. Nenad Mlinarevic hat obige Frage allerdings schon klar beantwortet. Nach einem
«Focus»-Menü hat man sicher nicht das Gefühl, etwas verpasst zu haben. Im Gegenteil: Mit seiner
lässigen Perfektion, die für intensive Geschmacksmomente sorgt; mit Produkten schliesslich, die
einen Bezug haben zum Ort, an dem sie zubereitet werden, kann Mlinarevic eine Küche kultivieren,
die so eigenständig ist, dass sie als Wert an sich bestehen kann.
Die beliebte Formel «die besten Produkte perfekt zubereitet» bleibt trotzdem gültig, sie wird in vielen tollen Restaurants erfolgreich angewandt. Dass es andere, neue Erfolgsformeln für die Spitzenküche gibt, ist allerdings auch eine sehr gute Nachricht. Mlinarevics Weg verlangt Einsatz, Kreativität, kulinarische Intelligenz und eine gewisse Hingabe. Es gibt am Ende des Abends keinen Grund
daran zu zweifeln, dass der junge Mann diese Eigenschaften hat und aufbringen wird, um diesen
Weg entschlossen zu verfolgen.
Atmosphäre: Für einen romantischen Abend zu zweit, empfiehlt sich im «Focus» weiterhin die
Terrasse (bei entsprechenden Temperaturen) oder das kühle Eleganz ausstrahlende Restaurant. Wer
allein oder in einer fröhlichen Gruppe essen möchte, findet am «Chef‘s Table» in der Küche beste
kulinarische Unterhaltung. Der neue Restaurantleiter Marian Henss agiert mit sympathischer Ruhe
und Kompetenz, sein Service-Team kombiniert Professionalität mit angenehmer Lockerheit.
Preis: 4 Gänge Fr. 150.–, 6 Gänge 180.–, 8 Gänge 210.–, 9 Gänge 225.–;
Chef‘s Table Menü inkl. Champagner Fr. 295.–.
Bewertungen: 2 Michelin-Sterne, 17 Gault-Millau-Punkte u.a.