Wein Zu Tisch Achtung: Verführer Neue Schweizer Küche Von Peter Rüedi Im «Focus» in Vitznau serviert Nenad Mlinarevic nur noch Produkte aus der Schweiz – ein faszinierendes Experiment. Von David Schnapp D ass einer eine Vorliebe für schwierige Weine pflegt, macht ihn nicht notwendigerweise zum Snob. Ein Teil des Vergnügens am Wein kann durchaus die Entdeckerfreude sein, die Beobachtung, wie sich eine Flasche im Lauf des Zuspruchs verändert (und ich mich mit ihr): So ganz ist die Beobachtung eines Weins nicht von Selbstbeobachtung zu trennen und der Geschmack nicht vom Zustand der Anklangsnerven des Trinkers und von dessen flottierendem Geisteszustand und Gefühlshaushalt. Manche Weine geben ihrem Konsumenten Rätsel auf, und die zu lösen, ist nicht nur eine Herausforderung, sondern zuweilen auch ein grosser Spass, zumal es in diesem Bereich keine eindeutigen und endgültigen Lösungen gibt. Mit ein Grund, weshalb Wein ein so unerschöpfliches Gesprächsthema ist: De gustibus est disputandum, wie wir das Sprichwort in sein Gegenteil verkehren müssen; gerade weil die individuellen Geschmäcke so verschieden sind, rufen sie nach endlosem Gedankenaustausch. Dass ein und derselbe Wein im kleineren Freundeskreis durchgehend das gleiche Echo auslöste: Welch schrecklicher Gedanke! Dies voraus gesetzt, bekenne ich indes meine Freude an Weinen, die mich mit einer grossen Evidenz anspringen. Die muss beileibe nicht platt oder banal sein oder eine differenzierte Wahrnehmung ausschliessen. Ich meine etwa das offensichtliche und unzweifelhafte Vergnügen, das der erste Schluck eines gutgemachten Châteauneuf-du-Pape auslöst – mit oder ohne Speisen als Begleitung, denen er auch in den deftigsten Varianten mühelos gewachsen ist. Der Basiswein der Domaine Giraud, eine Cuvée aus 60 Prozent Grenache, 35 Prozent Syrah und einem Sprutz Mourvèdre (allesamt von siebzigjährigen Reben), ist von solcher Natur: eine explosive provenzalische Aromatik voll von reifer, dunkler Frucht, frischen Gewürze (u. a. Lavendel), frischem Tabak und mit etwas Leder, tief und laaang, und, bei aller (Frucht-)Süsse, happigem Alkohol sowie, in Abwesenheit von Holz, von grosser Frische. Nicht für die Ewigkeit gebaut. Aber wer diesem Verführer länger als fünf Jahre widersteht, ist ohnehin ein Masochist. Domaine Giraud: Châteauneuf-du-Pape Tradition 2012. 15 %. Denz Weine. Fr. 42.–. www.denzweine.ch 72 Hohe kulinarische Intelligenz: Küchenchef Mlinarevic (2. v. r.), «Park Hotel Vitznau». I n Kopenhagen, auf den Färöer, in Peru: Seit einiger Zeit wird die hochstehende, konsequent auf regionalen Produkten basierende Küche als Megatrend ausgerufen. Letzte Woche fand in Zürich das Kochsymposium «Chef Alps» statt – Hauptthema: regionale Küche. In der Schweiz haben die Autoren Dominik Flammer («Das kulinarische Erbe der Alpen») oder Paul Imhof («Das kulinarische Erbe der Schweiz») aufgezeigt, wie reich das Land an fantastischen Küchenrohstoffen ist. Auch die Köche haben das längst gemerkt. Von der Milch aus Zürich bis zum Wild aus eigener Jagd: Auf dem Menü der meisten gehobenen Restaurants stehen Schweizer Produkte. Aber kaum einer, der Spitzenbewertungen in den wichtigsten Restaurantführern erhält, hat sich bisher getraut, ausschliesslich hiesige Produkte zu verwenden. Ausnahmen: Stefan Wiesner, «der Hexer aus dem Entlebuch», und Nenad Mlinarevic, einer der talentiertesten jungen Spitzenköche im Land. Seit kurzem verzichtet der Küchenchef des «Focus» im «Park Hotel Vitznau» auf Meeresprodukte und ersetzt sie mit Forellen aus der Brüggli-Zucht in Sattel und mit Kreativität. Denn leicht geht die selbstgewählte Einschränkung nicht, sie verlangt Fantasie, die es nicht zwingend braucht, wenn man beim Fischhändler eine bretonische Seezunge bestellt. Wobei hier nichts gegen bretonische Seezungen gesagt werden soll. Mlinarevics Gerichte zeugen von hoher kulinarischer Intelligenz, sie sind aufs Wesentliche reduziert und sorgfältig um ein Hauptprodukt aufgebaut: zum Beispiel um das Tatar vom Kalbsnierstück (aus Hüttlingen). Es wird von einer gelierten Scheibe eines Kräuterkonzentrats bedeckt, darauf Tupfen von Kräuterund Selleriepüree, frische, wilde Kräuter, die ein Koch vor der Arbeit noch auf der Wiese gepflückt hat, und schliesslich eine Vinaigrette mit Kalbskopf und -zunge sowie Kräuteröl. Das schmeckt frisch und fleischig, feinsäuerlich und ätherisch-grün. Es gibt sodann geräucherte Bergkartoffel aus dem Albulatal mit in Nussbutter cremig gestocktem Eigelb, sous vide gegartem Kohl und Bärlauchöl. Und – ein grossartiges Dessert – Rhabarber aus dem Wistenlach als Gelee, Granité, Eis, Kompott, dazu Holunder und abgeflämmte süsse, weiche Meringues. Ich schliesse nicht aus, dass man es anders sehen kann; aber nach zehn Gerichten dieser neuen Schweizer Küche ist schwer einzusehen, warum man in Zukunft noch auf den Vierwaldstättersee blicken soll, während man Jakobsmuscheln aus Norwegen isst. Restaurant Focus im Park Hotel Vitznau Seestrasse 18, 6354 Vitznau, Tel. 041 399 60 60 Dienstags bis samstags, nur abends. Ausführliche Besprechung des Menüs auf www.dasfilet.ch Weltwoche Nr. 25.15 Bilder: David Schnapp – unterstützt von Nikon Schweiz AG; Illustration: Bianca Litscher (www.sukibamboo.com)
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