Einleitung - STARK Verlag

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Einleitung
Statt einer geordneten Erzählung baut sich vor den Lesern
bereits mit dem ersten Satz der Novelle ein wild kreisendes
Gedankenkarussell auf, das in oft allzu großer Geschwindigkeit von einer nervösen Person in Uniform bewegt wird, deren
Biografie und deren Lebenswelt uns fremd und unzugänglich
erscheinen.
Mit Lieutenant Gustl hat Arthur Schnitzler einen ganz und gar
unkonventionellen Prosatext vorgelegt, ein Formexperiment
mit einem dreisten Plot, der schon bei seinem Erscheinen als
Skandalgeschichte für großes Aufsehen sorgte. Die konservative Presse erging sich kurz nach der Veröffentlichung in antisemitischen Beschimpfungen an die Adresse des jüdischen
Autors, das Militär verlangte ein Publikationsverbot und der
Verfasser wurde als Reserveoffizier vor den Ehrenrat zitiert und
bekam eine Menge Ärger. Allein die literarisch aufgeklärten und
interessierten Leser wussten seine Arbeit zu schätzen und so trat
der Lieutenant Gustl einen auflagenstarken Siegeszug an, der ihn
bis heute zu einem Referenztext über das Leiden des Einzelnen
an den gesellschaftlichen Zuständen im Wien der Jahrhundertwende macht.
Der Protagonist ist ein ganz und gar unbedeutender, ungebildeter Antiheld, eigentlich ein Underdog, der sich auf gesellschaftlichem Parkett unbeholfen bewegt und immer nur neidvoll zu denen aufblickt, die schneller aufgestiegen sind und
denen es finanziell besser geht, eine Figur also, zu der der Leser
von den ersten Zeilen an auf kühle Distanz geht: Statt Mitleid
oder Bedauern angesichts seines drohenden Todes stellt sich nur
ein Kopfschütteln über Gustl ein, denn allzu oberflächlich und
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substanzlos ist der stolpernde, kreisende innere Monolog, der
sich immer wieder um die gleichen Themen dreht und zu keiner
Lösung kommt. Niemand fühlt sich zur Krisenintervention oder
zur Wiederbelebung aufgefordert, wenn uns Gustl in seinen
Abgrund von Lebensleere und Perspektivlosigkeit blicken
lässt. Am Ende bewahrt ihn ein Zufall vor dem Tod und er steht
ebenso dummdreist und aggressiv da wie zu Beginn der Novelle.
Von gelingender Genesung kann man also nicht sprechen, denn
Lieutenant Gustl wird auch weiterhin nervös und zugleich gelangweilt durch den Alltag taumeln, Sozialneid und Vorurteile
mit sich herumtragen, Spielschulden machen und von Geldsorgen geplagt werden, kleine erotische Abenteuer und Affären
haben, aber ansonsten keinerlei Erfüllung im Leben finden.
Das alles wäre recht belanglos, historisch längst überholt und
als Schullektüre ungeeignet, wenn es hier nur um ein Einzelschicksal ginge. In der Persönlichkeit des Lieutenant Gustl spiegelt sich jedoch ein ganzer gesellschaftlicher Kosmos: So wird
Schnitzlers Novelle von vielen Interpreten weniger als Psychogramm eines Individuums, sondern vielmehr als präzise
literarische Zeichnung eines Sozialcharakters verstanden,
wobei mit dem Lieutenant der typische Repräsentant einer untergehenden gesellschaftlichen Epoche skizziert wird. Als Typus
repräsentiert Gustl den Ennui seiner Zeit, das Gefühl existenziellen Stillstandes und der Langeweile, wie es im Fin de siècle
als Lebensüberdruss und nervöse Ungeduld empfunden wurde.
Zudem zeigt er Züge des autoritären Charakters, der Jahre
und Jahrzehnte später den Militarismus und den Faschismus des
20. Jahrhunderts entstehen und fördern half: Die fatale Mischung aus Gehorsamsbereitschaft, unkritischer und bedingungsloser Identifikation mit gesellschaftlichen Mächten und
aggressiven Impulsen gegenüber vermeintlich Schwächeren
wird in Gustls Handeln, Fühlen und Denken deutlich. Schließlich weist er auch Züge eines modernen Menschen auf, des-