Leseprobe aus: Tahar Ben Jelloun Die Schule der Armen © 2004 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg Schule d. Armen fertigo.R. 01.07.2002 16:21 Uhr Seite 10 Als ich klein war, schlief und träumte ich viel. Das war schöner, als im Staub hinter den räudigen Hunden herzulaufen. Meine Träume waren erfüllt von Farben und von Musik. Ich sah das Licht in den Bäumen und auf den Gesichtern der anderen Kinder. Ich erfand Geschichten, vermengte sie, kreuzte sie mit meinem unbedeutenden Leben. Ich sah, wie sie sich am Himmel einschrieben und konnte doch nicht lesen. Eines Tages fragte ich meinen Großvater: «Was wird aus den Träumen der Menschen, wenn sie nicht mehr da sind?» «Sie sind im Himmel, verborgen hinter einem riesengroßen weißen Vorhang. Wenn sie traurig sind, verwandeln sie sich in Tränen und fallen wie bittere Tropfen herab. Man nennt das den ‹Totenregen›. Es ist ein sehr wohltuender Regen für die Erde.» Bei uns heißt es, der große Himmel sei ein Buch, mit den Sternen als Worte, und die Milchstraße ein Strom, in dem alle Musik der Welt fließt. Es heißt auch, der Himmel sei der Friedhof 10 Schule d. Armen fertigo.R. 01.07.2002 16:21 Uhr Seite 11 Schule d. Armen fertigo.R. 01.07.2002 16:21 Uhr Seite 12 der Engel, der früh an Krankheit verstorbenen Kinder. Der Himmel hole diese Kinder zu sich, damit sie die Sterne beaufsichtigen, die nicht an ihrem Platz bleiben wollen, sondern in andere Galaxien wandern möchten. In meinen Träumen sah ich manchmal meinen Freund Momo vor mir, Schule d. Armen fertigo.R. 01.07.2002 16:22 Uhr Seite 13 der urplötzlich hohes Fieber bekommen hatte und gestorben war. Ich weiß, dass es ihm gut geht, auch wenn er sich da oben langweilt. Es heißt, der große Himmel sei das Weltenmeer, eine endlose, klare, windstille Wasserfläche, der Spiegel aller Ozeane. Ich stellte mir vor, dass dieses Meer Augen hätte, und entdeckte sie über meinem Kopf. Bei uns im Dorf wird so viel über den Himmel erzählt, dass er sich schließlich über uns lustig macht. Wie das? Er entleert seine fruchtbaren Regenwolken über der Stadt und vergisst unsere Felder. Er schneidet den Menschen, die auf seine Gnade hoffen, eine Grimasse. Er ist zu groß, um ihre Gebete zu erhören. Manchmal wandte ich mich an ihn. Ich redete sanft auf ihn ein, als vertraute ich ihm meine Geheimnisse an. Er antwortete nicht. Ich hörte keine Stimmen, doch ich wusste ja, dass der Himmel nicht spricht. Der Himmel mag die Armen nicht. Niemand mag sie. Das hat mir Großvater 13 Schule d. Armen fertigo.R. 01.07.2002 16:22 Uhr Seite 14 einmal gesagt. Er hatte nachgedacht, bevor er mir diese Wahrheit anvertraute. Es ist ungerecht und grausam. Was bedeutet es, arm zu sein? Da braucht man sich nichts Besonderes vorzustellen. Es reicht, uns anzusehen, unsere Gesichtsausdrücke, unsere lichtlosen Augen, unsere nackten Füße und unsere staubigen Hände. Arm zu sein in Afrika, das ist normal, alltäglich, das überrascht niemanden. Wir haben uns daran gewöhnt, auf alles zu verzichten, ohne dabei wütend zu werden. In unserem Dorf heißt arm sein, morgens aufzuwachen und sich zu fragen, ob der Tag vergehen wird, ohne dass die Kinder vor Hunger schreien. Arm sein bedeutet, in den Augen einer Mutter den Ruf nach Erlösung zu sehen, wenn das Fieber ihres Kindes steigt und sein Zustand sich verschlimmert. Es bedeutet, die Lust am Leben zu verlieren, weil uns das Leben vergessen hat. Wie Gott, wie der Himmel. Wir sind von den Menschen und vom Himmel vergessen. Wir sind arm, das heißt, wir haben kein Glück. Oder besser gesagt, wir haben nichts, nicht 14 Schule d. Armen fertigo.R. 01.07.2002 16:22 Uhr Seite 15 einmal genug Bohnen, um die Trockenzeit zu überstehen. Wir haben nur unsere Hände, unsere Arme und unsere großen Augen, die den Horizont betrachten. Hier hat jeder seine Augen auf den Horizont geheftet. Wir glauben, dass von dort der Retter kommen wird. Neue Propheten sollen dort auftauchen. Aber wer könnte uns von der Hungersnot befreien, die doch eine Erfindung der Menschen ist? Eine Himmelskarawane, die dem 15 Schule d. Armen fertigo.R. 01.07.2002 16:22 Uhr Seite 16 Schule d. Armen fertigo.R. 01.07.2002 16:22 Uhr Seite 17 ganzen Dorf Nahrungsmittel bringt? Ein Magier auf einem Schimmel mit einem Zauberstab, der die Erde fruchtbar und die Männer arbeitsamer macht? Ein Raubvogel, der seine Raubzüge aufgibt und die Wolken zusammenschiebt, damit es regnet? Ein Prophet mit hellen Augen und goldenem Haar, der von dem Guten und Bösen, von Paradies und Hölle erzählt und all denen das Ende des Elends verspricht, die seinen Befehlen folgen? Nein, der Retter wird nicht in Gestalt eines Propheten oder Magiers erscheinen. Wir werden nur gerettet, wenn sich alle im Dorf zusammenschließen, gemeinsam den Boden bearbeiten, ihre Rechte einfordern und verhindern, dass sich die Hungersnot bei uns niederlässt. Denn wir müssen hungern, weil andere Menschen – Diebe und Plünderer, Lügner und Mörder – das Land und das Wasser an sich gerissen haben. Diese Menschen lieben Uniformen und Militärparaden. Sie sprechen mit Waffen, schlagen sich die Bäuche mit anderer Leute Essen voll und schlafen danach gut. 17 Schule d. Armen fertigo.R. 01.07.2002 16:22 Uhr Seite 18 Die Schule ist in der Moschee. Genauer gesagt benutzen wir die Moschee als Schule. Man zieht die Schuhe aus, bevor man hineingeht. Doch hier haben die meisten Kinder keine Schuhe. Sie haben schmutzige staubbedeckte Füße. Die Erde ist trocken. Die Mauern sind rot. Pilger haben dort nach der Rückkehr aus Mekka, der Geburtsstadt des Islam, ein Flugzeug oder ein Schiff aufgemalt. Jemand hat ein Dromedar gezeichnet. Vor sehr langer Zeit brach man auf Kamelen nach Mekka 18 Schule d. Armen fertigo.R. 01.07.2002 16:22 Uhr Seite 19 und Medina auf. Die Pilgerfahrt dauerte Monate. Eine solche Reise musste man sich erst verdienen. Ein guter Moslem sucht nicht den leichtesten Weg, um an die heiligen Stätten des Islam zu gelangen. Heutzutage reist man in erster Linie mit dem Flugzeug dorthin. Und das, obwohl die Leute aus dem Dorf jede Menge Zeit haben. Sie müssten sich nicht hetzen, um in Mekka und Medina anzukommen. Die Zeit ist das Einzige, an dem es hier nicht fehlt. Nicht wie Wasser oder Getreide, das beides Mangelware ist. Nach der Rückkehr darf man den Ehrentitel «Hadsch» tragen; damit weist man sich als Pilger aus, der in Mekka war und in Medina das Grab des Propheten Mohammed besucht hat. 19
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