Schule d. Armen fertigo.R.

Leseprobe aus:
Tahar Ben Jelloun
Die Schule der Armen
© 2004 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
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Als ich klein war, schlief und träumte ich viel.
Das war schöner, als im Staub hinter den räudigen
Hunden herzulaufen. Meine Träume waren erfüllt
von Farben und von Musik. Ich sah das Licht in
den Bäumen und auf den Gesichtern der anderen
Kinder. Ich erfand Geschichten, vermengte sie,
kreuzte sie mit meinem unbedeutenden Leben.
Ich sah, wie sie sich am Himmel einschrieben und
konnte doch nicht lesen.
Eines Tages fragte ich meinen Großvater:
«Was wird aus den Träumen der Menschen,
wenn sie nicht mehr da sind?»
«Sie sind im Himmel, verborgen hinter einem
riesengroßen weißen Vorhang. Wenn sie traurig
sind, verwandeln sie sich in Tränen und fallen wie
bittere Tropfen herab. Man nennt das den ‹Totenregen›. Es ist ein sehr wohltuender Regen für die
Erde.»
Bei uns heißt es, der große Himmel sei ein
Buch, mit den Sternen als Worte, und die Milchstraße ein Strom, in dem alle Musik der Welt
fließt. Es heißt auch, der Himmel sei der Friedhof
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der Engel, der früh an Krankheit verstorbenen
Kinder. Der Himmel hole diese Kinder zu sich,
damit sie die Sterne beaufsichtigen, die nicht an
ihrem Platz bleiben wollen, sondern in andere
Galaxien wandern möchten. In meinen Träumen
sah ich manchmal meinen Freund Momo vor mir,
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der urplötzlich hohes Fieber bekommen hatte und
gestorben war. Ich weiß, dass es ihm gut geht,
auch wenn er sich da oben langweilt. Es heißt, der
große Himmel sei das Weltenmeer, eine endlose,
klare, windstille Wasserfläche, der Spiegel aller
Ozeane. Ich stellte mir vor, dass dieses Meer
Augen hätte, und entdeckte sie über meinem
Kopf. Bei uns im Dorf wird so viel über den
Himmel erzählt, dass er sich schließlich über uns
lustig macht. Wie das? Er entleert seine fruchtbaren Regenwolken über der Stadt und vergisst
unsere Felder. Er schneidet den Menschen,
die auf seine Gnade hoffen, eine Grimasse.
Er ist zu groß, um ihre Gebete zu
erhören. Manchmal wandte ich mich an
ihn. Ich redete sanft auf ihn ein, als vertraute ich ihm meine Geheimnisse an.
Er antwortete nicht. Ich hörte keine
Stimmen, doch ich wusste ja, dass der
Himmel nicht spricht.
Der Himmel mag die Armen nicht.
Niemand mag sie. Das hat mir Großvater
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einmal gesagt. Er hatte nachgedacht, bevor er mir
diese Wahrheit anvertraute. Es ist ungerecht und
grausam. Was bedeutet es, arm zu sein? Da
braucht man sich nichts Besonderes vorzustellen.
Es reicht, uns anzusehen, unsere Gesichtsausdrücke, unsere lichtlosen Augen, unsere
nackten Füße und unsere staubigen Hände. Arm
zu sein in Afrika, das ist normal, alltäglich, das
überrascht niemanden. Wir haben uns daran
gewöhnt, auf alles zu verzichten, ohne dabei
wütend zu werden. In unserem Dorf heißt arm
sein, morgens aufzuwachen und sich zu fragen, ob
der Tag vergehen wird, ohne dass die Kinder vor
Hunger schreien. Arm sein bedeutet, in den
Augen einer Mutter den Ruf nach Erlösung zu
sehen, wenn das Fieber ihres Kindes steigt und
sein Zustand sich verschlimmert. Es bedeutet, die
Lust am Leben zu verlieren, weil uns das Leben
vergessen hat. Wie Gott, wie der Himmel. Wir
sind von den Menschen und vom Himmel
vergessen. Wir sind arm, das heißt, wir haben kein
Glück. Oder besser gesagt, wir haben nichts, nicht
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einmal genug Bohnen, um die Trockenzeit zu
überstehen.
Wir haben nur unsere Hände, unsere Arme und
unsere großen Augen, die den Horizont betrachten. Hier hat jeder seine Augen auf den Horizont
geheftet. Wir glauben, dass von dort der Retter
kommen wird. Neue Propheten sollen dort auftauchen. Aber wer könnte uns von der Hungersnot befreien, die doch eine Erfindung der Menschen ist? Eine Himmelskarawane, die dem
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ganzen Dorf Nahrungsmittel bringt? Ein Magier
auf einem Schimmel mit einem Zauberstab, der
die Erde fruchtbar und die Männer arbeitsamer
macht? Ein Raubvogel, der seine Raubzüge aufgibt und die Wolken zusammenschiebt, damit es
regnet? Ein Prophet mit hellen Augen und goldenem Haar, der von dem Guten und Bösen, von
Paradies und Hölle erzählt und all denen das Ende
des Elends verspricht, die seinen Befehlen folgen?
Nein, der Retter wird nicht in Gestalt eines
Propheten oder Magiers erscheinen. Wir werden
nur gerettet, wenn sich alle im Dorf zusammenschließen, gemeinsam den Boden bearbeiten, ihre
Rechte einfordern und verhindern, dass sich die
Hungersnot bei uns niederlässt. Denn wir müssen
hungern, weil andere Menschen – Diebe und
Plünderer, Lügner und Mörder – das Land und das
Wasser an sich gerissen haben. Diese Menschen
lieben Uniformen und Militärparaden. Sie sprechen mit Waffen, schlagen sich die Bäuche mit
anderer Leute Essen voll und schlafen danach gut.
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Die Schule ist in der Moschee. Genauer gesagt
benutzen wir die Moschee als Schule. Man zieht
die Schuhe aus, bevor man hineingeht. Doch hier
haben die meisten Kinder keine Schuhe. Sie haben
schmutzige staubbedeckte Füße. Die Erde ist trocken. Die Mauern sind rot. Pilger haben dort nach
der Rückkehr aus Mekka, der Geburtsstadt des
Islam, ein Flugzeug oder ein Schiff aufgemalt. Jemand hat ein Dromedar gezeichnet. Vor sehr
langer Zeit brach man auf Kamelen nach Mekka
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und Medina auf. Die Pilgerfahrt dauerte Monate.
Eine solche Reise musste man sich erst verdienen.
Ein guter Moslem sucht nicht den leichtesten
Weg, um an die heiligen Stätten des Islam zu
gelangen. Heutzutage reist man in erster Linie
mit dem Flugzeug dorthin. Und das, obwohl die
Leute aus dem Dorf jede Menge Zeit haben. Sie
müssten sich nicht hetzen, um in Mekka und
Medina anzukommen. Die Zeit ist das Einzige,
an dem es hier nicht fehlt. Nicht wie Wasser oder
Getreide, das beides Mangelware ist. Nach der
Rückkehr darf man den Ehrentitel «Hadsch»
tragen; damit weist man sich als Pilger aus, der
in Mekka war und in Medina das Grab des
Propheten Mohammed besucht hat.
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