Predigt über Lukas 10, 25-37 Liebe Gemeinde! „Wussten sie schon

Predigt über Lukas 10, 25-37
Liebe Gemeinde!
„Wussten sie schon
dass die nähe eines menschen
gesund machen
krank machen
tot und lebendig machen kann ...
wussten sie schon
daß das wegbleiben eines menschen
sterben lassen kann
dass das kommen eines menschen
wieder leben lässt ...„
Fragen aus einem modernen Gedicht von Wilhelms Willms. Eindringlich weisen
sie darauf hin, dass die Nähe eines Menschen lebensentscheidend sein kann. Es
kommt ganz darauf an, ob man sich dessen bewusst ist. Und es kommt darauf
an, wie man sich verhält. Daran erinnert der heutige Predigttext:
Ein Schriftgelehrter wollte mit Jesus über den Sinn und das Ziel menschlichen
Lebens diskutieren: „Meister, was muss ich tun, damit ich das ewige Leben erwerbe?“ Eine elementare Lebensfrage, nicht von der Hand zu weisen. Irgendwann
stellt jeder diese Frage. Vielleicht würden wir sie anders formulieren. Wir meinen
aber das selbe, wenn wir fragen: Worauf kommt es an im Leben? Was ist wichtig?
Worauf muss ich achten, dass es gelingt und Bestand hat.
Wichtige Fragen. Werden wir uns daran halten?
Soweit wollte der Gelehrte mit seiner Frage gar nicht gehen. Auf die praktischen
Konsequenzen für die Lebensgestaltung kam es ihm weniger an. Er wollte mit
Jesus diskutieren. Er hatte ein fundamentales theologisches Problem ins Spiel
gebracht. Er wollte mit seiner Frage Jesus auf die Probe stellen. Wieweit kennt er
sich aus in grundlegenden Fragen der menschlichen Existenz? Er für seinen Teil
wusste, worauf man letztlich zu achten hat. Er wusste, was in der Bibel steht. Als
Jesus - anstatt direkt zu antworten - ihn fragte: “Was steht denn in der Bibel? Was
sagt das Gesetz?“ kam es wie am Schnürchen: „Gott, den Herrn, lieben... und den
Nächsten wie sich selbst.“ Das Gesetz und die Propheten kannte er auswendig.
Jesus will sich auf einen theoretischen Schlagabtausch nicht einlassen. Dafür sind
ihm beide Gebote zu wichtig. Es geht um den Sinn des Lebens, darum wie es
gelingen kann. Seine Antwort ist praktisch und lebensnah: „Dann tu das! Mach´
Ernst damit, dann wirst du leben.“
Der Gelehrte spürt, dass Jesus seine Absicht durchschaut hat. Er fühlt sich ertappt
und bloßgestellt. Er will sich dieser Antwort entziehen. Er versucht, sich herauszureden. Er fragt zurück: “Wer ist denn mein Nächster?“ Da erzählt ihm Jesus das
Gleichnis. Die Botschaft ist klar und eindeutig. Daran gibt es nichts herumzudeuteln. Jesus braucht die Frage des Gelehrten nur umzudrehen: „Welcher von
den dreien ist dem der Nächste geworden, der unter die Räuber fiel?“
Stellt man gutwilligen Konfirmanden diese Frage, pflegen sie schlicht und einfach
zu antworten: „Der Samariter!“ Der Gelehrte drückt sich umständlicher aus,
merkwürdig gestelzt: „Der die Barmherzigkeit an ihm tat.“ Das Wort „Samariter“
nimmt er nicht in den Mund.
Wer sich mit der Bibel auskennt, weiß warum: Der Samariter gehörte nicht seiner
Volksgruppe an, er war anderer Abstammung, er zählte nicht zur selben Glaubensgemeinschaft. Die Samariter hatten zwar auch eine Bibel, aber nicht die richtige.
Sie feierten zwar auch Gottesdienste, sangen aber die falschen Lieder. Sie beteten
zwar auch zu Gott, aber nicht im Tempel zu Jerusalem.
Jesus stört sich nicht daran. Er stellt den Samariter als Vorbild hin: Dieser kam, sah
– und ging nicht vorüber, es „jammerte ihn sein.“
Abstammung, Herkunft und Stand besagen wenig, sagt Jesus. Auch Bibel, Gesangbuch und Glaube nicht: ob einer entsprechend seiner Überzeugung handelt, das ist entscheidend. Die fundamentalen Fragen des Glaubens: Wie gewinne ich
das ewige Leben? Wie erlange ich das Heil? lassen sich nicht theoretisch beantworten. Auf das schlichte Tun kommt es an. Da bedarf es nicht der skeptischen
Fragen: “Wo denn? Wie denn? Ich würde gerne helfen, wenn ich nur wüsste
wem?“ Glaubst du, dass die Liebe zu Gott und die Liebe zum Nächsten zusammen
gehören, sagt Jesus, dann hör auf zu fragen: „ Wer ist denn mein Nächster?“
Frage: „Wem bin ich der Nächste?“ Und wenn er dich braucht, dann halte dich
an ihn. Werden wir es tun?
Skinheads – so war in der „Zeit“ zu lesen - hatten einen 25 jährigen Ghanaer aus
einem fahrenden Zug geworfen. Man fand ihn am nächsten Morgen mit Schädelbruch, Stichwunden und zertrümmerten Bein. Es musste amputiert werden. Ein
Ehepaar, das von der Tat in der Zeitung gelesen hatte, besuchte ihn im Krankenhaus. Nach der Entlassung des Afrikaners nahm es ihn bei sich auf. Eins der vier
Zimmer in der 69 Quadratmeterwohnung bewohnt nun der Mann aus Afrika. Die
anderen 3 Zimmer müssen sich die Eltern mit ihren zwei Kindern teilen. Sie wurden, kaum dass der Afrikaner bei ihnen wohnte, von Nachbarn beschimpft und
angefeindet. Sie mussten sich Drohungen anhören, dass es ihnen auch bald so
ergehen würde wie dem „Nigger“.
Wenig später wurde der Afrikaner abermals im Zug von Skinheads angegriffen.
Die anderen Fahrgäste sahen zur Seite und kümmerten sich nicht darum. Da er
wegen seines amputierten Beines nicht weglaufen konnte, versuchte er die Angreifer mit einer Gaspistole in Schach zu halten. Es hätte ihm nicht geholfen,
wenn ihn nicht die Schaffnerin und der Lokführer schließlich befreit hätten. Seither
kann der Mann aus Ghana nicht mehr schlafen. Er weint viel, braucht Beruhigungsmittel und läuft nachts in der Wohnung herum. Die Familie hält zu ihm.“ Wir sind
keine Helden“, sagen die Eltern, „wir verhalten uns ganz normal.“
Darüber ließe sich sicher streiten. Darüber, dass wir alle keine Helden sind, ganz
bestimmt nicht. Wie würden wir uns verhalten in einer solchen Situation?
“Wie ich auf Ehrenwort versichern kann, bin ich mein Lebtag noch nie eines Weges
gekommen, wo ein halbtoter Mensch lag, den Räuber überfallen hatten; überhaupt sind Räuber bei uns eine Seltenheit“, formulierte voller Selbstironie der
dänische Philosoph und Theologe S. Kierkegaard. „Wenn ich einen, blutend und
halbtod, an der Straße liegen sehen würde, ich würde hingehen!“ Wortwörtlich
passiert es nur selten. Wie heißt es im Gleichnis? Drei kamen des Weges; zwei
gingen vorüber…Das ist noch eine sehr gute Durchschnittszahl. Die Statistik
unterlassener Hilfeleistung oder – noch schlimmer – von Fahrerflucht - hört sich
oft anders an.
„Also ich finde: Der arme Kerl hat ausgesprochen Schwein gehabt: schon der
dritte, der vorbeikam, half.
Als ich neulich eine Panne hatte,
hielt erst der siebenundzwanzigste.
Na ja, so ändern sich die Zeiten.“
(Lothar Zenetti, Andere Zeiten)
Der Priester hatte seine Gründe, vorüberzugehen. Er musste zum Dienst. Da durfte
er sich nicht mit Halbtoten einlassen. Das war tabu: „Es tut mit leid. Ich würd´
schon gern helfen. Der Beruf lässt es nicht zu. Ich muss leider weiter.“ Wie der
Priester der Levit. Er muss das Opfer bereiten. Er würde unrein, nähme er sich
des Blutenden an: „Es tut mit leid. Ich kann nichts tun. Vielleicht ein andermal,
jetzt geht es nicht.“
Kaum zu glauben. Wie miserabel sie klingen, die guten Gründe. Hören sich unsere
Ausreden besser an?
„Ja, wenn ich wüsste, dass meine Spende auch in die richtigen Hände kommt.
Ich gäbe schon. Aber wer garantiert mit das? Bei den wirklich Bedürftigen kommt
es doch nicht an. Arme und Reiche hat es immer gegeben. Die Gelder werden
eben falsch verteilt. Das ist ein politisches Problem. Ich kann nicht allen Leuten
helfen, mir schenkt auch keiner was. Ich hab das Meinige getan. Mehr kann ich
nicht tun.“ Wie gern man doch sich selbst betrügt.
Die Geschichte vom barmherzigen Samariter findet bei allen Christen begeisterte
Zustimmung, solange es ein Gleichnis bleibt. Aber geht´s an die praktische Anwendung, womöglich ums liebe Geld, rührt man an Besitzstände, an Einkommen
und Steuern, fordert man gerechte Verteilung der Lasten - zwischen Armen und
Reichen, Jungen und Alten, Gesunden und Kranken, Sozialhilfeempfängern und
arbeitender Bevölkerung, Nord und Süd, erster und dritter Welt - schon ist es
aus mit aller Glaubenseinigkeit. „Lass die Politik aus dem Spiel!“ heißt es dann:
„Mit Politik hat der Glaube nichts zu tun!“ Wirklich nicht? Da kann man durchaus anderer Meinung sein.
Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter ist das beste Beispiel. Diakonie – der
Dienst am bedürftigen Nächsten - hat es immer mit Politik zu tun: sei es, in dem
wir den ewigen Zweiflern und Skeptikern entgegentreten, die aller Welt einreden
wollen, man könne eh nichts tun; sei es, in dem wir für ein diakoniefreundliches
Bewusstsein in der Bevölkerung werben; sei es, in dem wir für notwendige Veränderungen in Politik und Gesellschaft eintreten, damit unser Sozialsystem nicht
eines Tages zusammenbricht.
Nicht Barmherzigkeit und Mitleid mit dem Armen richtet unsere Wirtschaft und
unseren Sozialstaat zugrunde, sondern die Habgier derer, die Sozialsysteme
plündern und nicht bereit sind, ihren Beitrag für ein intaktes Zusammenleben
zu leisten, in dem sie Steuern hinterziehen, Vermögen ins Ausland transferieren,
oder - anstatt geregelter Arbeit nachzugehen - ihr Geld mit Schwarzarbeit verdienen und womöglich Sozialhilfe einstreichen – hat‘s alles gegeben.
Die großen Fragen gesellschaftlichen Zusammenlebens lassen sich nicht lösen,
wenn man sich ihnen verweigert. Ohne die Bereitschaft, sich ihnen zu stellen
und in die Tat umzusetzen, bleiben sie ungelöst. Die fundamentalen Fragen des
Lebens: „Worauf kommt es an? Was ist wichtig? Wie gewinne ich ewiges Leben?“, werden von Jesus nicht auch theoretisch beantwortet. Rein intellektuell
lässt sich lange über sie reflektieren. „Gott in Gedanken und über uns die Sterne.“ Das Gleichnis von barmherzigen Samariterwerden ruft uns auf zur Tat. Sie
bedarf keiner Rückfrage, keiner langen Überlegung: „Wo denn? Wie denn? Ich
möchte wohl schon, doch ich weiß ich nicht Wem und Wie.“ Du musst nicht
über den Sinn des Lebens zu spekulieren“, sagt Jesus, nimm Anteil am Leben.
Sei im rechten Moment dem Menschen nahe, der dich gerade braucht. Dann
brauchst du den Sinn des Lebens nicht mehr zu finden, dann hat er sich schon
erfüllt.
Daran erinnert uns der heutige Sonntag, der in unserer Landeskirche als Diakoniesonntag gefeiert wird. „Nähe ist Diakonie.“ Gott begegnet dir im bedürftigen
Menschen. Bist du diesem nahe, hältst du dich in Gottes Nähe auf.
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle unsere Vernunft, der bewahre
unsere Herzen uns Sinne bei Christus Jesus, unserem Herrn