Lukas 10,25-37: Der barmherzige Samariter

Lk. 10,25-37: Der barmherzige Samariter (J. Röhl; 14.06.2015)
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Lukas 10,25-37: Der barmherzige Samariter
Liebe Schwestern! Liebe Brüder!
„Blutüberströmt und regungslos liegt der junge Mann am Straßenrand, dahinter ein umgestürzter,
völlig demolierter Kadett. Dort, wo einmal die Frontscheibe war, hängen Arm und Oberkörper eines
zweiten Verletzten heraus.
In der Stille des heißen Sommertages wird Motorengeräusch hörbar. Ein grauer Mercedes kommt
um die langgezogene Kurve vor der Unfallstelle, beschleunigt auf der Geraden, wird wieder langsamer und fährt im Schritttempo heran. Fahrer und Beifahrerin schauen aus dem Fenster, sehen
die Verletzten, die Frau spricht aufgeregt auf den Mann ein. Gleich werden sie anhalten, herausspringen, rufen, helfen...
Doch der Wagen fährt vorbei, der Fahrer gibt Gas und verschwindet um die nächste Kurve. »Ich
habe nichts gesehen«, wird er sagen, wenn ihn die 200 Meter weiter wartende Polizei heraus
winkt und anhält.
Der Unfall ist gestellt, ADAC und Südwestfunk haben in der Nähe von Baden-Baden ein verbeultes Auto neben der Landstraße umgeworfen, eine Bremsspur gelegt und Glassplitter auf die Fahrbahn gestreut. Das Blut auf Kopf und Brust des jungen »Verletzten« ist nur Schminke. [...]
In drei Stunden kommen 69 Autofahrer und 3 Radfahrer vorbei. Ganze 14 von ihnen versuchen,
dem Verletzten zu helfen, vier weitere halten zwar, fahren aber noch kurzem Zögern wieder weiter.
Auch zwei der Radfahrer fahren vorbei, ohne sich um den jetzt auch noch jammernden und stöhnenden Verletzten zu kümmern.“
Dieser Bericht war vor einigen Jahren in der ADAC – Motorwelt zu lesen. Das ist wirklich so passiert: Vier von fünf Menschen ließen den Schwerverletzten einfach am Straßenrand liegen. Vier
von Fünf flüchteten vor der Verantwortung und hofften, dass es niemand merkt.
Natürlich hat jeder von ihnen gewusst, was richtig gewesen wäre. Natürlich wussten sie: Sie hätten anhalten sollen und nach den Verletzten sehen sollen. Und selbst wenn sie alles aus ihrem
Erste-Hilfe-Kurs vergessen hatten, so hätten sie doch zumindest den Rettungsdienst benachrichtigen können.
Aber vom Wissen zur Tat ist es oft ein sehr schwieriger Schritt. Wissen was gut ist und gut zu handeln, das sind zwei verschiedene Paar Stiefel. Der Weg vom Kopf zur Hand ist oft sehr, sehr weit.
In Lukas 10(,25ff) wird uns berichtet, wie zu Jesus einmal ein Gesetzeskundiger kam, einer der
sich in der Bibel auskannte, und fragte: „Was muß ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen?“
Weil Jesus ein guter Lehrmeister ist, gibt er ihm nicht einfach die Antwort, sondern fragt zurück:
„Was steht im Gesetz? Was liest du dort?“ Er fragt ihn nach dem, was er schon weiß, er spricht
ihn auf dem Gebiet an, in dem er sich als Gesetzeskundiger ja auskennen muss.
Völlig richtig und angemessen antwortete der Fragesteller: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deiner Kraft und all deinen Gedanken, und: Deinen Nächsten sollst du lieben wie dich selbst.“ Er kannte die Antwort also schon, er wusste worauf
es ankommt.
Jesus kommt gleich auf den Knackpunkt zu sprechen: Er sagt: „Du hast richtig geantwortet. Handle danach, und du wirst leben.“ Die Antwort ist goldrichtig – Jesus selbst hätte nicht anders geantwortet. Aber dann kommt eben das Entscheidende: Handle danach! Tu das auch, wovon du redest! Dein Kopfwissen ist gut, aber nun muss es auch zur Tat werden.
Ganz offensichtlich hat Jesus damit ins Schwarze getroffen. Denn der Gesetzeskundige versucht
sich zu rechtfertigen, er sucht Ausflüchte. Er fragt: „Und wer ist mein Nächster?“ Er möchte sich
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nicht auf diese ganz praktische Herausforderung einlassen, sondern lieber beim theoretischen
Diskutieren bleiben.
Diese Frage nach dem Nächsten war damals durchaus nicht aus der Luft gegriffen. Es war unter
den Gläubigen eine aktuelle und lebhaft diskutierte Frage: Wenn das Gesetz uns auffordert dem
Nächsten zu helfen, wer ist denn dann genau damit gemeint? Für die meisten Schriftgelehrte war
es klar, dass Ausländer, wie die Griechen, Syrer oder römischen Soldaten nicht zu den Nächsten
gehören. Und auch die Mischbevölkerung Samarias zählte nicht dazu. Der Nächste, das waren die
Menschen aus dem Volk Israel. Für sie galt dieses Gebot der Nächstenliebe.
Auch heute gibt es ja unter Christen so manche theologische Diskussionen. Da wird lebhaft über
Gottes Wort und Gottes Gebote gefachsimpelt. Da wird hin und her gestritten, wie denn diese
oder jene Stelle auszulegen ist, und was das denn heute für uns bedeutet. Und das Schöne ist:
Solange man darüber diskutiert braucht man nicht unbedingt danach leben.
Anstatt in diese Diskussion einzusteigen und die Frage des Gesetzeskundigen theoretisch zu beantworten, erzählt Jesus ein ganz praxisnahes Gleichnis:
Ein Mann geht den steilen und einsamen Weg von Jerusalem nach Jericho. Dann wird er von
Räubern überfallen. Sie ziehen ihn zunächst aus, nicht weil sie ihn damit demütigen wollen, sondern weil sie auch die Kleidung als Beute brauchen können. Dann schlagen sie ihn halbtot und
lassen ihn liegen.
Doch es scheint Rettung zu nahen. Ein Priester kommt den Weg entlang. Jeder Zuhörer rechnet
beim ersten Hören damit, dass er helfen wird. Aber Jesus erzählt: Der Priester sieht den Mann und
… geht vorbei. Dann komm ein zweiter frommer Mann und angesehener Bürger vorbei: ein Levit.
Auch er sieht den Mann und... geht vorbei. Das ist wahrscheinlich die erste und menschlichste Reaktion in solch einer Situation: Die Flucht.
Ich habe einmal einen Bericht gesehen, in dem neun Autofahrer auf die Probe gestellt wurden, wie
sie denn auf einen Unfall reagieren. Sie fuhren auf einer Teststrecke und dann wurde ohne ihr vorheriges Wissen von einem Stuntman ein Unfall simuliert. Drei der Fahrer und Fahrerinnen waren
zunächst wie erstarrt. Sie hielten an und konnten wie unter Schock gar nichts tun. Keine Hilfeleistung, keine Reaktion. Drei weitere ergriffen die Flucht. Das war ihr erster Impuls: Weg von hier!
Und nur drei von den neun Versuchspersonen stiegen sofort aus und kamen dem Unfallopfer zur
Hilfe.
Ein Psychologe erklärte, dass das im Querschnitt gesehen die instinktiven Reaktionen von uns
Menschen auf solche Notsituationen sind: Ein Drittel erstarrt, ein Drittel flieht und ein Drittel will
helfen.
Auch im Gleichnis Jesu gingen zwei vorbei. Dann kam die dritte Person: Ein Samaritaner. Dazu
muss man wissen, dass das Verhältnis zwischen Israeliten und Samaritanern zur Zeit Jesu alles
andere als gut war. Man hatte eigentlich gemeinsame Vorfahren, aber seit ca. 700 Jahren haben
sich die Wege getrennt. Die Samaritanern vermischten sich mit anderen Völkern und bauten sich
ein eigenes Heiligtum. Man fing an, sich zu beargwöhnen und zu hassen. Ausdruck dieses Hasses
ist z.B. dass im Jahre 7. n. Chr. Samariter Menschenknochen auf dem Tempelplatz in Jerusalem
verstreuten und so den heiligen Ort entweihten. So konnten also weder die Israeliten mit den Samaritanern noch die Samaritaner mit den Israeliten besonders viel anfangen.
Ausgerechnet ein Samaritaner lässt Jesus als dritte Person auftreten. Ausgerechnet er ist der
Held dieses Gleichnisses. Der Samaritaner, der wahrscheinlich als Kaufmann in Israel unterwegs
war, kommt vorbei, er sieht den Verletzen und... er hatte Mitleid.
Das ist die entscheidende Wendung in diesem Gleichnis, das ist der Schlüsselbegriff: Der Samari-
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taner hatte Mitleid, oder wie Luther übersetzte: Es jammerte ihn. Zwei mal hieß es, dass die Vorübergehenden den halbtoten Mann sehen und dann vorübergehen. Und beim dritten Reisenden
dann: Er sah ihn und es jammerte ihn. Wörtlich übersetzt bedeutet der griechische Begriff, der an
dieser Stelle gebraucht ist: Die Not des Leidenden „bewegte seine Eingeweide“, d.h. sie berührte
ihn im Innersten. Wir würden heute vielleicht sagen: Diese Not drehte ihm das Herz im Leibe herum.
Nur so wird unser Glaubenswissen im Kopf auch zur
barmherzigen Tat: Wenn wir mit dem Herzen dabei
sind, wenn wir uns von der Not anderer bewegen
lassen. Der Weg vom Kopf zur Hand führt über unser Herz.
Der Samaritaner war so hineingezogen in den
Schmerz und das Leiden des Überfallenen, dass er
ganz selbstverständlich zur Hilfe schritt. Er hat in
diesem Moment nicht überlegt: Was muss ich tun,
um selig zu werden? Er hat sich nicht gefragt: Ist das überhaupt mein Nächster? Habe ich von
Gott überhaupt die Aufgabe, diesem Menschen zu helfen?
Er tat es einfach. Er tat das, was in diesem Moment für den Mann am Wegrand am notwendigsten
war. Er desinfizierte seine Wunden mit Wein, goss zur Schmerzlinderung Öl darauf und verband
seine Wunden. Er setzte den Verletzten auf sein Reittier, brachte ihn zur nächsten Herberge und
sorgte auch dort für ihn. Schließlich gibt er sogar noch dem Wirt noch genug Geld, damit dieser
sich weiter um den Mann kümmert.
Und dann geht er aber auch wieder ruhigen Gewissens seinen Geschäften nach. Er macht sich
wieder auf den Weg und lässt den Kranken in der Obhut des Wirtes. Der Samaritaner tut das, was
in seiner Macht und in seinen Möglichkeiten steht. Er überfordert sich nicht. Er muss nicht sein
ganzes bisheriges Leben aufgeben, um zu helfen. Er unterbricht seine Geschäftsreise und tut das
Nötigste. Und dann geht er weiter.
Jesus fordert den Gesetzeskundigen auf, genauso zu handeln wie der Samaritaner. Dieser Verachtete und Ausgestoßene wird zum Vorbild. Er zeigt wie der Glaube zur Tat wird, wie der Glaube
über das Herz in die Hand wandert.
Dieses Gebot: Liebe deinen Nächsten, hat für Jesus einen ganz anderen Ansatzpunkt als für den
Gesetzeslehrer. Wenn ich meinem Nächsten Gutes tue, dann geht es nicht um die Frage: wie bekomme ich das ewige Leben? Sondern dann geht es darum, dass ich mich als Mensch, der zu
Gott gehört, als barmherzig und liebevoll erweise. Wenn ich denke: „Jeden Tag eine gute Tat und
dann wird Gott schon zufrieden mit mir sein“, dann geht es mir ja letztendlich noch immer um mich
selbst.
Jesus fordert uns mit dieser Geschichte auf: Denkt nicht so viel an euch selbst und an euer Seelenheil, sondern werdet für die Menschen um euch herum zu einem barmherzigen Nächsten. Verschließt euch nicht in frommer Selbstbeschäftigung, sondern lasst es zu, dass euch die Not im Innerstes bewegt. Seid nicht nur mit dem Kopf, sondern mit dem Herzen dabei. Und dann tut das
Notwendige, das was in eurer Macht und in euren Möglichkeiten liegt.
Amen.
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Bildquelle: Dakotilla/flickr.com