Predigt zu Lk 10, 25-37 – Der barmherzige

Vikarin Julia Vera Jüttner, Corvinus-Kirchengemeinde Erichshagen
Predigt zu Lk 10, 25-37 – Der barmherzige Samariter
Vikarin Julia Vera Jüttner
13. Sonntag nach Trinitatis 2015
Friede sei mit euch, von dem, der da war, der da ist und der da kommen wird.
Amen.
Liebe Gemeinde,
wer kennt es nicht, das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter.
Eine altbekannte Geschichte, die von vielen Künstlern verschiedenster Zeiten ins Bild
gesetzt wurde und eine fast sprichwörtliche Bedeutung als Beispiel für Barmherzigkeit und Nächstenliebe erhielt.
Und in der Tat, wie ein Märchen hört sich an, was Jesus da dem Schriftgelehrten erzählt, der das ewige Leben zu erlangen sucht:
Es war einmal ein Mann, der unterwegs war, und das zu einer Zeit, als das Reisen
noch viel gefährlicher war als heute, und dieser Mann fiel unter die Räuber, die ihm
alles nahmen, was er hatte, selbst das Hemd, was er Leibe trug, so heißt es.
Das Böse scheint schon gesiegt zu haben, denn der Mann ist ausgeraubt, nackt und
verwundet in der Wüste dem Tode geweiht.
Doch die Geschichte ist noch nicht zu Ende.
Drei Mal – auch das erinnert uns an ein Märchen – kommen Menschen an dem
Verwundeten vorbei, drei Mal besteht die Hoffnung auf Rettung, und diese erfolgt
auch zum Schluss durch den dritten, es gibt – wie im Märchen – ein >Happy End<.
Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter, ein Märchen?
Aber halt, ganz so einfach ist es doch nicht.
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Vikarin Julia Vera Jüttner, Corvinus-Kirchengemeinde Erichshagen
Denn im klassischen Märchen ist die Rollenverteilung meist sehr vorhersehbar: da
ist die schöne und gute Prinzessin, die gute Dinge tut und die böse und hässliche Hexe, die böse Dinge tut.
Eine überschaubare Welt, die Sicherheit gibt, hier die Bösen, da die Guten, ganz
leicht in schwarz und weiß zu trennen.
Der Hörer weiß sein vorheriges Urteil, sein Vor-Urteil, fast immer bestätigt: in keinem Märchen heiratet der Prinz am Ende die hässliche Hexe.
Aber in Jesu Gleichnis ist es dann doch anders.
Betrachten wir die drei Gestalten, die an dem Verwundeten vorbeigehen genauer,
stellen wir fest: auch hier haben wir es mit, der Zeit und Umwelt entsprechenden,
Klischees zu tun:
Da sind die ersten beiden Passanten, ein Priester und ein Mann aus dem heiligen
Stamm der Leviten, der damals für den Tempeldienst zuständig war.
Zwei hoch-ehrwürdige Männer also, die ihr Leben ganz nach den Weisungen Gottes
ausrichten, und von denen jeder Hörer zur Zeit Jesu mit Sicherheit erwartet hätte:
Diese werden dem Verletzten helfen.
Und da ist der dritte Mann, ein Samariter, Angehöriger eines Stammes, der zur Zeit
Jesus bei den Bewohnern Jerusalems sehr unbeliebt war. Höchstwahrscheinlich hätte daher jeder damalige Zuhörer erwartet: Dieser wird den Verletzten noch ganz tot
schlagen.
Aber genau das scheinbar so Vorhersehbare geschieht nicht.
Die beiden klassischen >Guten<, heiligen Männer, gehen an dem Verletzen vorbei,
ohne sich zu kümmern. Warum erfahren wir im Bibeltext nicht – hatten sie es eilig
oder wollten sie sich nicht die Finger schmutzig machen – wir werden es nie sicher
wissen.
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Der Samariter aber, dem jeder vorher nur das Schlechteste zugetraut hätte, wird
zum überraschenden Helden der Geschichte.
Obwohl der Verletzte zu dem Stamm gehört, von dem er und seinesgleichen zumeist
nur Verachtung erfahren, wird er >innerlich bewegt<, so heißt es. Denkt er an eigene Erfahrungen der Not, hat er einfach Mitleid mit ihm, entscheidet er sich schnell
oder überlegt er lang - auch hier bleiben genauere Motive ungewiss.
Fest steht jedoch, dass sich der Samariter letztendlich entschließt, nicht einfach vorüber zugehen, sondern die Wunden mit kostbarem Öl und Wein zu versorgen. Und
damit noch nicht genug.
Er bringt den Kranken auf seinem eigenen Reittier in eine Herberge und beauftragt
den Wirt sogar, den Kranken auf seine Kosten weiter zu versorgen – das ist weitaus
mehr, als die gängige >Erste Hilfe<- Maßnahme der damaligen Zeit.
Insofern ist das Gleichnis eben doch kein klassisches Märchen, denn die Vor-Urteile
der Hörenden bestätigen sich gerade nicht.
Im Gegenteil. In gewisser Hinsicht ist das Gleichnis nicht nur ein Aufruf zur Nächstenliebe, sondern auch eine Erzählung gegen Vor-Urteile, wenn es mit der Einsicht von
Jesu Zuhörer schließt, dass der, der dem Verwundeten zum Nächsten wurde, eben
doch nicht der edle Priester, sondern der verachtete Samariter war.
Jesus ist es wichtig, seinen Hörern zu verdeutlichen: Im Leben ist nicht alles so leicht
in schön abgetrennte Schubladen mit den Etiketten >Böse< und >Gut<, >Schwarz<
und >Weiß< aufteilbar – auch wenn wir Menschen uns dies manchmal vielleicht
heimlich wünschen würden.
Es gibt auch viele Grautöne dazwischen und – ganz ehrlich – wer von uns würde
denn selber gerne von jemand anderem für immer in eine Schublade gesteckt werden?
Vielleicht erzählt Jesus das Gleichnis gerade deshalb genauso, wie wir es kennen, mit
seiner überraschenden, kaum vorhersehbaren Wendung, um daran zu erinnern,
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dass es uns hin und wieder ganz gut tut, uns aus unseren vorgefertigten Meinungsbildern und Urteilen zu lösen, in denen wir es uns manchmal etwas zu bequem gemacht haben.
Unsere Vorurteile wirklich Vor-Urteile, vorherige, vorübergehende Urteile sein zu
lassen, die wir bereit sind immer wieder zu korrigieren, wenn uns die Wirklichkeit
eines besseren belehrt.
Dem anderen eine zu Chance zu geben, auch wenn er nicht zu den Wohlhabenden,
Geachteten, Gebildeten, Schönen, Erfolgreichen oder Beliebten gehört.
Gemeinsam mit dem Gesetzeslehrer, auf dessen Frage hin Jesus das Gleichnis erzählt erkennen wir: Der mir Nächste, muss gar nicht immer der sein, der mir äußerlich oder gesellschaftlich am meisten nahe kommt. Weil er z.B. zur gleichen gesellschaftlichen Schicht gehört oder die gleiche Hautfarbe hat wie ich. Denn dies sind
alles Äußerlichkeiten, Meinungen und Bilder der Außenwelt. Über die wirkliche
Schönheit eines Menschen, sagen sie gar nichts aus. Denn die ist – wie uns schon
der Kleine Prinz in der Erzählung des französischen Schriftstellers Antoine de SaintExupéry lehrt– wie alles Wesentliche für die menschlichen Augen unsichtbar.
Der mir Nächste ist der, der mir nahe ist, wenn ich Nähe, wenn ich Hilfe brauche,
einfach weil wir beide Menschen und damit Kinder Gottes sind, ganz unabhängig
von allen weltlichen Sichtweisen und Vor-Urteilen. Denn alle menschlichen Urteile
sind und bleiben immer Bruchstücke, einzelne Puzzle-Teile oder Mosaiksteinchen
eines größeren Gesamtbildes, welches jeder Mensch für sich darstellt.
Die letzten, entscheidenden Stücke des Gesamtbildes aber, das weiß schon das erste
Samuel-Buch (Kapitel 16, Vers 7), kennt nur einer: >Der Mensch sieht, was vor Augen ist, Gott aber sieht das Herz an.<
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So gesehen können wir Menschen das Urteilen getrost Gott überlassen. Zu unserem
menschlichen Ziel und Wunsch glücklich und zufrieden bis an unser Lebensende zu
leben – wir erinnern uns an die Märchen – kann gerade das viel beitragen:
Das beruhigende Gefühl, nicht immer urteilen zu müssen. Die entlastende Erfahrung, dadurch auch nicht immer ver-urteilt zu werden.
Und die heilende Hoffnung, dass das Gesamtbild sich dereinst beim richtigen >Happy End< am Ende der Zeit bei Gott erschließen wird.
Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere menschliche Vernunft stärke unsere
Herzen und Sinne in Jesus Christus.
Amen
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