Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes und die

Predigt zum Abschied am 13. März 2016
Pfarrerin Ilona Klemens (es gilt das gesprochene Wort)
Gottesdiensten getan habe. Eine Erzählung hat dabei eine
besondere Rolle gespielt.
Ich lese aus dem Evangelium nach Lukas, Kapitel 10, Verse
25-37:
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes
und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns
allen.
Nach 13 Jahren als Pfarrerin für Interreligiösen Dialog predige
ich nun zum letzten Mal in dieser Funktion. Was bleibt nach
dieser langen Zeit zu sagen? Soll ich so etwas wie ein
Vermächtnis hinterlassen? Ist das nicht ein zu hoher Anspruch?
Sag das, was Du immer sagst, war der Rat einer Freundin.
Wie oft habe ich diesen Satz wiederholt:
Dialog führen nicht Religionen, sondern Menschen.
Er ist gewissermaßen zu einer Überschrift über meine Arbeit
geworden. Wie kann ich ihn heute noch einmal neu lebendig
werden lassen?
Am besten mit einer biblischen Geschichte. So wie sich das
gehört für eine evangelische Theologin. So wie ich das in vielen
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(Übersetzung nach Martin Luther)
Und siehe, da stand ein Schriftgelehrter auf, versuchte ihn
und sprach: Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige
Leben ererbe? Er aber sprach zu ihm: Was steht im Gesetz
geschrieben? Was liest du?
Er antwortete und sprach: »Du sollst den Herrn, deinen Gott,
lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen
Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie
dich selbst«
Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geantwortet; tu das, so
wirst du leben.
Er aber wollte sich selbst rechtfertigen und sprach zu Jesus:
Wer ist denn mein Nächster?
Da antwortete Jesus und sprach: Es war ein Mensch, der ging
von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber;
die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon
und ließen ihn halb tot liegen.
Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinabzog;
und als er ihn sah, ging er vorüber.
Desgleichen auch ein Levit: Als er zu der Stelle kam und ihn
sah, ging er vorüber. Ein Samariter aber, der auf der Reise war,
kam dahin; und als er ihn sah, jammerte er ihn;
und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und
verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine
Herberge und pflegte ihn. Am nächsten Tag zog er zwei
Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege
Predigt zum Abschied am 13. März 2016
Pfarrerin Ilona Klemens (es gilt das gesprochene Wort)
ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir's bezahlen, wenn
ich wiederkomme. Wer von diesen dreien, meinst du, ist der
Nächste gewesen dem, der unter die Räuber gefallen war?
Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm tat. Da sprach Jesus
zu ihm: So geh hin und tu desgleichen!
Geh und handle wie der barmherzige Samariter – sein
Vorbild ist für das christliche Verständnis von Nächstenliebe
von zentraler Bedeutung. Denn er ist derjenige, der richtig
handelt, er ist der Gute in der Geschichte. Nehmen wir uns ein
Beispiel an ihm.
1. Er zeigt Zivilcourage im Angesicht von Gewalt und
Bedrohung. Die Straße von Jerusalem nach Jericho barg
viele Gefahren. Während die anderen beiden den
Überfallenen sehen und vorbeigehen - vermutlich einfach
aus Angst – er sieht, hält an und hilft.
2. Er zeigt Mitgefühl. Luther übersetzt hier „es jammerte ihn.“
Das griechische Verb im Originaltext beschreibt eine
körperliche Reaktion: es ging ihm an die Nieren, würde man
auf Deutsch sagen. Der Schmerz und das Leid des Opfers
werden wie zu seinem eigenen. So scheut er keine Kosten
und Mühen, um Gesundheit und Würde des Opfers wieder
herzustellen.
3. Er hilft ohne Anschauung der Person. Diese ist die einzige
in der Geschichte, deren Identität nicht näher beschrieben
wird: Ein Mensch ging hinab nach Jericho! Mann oder Frau,
Religion, Nationalität, ob reich oder arm, welchem Beruf sie
nachging – alles bleibt offen. Damit wird die Frage des
Schriftgelehrten vom Anfang beantwortet: Wer ist denn mein
Nächster? Der Samariter zeigt: jeder, jede ohne Ausnahme!
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4. Er zeigt Menschlichkeit. Wer ist dem zum Nächsten
geworden, der unter die Räuber fiel? Jesus kehrt die Frage
des Schriftgelehrten um. Im Moment der Hinwendung liegt
ihre Antwort: Es ist der Samariter, der in dem Verletzten
wiederum seinen Nächsten erkannt hat.
Er lebt vor, wovon andere nur reden: Menschenwürde ist
unteilbar!
Die Geschichte spricht uns unmittelbar an: Geh und handle
wie er!
Begeben wir uns nun auf eine Reise aus dem ersten in das 17.
Jahrhundert. Auf dem Liedblatt befindet sich ein Bild der
Geschichte aus dem Jahr 1604. Der gefährliche Weg von
Jerusalem hinunter nach Jericho wurde nach Sachsen verlegt.
Das Städtchen Zschopau und die Kirche St. Martin liegen im
Erzgebirge.
Aus den ursprünglich jüdischen religiösen Vertretern Priester
und Levit, sind Christen geworden, überraschenderweise und
ganz ökumenisch: ein katholischer und evangelischer Pfarrer!
Der Reisende aus Samarien – er ist nun ein Osmane, ein
türkischer Reiter, religiös gesehen also ein Muslim.
Geh und handle wie der barmherzige Türke – das legt das
Bild nah.
Er ist der Gute. Der Künstler will den Betrachtern wohl sagen:
Nehmt euch ein Beispiel an ihm!
Ob diese das tatsächlich so hätten nachsprechen wollen?
1604 lag zeitlich zwischen den beiden Belagerungen Wiens
durch das osmanische Reich. Die sog. „Türkengefahr“ war für
das sog. christliche Abendland damals sehr real. Viele von den
negativen Vorstellungen über Muslime aus dieser Zeit haben
sich fest in das kollektive Gedächtnis Europas eingebrannt.
Predigt zum Abschied am 13. März 2016
Pfarrerin Ilona Klemens (es gilt das gesprochene Wort)
Im interreligiösen Dialog spielen sie bis heute eine Rolle. Geh
und handle wie der barmherzige Türke? Er soll der Gute
sein?
Gewohnt waren Christen eine andere Lesart. Ein
entsprechendes Bild hätte so ausgesehen: die jüdischen
Personen wären geblieben – der Samariter wäre zum Christen
geworden. So wurde es jahrhundertelang gelehrt: Wir Christen
sind besser als die Juden. Sie gehen vorbei und helfen nicht.
Wir dagegen üben Nächstenliebe. Die Geschichte wird so
pervertiert zur Rechtfertigung christlicher Selbstüberhebung
über das Judentum.
Der Künstler unseres Bildes hat wohl schon etwas verstanden,
was wir Christen heute erst mühsam neu lernen: Jesus, der
Jude spricht zu anderen Juden. Historisch betrachtet sind die
Samaritaner zwar aus dem Judentum hervorgegangen. Heute
würde man sagen sie sind eine Sondergemeinschaft. Doch
Rivalitäten und Ressentiments bis hin zu offener Gewalt
prägten bereits jahrhundertelang vor Jesu Auftreten das
Verhältnis. Für die jüdischen Hörer der Geschichte war ein
„barmherziger Samariter“ schlicht ein Widerspruch in sich!
Nicht einmal den Namen bringt der Schriftgelehrte am Ende
über die Lippen! Was für eine Zumutung!
Die Samaritaner sind also zur Jesu Zeit für seine Gemeinschaft
das, was für den Künstler 1604 die Muslime für die Christen
sind: Feinde.
Er übersetzt die Geschichte folgerichtig in seine Zeit hinein als
eine von Christen für Christen.
So verstanden ist die Erzählung wie das Bild zunächst eine
Aufforderung an die Adressaten: Übt Selbstkritik anstatt euch
über andere zu erheben: Schaut hin, die eigenen Leute
missachten unsere wichtigsten Gebote!
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Wer kann denn schon ernsthaft behaupten, dass alle
Angehörigen aller Religionen stets allen ihren religiösen
Normen gerecht würden?
Wenn das so wäre, sähe die Welt vielleicht anders aus. Es ist
ganz menschlich: Fehler sieht man gern nur bei den anderen.
Das Ideal der eigenen Religion wird mit der Realität der
anderen verglichen und schon steht man als der bessere da.
Selbstkritik ist das eine. Die größte Herausforderung in der
Geschichte scheint mir diese zu sein: Die Überwindung von
Feindschaft. Es geht hier um mehr als dass man Menschen in
Not helfen soll. Der Künstler von 1604 ist wahrscheinlich nie
einem Türken persönlich begegnet – trotzdem spüre ich in dem
Bild die Kraft, das pauschale Vorurteil zu durchbrechen – ich
finde diese Kraft wirkt bis heute in unsere Gegenwart hinein.
Feindbilder sind gefährlich, weil sie andere entmenschlichen.
Sie reduzieren ganze Gruppen, häufig Minderheiten, auf
ausschließlich negative Merkmale. Nichts Gutes vermag man
an ihnen zu sehen und schon gar nichts Vorbildhaftes.
Im schlimmsten Fall führt es dazu, ihnen das Lebensrecht
abzusprechen. Unsere Welt ist voll von Konflikten, die befeuert
werden von der Vorstellung, den mutmaßlichen Feind
vernichten zu müssen: Wir oder die! heißt es dann.
Heute reicht es in den völlig enthemmten politischen Debatten
eine andere Meinung zu haben, um niedergemacht zu werden.
Unsere Erzählung sagt dagegen: Ent-feindet Euch! Hass hat
in der Geschichte der Menschheit nur Probleme verursacht,
aber noch nie ein Problem gelöst.
Die Geschichte vom barmherzigen Samariter und hier vom
barmherzigen Türken macht aus dem Feind wieder einen
Predigt zum Abschied am 13. März 2016
Pfarrerin Ilona Klemens (es gilt das gesprochene Wort)
Menschen. Einer, der wie alle Menschen zu Schlechtem fähig
sein mag – aber auch zu Gutem. Ein Mensch eben.
Als Vorbild wird er zum Spiegelbild von uns selbst: So
können wir alle sein!
Wir erkennen daran wie alle Aufteilung der Menschen in „Wir“
und „Die“ - Freund und Feind - Gut und Böse in die Irre führt.
Feindbilder befördern die Spaltung der Gesellschaft und
gefährden den sozialen Frieden. Ihre Überwindung muss unser
aller Anliegen sein.
Die Angehörigen der Religionen sind hier besonders gefordert.
Jeder Einzelne und jede Gemeinschaft ist gerufen sich
selbstkritisch zu fragen: wer ist für mich, wer für uns der
sprichwörtliche Samariter? Wo können wir bei uns selbst
anfangen und dazu beitragen, Feindbilder, zuallererst die
eigenen, zu überwinden?
Dialog führen nicht Religionen, sondern Menschen.
Ich möchte noch einmal auf das zurückkommen, was den
Samariter, auf unserem Bild den Türken auszeichnet:
Zivilcourage, Empathie, Mitgefühl und Mitmenschlichkeit:
Ich möchte das im Blick auf den interreligiösen Dialog hin heute
buchstabieren:
1. Empathie: Den anderen versuchen zu verstehen, heißt
auch sich in seine Welt einfühlen zu können. Ich erinnere
mich an Diskussionen, bei denen wir danach gefragt haben,
was die Referierenden an der eigenen Religion schön
finden – und an der des/der anderen. Wer sich darauf
einlässt, kann den Glauben der anderen nicht mehr einfach
als Irrweg abtun. So kann Respekt entstehen!
2. Mitgefühl ist nicht zuletzt da gefragt, wo Menschen
angegriffen
werden.
Der
Dialog
wirkt
da
am
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überzeugendsten, wo man über alle Religionsgrenzen
hinweg füreinander einsteht. Wir haben als abrahamisches
Team an Schulen immer wieder gemerkt: Nicht was wir
gesagt haben, sondern der achtsame Umgang miteinander
hat die SchülerInnen vom Sinn des Dialogs überzeugt.
3. Mitmenschlichkeit: Ob man es mit den Menschenrechten
und der Religionsfreiheit ernst meint, erweist sich darin,
dass sie nicht nur für einen selbst, sondern auch für andere
eingefordert werden! Der Rat der Religionen in Frankfurt
geht hier mit gutem Beispiel voran.
4. Das erfordert mitunter Mut und Zivilcourage. Alle, die
öffentlich für die Rechte anderer eintreten, müssen damit
rechnen, dafür angefeindet zu werden. Heute heißt das
leider auch mit Beleidigungen und Drohungen leben zu
müssen. Umso mehr brauchen Menschen gleich welcher
Weltanschauung Solidarität.
Last but not least: Am Anfang unserer Geschichte steht die
Frage nach dem ewigen Leben. Die Antwort zeigt uns: Der
Weg zum Heil und zu Gott führt über die Liebe zu den
Mitmenschen, nicht über den richtigen Glauben. Es zählt nicht
wer Recht hat, sondern wer recht tut. Ein Monopol auf die
Wahrheit wird nicht beansprucht.
Gott ist kein Christ, hat Bischof Desmond Tutu einmal gesagt.
Ich wage zu behaupten, dass Gott auch keiner anderen
Religion angehört. Es wäre viel gewonnen, wenn Menschen
aufhören würden, Gott für sich allein vereinnahmen zu wollen.
Die Welt wäre dem Frieden ein großes Stück näher:
„Und alle werden unter ihrem Weinstock wohnen und unter
ihrem Feigenbaum – und niemand wird sie aufschrecken.“
Predigt zum Abschied am 13. März 2016
Pfarrerin Ilona Klemens (es gilt das gesprochene Wort)
Dieses Zitat aus dem Buch des Propheten Micha stand auf der
Einladung, das haben wir vorhin noch einmal in der Lesung
gehört:
Wenn wir uns nachher zu Feigen und Weintrauben
zusammenfinden, dann deswegen, weil ich auf Verheißungen
wie diese meine Hoffnung setze. Sie ermutigen mich zu
glauben, dass sie möglich ist:
eine Welt in der alle Platz und genug zum Leben haben,
eine Welt, in der es weder Zäune noch Grenzen und schon gar
keinen Stacheldraht gibt,
eine Welt, in der aller Schrecken und Terror ein Ende hat,
eine Welt, in der man den Glauben und die Überzeugungen
des anderen respektiert. Keiner ist dem anderen mehr feind.
So stelle ich mir den Frieden vor. Die Erzählung vom
Barmherzigen Samariter weist uns auf den Weg.
Dialog führen nicht Religionen, sondern Menschen. In
Frankfurt wird er weitergehen und zum Frieden in dieser Stadt
beitragen.
Dessen bin ich gewiss, wenn ich jetzt schließe mit dem
schönsten Gruß, den ich kenne:
Shalom Aleichem – As-salamu Aleikum – Tashi Delegi – der
Friede Gottes sei mit euch allen!
Amen.
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Anm.: „Tashi Deleg“ ist ein tibetisch-buddhistischer Gruß, der so viel wie „Es möge
dir wohlergehen“ bedeutet.
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