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SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
Sternchenthemen im Abitur (1/2)
Volker Schlöndorffs "Homo faber"
Einblicke in die Filmwerkstatt
Von Anja Brockert
Sendung: Donnerstag, 17.03.2016
Redaktion: Detlef Clas
Regie: Eigenproduktion
Produktion: SWR 2016
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Cut 1: Trailer zum Film
„Flugzeuggeräusch …. Der neue Film von Volker Schlöndorff. Ab 21. März im Kino!“
Cut 2: (Schlöndorff)
Der Homo faber ist besonders, er hat fast etwas Autobiografisches und ist untrennbar
verbunden mit Max Frisch, mit dem ich drei Jahre an diesem Projekt gearbeitet habe,
und diese Gemengelage lässt mich sagen: es ist vielleicht nicht der Beste, aber der
Liebste.
Regie: Musik M0426773, Take 3 (Sabeth), darüber:
Ansage:
Volker Schlöndorffs „Homo faber“. Einblicke in die Filmwerkstatt.
Aus der Reihe „Sternchenthemen im Abitur“. Eine Sendung von Anja Brockert.
Regie: Musik noch einmal kurz frei, dann unter Autorin langsam weg
Autorin:
Vor 25 Jahren kam der „Homo faber“ in die Kinos, im März 1991. Mittlerweile ist
Schlöndorffs Film ein Klassiker, genauso wie Max Frischs Roman über die
schicksalhafte Reise des Ingenieurs Walter Faber. Das Buch erschien 1957, und
nach wie vor lesen Schülerinnen und Schüler den „Homo faber“ im Unterricht. In
Baden-Württemberg ist er in diesem Jahr wieder Sternchenthema – also
Pflichtlektüre – für das Deutschabitur. Und jeder Lehrer, der etwas auf sich hält, zeigt
dazu natürlich den Film. Volker Schlöndorff, heute 76, ist mit seinen
Literaturverfilmungen berühmt geworden. Er hat Marcel Prousts „Liebe von Swann“
inszeniert. Heinrich Bölls „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“. Arthur Millers
„Tod eines Handlungsreisenden“. Für die Verfilmung von Günter Grass‘ Roman „Die
Blechtrommel“ bekam er den Oscar. Aber: der „Homo faber“ spielt in seinem Leben
eine besondere Rolle. Ein Vierteljahrhundert nach Erscheinen des Films erzählt der
Regisseur im Literaturhaus Stuttgart von der Freundschaft mit Max Frisch, der ihm
kurz vor seinem Tod noch seinen Jaguar vererbte. Er erzählt von den Dreharbeiten
mit einem original Superconstellation-Flugzeug aus den 50ern, von Schauspielern
mit Flugangst, griechischer Mythologie und von seiner eigenen Midlife-Crisis, in der
er sich an Max Frischs Roman erinnert hat. Im Buch beginnt die Geschichte so:
Musik: M0426773, Take 1 (Last call für passenger Faber)
Cut 3: (Auszug Hörbuch)
Wir starteten in La Guardia … Ich war froh, allein zu sein. Endlich ging’s los. (1)
Autorin:
So beginnt die „Bewusstseinsreise“ des Schweizer Ingenieurs Walter Faber. Er ist im
Dienst der UNESCO unterwegs, ein erfolgreicher Mann Ende 40, der von sich glaubt,
das Leben im Griff zu haben. Alles kalkulierbar, berechenbar. Gefühle sind
Ermüdungserscheinungen. Doch auf dieser Reise, von der Max Frisch in seinem
Roman erzählt, führt der Zufall Regie. Faber lernt im Flugzeug den Bruder seines
alten Studienfreundes Joachim kennen. Er hört nach Jahrzehnten wieder von seiner
großen Jugendliebe Hanna, einer deutschen Jüdin, die er vor dem Krieg um ein Haar
geheiratet hätte. Nach einer Notlandung in der Wüste trennt er sich per Brief von
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seiner jetzigen Freundin Ivy, unterbricht die Dienstreise und fährt zu Joachim nach
Guatemala. Später verliebt er sich an Bord eines Schiffes in ein junges Mädchen,
Sabeth. Mit ihr reist er durch Frankreich, Italien, Griechenland. Sie ist – wie sich
später herausstellt – Hannas und seine Tochter. Sabeth wird durch einen Unfall
sterben. Inzest, Tod, Schuld, Schicksal. Ein Stoff wie eine griechische Tragödie.
Großes Kino. Aber nicht sofort.
Cut 4: (Schlöndorff)
Nach dem ich Katharina Blum verfilmt hatte, hatte ich mal das Angebot, den Homo
faber zu verfilmen, und dann dachte ich, Inzest auf der Leinwand, das wird doch
peinlich, konnte ich mir nicht vorstellen. Und dann 15 Jahre später erinnere ich mich,
das ist doch dieser Ingenieur, mit seiner Arroganz, der meint alles im Griff zu haben,
alles als Bericht, nicht als Roman - und dann abzustürzen, und das war mich auch
gerade passiert, und dann dachte ich, das bist doch eigentlich du! Und dann habe ich
den Kontakt zu Max Frisch gesucht und wir haben überlegt wie man nach so viel
Jahren doch noch einen Film machen könnte.
Autorin:
Das Buch ist damals schon 30 Jahre alt und erstaunlicherweise noch immer nicht
verfilmt, unter anderem wegen Rechtefragen. Jetzt aber passt es. Schlöndorff ist
damals 48, die Ehe mit Regisseurin Margarethe von Trotta in einer schweren Krise.
Cut 4: (Schlöndorff)
Max Frisch geht’s in dem Buch weder um Ingenieure noch ums Reisen. Es ging ihm
nur darum, warum ist so viel Leben versäumt worden, hier eine verkrachte Ehe, da
eine Beziehung, die nicht zu Ende gekommen ist, lauter Schuld und Schmerzen, die
man sich antut und anderen antut, und warum schaffen wir das nicht, als Mann und
Frau auf eine andere Art und Weise zusammenzuleben. Das ist die ganze Frage
seines Werkes.
Autorin:
Die Figur des Walter Faber – das ist Schlöndorff bald klar – ist ein gemeinsames
Alter Ego. Aber für die filmische Umsetzung gibt es viele Fragen. Muss Walter Faber
vom Tod gezeichnet sein wie im Roman? Das erpresst den Zuschauer, findet
Schlöndorff, man soll sich so für die Figur interessieren, nicht weil sie am Ende stirbt.
Und warum lässt Frisch seinen Helden so viel unterwegs sein?
Cut 5: (Schlöndorff)
Warum diese Mexico Reisen? Ich dachte, das hätte große literarische Bedeutung, ja,
sagt er, ich war gerade auf diesen Südamerikareisen und in Mexico, und kam zurück
nach Zürich und wollte natürlich davon erzählen (Lachen). Das ist die ganze
Begründung! So ging das dann schrittweise weiter. Aber das mit Sabeth ist ja wohl
nicht in ihrer Biografie vorgekommen, sagt er: beinahe, beinahe! Dann erzählt er von
einer jüdischen Studentin, mit der er in Zürich liiert war, die er heiraten wollte, und die
dann plötzlich fragte, warum willst du mich heiraten? Weil ich dann einen Schweizer
Pass kriege oder weil du mich liebst? Das ist eins zu eins im Buch drin. Das fällt oft
auf. Große Literatur besteht aus gelebtem Leben, live lived, das habe bei dreißig
Literaturverfilmungen gelernt: es gibt immer einen Moment in einem Roman, und
wenn man es im Film mit Schauspielern nachstellt, wo auf einmal alle Leute eine
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Gänsehaut bekommen und wir am Set plötzlich das Gefühl haben, da ist jetzt was
besonderes passiert, und da ist gelebtes Leben noch einmal wiederaufgestanden.
Autorin:
Dieses „gelebte Leben“ einzukreisen, die Kernpunkte herauszufinden, warum ein
Schriftsteller seinen Text geschrieben hat, auch das gehört zu Schlöndorffs
Vorbereitung auf eine Literaturverfilmung. Aber in den Gesprächen zwischen
Regisseur und dem bald 80jährigen Schriftsteller geht es auch um ganz praktische
Fragen.
Cut 6: (Schlöndorff)
Wie wichtig sind die 50er Jahre, war meine Frage? Es ist viel aufwändiger und teurer
wenn die Geschichte in den 50ern spielt als 1990, man muss Kulissen, Straßen nicht
verändern, keine alten Autos und alten Flugzeuge – aber AH! Ohne das alte
Flugzeug geht es nicht. Die ganze Geschichte ist aufgehängt an der Bruchlandung in
der Wüste und das kann man sich mit Propellerflugzeug vorstellen aber dass eine
Boeing oder Airbus in der Wüste notlandet und alle unter den Flügeln frühstücken ist
ziemlich unwahrscheinlich (Lachen)
Autorin:
Das ist eine der witzigsten Stellen im Film. Nach der Notlandung sitzen die
Passagiere in ihren Schwimmwesten in der prallen Sonne, im Hintergrund das
Flugzeug, wie ein silbriger Walfisch in der Wüste. Eine Stewardess zieht einen
Servicewagen durch den Sand und begrüßt die Gestrandeten mit absurder
Professionalität per Megafon:
Cut 7: (Filmausschnitt Wüstenfrühstück)
Guten Morgen, meine Damen und Herren …. Im Übrigen können sie jetzt auch die
Schwimmwesten wieder ablegen.
Autorin:
Für den Film also sollte es ein Originalflugzeug aus den 50er Jahren sein.
Cut 8: (Schlöndorff)
Diese Maschinen gibt es nicht mehr, die werden nur noch ausgestellt, und einer
meiner Mitarbeiter hat dann eine gefunden in Amerika, die hatten ehemalige Piloten
als Sammlerstück, so wie einen Oldtimer, wie der Jaguar von Max Frisch, den ich
fahre – und diese Piloten waren alle weit über das Rentenalter, der Navigator war 81,
und dann sind die damit in die Luft und wir konnten das filmen, also ein tolles
Sammlerstück. Das war Max Frisch ganz wichtig, deswegen hab ich‘s übernommen,
er sagt, das war eine Zeit, wo schöne technische Sachen entstanden sind, Autos, so
Schlitten, Schiffe; wo man noch an die Technik glaubte, das gehört zu dem
Ingenieur, dass er zu dieser Zeit glaubt, dass er mit Technik die Welt nicht nur
verbessern, sondern auch schöner machen kann.
Autorin:
Frischs Ingenieur Walter Faber ist der Inbegriff des rationalen Technikers. Sein
Weltbild lässt sich auch durch Ereignisse wie die Notlandung oder überraschende
Begegnungen nicht erschüttern. In Schlöndorffs Film sieht man Walter Faber –
verkörpert von Sam Shepard – in Hemd, Hosenträgern und Hut lässig durch die
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Wüste spazieren. Wie immer hat er seine Kamera dabei. Während er die Landschaft
filmt, kommt er mit dem jungen Deutschen Herbert Hencke ins Gespräch.
Regie: Vorlauf Geräusch Filmkamera, schon etwas unterlegen
Cut 9: (Filmausschnitt Wüstengespräch Faber/ Herbert, Brief an Ivy)
Glauben Sie es dauert lange, bis sie uns finden? … Gefühle, die ich für sie nicht
mehr empfand. (Schreibmaschinenklappern)
Regie: Auslaufende Musik unter den folgenden O-Ton legen
Cut 10: (Schlöndorff)
Man entdeckt ja dann manches, wenn man es noch mal sieht. Also der Mann, den er
da kennenlernt in der Wüste, der erinnert ihn an eine Hanna Landsberg, von der wir
dann erfahren, dass das eben diese jüdische Freundin ist, die sich von ihm getrennt
hat, und in dem Moment holt er seine Schreibmaschine raus und schreibt einen Brief
an eine andere Frau, die in New York auf ihn wartet, um ihr mitzuteilen, dass jetzt
Schluss ist! (Lachen) Das ist schon sehr spannend und sehr Max Frisch. Es ist eine
Frau, über die gesprochen wird, die erinnert sofort an eine andere – also er war kein
Don Juan, zwei oder drei genügen ja - um festzustellen auf einmal im Leben, dass
man in der nächsten Beziehung das versucht, das wieder gut zu machen, was man
in der vorherigen falsch gemacht hat.
Autorin:
Max Frisch geht es in diesem Roman um das Verhältnis der Geschlechter, ihren
Umgang miteinander, ihre gesellschaftlichen Rollen. Walter Faber ist ein „typischer
Mann“ seiner Zeit, mit einem – gelinde gesagt – problematischen Verhältnis zu allem
Weiblichen. In den 80er Jahren sparten feministische Forscherinnen wie Mona
Knapp dann auch nicht mit Kritik an dieser Figur:
Zitatorin:
Fabers Ansichten können als verbindlich gelten für die Klasse des Homo faber der
Nachkriegsära: für ihre noch weithin unreflektierte Fortschrittsgläubigkeit, den
Sendungsauftrag des Technikers und die Teilhabe am wirtschaftlichen Aufschwung
(…) und schließlich für einen geradezu plakativen Antifeminismus. (2)
Cut 11: (Schlöndorff)
Wir haben schon gefragt wieso kann der so ein Macho sein? Unmöglich! Sich 1992
so zu verhalten nach 15 Jahren Emma (Lacht) Ja, sagt er, Moment mal, ich hab das
ja in den 50ern geschrieben, da war das Bild des Mannes anders, auch deswegen
muss der Film damals spielen. Da gab‘s diese Selbstverständlichkeit, mit der ein
Mann seine Frauengeschichten erzählt, und das tut der Homo faber ja so nebenbei,
ohne sich jemals in die Position der Frau hineinzudenken! In dem Sinne haben wir
miteinander gesprochen, dass er sagt, heute hätte ich eine ganz andere Art
Beziehung zu einer Frau als damals.
Autorin:
Die Literaturwissenschaftlerin Mona Knapp geht davon aus, dass sich Max Frisch mit
den in den 50er Jahren aktuellen Beiträgen zur Frauenfrage – etwa Simone de
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Beauvoirs „Das andere Geschlecht“ – beschäftigt hat und in die Figurenzeichnung
von Faber und Hanna mit einfließen ließ:
Zitatorin:
Beide sind typische Exponenten des geschlechtsgebundenen Rollenverhaltens, wie
Beauvoir es beschreibt. Hanna gehört zu der relativ neuen Aufsteigerklasse
emanzipierter Frauen. Und diese Zugehörigkeit verdankt sie in erster Linie nicht ihren
Parolen (…), sondern zwei aus ihrem Lebenslauf herausragenden Details: sie erzieht
ein Kind allein und verfolgt zugleich ihre Karriere ohne die Unterstützung eines
Ehemanns. (2)
Autorin:
Hanna wird Archäologin. Sie befasst sich mit Geschichte, Kunst und Mythologie –
und ist damit zugleich der Widerpart des fortschrittsgläubigen Technikers Faber.
Für Frisch und Schlöndorff ist Hanna die Schlüsselfigur.
Cut 12 (Schlöndorff)
Also zunächst mal weil es eine erwachsene, selbstbewusste Frau ist, die sich nicht
mit diesen Sentimentalitäten der Männer auf immer abgibt, sondern wirklich
erwachsen geworden ist. Ich glaube, da gibt es Beispiele - im Leben von Max Frisch
steht mir nicht an das zu sagen - bei mir war das die Margarete von Trotta, der Film
fiel auch in die Zeit unserer Trennung, und die Hanna – Barbara Sukowa, die ja
seitdem ununterbrochen mit Margarete von Trotta Filme macht – das ist also eine
Figur, die man sehr bewundert, weil sie groß ist, weil sie das annimmt, was das
Leben ihr zuspielt, also jemand, der einen retten kann, aber vor der man auch Angst
hat, weil sie eine gewisse Strenge hat. Und der Ausgang ist ja, hier sind zwei
Studenten in Zürich vor dem Zweiten Weltkrieg, er ist irgendwie der Rolle des
Verlobten noch nicht gewachsen, und auf der anderen Seite löst sie durch ihre
bedingungslose Forderung, dass er sie aus Liebe heiraten soll und nicht um ihr
Leben zu retten, löst sie die Tragödie aus. Denn sie ist schwanger, schwanger von
ihm, sie wird dieses Kind zur Welt bringen, er wird diesem Kind eines Tages
begegnen, die beiden werden sich selbstverständlich gegenseitig anziehen, weil sie
die gleichen Gene haben, sie wissen es nur nicht. Also ist die gute, schöne,
erwachsene Hanna, diese Göttin, gleichzeitig diejenige, die das ganze Unglück
verursacht hat.
Autorin:
Auch Hanna ist schuldig geworden. Sie hat allen verschwiegen, dass Faber der Vater
ihrer Tochter Sabeth ist. Auch das ein Teil der Tragödie antiken Ausmaßes. Frischs
Roman ist voller Anspielungen auf die antike Mythologie, und die
literaturwissenschaftliche Forschung hat sie immer wieder interpretiert. Nicht
umsonst spielt doch ein zentraler Teil der Geschichte in Griechenland! Warum will
sich Faber nach dem Inzest wie Ödipus die Augen ausstechen? Warum schlafen
Faber und Sabeth ausgerechnet bei einer Mondfinsternis zum ersten Mal
miteinander - einer Planetenkonstellation, bei der den Göttern der Inzest erlaubt war?
Erinnern Hanna und Sabeth nicht an den Mythos von Demeter, der Mutter, deren
Tochter Persephone von Hades entführt wird? Und dann tauchen auch noch die
Erinnyen auf, die griechischen Rachegöttinnen. Da sind Faber und Sabeth auf ihrer
romantischen Reise schon ein Paar und streifen in Italien durch die Museen. Faber
hat die steinerne Skulptur einer schlafenden Erinnye entdeckt, Sabeth tritt dazu:
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Cut 13: (Filmausschnitt Schlafende Erinnye)
Ich hab dich schon überall gesucht….. Ein schlafendes Mädchen. (Musik)
Regie: Musik kurz frei, unter O-Ton legen
Cut 14: (Schlöndorff)
Für mich an der Erinnye ist das Interessante, dass zum ersten Mal der Ingenieur
einen Blick für Kunst hat. Das hat immer hin die Begegnung mit der Sabeth
ausgelöst, dass er nicht mehr den Sportteil liest, während sie im Museum ist.
Sondern dass er jetzt in einem Museum diesen Kopf entdeckt, und sich fragt, ob die
träumt oder schläft, und auf einmal hat die Sabeth die Kamera in der Hand, die er
sonst immer hält, und filmt ihn. Also es ist umgekehrt. Jetzt auf einmal durch das was
er erlebt hat auf dieser Reise ist er dabei, ein anderer zu werden. Ich glaube so
konkret ist es. Frisch schreibt was er sieht und wahrnimmt, und die Mythologie nimmt
er nur an der Oberfläche wahr, das sind so Versatzstücke, die Teil von unserer Kultur
sind, aber zum Verständnis des Romans, glaube ich dass er ehrlicherweise gesagt
hat, muss man die Mythologie nicht kennen. Punkt.
Regie: Musik
Autorin:
In seiner Autobiografie erinnert sich Volker Schlöndorff daran, dass Max Frisch vor
„deutschem Bildungsüberdruck“ gewarnt habe. Er selbst habe nicht mehr als die
Sagen des Klassischen Altertums gelesen und sich nicht weiter mit Mythologie
befasst.
Cut 15: (Schlöndorff)
Auf jedenfalls hat es überhaupt nichts mit Ödipus nichts zu tun, wenn überhaupt, das
hat er schon gesagt, dann mit Demeter, mit Mutter Erde, da gibt es sowas, dass ihre
Tochter verführt worden ist, aber das können sie sich schenken, für die Erzählung
des Films oder die Inszenierung ist das alles nicht notwendig.
Autorin:
Der Film funktioniert in der Tat auch so. Das liegt auch an der Besetzung. Sabeth
wird von der jungen July Delpy gespielt, großartig, fand auch Max Frisch. Ein Sphinx,
zwischen Mädchen und Frau, mal offen, mal geheimnisvoll. Das markante Gesicht
von Sam Shepard, der lonesome Cowboy, kontrolliert, schweigsam, kantig,
schwierig. Auch bei den Dreharbeiten, die fast alle an den Originalschauplätzen des
Romans stattfanden. USA, Lateinamerika, Europa. Das Team musste viel reisen.
Kleines Problem:
Cut 16 (Schlöndorff)
Der wunderbare Sam Shepard, der hat Flugangst (Lachen) Den mussten wir aus
Virginia mit dem Auto nach Mexico fahren lassen, mit einer Limousine, und dann
hatte er keinen gültigen Pass und wurde als Drogenhändler festgenommen. Also das
dauerte eine Woche, bis wir überhaupt unseren Hauptdarsteller da hatten, und dann
mussten wir für ihn nach Schiffspassagen suchen also Cargoschiffe mit Kabine usw.,
das hätte vier bis sechs Wochen gedauert, so lang kann ja kein Team in der Luft
hängen, und dann sagt: What about the Concorde? Ich sag diese Zigarre, diese
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lange dünne Ding, das heute ja nicht mehr fliegt, das ist doch furchtbar, also dann
Concorde. Und als wir dann in Paris waren, sagt er plötzlich, ich fühl mich wie ne
Nutte, ich bin ja Schriftsteller und jetzt als Schauspieler jeden Tag vor der Kamera,
das will ich nicht. Aber wir haben ja einen angefangenen Film, da müssen wir ja
weiter machen! Jaja, ich weiß … Also war ein Alptraum, und ich habe nie wieder ein
Wort mit ihm gesprochen.
Autorin:
Und doch war Sam Shepard ideal für den Film. Nicht nur, weil er als Theaterautor an
den Dialogen mitgearbeitet hat. Shepard habe während der Dreharbeiten in der Figur
viel von sich selbst entdeckt, erinnert sich Schlöndorff. Es muss eine Art
Wahlverwandtschaft gewesen sein.
Regie: Musik M0426773, Take 3 (Sabeth, Anfang unterlegen)
Autorin:
Trotz aller Widrigkeiten bei den Dreharbeiten kam der Film im März 1991 in die
Kinos, mit der Filmmusik von Stanley Myers. Die Kritik nahm den „Homo faber“
allerdings nicht so begeistert auf wie andere Literaturverfilmungen von Volker
Schlöndorff. Ein Kritikpunkt: er sei zu dicht an der literarischen Vorlage geblieben, zu
ehrfürchtig mit dem Stoff umgegangen. Beim Gespräch im Literaturhaus Stuttgart
sieht Schlöndorff das etwas anders.
Cut 17: (Schlöndorff)
Ich glaube, die Kritik war etwas ratlos, weil der Film ist ja sagen wir mal sehr
gefühlvoll, wahrscheinlich der gefühlvollste, den ich bisher gemacht hab, und da hat
sich die Kritik mokiert. Ich kann es nicht verstehen, aber gut. Homo faber ist fast
neben der Blechtrommel mein größter Erfolg, auf jeden Fall in Deutschland, also der
Film, der am meisten gesehen wird, und nicht nur, weil er auf dem Abiturpensum
steht, glaub ich (Lachen) und darüber bin ich sehr froh. Also mit der Blechtrommel
kann man sich selbst schlecht identifizieren, das ist so ein Wahnsinnsding, da kann
man nur froh sein, dass ich das hingekriegt habe, dieses Monument. Und das ist halt
ein sehr persönlicher Film, und deshalb häng ich dran und deshalb bin ich da auch
immun gegen Kritik.
Regie: Musik M0426773, Take 3 (Sabeth, Ende unterlegen)
Autorin:
Max Frisch hat die Dreharbeiten über die Jahre mit verfolgt. Zusammen mit
Schlöndorff arbeitete er an der deutschen Fassung der Dialoge. Kurz vor seinem Tod
im April 1991 konnte Max Frisch den fertigen Film noch sehen. Er hat ihm sehr
gefallen.
Regie: Musik noch einmal hoch, auf Schluss
*****
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Zitatnachweis / Literatur:
(1) Hörbuch „Max Frisch: Homo faber“, gelesen von Felix von Manteuffel, Der
Hörverlag, Produktion SWR 2001
(2) Mona Knapp: Moderner Ödipus oder blinder Anpasser? Anmerkungen zum Homo
faber aus feministischer Sicht. In: Schmitz, Walter (Hg.) Frischs Homo faber,
Suhrkamp Taschenbuch Materialien, 1983
Frisch, Max: Homo faber. Ein Bericht. Suhrkamp Verlag, 1957
Schlöndorff, Volker: Licht, Schatten und Bewegung. Mein Leben, meine Filme.
Hanser Verlag, 2008
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