Unbedingt lesen: Christian Hallers neuen Roman: «Die verborgenen Ufer» «19. Juni, vier Uhr nachts, ein dumpfes Grollen. Ich schrecke hoch. Die Hausmauern zittern. Ein Erdbeben!» Was bei Proust der Geschmack eines in Lindenblütentee getunkten Gebäckstücks namens "Petite Madeleine" war, eben eine Art Schlüssel zur Vergangenheit, könnte analog bei Christian Haller die Katastrophe eines Terrassenbruchs am Rheinufer sein. Aus dieser Warte erzählt er in seinem autobiographischen Roman die Geschichte eines jungen Mannes, der es sich schon seit Kindertagen angewöhnt hatte, den Anforderungen, mit denen er konfrontiert wurde, auszuweichen. Dieses Verhaltensmuster behält er auch in Freundschaften und bei seiner ersten Liebe bei. Er duckt sich lieber unter den Erwartungen weg, als dass er sich ihnen stellen möchte. Im Vermeiden und Ausweichen entdeckt er aber eine Kraft, die ihn weiter tragen wird, als selbst die ihm nahestehendsten Menschen es für möglich gehalten hätten. In der NZZ war zu lesen: «Die gelassene Genauigkeit von Christian Hallers Sprache ist ihre Schönheit.» Das ist so, kein Zweifel! Ich habe Hallers Buch in zwei Nächten in einem Zug (Nicht SBB) gelesen. Das ist nicht mehr allzu häufig geschehen. Erstes Fazit: Unbedingt das Buch erwerben, hernach sich an einen ruhigen Ort zurück- und dann sich hineinziehen lassen in das, was man vielleicht einen Entwicklungs- oder Bildungsroman nennen wird. Das wäre dann so etwas wie Henry Fieldings «The History of Tom Jones, a Foundling», Goethes «Wilhelm Meisters Lehrjahre» oder zeitgemässer, James Joyces «Ein Portrait des Künstlers als junger Mann»? Das Buch hält diese Vergleiche aus. Es hat Tiefgang, Schmerz, Ironie und sprachliche Prägnanz. Da lesen Sie Sätze wie: Das Wasser hinter dem Schilfgürtel war seicht, von einem Lichtnetz überspiegelt. Oder: Ich aber sah ins Wasser, und weder die Fische noch ich selber hatten eine Ahnung, wie ich die nächsten Wochen und Monate verbringen könnte. Ich wüsste schon wie, zumindest für die nächsten Tage. Wenn Sie nämlich das Buch von Christian Haller lesen, dann erleben Sie genau und konzentriert beschriebene und hoch angereicherte Lehrstunden über die Leiden und Freuden eines Mannes, der sich einen einsamen Pfad durch das dornige Gestrüpp seines nicht immer konfliktlosen Lebens zu seiner persönlichen Ausdruckswelt bahnt. Spannend ist das Buch zudem auch noch; und es regt zu Vergleichen mit sich selbst an. Dies vor allem dann, wenn man die Schauplätze kennt und die Dramatis personæ gekannt hat, die jetzt an uns verborgenen Ufern weilen.
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