Mehr drin als man glaubt: Chancen der Biografiearbeit mit Älteren

Mehr drin als man glaubt:
Chancen der Biografiearbeit mit Älteren
Biografie - Begriffsbestimmungen
griech. „bios“ = Leben; „graphein“ = schreiben
Lebensbeschreibung
„Lebensgeschichte, die aus Lebensgeschichten besteht“
eine Konstruktion:
„Die biografische Wahrheit ist nicht zu haben.“ (S. Freud)
Ergänzung zum „Konstrukt“
Ereignis
Erleben
Einspeichern
Erinnern
Erzählen
Biografie - Begriffsbestimmungen
griech. „bios“ = Leben; „graphein“ = schreiben
Lebensbeschreibung
„Lebensgeschichte, die aus Lebensgeschichten besteht“
eine Konstruktion:
„Die biografische Wahrheit ist nicht zu haben.“ (S. Freud)
„...das Fleisch auf dem Gerippe des Lebenslaufs“
„eine in einem lebenslangen Prozess erworbene Aufschichtung
von Erfahrungen, die bewusst oder unbewusst geronnen in
unser Handeln eingehen“ (Gudjons, 2008)
Die Lebensspanne vor 200 Jahren
- am Beispiel der Schwestern Bronté (vgl. Bollmann, 2007)
Vater
Patrick
Mutter
Maria
† 85 Jahre
† 38 Jahre
Tochter
Maria
Tochter
Elizabeth
Tochter
Charlotte
Sohn
Branwell
Tochter
Emily
Tochter
Anne
† 11 Jahre
† 10 Jahre
† 39 Jahre
† 31 Jahre
† 30 Jahre
† 29 Jahre
Durchschnittssterbealter: 25 Jahre
Unterwerfung unter das Lebenslauf-Regime
K. Marti – Quelle: unbekannt
Als sie mit zwanzig
ein Kind erwartete
wurde ihr Heirat befohlen
Als sie geheiratet hatte
Wurde ihr Verzicht auf alle
Studienpläne befohlen.
Als sie mit dreißig noch
Unternehmenslust zeigte
Wurde ihr Dienst im
Hause befohlen.
Als sie mit vierzig
Noch einmal zu leben versuchte
Wurde ihr Anstand und Tugend
befohlen.
Als sie mit fünfzig
verbraucht und enttäuscht war
zog ihr Mann zu einer jüngeren
Frau.
Liebe Gemeinde
Wir befehlen zu viel
Wir gehorchen zu viel
Wir leben zu wenig.
Was uns gesund macht und erhält
nach Aron Antonovsky
Körperliche
Widerstandskräfte
Psychische
Ressourcen
z.B. Intelligenz
Materielle
Ressourcen
z.B. Geld
Psychosoziale
Ressourcen
z.B. Netzwerke
Kohärenz:
Sinn entdecken
Verstehbare
Vergangenheit
Vs. Ich versteh die Welt
nicht mehr
Handhabbare
Gegenwart
Lohnenswerte
Zukunft
Vs. Ich schaff‘s eh nicht
Vs. Es hat sowieso
keinen Sinn mehr
Was ist „Biografische Kompetenz“?
Biografische Kompetenz = die Fähigkeit eines/r jeden,
die eigene Biografie überdenken, bewältigen und
entwerfend gestalten zu können.
• das Bewusstsein der persönlichen Vorstellung von Biografie
• das Bewusstsein über die jeweilige Art, in der Zeit zu leben
• die verstehende Auseinandersetzung mit dem vergangenen Leben (Bilanz)
• das Aufgreifen von Lebenschancen und die Bewältigung aktueller Krisen
• das Entwerfen und Umsetzen von Zukunftsplänen
• das Bewusstsein über die Verwobenheit mit Gesellschaft, Politik, Geschichte
Biographizität = „die Arbeit des Menschen
an seiner Biografie“ (Kraul & Marotzki, 2002)
Biografiearbeit...
…eröffnet Möglichkeiten des Nachdenkens und Austausches über
den persönlichen Lebensverlauf.
Der ressourcenorientierte Blick in die Vergangenheit hilft, die
Gegenwart zu bewältigen und in ihr liegende Chancen zu ergreifen.
Die persönliche Zukunft gewinnt an Konturen und es lassen sich
tragfähige Konzepte zu deren Gestaltung entwickeln.
Durch Biografiearbeit erfahren Menschen Heilung,
Lebensorientierung und Ermutigung.
Die Begleitung von Klient/-innen i.w.s. kann genauer an deren
Vorgeschichte und Lebenssituation ausgerichtet werden.
Wirkungen der Biografiearbeit –
einfaches Modell
Heilung
Orientierung/
Sinn
Ermutigung
Der rote Faden
Biografiearbeit in der Seelsorge
Wurzeln:
Biblische Gestalten
Heilige
Ignatianische Exerzitien
Beichte
Mögliche Themen:
• Berufung: „Stell Dir vor,
Du bist einmal und keiner merkt‘s!“
• Träume: Visionen vom guten Leben
• Leid und Stärkung:
Aufsteh- statt Fallgeschichten
• Sterben und Tod:
ernsthaftes Leben,
abschiedliche Existenz
Aspekte des Biografie-Begriffs
vgl. Klingenberger 2003, Siebert o.J.
Sozial-Biografie
• Soziale Beziehungen
• Soziale Verhältnisse
z.B. spirituelle Vorbilder, prägende Hauptamtliche, Begegnungen…
Kultur-Biografie
• „Große Kultur“
• Alltagskultur
z.B. Feste, Rituale, spirituelle Bücher,
Musik, Filme…
Öko- Biografie
• Leiblichkeit
• Dinge
• Äußere Natur
z.B. Körpergesten, Berührungen, spirituelle
Erfahrungen in der Natur, Rosenkranz,
Gerüche…
WeltanschauungsBiografie
• Religion / Spiritualität
• Lebensphilosophie / Politik
z.B. Gottesbilder, spirituelle Erfahrungen,
Zweifel, „Liebeskummer mit der Kirche“…
Gender-Biografie
• Frau-Werden/-Sein
• Mann-Werden/-Sein
z.B. Erfahrungen mit der Sexuallehre, mit
der Frauen-/Männerrolle in der Kirche…
Lern-Biografie
• formal – nonformal
z.B. Lernorte (Kommunion-,
• Motivation/Interessen – Kommunikation Firmvorbereitung), „Heimlicher Lehrplan“
der Kirche…
- Tätigkeit
Persönlichkeit
• Denken – Fühlen – Wollen - Tun
z.B. einschneidende Ereignisse mit der
Kirche, Nähe-Distanz, Macht-Ohmacht…
Aspekte des Biografie-Begriffs
vgl. Klingenberger 2003, Siebert o.J.
Sozial-Biografie
• Soziale Beziehungen
• Soziale Verhältnisse
z.B. spirituelle Vorbilder, prägende Hauptamtliche, Begegnungen…
Kultur-Biografie
• „Große Kultur“
• Alltagskultur
z.B. Feste, Rituale, spirituelle Bücher,
Musik, Filme…
Öko- Biografie
• Leiblichkeit
• Dinge
• Äußere Natur
z.B. Körpergesten, Berührungen, spirituelle
Erfahrungen in der Natur, Rosenkranz,
Gerüche…
WeltanschauungsBiografie
• Religion / Spiritualität
• Lebensphilosophie / Politik
z.B. Gottesbilder, spirituelle Erfahrungen,
Zweifel, „Liebeskummer mit der Kirche“…
Gender-Biografie
• Frau-Werden/-Sein
• Mann-Werden/-Sein
z.B. Erfahrungen mit der Sexuallehre, mit
der Frauen-/Männerrolle in der Kirche…
Lern-Biografie
• formal – nonformal
z.B. Lernorte (Kommunion-,
• Motivation/Interessen – Kommunikation Firmvorbereitung), „Heimlicher Lehrplan“
der Kirche…
- Tätigkeit
Persönlichkeit
• Denken – Fühlen – Wollen - Tun
z.B. einschneidende Ereignisse mit der
Kirche, Nähe-Distanz, Macht-Ohmacht…
Was fällt Ihnen auf?
3 + 9 = 12
3 + 9 = 12
17 – 6 = 11
17 – 6 = 11
3 x 5 = 14
3 x 5 = 14
18 : 2 = 9
18 : 2 = 9
4 + 7 = 11
4 + 7 = 11
13 – 6 = 8
13 – 6 = 8
4 x 3 = 12
4 x 3 = 12
14 : 2 = 7
14 : 2 = 7
Ein erstes Prinzip der Biografiearbeit:
Ressourcenorientierung
A
B
C hancen
D eutungen
E rfolgserlebnisse, Einstellungen
F amilie, Freude, Fähig-, Fertigkeiten
G ewohnheiten, Gegenstände
H umor, Haltungen
I
J
K ompetenzen, Kunst, Kultur
L ebenstüchtigkeit
M usik, Motti
N etzwerk
O rte
P läne
Q
R ituale, Regeln
S tärken
T räume
U
V isionen, Vorbilder
W
X
Y
Z iele
Kritische Anfrage an die Ressourcenorientierung
Wird durch die Ressourcenorientierung nicht ein wichtiger Teil
des Lebens ausgeblendet?
• Wenn der/die Klientin nicht bereit/fähig ist, ressourcenorientiert zu
arbeiten, wird sich sein/ihr Thema sowieso Raum nehmen.
• Der Not Raum geben und ressourcenorientierte Angebote machen:
Was hilft beim Durchhalten, beim Wiederaufstehen? Wann ist es besser?
Wie soll es sein?
• Ggfs. an therapeutische Fachleute weiter verweisen
• Die eigene Ausbildung und die eigenen Grenzen beachten
• Motto: dem „defizitorientierten Programm“ die Ressourcenorientierung zur
Seite stellen
Abgrenzung zur Therapie
• In der Therapie wird am und mit dem Widerstand gearbeitet. Die
Biografiearbeit respektiert diesen Widerstand und arbeitet nicht an oder mit
ihm.
• Biografiearbeit richtet sich an Menschen, deren Selbststeuerungsfähigkeit
intakt ist. In der Psychotherapie sind diejenigen Menschen besser
aufgehoben, deren Fähigkeit, sich selbst zu steuern, durch Neurosen oder
Psychosen, Angstzustände oder Depressionen begrenzt ist
• Schließlich sind die Interventionen und Angebote der Biografiearbeit in der
Regel kürzer und punktueller als therapeutische Prozesse – auch wenn es
hier wieder durchaus Anknüpfungspunkte zur Kurzzeittherapie gibt.
Die Kapitel meiner Autobiografie
Stellen Sie sich vor, ein Verlag fragt Sie an und bittet
Sie, Ihre Autobiografie zu schreiben.
Sie sollen zunächst eine Gliederung abgeben, die
aus sieben Kapiteln bestehen soll.
Wie lauten die inhaltlichen Überschriften dieser
Autobiografie bis zum heutigen Tag?
Lebens-Leistungen
1. Das Aktiv-Geschaffene, Produktive
z.B. Prüfungen, Hausbau. Familiengründung
2. Das Aus- und Durchgehaltene
z.B. Krankheit, Arbeitslosigkeit, schwacher Vorgesetzter
3. Das Losgelassene
z.B. Menschen, Träume, Vorhaben
4. Das Zugelassene und Aufgegriffene
z.B. Chancen, Angebote, Zu-Fälle
5. Das Widerständige
z.B. Protest, Beharrung, Konsequenz
Meine Fähigkeiten und Haltungen
Bei allem, was Sie
- geschafft / geschaffen
- losgelassen
- ausgehalten / durchgestanden
- zugelassen
- zu verhindern versucht haben,
haben Sie Fähigkeiten, Fertigkeiten und bestimmte
Haltungen unter Beweis gestellt!
Notieren Sie einige dieser Kompetenzen!
Biografische Orientierung –
an einem Beispiel ausprobiert
Kennenlernen von
Not und Armut
Bio-Grafik – eine Methode zum biografischen Verstehen nach Herder, 2006
Geburt
Kriegsdienstverweigerung/
Zivildienst
Pädagogikstudium
Lebensgeschichte
heute
Lebenslauf
Sozial-, Kultur-,
Kirchengeschichte
Politik
Olympiaattentat
München
Lebensalter
13
26
39
53
Biografiearbeit eröffnet Zugänge
Lisbeth sitzt in einer anderen Kommode
„Die biografische Wahrheit ist nicht zu haben.“ (S. Freud)
Man spricht deswegen nicht von der „Wahrheit“
biografischer Erinnerungen, sondern von
• Stimmigkeit der Erinnerungen (persönlich)
• Plausibilität und Lebensnähe des Erzählten
• Passung der Geschichten
• Angemessenheit
Mit Erfahrungsschätzen und Ressourcen
arbeiten
ein Ressourcenparcour
„Ich bin eine der Möglichkeiten,
die das Leben bereichern,
das ist der Sinn meines Lebens,
von Anfang an und bis zuletzt.“
Wilhelm Schmid
Sie haben zehn Stationen zur Auswahl:
1. Die Zeiten des Lebens
2. Das Alter die Lebensphase des „Noch“
3. Gewohnheiten
4. Genießen der „bescheidenen Lüste“
5. Stärkung der Hinnahmefähigkeit
6. Berühren und sich berühren lassen
7. Liebe & Freundschaft
8. Heiterkeit und Dankbarkeit
9. Edelsteinleben oder Kieselsteinleben?
10.Öffnung zu einer unendlichen Dimension
Vorschlag: 10 Minuten Einzelarbeit + 10 Austausch
Wechsel nach 20 Minuten
Damit Biografiearbeit mehr ist als Methode:
Hinweise für biografische Angebote
Prinzipien der Biografiearbeit
• Ressourcenorientierung
• Selbstbestimmung: Recht auf Schweigen und Verdrängen
• Freiwilligkeit: Alternativen anbieten
• Vertraulichkeit und Zuverlässigkeit
• Ergebnissicherung und Verschriftlichung
• Handlungs- und Transferorientierung
• Haltung: humanistisches, christliches Menschenbild
• Reflexivität: Biografiearbeit und Ressourcenorientierung für
sich selbst durchführen