Freiheit von Schulden – Freiheit zum Gestalten?

Freiheit von Schulden – Freiheit zum Gestalten?
Haushaltsüberschüsse im internationalen Vergleich
Lukas Haffert
2014 erzielte die Bundesregierung den ersten ausgeglichenen Bundeshaushalt seit 1969. Mit die­
ser „schwarzen Null“ verbinden sich große Hoffnungen: Endlich wieder seien Investitionen in die
öffentliche Infrastruktur, in Bildung, Forschung und Familien möglich, die lange Zeit ausgeblieben
sind. Doch wie berechtigt ist dieser Optimismus? Eine Untersuchung von Ländern, die dauerhaft
Haushaltsüberschüsse erwirtschaften, bietet Anlass zu Skepsis.
Der Rückgang staatlicher Handlungsfähigkeit und die Suche
nach politischen Antworten
In fast allen entwickelten Demokratien geht die Handlungsfähigkeit des Staates seit
Jahren zurück. Es festigt sich der Eindruck, politische Entscheidungen seien immer öfter
das Ergebnis unverrückbarer Sachzwänge. Solche Zwänge untergraben die fundamentale
Voraussetzung der Demokratie, nämlich die Möglichkeit, eine Wahl zwischen verschiede­
nen Alternativen zu haben. Wo der Sachzwang herrscht, ist keine Wahl mehr zu treffen.
Vor diesem Hintergrund ist es ein enorm wichtiges Ziel, den Spielraum für politische
Optio­­nen wiederherzustellen. Wie aber ist dies zu bewerkstelligen?
Eine insbesondere in Deutschland sehr populäre Strategie sieht die Lösung hierfür in einer
nachhaltigen Konsolidierung der öffentlichen Haushalte und dem Erwirtschaften dauer­
hafter Überschüsse. Ihre Logik basiert auf einem einfachen Umkehrschluss: Wenn eine
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steigende Verschuldung zu einer sinkenden Handlungsfähigkeit führt, muss eine sinken­de
Verschuldung einen Wiederanstieg derselben nach sich ziehen. Gelingt es also, fiskalische
Manövriermasse zurückzugewinnen, kann auch wieder zwischen politischen Alternativen
entschieden werden.
Diese Strategie kann man als „progressive Kon­so­
lidierungsthese“ bezeichnen. Ein Abbau der Staats­ Sachzwänge untergraben eine
verschuldung ist demnach kein Zweck an sich, fundamentale Voraussetzung der
sondern ein Mittel zum Zweck, nämlich zur Wie­
Demokratie: die Wahl zwischen
der­
gewinnung staatlicher Gestaltungsfähigkeit.
Konsolidierungen sind also nur ein erster Schritt verschiedenen Alternativen.
und sollen es ermöglichen, die nötigen finanziel­
len Ressourcen für die eigentlichen Politikziele aufzubringen. Diese eigentlichen Ziele
sind dann vor allem Programme, die Zukunftschancen schaffen, statt für die Lasten der
Vergangenheit aufzukommen. Konkret dienen diesem Zweck vor allem „harte“ und „wei­
che“ Investitionen: einerseits in die öffentliche Infrastruktur, andererseits in die Bürger­in­
nen und Bürger eines Landes, also in Bildung, Forschung und Familien.
Erlauben Überschüsse die Wiedergewinnung
staatlicher Handlungsfähigkeit?
Besonders gute Voraussetzungen für das Gelingen einer progressiven Konsolidierung
scheinen Län­der mit dauerhaften Haushaltsüberschüssen zu haben. Solchen Ländern
gelingt es nämlich nicht nur, ihre Einnahmen und Ausgaben auszugleichen und das
Wachstum der Staatsverschuldung zu stoppen. Vielmehr können sie die Verschuldung
sogar deutlich senken. Damit nimmt auch ihre Zinslast erheblich ab, wodurch sich neue,
substanzielle fiskalische Spielräume eröffnen. Zudem sind Überschussländer we­ni­ger auf
das Wohlwollen der Finanzmärkte angewiesen. Die Voraussetzungen für eine Be­frei­ung
vom Diktat des politischen Sachzwangs sind dort also sehr günstig.
Darüber hinaus sind Haushaltsüberschüsse ein empirisch weitaus relevanteres Phänomen,
als man intuitiv vermuten mag. So erzielten die meisten entwickelten Demokratien in den
vergangenen drei Jahrzehnten zwar gelegentlich eine „schwarze Null“. In der Regel verloren
sie diese aber auch rasch wieder. Das bekannteste Beispiel dafür dürfte der in den Jahren
1998 bis 2000 erwirtschaftete und verlorene Haushaltsüberschuss der Regierung Clinton sein.
Sechs Ländern jedoch gelang es, ihre Haus­hal­te
für mehr als ein Jahrzehnt fast permanent in den Sechs Staaten erzielten für mehr als
schwarzen Zahlen zu halten, näm­lich Australien, ein Jahrzehnt Überschüsse.
na­
da, Neuseeland und
Dänemark, Finnland, Ka­
Schweden. All diese Länder wiesen noch zu
Beginn der 1990er-Jah­re erhebliche De­fi­zite aus. Sie reagierten darauf mit umfassenden
fiskalischen Konso­li­die­rungs­anstrengungen, glichen ihre Haushalte aus und bewahrten
die Über­schüs­se bis zum Ausbruch der Weltfinanzkrise im Jahr 2008 (Abb. 1).
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Aus der Forschung
Entwicklung des Haushaltssaldos in sechs Überschussländern
Abb. 1
Prozent des BIP
6
4
2
0
–2
–4
–6
–8
– 10
– 12
1990
1992
Finnland
Schweden
Dänemark
1994
1996
1998
2000
2002
2004
2006
2008
Australien
Neuseeland
Kanada
Quelle: OECD Economic Outlook No. 92; eigene Berechnung.
Wie aber haben diese Länder ihre neu gewonnenen fiskalischen Spielräume genutzt?
Haben sie Steuern gesenkt? Staatsausgaben erhöht? Wenn ja, in welchen Bereichen? Bei der
Beantwortung dieser Fragen liegt ein besonderes Augenmerk auf der staatlichen Gestal­­­t­ungs­tätigkeit: Wenn sich die Hoffnungen der Konsolidierungsbefürworter erfüllen, dann
sollte in diesen Ländern ein deutlicher Wiederanstieg der öffentlichen Investitionen in die
öffentliche Infrastruktur und die Bürgerinnen und Bürger zu beobachten sein.
Ein Anstieg der Gestaltungsausgaben bleibt aus
Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung können jedoch nur als ernüchternd
be­zeich­net werden. Dies zeigt insbesondere die Entwicklung der Nettokernausgaben, also
die Entwicklung der gesamten Staatsausgaben abzüglich sämtlicher Zinskosten und der
Ausgaben des Wohlfahrtsstaates. Sie erlauben damit einen Einblick in die Entwicklung
der staatlichen Gestaltungsfähigkeit, verstanden als die Fähigkeit, zukunftsorientierte
Ausgaben zu tätigen.
Abbildung 2 zeigt die Entwicklung dieser Ausgaben in den ersten zehn Überschussjahren
und den vorausgehenden Konsolidierungen. Dabei steht das mit der Zahl 1 bezeichnete
Jahr für das jeweils erste Jahr im Überschuss. Der für dieses Jahr abgebildete Wert ent­
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Durchschnittliche Entwicklung der Nettokernausgaben
der Überschussländer
Abb. 2
Prozent des BIP
30
28
26
24
22
20
Jahre vor und nach erzieltem Überschuss
–4
–3
–2
–1
0
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
Quelle: OECD Economic Outlook No. 92; eigene Berechnung.
spricht also dem Durchschnitt dessen, was die einzelnen Länder in ihrem jeweils ersten
Überschussjahr, in Kanada zum Beispiel im Jahr 1997 und in Schweden im Jahr 1998, an
Nettokernausgaben tätigten.
Sowohl in Dänemark, Finnland und Schweden als
auch in Australien, Kanada und Neuseeland war Den sechs Ländern gelang es
die Haushaltskonsolidierung, die dem Überschuss nicht, ihre Zusatzeinnahmen
vorausgegangen war, mit erheblichen Kürzungen
für eine spürbare Erhöhung der
der Nettokernausgaben verbunden. Damit erfolg­
te der Abbau des Defizits also fast ausschließlich Nettokernausgaben zu nutzen.
auf der Ausgabenseite des Haushalts. So kürzte
beispielsweise der kanadische Bundesstaat seine Ausgaben in nur vier Jahren von 120,0
auf 108,8 Milliarden Kanadische Dollar. Nach Überwindung der Defizite kehrte sich dieser
Trend dann aber nicht etwa um, sondern setzte sich sogar weiter fort: Statt wieder anzu­
steigen, gingen die Nettokernausgaben weiterhin leicht zurück.
Hinter diesem grafischen Eindruck (Abb. 2) verbirgt sich ein Zusammenhang, der auch
statistisch abgesichert werden kann. Selbst wenn man die Überschussländer mit anderen
Ländern vergleicht und dabei den Einfluss zusätzlicher Faktoren wie Globalisierung und
Demografie berücksichtigt, bleibt die Entwicklung der Investitionsausgaben enttäu­
schend. Trotz häufig wiederholter Absichtserklärungen gelang es den sechs Ländern nicht,
ihre Zusatzeinnahmen für eine spürbare Erhöhung der Nettokernausgaben zu nutzen.
Ganz Ähnliches gilt auch für die harten Infrastrukturinvestitionen und die weichen
Investitionen in Bildung, Forschung und Familien: All diese Ausgaben wurden während
der Konsolidierungsphase deutlich gekürzt, im Überschuss aber nicht wieder erhöht.
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Aus der Forschung
Konsolidierungen verändern den politischen Entscheidungskontext
Der Befund, dass selbst lang anhaltende Über­
schüs­se nicht mit einem spürbaren Wieder­anstieg
der öffentlichen Investitionstätigkeit verbunden
Konsolidierungsphase prägten
waren, wirft unmittelbar die Frage nach den
auch die Fiskalpolitik der Über­
Grün­
den für diese Entwicklung auf. Wie die
schussperiode.
genauere Unter­
suchung der einzelnen Länder
zeigt, blieb die Fiskalpolitik der Überschuss­länder
stark von Weichenstellungen geprägt, die im Konsolidierungszeitraum getroffen worden
waren. Entscheidungen der Konsolidierung setzten sich folglich in der Fiskalpolitik der
Überschussperiode fort und bedingten diese. Sie stärkten bestimmte Interessengruppen
und deren politischen Ziele und schwächten deren Konkurrenten. Die Art und Weise, wie
ein Überschuss entstand, hatte also Auswirkungen darauf, wie er verwendet wurde.
Die Weichenstellungen in der
Das lag in erster Linie an der konkreten Ausge­stal­tung der Konsolidierungsmaßnahmen.
Diese erreichten nicht nur ein enormes Ausmaß, vielmehr kam es daneben auch zu
grundlegenden poli­tischen und institutionellen Reformen, die ein dauerhaftes Regime
sparsamer und risikoscheuer Fiskalpolitik etablierten. Vor allem aber vollzogen sich die
einzelnen politischen Veränderungen nicht unabhängig voneinander, sondern verstärk­
ten sich gegenseitig: Neue Vorstellungen von guter Fiskalpolitik lösten institutionelle
Reformen aus, diese veränderten die politischen Maßnahmen, die sich wiederum auf die
Struktur der politischen Interessen auswirkten. Veränderte politische Interessen beein­
flussten sodann das strategische Kalkül der Parteien, die neue institutionelle Reformen
auf den Weg brachten. Letztlich blieben diese Reformen auch nach dem erfolgreichen
Abschluss der Konsolidierung wirksam. Die Haushaltskonsolidierung wurde damit zu der
entscheidenden Weggabelung: Die Reformen beschränkten den politischen Spielraum bei
der Verwendung der Überschüsse, indem sie ein neues „Überschussregime“ etablierten,
das der Bewahrung ausgeglichener Haushalte durch fortgesetzte Sparsamkeit einen klaren
Vorrang vor größeren Investitionen einräumte.
Die „schwarze Null“ ist kein Zeichen zurückkehrenden Überflusses
Eine „schwarze Null“ ist demnach nicht mit wach­
sender fiskalpolitischer Handlungsfähigkeit gleich­
zusetzen. Die Verteilung der Überschüsse erfolgt
die zunehmende Erosion staatlicher
unter nicht weniger großen politischen Zwängen
Gestaltungsfähigkeit weder stoppen
als die Verteilung von Konsolidierungslasten. Und
noch umkehren.
die Interessengruppen und Politikfelder, die beson­
ders umfangreiche Sparmaßnahmen verkraften
müssen, haben eine sehr schlechte Ausgangsposition, um vom Haushaltsplus zu profitie­
ren. Mit Überschüssen allein ist die zunehmende Erosion staatlicher Gestaltungsfähigkeit
also weder gestoppt noch gar umgekehrt.
Mit Überschüssen allein lässt sich
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Vor diesem Hintergrund sind zukünftige deutsche Haushaltsüberschüsse zurückhaltend
zu bewerten. Denn angesichts der Tatsache, dass keinem der untersuchten Länder ein
Wie­der­ausbau der Gestaltungsausgaben gelang, ist es unwahrscheinlich, dass ausgerech­
net Deutschland seine Investitionstätigkeit bei gleichzeitigem Schuldenabbau spürbar
wird erhöhen können. Dies wäre wohl nur möglich, wenn die dafür nötigen Mittel durch
Steuererhöhungen oder eine Kürzung anderer Staatsausgaben generiert werden können –
und mit beidem ist bis auf Weiteres nicht zu rechnen. Vielmehr macht die Existenz eines
Überschusses solche Schritte sogar zunehmend unwahrscheinlich.
Lukas Haffert
Lukas Haffert ist seit Juli 2015 Oberassistent am Institut für Politikwissenschaft der
Universität Zürich. Von 2010 bis 2014 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am
MPIfG. Danach arbei­tete er ein Jahr am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz.
Haffert studierte Volkswirtschaftslehre in Münster und St. Gallen und wurde im
Juli 2014 an der Universität zu Köln promoviert. Für seine Doktorarbeit erhielt er
2015 die Otto-Hahn-Medaille der Max-Planck-Gesellschaft.
Forschungsinteressen: Politische Ökonomie; Fiskalpolitik; Staatstätigkeitsfor­
schung; Institutionentheorie.
Zum Weiterlesen
HAFFERT, L.: Freiheit von Schulden – Freiheit
HAFFERT, L. & MEHRTENS, P.: Haushalts­
zum Gestalten? Die Politische Ökonomie
überschüsse, konservative Parteien und
von Haushaltsüberschüssen. Schriften aus
das Trilemma der Fiskalpolitik. Politische
dem Max-Planck-Institut für Gesell­schafts­
Vierteljahresschrift 55(4), 699–724 (2014).
forschung, Bd. 84. Campus, Frankfurt a.M.
2015.
HAFFERT, L. & MEHRTENS, P.: From Austerity
to Expansion? Consolidation, Budget
Surpluses, and the Decline of Fiscal Capacity.
Politics & Society 43(1), 119–148 (2015).
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Aus der Forschung