Jesus von Nazaret als historische Person: Was wissen wir von Jesus wirklich? Vortrag im Rahmen der Ökumenischen Herbstgespräche in Birkenheide. „Glaube – Wahrheit – Märchen. Wenn es nicht wahr ist, ist es wenigstens schön erfunden?“ 12. November 2015 Dr. Markus Sasse, Fachberater Ev. Religion an Gymnasien, IGS, Freie Waldorfschulen und Kollegs (Bezirk Pfalz), 2015. http://rfb.bildung-rp.de/evangelische-religion.html / mail an [email protected] Inhalt • Notwendige Vorbemerkungen • Literarische Erinnerungen • Historische Konstruktionen Dr. Markus Sasse, RFB 2015 Auferstandener Christus, prot. Kirche Dörrenbach Notwendige Vorbemerkungen Dr. Markus Sasse, RFB 2015 Was ist Geschichte? • Vergangenheit und Geschichte sind nicht identisch. • Geschichtsschreibung ist immer Konstruktion. • Es ging den Evangelisten nicht um die Frage, wie Jesus gelebt habt, sondern darum, wen oder was er verkörpert hat. • Historische Plausibilität Dr. Markus Sasse, RFB 2015 Christus als Weltenrichter, prot. Kirchen Alsenborn Dr. Markus Sasse, RFB 2015 Fiktionalität und Erinnerung • Religiöse Texte sind Literatur. • Es geht nicht um den Gegensatz von wahr oder erfunden. • Welche Wahrheit steckt in den Texten? • Mythen sind fundierende Geschichten (Jan Assmann) • Überforderung des Literalsinnes Frühchristlicher Sarkophag mit der Darstellung der Wunder Jesu, Rom Museo Nazionale Text und Kontext • Wodurch konnte Jesus bestimmt, geprägt, beeinflusst worden sein? • Es geht um Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten. Dr. Markus Sasse, RFB 2015 Karte © Kath. Bibelwerk Linz Woher kommt das traditionelle Jesusbild? • Bekenntnisbildung und kirchliche Tradition • Christliche Kunst • Inszenierung von biblischen Texten (Prozessionen, Passionsspiele etc.) Dr. Markus Sasse, RFB 2015 Frühchristlicher Sarkophag: Jesus und die Evangelisten, Rom (Musei Vaticani) Dr. Markus Sasse, RFB 2015 Literarische Erinnerungen Darstellung des letzten Abendmahls, kath. Kirche in Dernbach / 12jähriger Jesus im Tempel, Max Liebermann (1879), Hamburger Kunsthalle Dr. Markus Sasse, RFB 2015 Jesus und das Alte Testament • Verheißung und Erfüllung (?) • Heilsgeschichtliche Plausibilität • Es geht darum, im Wirken Jesu die • In diesem Sinne bezeugen die Schriften die Messianität Jesu. • Selbstinszenierung Jesu Handschrift Gottes zu erkennen. Frühchristlicher Sarkophag mit Szenen aus AT und NT, Rom Musei Vaticani Dr. Markus Sasse, RFB 2015 Bethlehem • Nazaret ist der Heimatort Jesu. • Bethlehem ist der Ort der Inkarnation, ein fiktionaler Erinnerungsort der Selbstkundgabe Gottes in Jesus Christus • Die damit verbundenen Inhalte (einfache Lebensverhältnisse, Flucht und Verfolgung) sind für die Gegenwart unverzichtbar. • Gott wird Mensch unter schwierigen Bedingungen. Kerzen, Geburtskirche in Bethlehem /Flucht nach Ägypten, Ev. Friedhofskapelle in Annweiler Historische Probleme Lk Mt • Von Nazaret nach Bethlehem und wieder nach Nazaret Nazareth • Volkszählung (Quirinius, 6 n.Chr.) • Bethlehem und Nazaret liegen in verschiedenen Staaten • Von Bethlehem über Ägypten nach • Kindermord, Magier aus dem Osten • Tod des Herodes (4 v.Chr.) Dr. Markus Sasse, RFB 2015 Argumentative Probleme • Wie passen Bethlehem als Stadt Davids (Mi 5,1) und die Jungfrauengeburt zusammen? • Wie vertragen sich Davidsohnschaft (Stammbaum) und die Erwähnung seiner Familie mit der Jungfrauengeburt? • Schriftgemäß ist die Jungfrauengeburt nur auf Griechisch (LXX)! • Röm 1,3f.: von seinem Sohn Jesus Christus, unserm Herrn, der geboren ist aus dem Geschlecht Davids nach dem Fleisch, und nach dem Geist, der heiligt, eingesetzt ist als Sohn Gottes in Kraft durch die Auferstehung von den Toten. Dr. Markus Sasse, RFB 2015 Was leistet das Motiv der Jungfrauengeburt? • Das Motiv einer göttlichen Zeugung stammt aus dem griechischen Kontext. • Die übernatürliche Zeugung ist ein Zeichen für exklusive Gottesnähe (mehr als ein Prophet). • Seit wann ist Jesus Sohn Gottes? Nicht erst durch Taufe bzw. Auferweckung. • Abgrenzung von der Gotteskindschaft der Getauften. • Beginn einer neuen Ära durch die Unterbrechung der dynastischen Folge. Dr. Markus Sasse, RFB 2015 Dr. Markus Sasse, RFB 2015 Was kann das Motiv der Jungfrauengeburt nicht leisten? • Historische Aussagen über den körperlichen Zustand Mariens. • Bestätigung der Vaterschaft Gottes im biologischen Sinne. • Historisch lässt sich hier nichts erforschen (Religiöses Symbol, Intimsphäre) Jesus, Maria und Josef im Stall von Bethlehem, Ev. Friedhofskapelle Annweiler Dr. Markus Sasse, RFB 2015 Historische Konstruktionen Ginossarebene / Modell des Jerusalemer Tempels, Israelmuseum Dr. Markus Sasse, RFB 2015 Jesus hatte Familie. • Vater, Mutter, Brüder, Schwestern • Das Leben als Familie in Nazaret über 30 Jahre ist der prägende Kontext. • Bruch mit den sozialen Bindungen • Jesusbewegung als zeitlich befristete Existenz Isenheimer Altar, Dominikanerkirche Colmar Ein Gedankenexperiment: Jesus ohne Worte! • • • • • • Ein Lehrer und 12 Schüler Gebiet der verlorenen 10 Stämme Trennung von sozialen Bindungen Öffentlichkeit: Anhänger und Gegner; Frauen Symbolhandlungen: Speisungen, Einzug in Jerusalem, Tempelreinigung Grenzüberschreitungen (geographisch und kultisch): Heilungen, Mahlgemeinschaft Dr. Markus Sasse, RFB 2015 Brotvermehrungskirche, Tabgha Der religiöse Kontext: Das Frühjudentum (1) • Die Tora ist die schriftliche Fixierung einer normativen Lebensweise (Verfassung des Staates Juda) • • • • Geschichte – Kult – Recht – Ethik Heimat: Recht und Kult Diaspora: Ethik Prophetie und Apokalyptik als Protestbewegungen Dr. Markus Sasse, RFB 2015 Der religiöse Kontext: Das Frühjudentum(2) • Der Makkabäerkrieg (167-141 v.Chr.) war ein priesterlicher Bürgerkrieg um die Einheit von Lebensweise und Kult. • Märtyrertheologie (Auferstehungshoffnung) und Apokalyptik • Dadurch dass Menschen für die Bewahrung ihrer Lebensweise gestorben sind, kommt es zur Aufwertung der frühjüdischen Normen. Dr. Markus Sasse, RFB 2015 Jüdisches Ritualbad vor den Tempelaufgängen / Steingefäße, Israelmuseum Der religiöse Kontext: Pharisäer und Sadduzäer • Einheit von Religion und Ethik • Übertragung von Kultkriterien auf • Einheit von Kult und Nation • Offenheit für hellenistische • Gesellschaft als Kultgemeinschaft mit • Volk/Nation als Kultgemeinschaft die Ethik (Reinheit) erkennbarer Lebensweise (ethische Toraobservanz) Lebensformen (außerhalb des Kultes) (kultische Toraobservanz) Unterschiedliche soziale Kontrolle Dr. Markus Sasse, RFB 2015 Der religiöse Kontext: Pharisäer und Sadduzäer • Individualität und „freier Wille“ • Lineares Zeitverständnis (Gericht) • Auferstehung • Schicksalsgläubigkeit • Zirkuläres Zeitverständnis (Kult) • Keine Auferstehung Jerusalem: unterschiedliche Modelle der Gottesherrschaft Dr. Markus Sasse, RFB 2015 Ossuarium, Israelmuseum / Inschrift (Schofar), Davidson Center, Jerusalem Der soziale und politische Kontext • Galiläa ist erst seit 104/103 v.Chr. mehrheitlich jüdisch durch Zwangsjudaisierung und Besiedelung aus Judäa. • Unter Herodes (37-4 v.Chr.) wird Galiläa vernachlässigt. • Enormer wirtschaftlicher Aufschwung unter Herodes Antipas (4 v.-39 n.Chr.): politische und wirtschaftliche Eliten vor Ort (Sepphoris, Tiberias) • Religiöse Ausrichtung auf Jerusalem (unter römischer Kontrolle) http://whgonline.de/pages/projekte/religion/historischer-jesus.php#Historischer_Kontext Dr. Markus Sasse, RFB 2015 Ginnosarebene / Wohneinheit in Kapernaum Die Krise der Krisendeutung • Bornkamm: Krise der jüdischen Religion • Theißen: Krise der jüdischen Gesellschaft • Jesus war kein Prophet in schwerer Zeit. • Das Bedürfnis nach Erneuerung und Umkehr (Johannes der Täufer) bildet den Anfang seines Ausstiegs aus den familiären Bindungen. Dr. Markus Sasse, RFB 2015 Asozialität / Devianz • Als heimatloser Aussteiger verkörpert Jesus seine Botschaft und repräsentiert die Herrschaft Gottes. • Wurde Jesus wegen der Randgruppen zu einem Aussteiger? Oder ist der Ausstieg Ausdruck seines Gottesbildes? (Schekina, Menschensohn) • Der Inhalt der Botschaft ist nicht unabhängig von der Art seiner Verkörperung. • Jesus ist die Botschaft. Die besonders intensive Erfahrung der Einheit von Person und Botschaft ist der Ansatzpunkt für die Übertragung von Gottesaussagen und Inkarnationstheologien. Dr. Markus Sasse, RFB 2015 Expliziter Protest gegen Deutungsmonopole • Exorzismen und Mahlfeiern als Protest gegen die • • • • Ausgrenzung von Randgruppen. Programmatisches Fehlen von Berührungsängsten. In diesem Sinne ist Jesus ein Sozialrevolutionär. Es geht um eine gerechte Gesellschaft aus der Sicht Gottes (Gotteskindschaft). Jesus wird von seinen Gegnern zum Staatsfeind gemacht, damit sie nicht anerkennen müssen, dass sich Jesu Protest auf ein offensichtliches Problem bezieht. Befreiungstheologischer Ansatz: Jesus und das Imperium Dr. Markus Sasse, RFB 2015 Judaskuss, Alte Winzinger Kirche Neustadt/Weinstr. Impliziter Protest gegen eine gottlose Globalisierung • Machtdelegation • Entsakralisierung von weltlicher Macht • Jesus bietet Ansätze zu einem Ausgleich von machtpolitischen und göttlichen Interessen. Dies führt zur Entpolitisierung der Christologie. • Der zentrale Streitpunkt ist das Verhältnis von Religion und Ethik: Von wem stammen die Lebensregeln? Wird die herrschende Elite ihrer heilspädagogischen Rolle (Erwählung) gerecht? Dr. Markus Sasse, RFB 2015 Steingefäße und lokale Keramik, Israelmuseum Zur Weiterarbeit … • • Klaus Berger: Jesus, Augsburg 2004. • Martin Ebner: Face to face-Widerstand im Sinn der Gottesherrschaft. Jesu Wahrnehmung seines sozialen Umfeldes im Spiegel seiner Beispielgeschichten, in: EC 1 (2010), 406-440. • James D.G. Dunn: Jesus Remembered (Christianity in the Making 1), Grand Rapids/Mich. 2003. • Wolfgang Stegemann / Bruce J. Malina / Gerd Theißen (Hrg.): Jesus in neuen Kontexten, Stuttgart, Berlin, Köln 2002. • • Angelika Strotmann: Der historische Jesus: eine Enführung, Paderborn 2012. Ulrich H.J. Körtner (Hrg.): Jesus im 21. Jahrhundert. Bultmanns Jesusbuch und die heutige Jesusforschung, Neukirchen-Vluyn 2002. • Karl-Heinrich Ostmeyer: Armenhaus und Räuberhöhle? Galiläa zur Zeit Jesu, in: ZNW 96 (2005), 147-170. • • Marius Reiser: Der unbequeme Jesus (BThSt 122), Neukirchen-Vluyn 22012. • • Markus Sasse: „Die Welt ist nicht genug!“ – die frühen Christen als Weltbürger?, in: Brennpunkt Gemeinde 3/2014, 102-105. • Ludger Schenke u.a.: Jesus von Nazaret – Spuren und Konturen, Stuttgart 2004. • Stefan Schreiber: Der politische Jesus. Die Jesusbewegung zwischen Gottesherrschaft und Imperium Romanum, in: MThZ 64 (2013), 174-194. Jens Schröter / Ralph Brucker (Hrg.): Der historische Jesus. Tendenzen und Perspektiven der gegenwärtigen Forschung (BZNW 114), Berlin, New York 2002. • • Markus Sasse: Geschichte Israels in der Zeit des Zweiten Tempels. Historische Ereignisse, Archäologie, Sozialgeschichte, Religions- und Geistesgeschichte, Neukirchen-Vluyn 2004 / 22009. Jens Schröter: Jesus von Nazaret. Jude aus Galiläa – Retter der Welt (BG 15), Leipzig 2006. • Gerd Theißen / Annette Merz: Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 1996 (42011). Werner Zager (Hrg.): Jesusforschung in vier Jahrhunderten. Texte von den Anfängen historischer Kritik bis zur „dritten Frage“ nach dem historischen Jesus, Berlin, Boston 2014. http://whgonline.de/pages/projekte/religion/historischer-jesus.php (Themenseite „Historischer Jesus“ mit ausführlichen Literaturverzeichnissen und Linktipps)
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