Was ist Sprache? – 2 Ein allgemeines Sprachmodell Dieter

Was ist Sprache? – 2
Ein allgemeines Sprachmodell
Dieter Wunderlich, Vorlesung WS 2001/2002 [neu: Di 11-13, U1.69]
• Sprache ist ein Zeichensystem: Lautäußerungen sind mit Bedeutungen
assoziiert (gibt es auch bei Tieren). Somit gibt es Schnittstellen zu zwei
ganz unabhängigen außersprachlichen mentalen Modulen (Lautäußerungen willentlich hervorbringen, konzeptuelle Repräsentationen).
• Lautäußerungen sind zeitlich ausgedehnt (erlaubt mehr Kodierungsparameter, jederzeit sind Unterbrechungen und Umplanungen möglich). • Sprache ist ein symmetrisches System: Artikulation und Perzeption sind
in gleicher Weise beteiligt; die Rollen von Sprecher und Hörer können
ständig ausgetauscht werden.
• Sprache ist ein kombinatorisches System: minimale Zeichen (Lexikonelemente) werden in berechenbarer Weise zu komplexen Zeichen verknüpft (gibt es nur rudimentär bei Tieren).
• Sprache ist ein digitales System: An den Schnittstellen zum motorischsensorischen System (Phonologie) und zum konzeptuellen System
(Semantik) werden diskrete Elemente (Merkmale und Typen) eingeführt
(gibt es vermutlich nur in der menschlichen Sprache). Digitalisierung
macht das Sprachsystem robuster gegen Störfaktoren und außersprachliche Variation, zugleich verläßlicher in der Kombinatorik.
• Damit geht einher, daß das kombinatorische System zweistufig ist: aus
einem Repertoire von Phonemen werden in meistens zeitlicher Reihenfolge minimale Zeichen kombiniert (größere Anzahl an Zeichen möglich).
Konzeptuelles/Intentionales System
Semantik
Lexikon
Morphosyntax
Kontext
Phonologie
Artikulation
Mund
Hand
Perzeption
Ohr
Auge
Neu ist hier der Kontext (die wahrnehmbare Situation während einer
Kommunikation).
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Die Rolle des Kontextes
• Tierkommunikation ist an den jeweiligen Kontext (hic et nunc) gebunden.
• Menschliche Kommunikation kann den Kontext implizit voraussetzen, durch
zusätzliche Gebärden einbringen, aber auch indexikalische Zeichen verwenden, die auf Kontextparameter bezogen sind.
• Sprache kann den Kontext auch transzendieren (variable Kontextelemente,
kontextunabhängige Zeichen)
Basisinventar indexikalischer Elemente:
• Sprechaktbeteiligung: 1., 2., 3. Person inklusive Anzahl und evtl. Rolle
• Demonstrativa (für Objekte, Orte, Ereignisse) evtl. plus Genus/Klassifikator
• Zeitliche Einordnung: Tempus, Zeitadverbiale
• Anaphorische Verweise (Konstanz des Gegenstandes)
Diese Kategorien werden zu funktionalen Kategorien.
Die Rolle des Lexikons
• Tierkommunikation: Laut-Bedeutungs-Paare werden in Bezug auf Kontexte
gespeichert.
• Menschliche Sprache: Laut-Bedeutungs-Paare werden in Bezug auf einzelne
Kontextparameter oder kontextunabhängig gespeichert.
• Lexikonelemente sind unterspezifiziert, also für vielfältige Kombinationen
und vielfältige Kontexte einsetzbar.
Schnittstelle zum artikulatorisch-perzeptuellen System
• [Evolutionsschritt 1:] Beim Hominiden wurden zwischen Auge und Hand
schnelle Nervenverbindungen ausgebildet (Gegenstände werfen); willkürliche Mimik wird möglich; die Bahnungen können in Gebärdenkommunikation ausgenutzt werden (vermutlich bei den Hominiden); Beschränkung
auf face-to-face Kommunikation.
• [Evolutionsschritt 2:] Diese Nervenverbindungen werden für die Relation
zwischen Ohr und Mund ausgenutzt, vorausgesetzt eine Veränderung im
Kehlkopf (Hominiden); erlaubt auch Tandem- und Distanzkommunikation.
• Das Sprachsystem Auge-Hand kann die Aufgaben des Sprachsystems OhrMund übernehmen (Sign Language)
Parallelität von Phonologie und Semantik
• Laute werden digitalisiert: bedeutungsrelevant sind nur charakteristische
Lautausprägungen (Phonem- und Merkmalsarchitektur). Die PhonologiePhonetik-Schnittstelle als Digital-Analog-Wandler: Phonetisch sind viele
Lautvariationen möglich. • Entsprechend werden Konzepte durch semantische Prädikate/Merkmale/
Konfigurationen digitalisiert; vielleicht zunächst weniger ausgeprägt. Jeder
sprachlichen Bedeutung entspricht eine Menge konzeptueller Variationen.
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Strukturunterschiede zwischen Phonologie und Semantik:
• Die Zerlegung von Lautäußerungen führt zu zeitlich linearen Strukturen
(wobei jedes der Elemente eine gewisse wiederkehrende
Merkmalsarchitektur aufweist). [Ansatz von Hierarchie: Segmente,
Silben, Füße, prosodische Wörter] • Die Zerlegung von Bedeutungen führt zu hierarchischen Strukturen
unabhängig von zeitlicher Linearität.
• Das kombinatorische System muß deshalb zeitlich lineare und rein
hierarchische Strukturen aufeinander abbilden können.
Das kombinatorische System (Grammatik)
• Zerlegungsmöglichkeiten in Phonologie und Semantik führen zu einer
feineren Gestaltung des Lexikons.
• Lexikonelemente sind kontextunabhängige Paarungen phonologischer
und semantischer Elemente.
• Die Grammatik kombiniert diese Lexikonelemente in variabler Weise; sie
beschränkt die möglichen Kombinationen.
Womit könnte die Zerlegung im Lexikon anfangen?
• Kompakte Situationszeichen werden in wiederkehrende phonologische
Elemente zerlegt. • Diese werden mit wiederkehrenden semantischen Elementen assoziiert.
• Solche Assoziationen werden als Lexikonelemente gespeichert.
Um zu verstehen, inwiefern Sprache Vorteile in der Auslese haben könnte: Was
sind die fundamentalen kommunikativen Aufgaben?
• Es müssen Verhaltenstypen (Sprechaktmodi) definiert werden: die
Äußerung von u zählt als Warnung, Drohung, Angebot, Zustimmung.
[aus tierischer Kommunikation bekannt, bereits unter Primaten
ausgebildet]
• Es müssen Sachverhalte als Gegenstand des Verhaltens definiert werden:
Ereignistypen, Objekttypen in Bezug auf variable Ereignisse, eine
Kombinatorik von Ereignis- und Objekttypen.
Objekte
Nüsse, Korb,
Baum, Hütte,
Pavian, Speer,
Sachverhalte
Nüsse am Baum,
Nüsse im Korb,
Korb in der Hütte,
Pavian im Wald,
Speer in der Hütte
Ereignistypen
Verhaltenstypen
Nüsse aufsammeln,
Aufforderung,
Nüsse in den Korb
Warnung, Bitte,
tun, Korb in die Hütte Ratschlag, Frage
tragen, Pavian stiehlt
Nüsse, die Leute
schreien, mit dem
Speer nach dem
Pavian werfen
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komplexe
statische
Objekte
Situationen
großer Korb,
in der Hütte
Hütte des Chiefs, liegen, auf dem
Nüsse im Korb,
Baum hocken,
Speer in der Hand
komplexe
Ereignisse
dem Freund helfen,
die Nüsse vom Baum
in die Hütte zu
bringen
komplexe
Interaktionen
debattieren, ob
man die Paviane
verjagen oder die
Nüsse verstecken
soll
Kommunikative Aufgaben detailliert:
• Objekte kodieren, insb. durch kontextunabhängige Prädikation (eine
semantische Merkmalskonfiguration zuordnen): ‘dies ist ein Korb: er ist
groß’ [KORB & GROSS(dies)]
• einfache Sachverhalte kodieren, insb. durch statische Prädikation mit
lokaler Zuordnung (zeitlich): ‘Nüsse sind (jetzt) im Korb’ [Kopula,
Locationals]
• Ereignisse kodieren: durch kontextunabhängige Prädikation (‘dies ist
Schreien’)?, durch statische Prädikation (‘Leute sind jetzt im Schreien’)?
oder besser durch elementare kontextuelle Prädikation: ‘Jetzt ist
Schreien(x) und x=dies oder Kind(x)’, ‘Jetzt ist Nüssesammeln(x) und
x=dies oder Kind(x)’. Allgemein: Objekt x (zu einem Objekttyp
gehörend) ist involviert in Ereignis e (zu einem Ereignistyp gehörend).
• Verhaltenstypen kodieren: durch Mittel der Intonation, durch Gebärden,
durch Stellung der Äußerung in der Interaktion, durch andere eher
sekundäre Mittel.
Auch unter Tieren ist es schon hinreichend klar, ob man sich dem andern
aggressiv oder freundlich nähert, ob man sich kooperativ verhalten will.
Die spezielle Leistung der Sprache besteht darin, die Ereignistypen zu
präzisieren, auf die hin ein kooperatives Verhalten erwartet wird. Darin besteht
ein Vorteil in der Selektion.
Zweistufiges kontextuelles Referenzsystem
• Objekte gehören zu Objekttypen, möglicherweise aufgrund
kontextunabhängiger Prädikation; sie lassen sich referentiell verankern
(Demonstrativa, anaphorische Verweise, indexikalische Possessoren) • Ereignisse gehören zu Ereignistypen: sie werden durch Prädikation über
Objekte (Argumentstellen) erfaßt; ihre referentielle Verankerung erfolgt
durch Kategorien wie Tempus und Modus, und zugleich durch
referentielle Verankerung der Argumentstellen.
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Kontextuelle Indizierung von Ereignistypen
• Es können mehrere verschiedene Objekte an einem Ereignis partizipieren
• Die Objektpartizipanten sind mögliche Kontextelemente: Sprecher,
Adressaten, belebte/unbelebte Objekte.
• Ereignistypen (Zustände, Prozesse, Übergänge) werden dynamisch und in
der Zeit unterschieden: Aspekt, Tempus.
• Ereignistypen können ineinander eingebettet werden: kausal, gleichzeitig.
Der Beginn von Morphosyntax
Die Zerlegung erfolgt nach Ereignistypen (Verb) und Objekttypen (Nomen) –
letztere involviert in das Ereignis. Es gibt somit zwei fundamental verschiedene
lexikalische Kategorien mit eigener Referentialität – die dann durch zwei Arten
funktionaler Kategorien weiter spezifizierbar ist.
Nomen
Referenz auf Dinge
Räumliche Komponente
Unterschiedliche Gestalt inklusive
Gruppierung und Anzahl
Funktionale Kategorien wie Demonstrativ, definiter Artikel, Quantoren
Strukturell ärmer: maximal ein
weiteres Objekt ist involviert über
‘Possessor’- Relation
Verb
Referenz auf Ereignisse
Zeitliche Komponente
Unterschiedliche zeitliche und dynamische Gestalt (statisch, prozessual, telisch)
Funktionale Kategorien wie Aspekt,
Tempus, Modus
Strukturell reicher: unterschiedliche
Anzahl von Objekten in das Ereignis
involviert (auch implizite Argumente
möglich), verschiedene thematische
Relationen (Agens, Experiencer, Patiens,
Benefizient, Instrument, Ziel)
kontextunabhängige Prädikation ist kontextunabhängige Prädikation ist als
leicht möglich (‘Paviane sind
spezieller generischer Modus möglich
Räuber’)
(‘Paviane klauen Nüsse’)
Der Possessor ist indexikalisch mög- Indexikalische Argumente sind leicht
möglich (pronominale Affixe) und tragen
lich, aber trägt wenig zur referentiellen Verankerung bei, außer bei
wesentlich zur referentiellen Verankerung
inalienabler Relation. (‘mein Kopf’ bei. (‘Ich sehe Pavian’)
vs. ‘mein Korb’)
Attribuierung ist möglich (komplexe Modifikation ist möglich (komplexe
Nomen, einschließlich Komposita) Verben, einschließlich Inkorporation,
Verbkomposition und serielle Verben)
Aus Verben können leicht Nomen
Aus Nomen können Verben gebildet
mit einfacherer Struktur gebildet
werden, wenn dynamische Struktur
werden (‘der Schrei’,‘das Sammeln’) hinzugefügt wird (‘satteln’, ‘stranden’)
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Die Differenzierung in Verb und Nomen vermag das meiste, was für die
Aufgaben von Sprache notwendig ist, zu leisten. Es bedarf keiner weiteren
Differenzierung von Morphosyntax in Morphologie und Syntax.
Quasi-Morphologie:
• Das Verb konstituiert die Domäne der Prädikation.
• Alle referentiellen Spezifikationen hinsichtlich Zeit und Dynamik lassen
sich durch Affixe am Verb realisieren (Aspekt, Tempus, inkorporierte
Zeitadverbien). • Argumente des Verbs lassen sich durch pronominale Affixe am Verb
realisieren (indexikalisch).
• Mindestens ein Argument des Verbs (das tiefste) sowie adverbiale
Modifikatoren können inkorporiert werden.
• Außerhalb des Verbs sind zusätzliche Prädikationen möglich
(Adjunktsyntax).
[Typ Polysynthese]
Reine Syntax:
• Das Verb konstituiert die Domäne der Prädikation.
• Alle referentiellen Spezifikationen hinsichtlich Zeit und Dynamik lassen
sich durch Partikeln oder Auxiliare realisieren. • Argumente des Verbs werden außerhalb des Verbs realisiert (evtl. auch
indexikalisch) und durch ihre Position unterschieden (klausale Syntax).
• Zusätzliche Prädikationen sind möglich (Adjunktsyntax).
[Typ isolierende Sprache]
Sobald eine Morphologie-Syntax-Distinktion eingeführt ist, kann sich eine
passende Aufgabenverteilung zwischen Morphologie und Syntax ergeben.
Morphologie
Strikte Anordnung vom lexikalischen
Träger aus, nicht von Anfang oder
Ende des Wortes aus.
Keine wortinterne Kongruenz oder
Bindung.
Keine Skopusambiguitäten.
Keine Topik-/ Fokus-Markierungen
Paradigmenstruktur für Wortformen
(minimale Kontraste aufgrund
morphologischer Kategorien)
Tendenziell mehr Irregularitäten
Schneller prozessierbar
Syntax
Stellungsalternativen; Anfang oder
Ende kann ausgezeichnet sein.
Kongruenz/Bindung zwischen syntaktischen Konstituenten ist möglich.
Skopusambiguitäten sind möglich
Topik-/ Fokus-Markierungen sind
möglich
Keine Paradigmenstruktur für
Konstruktionen (stattdessen
hierarchische, rekursive Kombinatorik)
Tendenziell regulärer
Risikofreier für große Populationen