SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Musikstunde "Klassische Musik auf dem Weg in andere Kulturen" Klassik geht fremd (2) Von Peter Krause Sendung: Redaktion: Dienstag, 12. April 2016 Ulla Zierau 9.05 – 10.00 Uhr Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Musik sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für € 12,50 erhältlich. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert.Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2 2 SWR2 Musikstunde mit Peter Krause „Klassik geht fremd“ – Klassik auf dem Weg in andere Kulturen Herzlich Willkommen – heute mit dem 2.Teil der Reihe „Klassik geht fremd“ – Ist das Klassik? – am Mikrofon Peter Krause Titelmusik ca 10‘‘ Fällt der Begriff Klassik, denken die meisten Menschen an Barockmusik, an Neue Musik, an Renaissancemusik, an Namen wie Beethoven, Bach, Chopin, Hindemith, Messiaen und andere bekannte Europäer. Es ist, als würde man durch ein Nadelöhr auf die Welt der E-Musik schauen und nicht nur die anderen Kontinente überhören, sondern auch viele aufregende Kompositionen. Denn zahlreiche afrikanische, japanische, kanadische, französische, italienische, belgische, schwedische Musiker und Komponisten schreiben und spielen Stücke, die man eigentlich der klassischen oder zeitgenössischen Musik zurechnen müsste. Dass das nicht passiert, hat verschiedene Gründe: Sie komponieren für Instrumente, die man normalerweise in keinem Orchester antrifft, spielen in nie dagewesenen Besetzungen oder übertreten mit ihren Projekten kulturelle und geografische Grenzen. In dieser Musikstunde möchte ich ihnen einige dieser Komponisten und Musiker vorstellen, darunter Ballaké Sissoko und Vincent Segal. Horizont- und Hörgewohnheiten erweiternd, wie die beiden miteinander spielen im Stück "Chamber Music". Musik 1 Ballaké Sissoko & Vincent Segal:"Chamber Music" 4:46 (Ballaké Sissoko+Vincent Segal-No Format-LC 35386-NOF 14, 532 144 2-Chamber Music-Ballaké Sissoko & Vincent Segal4:46) Zwei auf den ersten Blick inkompatible Instrumente kommen sich nah: Die Kora von Ballaké Sissoko aus Mali und das Cello von Vincent Segal aus Frankreich. "Chamber Music" haben die beiden 2009 ihr erstes Album genannt, übersetzt Kammermusik, der Titel ist allerdings weniger eine Genre-Zuordnung als ein augenzwinkernder Hinweis darauf, dass sich Sissoko und Segal tagelang in die vier Wände eines Raums zurück gezogen haben, um es aufzunehmen. Die "Kammer" war ein Studio an den Ufern des Niger in Malis Hauptstadt Bamako. Die Ruhe und Zurückgezogenheit gab ihnen das Gefühl außerhalb jeder Zeitrechnung zu musizieren. Sissoko stammt aus einer Griot-Dynastie - Griots sind die traditionellen westafrikanischen Geschichtenerzähler, Sänger und Musiker und er spielt die Kora, diese über 700 Jahre alte westafrikanische Harfe mit dem großen Kugelbauch und 21 Saiten am Steg. Das Instrument liefert die hellen, 3 kristallenen, freischwebenden Töne und ist extrem schwer zu spielen, doch Sissoko gilt als einer der Weltbesten darauf. Vincent Segal kommt vom Konservatorium, spielte schon im Orchester der Oper von Lyon, aber auch mit Marianne Faithfull, Georges Moustaki oder Sting. Er ist auch ein Virtuose, doch sein Cello hat nur 4 Saiten, es ist in dieser Konstellation zuständig für die erdigen, statischen Klänge. Ganz anders klingt es, wenn Piano und Kora aufeinander treffen. Musik 2 Ludovico Einaudi & Ballaké Sissoko "Mali Sajio" 3:48 (Ludovico Einaud-Ponderosa Music & Art-LC 13477-pd cd018- Ludovico Einaudi & Ballaké Sissoko-Mali Sajio-3:48) Ludovico Einaudi & Ballaké Sissoko "Mali Sajio" von ihrem Album "Diario Mali", das Mali-Tagebuch. Zum ersten Mal standen die zwei Musiker beim "Festival au Désert" gemeinsam auf der Bühne, vor einigen Hundert Zuhörern und unter einem sternklaren Himmel. In der Wüste Malis, in einer Oase 70 Kilometer von Timbuktu entfernt, spielte Einaudi Klavier und Sissoko Kora und sie stellten fest, wie einfach es war musikalisch zu kommunizieren. Vielleicht auch, weil beide Instrumente eine Hauptrolle in der jeweiligen Musikkultur einnehmen. Den Italiener Ludovico Einaudi kennen die meisten hierzulande, weil er den Soundtrack für "Ziemlich beste Freunde" geschrieben hat. In Italien kennt man den Namen Einaudi aus mindestens 3 Gründen: Der eine Großvater war Staatspräsident, der andere ein bekannter Dirigent und Komponist, der Vater einer der wichtigsten Verleger des Landes und Ludovico Einaudi selbst ist einer der bekanntesten Komponisten Italiens. Der Sechzigjährige hat bei Luciano Berio studiert, Kammermusik und Orchesterwerke geschrieben, sowie Musik für Tanz, Theater und Film und ist offen für Begegnungen mit Kollegen aus anderen Kulturen. Sissoko sagt: Einaudi hat das Feeling für unsere westafrikanische Musik. Seine minimalistischen Soundlandschaften haben weltweit ein großes Publikum, entziehen sich jedoch einer klaren Zuordnung, deshalb wird er von Musikkritikern gerne negiert. Mal meint man eine Harfe zu hören, dann wieder ein Spinett, das ein Barockstück spielt, aber es ist der Klang der Kora. "Lampedusa", eine elegische Komposition die Toumani Diabaté und sein Sohn Sidiki für die fast 400 Afrikaner geschrieben haben, die 2013 vor der italienischen Insel im Meer ertrunken sind. Selten passt die Redewendung vom "Sich blind verstehen" besser, als bei diesem Zwiegespräch auf Saiten zwischen Vater und Sohn. Und immer wieder meint man auf dem Album "Toumani & Sidiki" mehr als 2 Musiker zu hören, manchmal steigen sogar Obertöne aus den Stücken auf. 4 MUSIK 3 Toumani Diabaté & Sidiki Diabaté "Lampedusa" 3:57 (Toumani Diabaté & Sidiki Diabaté-World Circuit-LC 02339-Best Nr WCV087Toumani Diabaté & Sidiki Diabaté-Lampedusa-3:57) SWR 2 Musikstunde – Klassik geht fremd Teil 2, Ist das Klassik? Toumani Diabaté & Sidiki Diabaté "Lampedusa mit Lampedusa. „Die Vergangenheit trifft sich wegen der Zukunft mit der Gegenwart" so hat der inzwischen 49jährige Musiker die Zusammenarbeit beschrieben. Sidiki, der Sohn, ist schon die 71.Generation Griot in der Familie Diabaté, sein Großvater war 1970 der erste, der ein Album mit Koramusik gemacht hat. Und 44 Jahre später sind dessen Sohn & Enkel zusammen ins Studio gegangen. Toumani Diabaté weiß, dass die Weltöffentlichkeit vor allem die islamistischen Unruhen vor Augen hat, wenn es um seine Heimat Mali geht, deshalb will er die andere Seite zeigen und den musikalischen Reichtum des westafrikanischen Landes hörbar machen. Die britische Tageszeitung The Guardian schrieb über ihn: "Er ist einer der größten Musiker Afrikas und ein Visionär wenn es um ein uraltes Instrument geht, um die Kora." Sicher ist, er gilt als der Bekannteste und Beste auf diesem Instrument. "Das Geheimnis der Kora-Musik", hat Diabaté gesagt," liegt darin: Du kannst sie spielen, du kannst sie spüren, aber du kannst sie nicht erklären." Toumani Diabté - diesmal solo - "Ismael Drame". MUSIK 4 Toumani DIabaté: "Isamel Drame" 1:48 (Toumani Diabaté-World Circuit-Best Nr WCD079-LC 02339-Toumani DIabatéIsmael Drame) MUSIK 5 Julverne "Pasticcio" 3:38 (Jean Gillis-Igloo-LC 27259-Best Nr IGL 089-Julverne-Pasticcio) So stellten sich 1992 acht junge Musiker die Rückkehr von Kapitän Nemo vor, rasant und märchenhaft. "Pasticcio" von Julverne. Den Namen hatten sich die Belgier vom Urvater aller Sciencefiction-Autoren geliehen, von Jules Verne. Das außergewöhnliche Ensemble wurde Anfang der 1970iger Jahre von einer Gruppe von Musikstudenten gegründet, die das klassische Kammerorchester neu erfinden wollten. An der Besetzung änderten sie nicht viel, 4 Saiteninstrumente, 3 Blasinstrumente und Klavier, musikalisch setzten sie sich allerdings zwischen alle Stühle. Auf der Plattenhülle - CDs gab es damals noch nicht - schrieben die Brüsseler: "Wir haben eine klare Tendenz zu klassischem Orchesterklang mit einer manchmal peinlich unbeholfenen Ausführung, wie bei einem Maler, der sich 5 weigert die Gesetze der Perspektive zu lernen, um sich seinen frischen Blick zu bewahren." Ein Bruder im Geiste von Julverne war der Schwede Lars Hollmer. MUSIK 6 Lars Hollmer "Rindatröst" 3:46 (Lars Hollmer-MNW-LC 19324-Best Nr MNWCD 233-Lars Hollmer-Rindatröst) Rindatröst - von Lars Hollmer, der hier ausnahmsweise einmal nur Piano spielt. Der Multiinstrumentalist und Komponist, der leider im Jahr 2008 mit nur 60 Jahren schon verstorben ist, hat auf vielem musiziert, auf Melodica, Klarinette, Geige, Spielzeugklavier, Cello, Schlagzeug oder Mandoline, doch sein Hauptinstrument war das Akkordeon. "Der Klang des Akkordeons ist eine Kombination aus dem, was du als Musiker mit eigenen Ohren hörst und dem, was du fühlst", hat der Mann aus Uppsala gesagt - und genau diese Mischung sollte auch das Publikum hören und fühlen. Hollmer war einer der ersten, der das Akkordeon auch in die Rock- und Popmusik geholt hat und galt zeitlebens als Spezialist für Musik, die kein Menschen einordnen kann. Als er 1999 in seiner Heimat einen Grammy für seine außerordentlichen musikalischen Verdienste bekam, da wusste die Jury lange nicht in welche Kategorie sie ihn stecken sollten. Am Ende landete er in der Rubrik Folk und wer Schweden nicht kennt, könnte schnell dem Irrglauben aufsitzen, bei Hollmers Musik handle es sich um eine - wenn auch sehr eigenwillige Art - von schwedischer Folklore. Aus jeder Schublade, in die man sie steckt, hüpfen sie wieder heraus, die melancholisch-zeitlosen Kompositionen, die Hollmer hinterlassen hat. Viel zarter und zirpender die Musik von Koto Vortex aus Japan. MUSIK 7 Koto Vortex: "Ho Na Mi" 3:57 (Hiroshi Yoshimura-World Music Network-LC 11067-Best Nr RGNET 1031 CD- Koto Vortex-Ho Na Mi-3:57) Noch ein Instrument, dass es bedauerlicherweise bislang nicht in westliche Orchester und Bands geschafft hat: Die 1 Meter 80 lange Koto. Im Ensemble Koto Vortex spielen 4 Musikerinnen diese japanische Zither, die vor 1400 Jahren von China nach Japan auswanderte. Gespielt wird sie mit 3 Fingern auf 13 bis maximal 17 Saiten und vor allem von Frauen. Bandleaderin Yoko Nishi studierte traditionelle japanische Musik, kam aber dann mit zeitgenössischer Musik in Berührung und arbeitete u.a. mit Terry Riley zusammen. Ambient Music, alte japanische Hofmusik, Minimalismus und Zeitgenössische Musik fließen ineinander 6 und das Quartett erzeugt, was sein Name Koto Vortex verspricht: repetitive Klangwirbel. Vortex bedeutet Wirbel. Die Musikerinnen sind Grenzgängerinnen, das verbindet sie mit dem tunesischen Komponisten und Oud-Meister Anour Brahem. „January" heißt dieses Stück von Anouar Brahems Album "Souvenance" - das ist die Erinnerung. Die Musik ist meditativ, transparent, sie ruht in sich, doch ab und an tauchen aufwühlende Momente auf, man meint Sirenen in der Ferne zu hören, Spannung liegt in der Luft, eine gewisse Beunruhigung. Sieht man das Coverfoto, dann wird klar, um was es inhaltlich geht: Abgebildet ist die Szene einer Straßenschlacht in Tunis. Auslöser dieser Musik war der arabische Frühling, der schließlich im Dezember 2010 in Tunesien mit der Jasminrevolution seinen Anfang nahm. MUSIK 8 Anouar Brahem "January" 5:58 (Anouar Brahem-ECM-LC 02516-Best Nr ECM 2423/24-Anouar Brahem-January5:58) ….. Brahem schreibt im Booklet: "Außergewöhnliche Ereignisse erschütterten plötzlich das alltägliche Leben von Millionen von Menschen, wir wurden ins Ungewisse geschleudert". Der 57jährige Musiker und Komponist, brauchte ein paar Jahre, bis er das Erlebte verarbeiten konnte. Brahem liebte schon als Kind die klassische Musik des 20. Jahrhunderts und bewegt sich seit vielen Jahren zwischen den Kulturen und Stilen, zwischen Orient und Okzident, zwischen Jazz, Klassik, arabischer Musik und mediterranen Traditionen. Neu ist, dass er erstmalig ein Streichorchester dazu geholt hat. "Es war eine Herausforderung, ich habe ja keine praktische Erfahrung mit klassischer Musik europäischer Prägung. Die Streicher setzte ich wie ein fünftes Instrument ein", hat Brahem über seine Arbeitsweise erzählt. Alle Beteiligten - Musiker an Bassklarinette, Piano, Bass, Brahem selbst an der orientalischen Laute Oud und die Streicher - gehen äußerst respektvoll miteinander um. Und haben ein Album eingespielt, das auf harmonische Art hypnotisierend ist. Auch der Kanadier Jayme Stone arbeitet mit einem Kammerorchester. MUSIK 9 Jayme Stone "A Poet in her own Country" 2:54 (Jayme Stome-Eigenprod. Nur als Stream-Jayme Stone-A Poet in her own country-) Jayme Stone "A Poet in her own Country". Mehr als überraschend, wie der kanadische Musiker sein Banjo einsetzt. So, als wäre es schon immer auf der Besetzungsliste eines symphonischen Orchesters. Er ist der Solist, 14 Musiker 7 begleiten ihn in den Kompositionen, die sowohl durch echte, als auch durch imaginäre Reisen inspiriert sind. Unterwegs entdeckte Stone, dass sein Banjo von Sklaven aus Westafrika nach Nordamerika mitgebracht worden war. Und dort maßgeblich an der Entstehung von Blues, Folk und Jazz beteiligt war. Stone dagegen liebt es Bach auf dem Banjo zu spielen und auch seinen eigenen Kompositionen auf dem Album "The other side of the Air" hört man die Liebe zur Klassik an. Er kombiniert ungeniert kammermusikalische Elemente mit einem subtilen Country-Touch und Filmorchester-Sound mit filigranem Saitenspiel, er lässt atonale Momente auf melancholische Melodien treffen und überlässt den Streichern die Verantwortung für den Rhythmus. Und obwohl seine Musik im Ergebnis sehr klassisch europäisch klingt, nimmt sich Jayme Stone alle Freiheiten. Eine seiner Kompositionen noch zum Schluss dieser SWR2 Musikstunde. Jayme Stone "This Country Movement Three" MUSIK 10 Jayme Stone "This Country Movement Three" 4:48 (Jayme Stome-Eigenprod. Nur als Stream-Jayme Stone-This Country Movement Three-4:48)
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