Pia Maria Hirsiger, lic.theol. www.mehrwertundsinn.com 28. Februar 2016 3. Sonntag der Fastenzeit Bibelstellen: Ex 3, 1-8a.13-15; 1 Kor 10, 1-6.10-12; Lk 13, 1-9 Die andere Seite Gottes Die Geschichte vom brennenden Dornbusch ist eine Schlüsselstelle in der ganzen Heiligen Schrift. Mit diesem Ereignis beginnt eine neue Phase der Offenbarung Gottes. Wir sind gewohnt, von Gott als Schöpfer zu sprechen, als Ursprung von allem, der durch sein machtvolles Wort und durch seinen Geist alles ins Dasein gerufen hat. Er hat wie ein Künstler seine Inspiration in die Sichtbarkeit gebracht, in sein Werk. Weil Gott vollkommen ist, hat sein Werk göttliche Qualität und Wirkung. So wird schon immer in der Theologie die Schöpfung als das erste Buch der Offenbarung bezeichnet. Mit seinem Werk will Gott uns sagen: Schau mal, wie ich Dich liebe, was ich Grossartiges für dich geschaffen habe! Wenn wir dieses Werk Gottes meditieren, können wir Gott erkennen. Etwas von seinem Geist. Von seiner Art. Und wir können uns von der Schönheit und dem Reichtum dieses Werks ergreifen lassen, seine Ordnung und Logik erfassen und uns von seiner Lebendigkeit durchdringen lassen. Heute nun erzählt uns die Heilige Schrift, dass Gott nicht nur der Schöpfer ist, der das Leben zeugt, hervorbringt, sondern dass dieser Gott noch eine ganz andere Seite hat. Diese andere Seite offenbart sich nicht in der Natur, sondern im Lauf der Geschichte, bis heute. Gott hat uns Menschen als sein Bild geschaffen und deshalb sind wir gottfähig. Wir haben das Potential, ihn zu erkennen, mit ihm in Beziehung zu leben. Ein Potential muss geweckt und entfaltet werden. Beziehung braucht eine Sprache, man muss sich mitteilen und verstehen können. Wenn Eltern ein Kind noch so gut umsorgen, wenn sie mit dem Kind nicht sprechen, kann sich das Kind nicht entwickeln. Es kann sich und die Welt nicht verstehen und die Beziehung bleibt weit hinter dem zurück, was möglich wäre. Genauso ist es zwischen Gott und uns Menschen. Gott hat angefangen, zu uns Menschen zu sprechen, um unser menschliches Bewusstsein zu wecken, um uns seine Sprache bekannt zu machen. Wir sollen den Sinn unseres Lebens erkennen, wir sollen alles benennen und begreifen können und so mit Gott ins Gespräch kommen, in eine erkennende und liebende Beziehung. Als Gott anfing, zu Abraham zu sprechen, hat er sich zuerst als der alleinige Gott zu erkennen gegeben, der als einziger Herr ist über Himmel und Erde, über Tod und Leben. Er hat die Nachkommen Abrahams gebildet und geformt. Nach Jahrhunderten erst hat Gott seine andere Seite zur Sprache gebracht. Er sagte zu Mose: Ich bin der „ich bin da“! Die hebräische Bedeutung lässt sich kaum übersetzen: „Ich bin für euch da, und damit bin ich eure Hilfe.“ „Hilfe“ ist hier keine Dienstfunktion, sondern etwas, was nur Gott kann. Er ermöglicht unser Leben und Werden durch sein Dasein – in einer Art und Weise, die bis dahin unvorstellbar war. Damit hat Gott gesagt: Ich trage euch; ich weiss um euch; ich kenne euch; ich nehme Anteil an euch; ich nähre euch; ich führe euch. Ich bin der tragende Grund eures Lebens und der Raum, in dem ihr existiert. Gott ist also einer, der in engster Verbundenheit mit uns existiert. Wir leben aus ihm, auch wenn wir es nicht wissen. Entscheidend dabei ist: wir sind trotzdem eigenständig. So ein Verhältnis gibt es nur mit Gott. Wenn wir das hören, drängt sich uns das Bild der Mutter auf, die das werdende Leben in sich trägt, die ihm Raum gibt und ihre besten Substanzen, die ihre ganze Existenz riskiert, um das neue Leben hervorzubringen. Obwohl das Kind in der Mutter lebt, ist es ein eigenständiges Leben. Wenn es geboren wird, verändert sich seine Eigenständigkeit. Es beginnt, die Mutter von aussen zu erfahren, es erfährt sich als Gegenüber. Auf diese Weise wächst es heran, bis es Vater und Mutter auf Augenhöhe begegnet. So ist es auch mit uns. Gott hat uns Menschen Eigenstand gegeben, uns als Gegenüber geschaffen. Durch die Taufe verlassen wir das unbewusste Menschsein, durch das Wort Gottes und unseren Glauben erwachen wir zu einem immer grösseren Bewusstsein, wir lernen die Sprache Gottes und so begreifen wir den Sinn unseres Lebens. Wir wachsen heran, um auf die Augenhöhe Gottes zu kommen, ihn zu schauen von Angesicht zu Angesicht, um satt zu werden an seiner Grossartigkeit. Es gibt in der ganzen Welt keine Religion mit einem solchen Gott, der einen solchen Namen hat: Ich bin der „Ich bin für dich da“. Gott ist weder Mann noch Frau, aber Mann und Frau sind Bild davon, wie Gott der umfassende Gott ist, das Leben in Fülle. Wenn wir Gott ernst nehmen und ja sagen zu diesem Sinn unseres Lebens, kann Gott uns heiligen. Dann werden wir zu einem lebendigen Beweis seiner Möglichkeiten. Dann kann seine Inspiration der Liebe Wirklichkeit werden. Und das ist seine Freude.
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