Predigt über „Verbirg dein Angesicht nicht vor mir“ Pfarrerin Viola

Predigt über „Verbirg dein Angesicht nicht vor mir“
Pfarrerin Viola Türk
(Predigtreihe zu Gottesvorstellungen, Lankwitz Juni 2015)
Liebe Gemeinde,
durchschnittliche Amerikanerinnen verbringen 18 Jahre ihres Lebens vor dem Fernseher.
Europäer sollen es im Durchschnitt immerhin auf 8 Jahre ihres Lebens bringen. Aber auch die
Leute, die nicht viel fernsehen, werden alle überschwemmt von Bildern: Werbung,
Nachrichten, eine einzige Bilderflut, die wir nicht verarbeiten können.
Überfüttert von diesem Bildersalat verlernen wir heute mehr und mehr das Hinschauen, das
genaue Beobachten. Wir haben Augen und sehen doch nicht. Der Sinn für die Bedeutung von
Bildern geht uns verloren. Das trennt uns von den Verfassern biblischer Texte des Alten wie
auch des Neuen Testaments. Das trennt uns auch von den damaligen Hörern dieser Texte, für
die sie ja ursprünglich bestimmt waren. Wer ahnt schon dass ein Text, den man verfasst hat,
Tausende von Jahren erhalten bleibt? Wir alle denken, reden, schreiben, fühlen und sehen
eben auch so, wie wir es in unserer Zeit gelernt haben.
Zum Fernseher können wir nicht sagen: Verbirg dein Angesicht nicht vor mir. Der Fernseher
kann das auch nicht zu uns sagen. Ein Computer könnte das schon. In jeden Laptop ist
inzwischen über dem Bildschirm eine Kamera angebracht. Viele Leute kleben die zu. Wer
weiß, was so alles mitgeschnitten wird? Wer in die U-Bahn steigt oder in ein Kaufhaus geht:
Überall hängen Kameras. Die wollen unser Angesicht sehen. Unser Leben wird beobachtet
und gläsern, nicht durch Kameras, die überwachen, sondern allein schon durch die Benutzung
eines smartphones. Wir sind auffindbar, unsere Wege im Laufe eines Tages können verfolgt
werden, unsere Aktivitäten auch.
Verbirg dein Angesicht nicht vor mir! Diese Bitte richtet der Mensch an Gott. Will er Gott
beobachten? Will er ihn sehen? Hat Gott ein Angesicht? Hat er etwa Augen? Das Alte
Testament sag: ja. Gott hat nicht nur Augen, er hat auch ein Angesicht, und das ist mehr.
Es gab Zeiten in der Kirche, da wurde ein Bild von Gott vermittelt, das so ziemlich einer
Überwachungskamera gleich kam. Gott sieht alles. Er sieht in die Tiefe unserer Seele, er
blickt in die dunkelsten Ecken unserer Städte und Wohnungen. Vor Gott kann man nichts
verbergen. Gott, der drohende Überwacher. Diese Vorstellung geht nicht nur vorbei am
biblischen Verständnis, sondern verkehrt es geradezu ins Gegenteil.
Wenn im Alten Testament vom Auge Gottes oder eines Menschen die Rede ist, dann steht nie
die Form oder die Funktion des Auges im Vordergrund, sondern immer die Qualität und die
Dynamik des Blickes: Die Schönheit Davids besteht in der Ausstrahlung seiner Augen, Lea
hatte leider matte Augen im Gegensatz zu ihrer Schwester Rahel, die schön war von
Angesicht, also einen schönen Blick hatte. Du hast mein Inneres erregt mit deinem Auge.
Und: Wende deine Augen von mir, denn sie verwirren mich, so sagt es im Hohen Lied ein
junger Mann über seine Freundin, die schön ist, weil sie Augen hat wie Tauben, was so viel
sagt wie: die Blicke fliegen zu ihm wie Tauben.
Was aber wäre über den Blick Gottes zu sagen? Der Mensch sieht, was vor Augen ist, Gott
aber sieht das Herz an, erfahren wir im 1. Samuelbuch. Gott sieht auch seine Schöpfung an
und erkennt mit diesem Blick: Alles ist sehr gut. Der Blick des Schöpfers. Es muss ihn schon
vorher gegeben haben: einen schöpferischen Blick. Bevor wir etwas ausführen oder sogar
erfinden können, bevor ein Künstler sein Werk umsetzen kann, muss er es sehen. Vielleicht
mit Ausnahme der Musik.
Wir Protestanten sind ja sehr auf das Wort Gottes konzentriert. Dass erkennen, begreifen,
verstehen vor allem auch mit sehen zu tun hat, ist für uns schwer zu akzeptieren. Die ältesten
Propheten hießen eigentlich Seher, Sie sehen nicht nur, was vordergründig sichtbar ist, sie
sehen weiter und tiefer. Sie sehen die Zusammenhänge, deshalb ist ihr Sehen mit Erkenntnis
verbunden. Jeremia und Ezechiel, die großen Propheten, führen Straßentheater auf,
Pantomime, vollführen Zeichenhandlungen, die den Zuschauern absurd und grausam
erscheinen, die ihnen aber die Augen öffnen sollen über ihre Entfremdung vom Gott Israels
und damit von sich selbst. 600 Jahre später wählt Jesus von Nazareth eine besondere
Methode, um Erkenntnisse zu vermitteln: er erzählt Gleichnisse und weiß doch: die meisten
blicken umher und umher und sehen doch nicht. Da finden wir uns wieder. Wir werden von
Bildern geradezu verfolgt und sehen und verstehen doch allzu oft nichts. Weil umherblicken,
von Bildern überrannt werden etwas anderes ist, als sich in Betrachtung zu vertiefen. Aber
ohne diese Vertiefung bleibt der Blick leer. Anders als der schöpferische Blick, den wir als
erstem Gott zuschreiben als dem Erschaffer der Welt. Und noch etwas ist anders an einem
Blick, der uns aus einem zugewandten Angesicht trifft als an umherschweifenden unsteten
Blicken: er trifft uns und wir können ihn erwidern.
Der schöpferische Blick Gottes ist immer auch ein liebender Blick. Das kann man von uns
Menschen nicht sagen: zu viele Grausamkeiten sind erfunden und in die Tat umgesetzt
worden, voller Zerstörungswut. Unsere Phantasie kann der Verzweiflung entspringen, der
Wut, der Verletzung, dem Hass. In unserer Phantasie können wir schreckliche Dinge
anrichten. Gott sei Dank setzen wir sie nicht immer um.
Unsere Phantasie kann aber auch Schönes und Lebensförderndes hervorbringen. Der liebende
Blick Gottes auf seine Schöpfung möge uns zum Maßstab gereichen, wenn wir in die Tat
umsetzen, was wir vor unserem geistigen Auge schon sehen. Ist es etwas, was andere
Menschen in ihrem Leben unterstützt, ist es etwas, das Freude hervorbringt oder Elend?
Verbirg dein Angesicht nicht vor mir! Das ist der Schrei eines Verlassenen, der Angst hat zu
vergehen, weil er weder den liebenden Blick Gottes noch den eines Menschen mehr spürt.
Verbirg dein Angesicht nicht vor mir! Schau mich an! Nimm mich wahr! Sieh mir tief ins
Herz. So wie Gott, so wie ein Liebender, der Gutes schafft mit seinem Blick. Verbirg dein
Angesicht nicht vor mir, das setzt doch voraus, das auch ich mein Angesicht erhebe, meinen
Blick nicht senke, wie einer, der anderen nicht mehr in die Augen schauen kann, sondern nur
noch auf Gegenstände starrt. Nur das Auge, das sich einem anderen zuwendet, hat die Kraft
und die Güte, Lebendiges lebendig bleiben zu lassen, nur ein Angesicht, das sich erhebt, kann
Blicke wie Tauben aussenden, voller Kraft und Güte, Mitleid und Liebe. Ein zugewandtes
Angesicht sucht den Blick eines anderen. Verbirg dein Angesicht nicht vor mir, das ist die
flehentliche Bitte: schenk mir Lebenskraft, Liebe, Fürsorge mit deinem Blick. Bleib bei mir.