Aufbruch aus der Erstarrung Das Konzil muss als Prozess weitergehen I. Konzil: Prozess/Geschehen In der Einladung zu dieser Rechenschaft über das Konzil steht zu lesen: "Das Zweite Vatikanische Konzil zeitgemäss kommentiert". Dies deutet schon auf über 50 Jahre Vergangenheit hin. Das wird einem so plastisch bewusst, wenn man (z.B. von der Universität München) eingeladen wird, als "Zeitzeuge" über das Konzil zu sprechen. Diese Geschichte erlaubt es uns nicht, rückwärts gewandt die Texte des Konzils fundamentalistisch zu vereinnahmen und gleichsam damals stehen zu bleiben. Das Konzil war nach den Worten des Theologen und Mystikers Karl Rahner "ein Anfang des Anfangs", sozusagen ein Aufbruch, der trotz aller Abbrüche vieles aufbrechen liess und zum weiteren Durchbrechen drängt. Eine Rechenschaft über diese Prozesse zwischen Vergangenheit und Zukunft schenkt die Publikation "Aufbruch aus der Erstarrung". Das Konzil als Prozess muss weitergehen... und ist weitergegangen. Schon das Wort "Konzil" heisst ja von der Wortbedeutung her Beratung und Zusammenkommen, um Konzilianz in strittigen Fragen und drängenden Herausforderungen zu erreichen. Es ist also ein schöpferischer Begriff. Es geht um eine Dynamik mit allen spannungsgeladenen Lagerbildungen und Suchbewegungen, die nie abgeschlossen sein werden. Es bleibt — wie so oft im Leben — eine Spannung zwischen Chaos und Kosmos, zwischen Natur und Kultur, zwischen Realität und Vision oder Wirklichkeit und Religion. 2 Weil aber Natur stärker und massiver ist, ist sie eminent kulturbedürftig. Das sehe ich auch im persönlichen Leben und im Leben der Kirche so. Das als Hintergrund für meine Versuche, das "II. Vatikanum" als Prozess und als Durchlauferhitzer zu verstehen — mit offenem bzw. kaum berechenbarem Ausgang. 3 II. Biographischer Zugang: in kurzer Zeit ein weiter Weg Wenn man heute mit jüngeren Leuten, so sie noch an Kirche interessiert sind, über das II. Vatikanische Konzil ins Gespräch kommt und gleichsam für dieses Ereignis schwärmt, erntet man leicht ein müdes Lächeln. Schon mehr als ein halbes Jahrhundert, was soll das heute? — Anders in meiner Generation, die wir das Konzil eben als sog. Zeitzeugen erlebt und dessen Verlauf mit grosser innerer Anteilnahme verfolgt haben. Es war eine Zeit des Ausbruchs aus einer Statik hin zur Dynamik eines Aufbruchs. Und wir haben zu jener Zeit eine emotionale Alternative zur heutigen Stimmungslage in der Kirche erlebt. Seither haben sich unsere damaligen Naherwartungen auf nachkonziliäre Reformschritte hin massiv verzögert. Viele ehemals Engagierte erlebten einen Burnout ihrer kirchlichen Reformanliegen und sind enttäuscht. Als das Konzil von Papst Johannes XXIII. am 25. Januar 1959 am Ende der Weltgebetswoche für die Einheit der Christen angekündigt wurde, befand ich mich mitten im Philosophiestudium (in Wien-Mödling). Die Ankündigung löste grosses Erstaunen und noch grössere Erwartungen aus. Natürlich gab es nicht nur Begeisterte; das sickerte mit der Zeit durch. Vor allem an der Kurie gab es Widerstand, denn man dachte sich, warum ein neues Konzil, das Unruhe bringt, da doch seit dem I. Vatikanum mit dem Unfehlbarkeitsdogma und mit dem Jurisdiktions-Primat des Papstes amtlich alles geklärt werden könne und deshalb die Zeit der Konzilien beendet sei. Natürlich durchschaute ich dies erst viel später. Kirchlich-religiös habe ich mich aber irgendwie als Gefühls-Fundamentalisten in 4 Erinnerung. Warum nicht? Aber für uns gab es atmosphärisch eine befreiende Unruhe, obwohl ich mir konzeptionell wenig Konkretes vorstellen konnte. Ich erlebte dann das Konzil während des Theologiestudiums von 1961-1967 in Chicago und München auf televisionäre Distanz und Nähe als inspirierenden Aufbruchprozess und als geistig spirituelles Abenteuer. Es war kirchlich und subjektiv ein dynamischer Prozess des Aufbruchs aus einer dogmatischen und primär spekulativen Orientierung im neo-scholastischen Zuschnitt. Bis zum Beginn unserer Studienzeit war die Kirche eine wohl behütete und Sicherheit garantierende Heimat, in der der Katechismus und der Klerus mit seinen Heilsmitteln entscheidend waren. Die Lebenspraxis war der Anwendungsort der lehramtlichen und disziplinären Doktrin. Kirche war erlebnismässig zuerst Pfarrei. Sie war kirchliche Heimat, gemütshaft, aber auch hausbacken. Zweifel und Fragen hatten öffentlich keine Chance. Es galten religiös prägende und moralische Prinzipien mit einer üppigen Frömmigkeitskultur. Und ich erinnere mich sehr klar an ein einschneidendes Erlebnis, an mein "Turmerlebnis", als es mir an einem Freitagnachmittag in einer Wiener Kirche wie ein Blitz durch das Bewusstsein zuckte, dass das entscheidend Christliche nicht zuerst die Moral und religiöse Leistungen, sondern Glaube, Hoffnung und Liebe seien. Das hing wohl mit dem Konzilsgeschehen zusammen. Die Kirche erwachte zur Achtsamkeit für die Lebenssituationen unter gesellschaftlichen Bedingungen und zur Dialogbereitschaft und argumentierenden Vertiefung ihrer biblischen Botschaft. Es begann der ökumenische Frühling. Eine interessante und lebendige Kirche entstand, die sich als Volk Gottes und als Verkünderin des Heils für alle Menschen verstand. 5 Im Nachhinein wurde mir bewusst, wie dieser Aufbruch auch mit dem Lebensgefühl und mit dem technischen Fortschritt in der damaligen Kommunikationskultur zusammenhing. In der ersten Hälfte der 60er Jahre herrschten generell ein Befreiungspathos (Entkolonialisierung), eine euphorische Fortschrittsgläubigkeit und ein Elan des Aufbruchs zu neuen Ufern (John F. Kennedy). Auch die Konzilstexte, die heute auf uns z.T. recht blumig wirken, sind davon geprägt. Es war eine andere Zeit als heute: Kalter Krieg, Eiserner Vorhang, global wahrgenommene Weltprobleme, veränderte Rollen der Medien und der Öffentlichkeit, ideologische Lagerbildungen, konfessionell klare Grenzen etc. Nicht zu vergessen das damals relativ noch junge Medium Fernsehen, das einen dynamisierenden und bewusstseinsmässig einen gleichsam demokratisierenden Effekt hatte und die Bilder und Diskussionen der in Rom tagenden Kleriker (erstmals) mitten hinein in die Wohnstuben der interessierten Leute trug. Erst viel später wurde mir klar, dass wir in unserer Kirche eine Art 68er-Bewegung hatten schon vor 1968. Das Konzil nahm etwas vorweg, was die 68er Kulturrevolution später mit dem Freiheitspathos und mit dem Auszug aus den miefigen Systemen und autoritären Institutionen signalisierte. Und das Konzil berief immerhin schon wenige Frauen als Beraterinnen zur Teilnahme (im Vgl.: die Schweiz führte das Frauenstimmrecht erst 1971 ein). Das war man nicht gewohnt. III. Aggiornamento: Grundmelodie des Konzils In theologischen Vorlesungen in Chicago hatten wir einen Professor, der im Zusammenhang mit dem Konzil plötzlich von einem Swisstheologian Aans Ggung (Hans Küng) sprach. Küngs Buch "Konzil und Wiedervereinigung" wurde für mich inhaltlich 6 zu einem Augenöffner für das Konzil. Es war ein Gegenhorizont zur sonst uns vermittelten Theologie. Es ging um Visionen wie Erneuerung der Kirche als Voraussetzung für die Wiedervereinigung und um die Notwendigkeit steter Reformen. Und es war eine Sprache, die ich verstand. In der ersten Zeit nach dem Konzil standen wir — so vermute ich heute — unter dem Eindruck des Konzils als Geschehen und als Vorgang. Ein Stichwort des unvergesslichen Papstes Johannes XXIII. prägte sich als Grundmelodie des Konzils ein: "Aggiornamento": eine Kirche in einem offenen Dialog mit der säkularen Welt und mit Andersdenkenden und Andersgläubigen, die Überwindung des Ghettos hin zur Öffnung der Kirche auf die Menschen und ihre Welt hin. "Aggiornamento" wurde von Johannes XXIII. in die kirchliche Sprache eingeführt, so dass es unübersetzt in den allgemeinen Sprachgebrauch aufgenommen wurde (Giuseppe Alberigo). Auch unmittelbar nach dem Konzil war die Poesie des Aufbruchs noch förmlich zu spüren. — Und heute sind es genau der Prozess des Konzils, die Dynamik und das Konzil als Geschehen, die weitergehen müssen. Es gibt durchaus eine Gefahr des Konzilsfundamentalismus, in dem man sich wortwörtlich auf Konzilsaussagen beruft, als wären wir nicht selber immer noch im Fluss ihres Einflusses. Es geht zuerst um die schöpferische Kreativität und um den Prozess des Konzils, um den Geist dieses Seminars des Hl. Geistes, aber unter den Bedingungen des menschlichen Daseins und der sich rapide säkularisierenden Gesellschaft. Dies erkenne ich als eindrucksvolles Anliegen der vorgestellten Publikation "Aufbruch aus der Erstarrung". Wie war der Weg seit dem Konzilsgeschehen und welche Wege sind weiterhin ins Auge zu fassen? 7 IV. Inhaltliche Meilensteine Wenn ich im Folgenden an einige Texte bzw. Konzilsanliegen als Inspirationen für den weiteren Weg der Kirche erinnere, dann gewichte ich sicher subjektiv; aber das mindert ja nicht die Anliegen, für die das Konzil als Durchlauferhitzer wirkte. Dabei darf durchaus an die eigentlich selbstverständliche Tatsache erinnert werden, dass die Verlautbarungen des Konzils, gerade bei den sog. heissen Eisen, vielfach Kompromisscharakter tragen. Das weist nochmals auf den Ereignischarakter des Konzilsgeschehens hin. — Zudem gewichte ich Stichworte, die differenziert in "Aufbruch aus der Erstarrung" zu Worte kommen. — Als ein erstes Ergebnis ist ein dynamisches Kirchenbild zu nennen, das Kirche als Volk des Gottes Jesu und als Sakrament des Heils verstand und damit das Verständnis von Kirche als klerikales System von oben nach unten relativierte — nicht rechtlich, aber bewusstseinsmässig. In diesem Zusammenhang sind auch die Impulse für die Kollegialität des Bischofskollegiums (Bischofssynoden) und die aktive Teilnahme der Laien an der Heilssendung der Kirche mit der Empfehlung von Seelsorge- und Pfarreiräten zu gewichten (Lumen gentium). In die gleiche Richtung wies auch das Dekret über das Laienapostolat "Apostolicam actuositatem" (Charisma, gemeinsames Priestertum...). — Die Aktivierung der Laien zeigte sich auch in der Liturgiekonstitution (Sancrosanctum Concilium), die gegenüber einer formalistischen Liturgiepraxis den Rückbezug auf die biblischen und altkirchlichen Quellen forderte. In diesem Zusammenhang 8 ist auch der Abschied vom Latein als einziger Sprache für den Gottesdienst zu sehen. — Die Ökumene wird positiv gewürdigt. Sie wird nicht als blosse Rückkehr der getrennten Kirchen verstanden, sondern als Dimension der Reformen (Unitatis redintegratio). — Die Religionsfreiheit wird erstmals von der Kirche als Menschenrecht anerkannt — und zwar gegen ihre bisherige Doktrin und Tradition. Die Freiheit und das Gewissen des einzelnen Menschen sind vor jedem Zwang zu schützen (Dignitatis humanae). — In der Erklärung "Nostra aetate" geht es um das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen. Der Geist Gottes ist auch ausserhalb der Kirche am Werk. Damit wurde Abschied genommen vom Prinzip "Ausserhalb der Kirche kein Heil". — Besonders gewürdigt wurde das Judentum als Wurzel der Kirche. Jedem Antisemitismus wird eine klare Absage erteilt und religiöse oder rassistische Diskriminierung wird verurteilt. — Für mich persönlich war damals am befreiendsten die Erklärung über den allgemeinen Heilswillen Gottes (Nostra aetate 1; Missionsdekret Ad gentes 7; Lumen gentium 16). Das war für mich eine Erlösung aus einer kirchlichen Enge, die mich als Kind so hilflos beschäftigt hat, nämlich dass die Menschen ausserhalb der "richtigen" Kirche nicht in den "Himmel" kämen. Wir denken heute dabei an die Impulse zum "anonymen Christsein" von Karl Rahner, auch er ein grossartiger Pionier des Konzilsaufbruchs. Nach diesen inhaltlichen Eckdaten soll der Konzilskonstitution "Gaudium et spes" besondere Aufmerksamkeit gewidmet 9 werden, denn sie ist das exemplarische Beispiel für den Konzilsverlauf als Prozess und als Versuch, das Aggiornamento im Sinne Johannes XXIII. zu entfalten — im Blick auf die Realitäten des gesellschaftlichen Lebens.. V. "Gaudium et spes" (1965): Notenschlüssel zum Konzilsgeschehen Das Ringen um das Selbstverständnis der Kirche ist bezeichnend für den Prozess des konziliaren Geschehens. Schon am Ende der ersten Konzilsperiode zeichnete sich in den Konzilsreden (z.B. der Kardinäle Montini und Suenens) die Tendenz ab, die Thematik Kirche in zwei Richtungen zu entfalten: Kirche nach innen und Kirche nach aussen. Nachdem während des Konzilsverlaufs schon mehrere Texte zum Thema von "Gaudium et spes" verfasst worden sind, konstituierte sich eine neue Konzilskommission aus Mitgliedern der theologischen Kommission und der Kommission für das Laienapostolat. Erste Schemata kamen nicht auf die Agenda der Konzilsversammlung. Eine neuere eher "biblischere" Fassung wurde u.a. in der Redaktion der "Orientierung" in Zürich in die Wege geleitet (Mario von Galli, Ludwig Kaufmann...). Diese wurde zur Konzilsvorlage, die in der Folge noch mehrmals geändert und ergänzt wurde, bis die endgültige Fassung im Dezember 1965 grossmehrheitlich angenommen und feierlich als pastorale Konstitution verabschiedet wurde. Im Unterschied zur dogmatischen Konstitution "Lumen gentium" (Kirche nach innen), die schon im November 1964 feierlich promulgiert worden war, wollte "Gaudium et spes" (Kirche nach aussen) als eine pastorale Konstitution verstanden sein: Kirche in 10 der Welt von heute. — Ähnlich wie es bei der Erklärung zur Religionsfreiheit der Fall war, hat sich "Gaudium et spes" erst aus dem Konzilsverlauf heraus entwickelt. Der endgültige Text befreite sich von den ursprünglichen Entwürfen und entwickelte sich aus den Diskussionen ausserhalb und innerhalb der Konzilsaula. Das Ringen des Konzils um das Verhältnis zur Welt wurde damals weltweit — auch von kirchenkritischen Medien und Beobachtern — wahrgenommen und mit Überraschung zur Kenntnis genommen. Es zeigte sich, dass die Gesellschaft andere Fragen und Erwartungen bereithielt als das Interesse an binnenkirchlichen Erörterungen. Man staunte, dass die Kirche sich mit der konkreten Menschheit solidarisch erklärte und die aktuellen Probleme zur Kenntnis nahm. Darin allein schon steckten Lernimpulse für heute. Darum geht es ja deutlich in "Aufbruch aus der Erstarrung". Der Mut, auf konkrete Herausforderungen eine Antwort zu geben, stellte jene in Frage, die die Aufgabe der Kirche auf ihr binnenkirchliches Kerngeschäft einengen wollen. In diesem Sinn stellen die dogmatische Konstitution "Lumen gentium" und die pastorale Konstitution "Gaudium et spes" die zwei Pole der einen und unzertrennlichen Berufung und Sendung der Kirche dar. Die pastorale Grundabsicht des Konzils ist daher in "Gaudium et spes" besonders ausgeprägt. Papst Johannes XXIII. Anliegen wird hier entfaltet: "Zeichen der Zeit" zu erkennen und durch ein "aggiornamento" auf Augenhöhe mit der Zeit zu sein. Eine weitere "Lehre" ist das Verständnis von Seelsorge. Pastoral müht sich nicht nur um die disziplinarische Gestaltung des kirchlichen Alltags im Rahmen des Kirchenrechts. Vielmehr geht es umfassender um das Verhältnis zur heutigen Gesellschaft, zum 11 Menschen im konkreten Spannungsfeld des Lebens und zur geschichtlichen Gegenwart — und dies im Horizont der Botschaft Jesu. Dort ist der Ernstfall der kirchlichen Grundvollzüge zu suchen und zu finden, also im Humus des Lebens. Und wo Humus ist, da gibt es auch Dreck, Mist und Chaos, einfach: die Realitäten des Lebens. Das Konzil hatte in "Gaudium et spes" und z.T. in weiteren Konstitutionen, Dekreten und Erklärungen den Mut, sich der Gegenwart zu stellen, ohne unfehlbare Sicherheit vorzuspiegeln. Darin liegt ein weiterer Impuls des Konzils für die Zukunft unserer Kirche. Es hat einen Anstoss gegeben, sich der Realität zu stellen. Dieser Impuls harrt seiner Fortsetzung, denn Realitätsferne ist momentan eine der stärksten mentalen Schwächen der sog. offiziellen Kirche. VI. Kreative Konzilianz Schon diese knappen Hinweise demonstrieren, dass das Konzil nicht einfach den von der Kurie vorgefertigten Texten applaudierte, sondern dass die sog. Konzilsväter als Subjekte des Geschehens selber aktiv wurden und mit Initiativen und Protesten in die Prozesse eingriffen Man wollte sich nicht gängeln lassen. Vorlagen wurden präsentiert, man bezog Konzilsberater und ökumenische Beobachter in die Sachdiskussion ein und man erreichte Eingriffe in die Struktur des Konzils. Darin entpuppte sich ein Grundanliegen von Papst Johannes XXIII., der bewusst ein pastorales Konzil beabsichtigte, nicht Dogmen und Doktrinen des Lehramtes. 12 Schon in der ersten Sitzungsperiode konnte man einen unerwarteten Konflikt ausmachen, als es zu einem Schlagabtausch zwischen Bewahrern (Kardinal Ottaviani) und Erneuerern (Kardinäle Frings und Liénart) kam. Denn die Kurie versuchte schon zu Beginn am 13. Oktober 1962 bei der Besetzung der zehn Konzilskommissionen massgeblichen Einfluss zu sichern. Durch den Widerstand entstand eine eigene Dynamik und das Konzil suchte nun recht selbstbewusst von Seiten der Konzilsväter eine klarere Zielbestimmung. So schlug — wie schon erwähnt — Kardinal Montini, der baldige Nachfolger von Johannes XXIII., die Konzeption einer doppelten Thematik vor: Kirche nach innen und Kirche nach aussen. Die breite Zustimmung zu diesem Vorschlag nahm sich für Kardinal Ottaviani wie ein Machtverlust aus. Bei der Frage nach der Rolle der Bischöfe in der zweiten Konzilssession betonten die mehr reformerischen Kräfte die Kollegialität. In weiteren Sitzungsperioden ging es — wie schon angedeutet — um Religionsfreiheit und den katholischen Absolutheitsanspruch und später um die Ökumene und das Verhältnis zu den nicht christlichen Religionen. Je weiter das Konzil voranschritt, umso deutlicher zeigten sich die Mehrheitsverhältnisse, wobei die konservativen Kräfte damals eindeutig in der Minderheit waren. Papst Paul VI. bemühte sich um die Integration dieser Minderheit. Auch dies bezeichnet für mich eine wichtige Dimension des Konzilsgeschehens: Dialog über Parteiungen hinweg. So destillierte sich durch das Konzilsgeschehen das heraus, was man später den "Geist" des Konzils zu nennen pflegte, obwohl natürlich auch dies zu unterschiedlichen Interpretationen führen musste. Markante Akzente waren ohne Zweifel der pastorale Ansatz, die Öffnung auf die gesellschaftlichen Herausforderungen und die 13 Lebenswirklichkeit der Menschen hin, sodann die Rückkehr zu den geschichtlich zu verstehenden Quellen des Glaubens. Und die Option für die Armen (Katakombenpakt am 16. Nov. 1965: 40 Bischöfe in den Domitilla-Katakomben verpflichten sich für eine dienende und arme Kirche). Die Kirche wurde nicht zuerst von den institutionellen Ständen von Klerus und Laien her verstanden, sondern als Heilssakrament und als Volk Gottes. Dies führte — wie schon mehrfach erwähnt — von einem statischen zu einem dynamischen Kirchenverständnis. Ein wichtiger Akzent ist die Betonung der Bibel als bleibender Bezugspunkt des Glaubens. Nicht genug zu betonen die Bedeutung des Dialogs mit der Welt und mit anderen christlichen Konfessionen, mit dem Judentum und anderen nichtchristlichen Religionen. Und die Bischöfe der Welt haben sich über die Grenzen ihrer Bistümer hinaus wahrzunehmen gelernt. Es ist somit ein Prozess in Gang gesetzt worden, der inzwischen weitergegangen ist und sich unter radikaleren gesellschaftlichen Bedingungen der sog. Moderne oder Post-Moderne bewähren sollte. Diese wichtigen Aspekte sind m.E. in "Aufbruch aus der Erstarrung" über den Wortlaut der Texte hinaus aktualisiert worden. Es ist gleichsam eine Mobilmachung der Konzilsanliegen im Horizont der gegenwärtigen Herausforderungen. VII. Konzilsgeschehen an der Basis: z.B. Synoden Im Unterschied zu früheren Konzilen gab es nach dem II. Vatikanum ein Novum, nämlich die Verlagerung des Konzilsgeschehens an die Basis durch Synoden. So gab es u.a. in allen deutschsprachigen Ländern Synoden, die die Impulse des Konzils auf der Ebene der Landes- und Ortskirchen umzusetzen 14 versuchten. Ich selbst habe damals das synodale Geschehen in der Schweiz (und auch in Holland und Wien) aus der Ferne beobachtet, habe aber selber die deutsche sog. "Würzburger Synode" als Mitglied der Kommission 7: "Dienste, Ämter, Charismen" und im "Kontaktkreis" Synode miterleben dürfen (dafür bin ich heute noch tief dankbar). Die Synoden bedeuteten so etwas wie Demokratisierung des Konzils bzw. eine Annäherung an das Volk Gottes bzw. an die konkreten Orte des Lebens. Es war Basis-Gewinn, auch wenn die institutionellen Reformschritte abgewehrt werden (Mitsprache der Laien etc.). Durch das damals junge Fernsehen fanden — wie schon vermerkt — die Debatten in Rom Eingang in die Stuben und Wohnungen vieler Menschen. Die Kommunikationsformen hatten entscheidenden Anteil an der Vermittlung des Konzils. Auch darin erblicke ich Lehrgeld für die Zukunft der Kirche. Zu erwähnen sind zudem die erwachsenenbildnerischen Initiativen in den Pfarreien, kirchlichen und seelsorglichen Gremien und die Gründung von Bildungshäusern und Akademien. Diese damals neuen Formen wurden zu Trägern und Beschleunigern des konziliaren Vorgangs, auch wenn sich schon in den späten 1960er Jahren erste Verzögerungen unserer konziliären Naherwartungen anzeigten (Polarisierung zwischen sog. konservativen und progressiven Lagern; Bekräftigung des Pflichtzölibats durch Paul VI im Jahre 1967; Humanae vitae 1968; Lehrentzug für Hans Küng 1979). Erwähnt seien auch die innerkirchlichen Kulturkämpfe, ob das Konzil ein dogmatisches oder pastorales Konzil gewesen sei und wo die Kontinuität in der Doktrin nicht gewahrt bleibe. Ist das Konzil "nur" ein pastorales Konzil gewesen? Trotz des eindrucksvollen Einsatzes so vieler ist nicht zu vergessen, dass die Synoden Anliegen einer wachen Minderheit 15 blieben. Es wurden indessen Perspektiven und Anliegen wach, die den Rahmen des unmittelbar Realisierbaren z.T. überstiegen, aber in ihrer Dringlichkeit ihre Aktualität nicht eingebüsst haben. Trotzdem gedieh manches in der praktischen Pastoral an der Basis weiter. In diesem Zusammenhang möchte ich beispielsweise nur auf die neuen Potentiale und Kategorien von Seelsorgern und Seelsorgerinnen hinweisen. Die Synoden verstärkten das breitere Bewusstsein für sie und machten sie bekannt. Und die Ortskirchen begannen, sich selber in grösseren Kontexten wahr zunehmen. — Auf dem Konzil waren es Bischöfe und Theologen, die über die Kirche und über die Laien verhandelten. Auf der Ebene des kirchlichen Alltags sind die Prozesse jedoch weitergediehen. Die sog. Laien sind gleichsam als mitdenkende und mitwirkende Subjekte erwacht. Nun stellt sich die Frage: Worin liegt der lange Atem, zu dem das Konzil als Geschehen weiterhin Impulse schenkt, auch wenn sich unsere damaligen Naherwartungen auf Reformschritte hin verzögert haben. Wohin geht die Kirche? Dem Anliegen kann ich nur noch in knapper Form gerecht zu werden versuchen. VIII. Kirche — wohin? 1. Die Gesellschaft als bestimmende Quartiermeisterin für die Kirch(n) 16 Durch das Konzil und durch die Synoden in unseren Ländern lernte die Kirche, sich unter den Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens wahrzunehmen (Gaudium et spes). Sie lernte, dass sie eben auch von dieser Welt ist, aber auch auf die Welt kommen muss. Dieser Weg zeigte, dass die unübersichtliche Komplexität und überfordernde Kompliziertheit der Wirklichkeit vor den Kirchentüren nicht Halt gemacht, sondern sich in die Kirche selber ergossen hat. Eine hochdifferenzierte und individualisierte (z.T. singularisierte und insofern auch desolidarisierende) ZivilGesellschaft mit ihrer Macht und ihren Normen, aber auch mit ihrer Brüchigkeit und mit ihrer Brutalität sowie mit ihrer medialen Öffentlichkeit ist zur massgeblichen Quartiermeisterin auch für die Kirche geworden. Ich sehe in unserer gegenwärtigen Gesellschaft auch Tendenzen zu einer Formalisierung aller funktionalen Lebensbereiche mit der Abkühlung der Beziehungsqualität und der Sinnorientierung. Ästhetik und Performance scheinen fast wichtiger als Werte und Inhalte. Das soll nicht verallgemeinert werden. Es gibt gleichzeitig unterschiedliche Trends, wie wir alle wissen. Vielleicht schneller, als wir ahnen, gibt es die Suche nach so etwas wie nach religiöser Orientierung und nach menschlich tragender Heimat. Wenn aber trotz dieses Kontextes z.B. Gleichstellung von Mann und Frau, Partizipation, demokratische Entscheidungsfindung, Menschenrechte und faire Konfliktverfahren selbstverständliche Normen geworden sind, auch wenn man ihnen praktisch oft nicht die Ehre antut, dann schafft das unüberwindliche Spannungen zum geltenden kirchlichen Rechtssystem. Dieses kommt für viele Menschen daher mit einem tiefen Argwohn gegenüber dem freiheitsliebenden Denken und der Leiblichkeit mit der Vitalität und der Sexualität des Menschen. Zudem ist die Kirche 17 zentralistisch übersteuert und patriarchal strukturiert. Die interne Kommunikation verläuft mit der medialen Ästhetik eines Hofzeremoniells von oben nach unten. Und an jedem Hof geniessen Denunzianten mehr Gehör als die Denunzierten Schutz. In der Logik des Systems werden nicht zuerst pastoral und kommunikativ kompetente Leute, sondern Systemloyale mit z.T. erheblichen menschlichen Insuffizienzen in Linienpositionen berufen, wie Bischofsernennungen schmerzlich zeigen, die ganzen Bistümern den Frieden und die Freude kosten. Nun: Einen Krisenherd zu benennen, heisst nicht, ihn hämisch und selbstinszenierend zu bedienen, sondern sich ihm anzunähern, um heilende Schritte für die weitere Wegsuche auszukundschaften. Zudem ist Kirchen- und Selbstkritik aus dem Geiste des Evangeliums heraus auch kirchliches und christliches Handeln. Es geht um Glaubwürdigkeit. 2. Konflikthypothese: Konflikt mit dem Konflikt (System) Die aktuellen Spannungen in der Innenarchitektur unserer Kirche und der ungeheure Realitätsverlust des Systems sind wohl folgendermassen zu diagnostizieren. Die vorhin genannten Schritte der katholischen Kirche seit dem II. Vatikanischen Konzil belegen, dass die Kirche sich in einer differenzierten und pluralistisch gewordenen Welt im Konflikt mit sich selbst befindet sowie in einem tiefgreifenden Wandlungsprozess. Was ist damit gemeint? Die Kirchenverständnisse (-Bilder) und die Vorstellungen über die Kirche haben sich intern vervielfacht und atomisiert. Diese dynamisierenden Bewusstseinsschübe haben den früher monolithischen Binnenraum der Kirche bzw. den volkskirchlichen Dichtestress enthärtet und selber pluralisiert. 18 Vervielfacht haben sich gleichzeitig die Konzepte des pastoralen Handelns bis hin zu verschiedenen Kategorien von Spezialseelsorge, obwohl auch diese letztlich Normalseelsorge sind. Zudem: in den letzten Jahren sind — unter dem Druck des Priester- bzw. Personalmangels und infolge des Geldmangels — auch die früheren kirchlichen Sozialformen wie Pfarrei und Dekanat neu in Bewegung gesetzt und strukturiert worden. Aber nicht nur die Kirchenbilder, nicht nur die Seelsorgekonzepte und die pastoralen Sozialformen haben sich enorm verändert und sich dem gesellschaftlichen Kontext angepasst, sondern auch das kirchlichpastorale und theologische Betriebspersonal. Und dies greift sozusagen intim in das hierarchische Selbstverständnis unserer Kirche hinein. Das Monopol der Kleriker hat Konkurrenz erhalten. Das wäre ein eigenes Thema. Alles hat sich differenziert und professionalisiert und der Kirche ein verändertes Profil beschert; nur einzig und allein das kirchenrechtliche Gewand bzw. die geschichtlich entfaltete Organisationsform der Kirche ist vorkonziliar stehen geblieben. Dieses klerikal-hierarchische System wurde in seinem geradezu feudalistischen Zuschnitt eher wieder offensiv forciert. Die kanonische Kirche ist für das inzwischen üppig Gewachsene viel zu eng geworden. Was spriessen und leben will, möchte sich entfalten und beansprucht Lebensraum. Dadurch werden bemühende bzw. kräfteraubende Konflikte erzeugt. Regelverstösse, Druck von unten und charismatische Dreistigkeit bzw. "schismatisierende" Selbsthilfe werden geradezu provoziert. Die sozusagen amtliche Kirche riskiert vieles, was pastoral eigentlich zu retten wäre, wenn wir z.B. allein an den Reichtum des sakramentalen Lebens denken, der auch durch den sog. Priestermangel bedroht ist. Aber es darf auch nicht unterschlagen werden, dass 19 die meisten Konflikte in der Kirche wenig mit Theologie zu tun haben, aber sehr viel mit Psychologie und mit einem idealisierten unfehlbaren Kirchenverständnis, das Konflikte und Chaos grundsätzlich nur in der profanen Welt, nicht bei sich selber sah: Konflikt mit dem Konflikt. In Kurzform: Reformen des Systems sind angesagt. Sie sind verantwortlich in die Wege zu leiten, Reformen, die pastoral notwendig und theologisch möglich sind und die vom Konzil genährt wurden. Es hilft alles nichts und heilt noch weniger, wenn sich das kirchenrechtliche System dauernd gegen die gewachsene Modernität im eigenen Hause und gegen die Unverwüstlichkeit (Vitalität) der eigenen Basis stemmt und sich daran wund reibt. Der binnenkirchliche Kulturkampf des Systems mit der Modernität in den eigenen Reihen verliert sich im Zweitrangigen und verschleudert die so vielen kostbaren menschlichen Ressourcen. Zudem heilt es wohl kaum, wenn das System den Phantomschmerz der Ewiggestrigen beflissen bedient. Zudem verlieren wir uns leicht in vordergründigen Kirchensorgen. Dabei ist Seelsorge angesagt, die Sorge um die Menschen und ihre Welt durch eine diakonisch orientierte Kirche. Die eigentliche Personalfrage der Kirche sind die Menschen im Alltag des Lebens, zu denen die Kirche gesandt ist. 3. Kirche nicht zu gross denken Kirche ist nicht nur funktionales System, sondern primär eine Gemeinschaft im Glauben aus vielen Menschen. In dieser Unter- 20 scheidung der beiden Pole, die nicht zu trennen sind, liegen auch Hinweise auf Heilungsressourcen. Das kanonische System der Kirche ist eine geschichtliche Grösse von Menschenhand. Es ist nicht selbst das Heil. Auch in der Kirche ist die Erkenntnis an Raum und Zeit gebunden und an strukturierendes Vermögen, an menschliche Bedingungen. Vielleicht verrät sich hinter all den Kirchenkrisen und dem moralischen Grounding durch die Missbrauchsfälle so etwas wie eine indirekte Pädagogik der Umkehr. Ist eventuell zu lernen, auf die Botschaft Jesu von einem Gott, der den Menschen in Liebe nahe ist, alle Karten zu setzen und nicht zuerst auf die institutionalisierte Kirche mit all dem Reichtum ihrer sog. "Heilsmittel". Denn Kirche dient einer Liebe, die sie nicht selber erfüllt, sondern Gott. "Denkt nicht an das, was früher war, und was vormals war — kümmert euch nicht darum. Seht, ich schaffe Neues, schon spriesst es; seht ihr es nicht?" (Jes 43,18f). IX. Langer Atem — wenn sich die Zeit hinzieht 1. Perspektivenwechsel durch Papst Franziskus Weltweit hat sich die innerkirchliche Stimmung unter dem "neuen" Papst Franziskus geändert. Das mediale Echo auf seine Impulse ist bis jetzt ungebrochen. Dies muss u.a. an seiner charismatischen Persönlichkeit liegen. Aber es hat auch mit der widersprüchlichen Basis-Stimmung in der Kirche zu tun. Das geschichtlich gewachsene System der Kirche hat innerkirchliche Probleme anstauen lassen, ohne konkrete Schritte im Sinne des II. Vat. Konzils (1962-1965) auf Reformen hin zu unternehmen. Die nachkonziliaren Naherwartungen auf Reformen hin haben sich — wie schon vermerkt — verzögert. Das Problem liegt nun 21 m.E. nicht zuerst in der praktischen Hilflosigkeit der Verantwortlichen, die strittigen Punkte kurz-, mittel- und langfristig anzugehen. Das ist bei einem weltweiten Geisteskonzern wie der Kirche auch alles andere als leicht. Aber dass die Kirchenführung die sog. "heissen Eisen" nicht wahrnehmen wollte und sogar deren Diskussion mit Berufung auf eine unfehlbare Einheit tabuisiert, das vergiftet die Atmosphäre. Und die Kirche hat sich in ihrer geschichtlich gewachsenen Sozialgestalt sakralisiert: Heiliger Vater, Heiliger Stuhl, heiliges Konzil, göttliches Recht usw. Damit hat sie sich selbst zur unfehlbaren Hierarchie (hl. Herrschaft) und ihre menschlichen Strukturen zum Glaubenssatz erhöht. Kirche ist im Unterschied zur profanen Welt heilig und ohne Tadel (Konflikt mit dem Konflikt). Leicht sind dann auch die Geweihten übergeordnet. Der Ruf nach Reformen wird schon als Glaubens-Verrat geahndet. Dabei denke ich, Kirche ist geerdetes Sakrament, nicht abgehobene Sakralität. Denkverbote (z.B. Priestermangel, Ordination der Frauen, synodale Mitsprache, Ehepastoral usw.) verursachen mentale Infektionen. Unter den letzten Päpsten sind die diesbezüglichen Hausaufgaben abgewehrt worden. Und in dieser winterlichen Stimmung durchbricht Papst Franziskus gerade diese Tabus bzw. Denk- und Diskussionsverbote. Wie Papst Johannes XXIII. betont Papst Franziskus, dass die Kirche für die Menschen da ist und aus allen Menschen besteht, besonders den Armen. Dadurch bindet er auch die institutionelle Kirchenleitung an die Impulse des Konzils. Das Konzil muss auch als Prozess der Kirchenreform weitergehen. Aggiornamento gilt auch für die "ecclesia semper reformanda". Eine einseitig sakrale und unfehlbare Kirche wird durch Papst Franziskus in Frage gestellt durch Bilder wie Lazarett und 22 verwundete Kirche. Tabus und Denkverbote werden durchbrochen. Seine Weihnachtsansprache am 22. Dezember 2014 an die Oberen der vatikanischen Kurienbehörden hat das Bild einer heilen Kirche radikal in Frage gestellt und nach ihrem konkreten Dienst in der heutigen Welt gefragt. Dies entgiftet und befreit, lässt schmunzeln und aufatmen. Auf die Dauer müssten aber auch konkrete Schritte in die Wege geleitet werden, die nach langen synodalen Prozessen von mehreren Jahren die anstehenden Reformen angehen. Und Franziskus hat den Weg zur Diskussion der Konzilsprozesse und der sog. heissen Eisen atmosphärisch freigegeben. 2. Langer Atem: in und mit der Kirche In dieser Situation ist wichtig, Kirche als Glaubensgemeinschaft und als geschichtlich gewachsene Organisation mit ihrem kanonischen System zu unterscheiden, aber ja nicht zu trennen. Es wäre zu einfach, mit der berechtigten Kritik an der Kirche bzw. an ihrem System sich von der Kirche als Glaubensgemeinschaft zu verabschieden. Ich würde als einzelner schnell verdummen sowie seelische und spirituelle Energien verspielen, wenn ich mich aus der Erfahrungsnähe zu einer solchen weltweiten Vernetzung im Glauben abkoppeln wollte. Menschlich würde man sich letztlich auch selbst betrügen. Denn mit Hinweis auf das unideale System kann ich mich nicht aus der Eigenverantwortung stehlen und mir schenken, im Christsein selber erwachsen zu werden und dabei mich selber und andere auszuhalten. Zudem meint das spezifisch Christliche das entscheidend Menschliche. Wenn immer es um das 23 Entscheidende im Leben geht, bezahlt man mit sich selber, auch in seiner Glaubensbiographie. Zudem ist nicht zu übersehen: Unsere Kirche ist mit den anderen Kirchen zusammen eine zweitausendjährige auf der Basis der jüdischen Tradition aufbauende Interpretationsgemeinschaft der Botschaft Jesu und der Impulse für die praktische Nachfolge in seinem Geiste. Trotz historischer Veruntreuungen ist dies auch eine ungeheuer reiche Weisheits- und Solidaritätsgeschichte, auch wenn dies in unserer medialen Öffentlichkeit nicht die verdiente Beachtung findet. Die Kirche ist doch vielfach auch ein Frühwarnsystem in der Welt mit ihren menschlichen Nöten, aber auch ein Leuchtturm für Orientierung und Solidarisierung mit jenen, die im Dunkel sitzen (Jes 42,7). Zudem ist das institutionelle Gewand unserer Kirche ein weltweit bis in die territoriale (Pfarrei-)Struktur hinein organisiertes System, das als Solidaritätsverband kein vergleichbares Pendant in der Welt findet... Ungeachtet des reformbedürftigen Systems gibt es auch in unserer Kirche hierzulande und weltweit trotz der Ermüdungserscheinungen eine charismatische Dynamik, spirituelle und geistige Schubimpulse, menschliche Ressourcen, ethische und solidarische Synergien und so viel guten Willen mit prophetischer Wut und Glut und in aller Stille so viel selbstverständliche und stille Treue. Es gibt eine richtige Praxis auch in einem falschen oder reformbedürftigen System. Und für diese Praxis sind wir persönlich verantwortlich. Für die eigene Glaubwürdigkeit gibt es keine Stellvertretung. Es geht um unsere je eigene Verantwortung, aber möglichst mit anderen zusammen. 3. Gott nicht zu klein denken 24 Die Grundfrage jeder Kirchenreform mündet letztlich in die spirituelle Existenzfrage: Wem vertrauen wir? Auf wen setzen wir die Hoffnung? Ist es das Vertrauen auf die Treue Gottes oder auf die scheinbaren Garantien einer Institution? Natürlich steht Kirchen-Reform immer an. Die ideale Kirche ist uns nicht verheissen. Sie ist nicht machbar — schon allein deswegen nicht, weil auch ich zu ihr gehöre. Die Seele der Kirche ist im Horizont der biblischen Botschaft die Einheit der Menschen- und Gottesliebe (Karl Rahner). Kirche wird als solche da erfahren, wo Menschen sich miteinander auf den Weg und die Botschaft Jesu einlassen, und wo in unserem persönlichen und gesellschaftlichen Alltag von jener neueren und grösseren Liebe und Hoffnung etwas gelebt und erfahren wird, von denen uns die biblischen Urkunden des Glaubens erzählen. Kirche wird demzufolge durch menschliche Beziehungen und Kommunikation zum anschaulichen Hinweis auf das anbrechende Reich Gottes. Somit wird Kirche insofern glaubwürdig und mystisch-spirituell einladend, als ihre Sozialformen und ihre pastoralen Wege immer wieder zur christlichen TiefenDimension konvertieren. Darum ist Kirchen-Reform so wichtig; es geht um ein glaubwürdiges Zeugnis. Dann wird sie zum Erlebnisraum gelebten Christseins. Dann wird Kirche ökumenisch und offen für andere Religionen; sie wird dialogisch und heilend; sie wird politisch engagiert im Kontext von sozialer Gerechtigkeit, Freiheit, Menschenwürde und Solidarität; sie wird eine Gemeinschaft von Pilgern auf dem Weg und nicht von passiven Passagieren im Kirchenkahn; sie wird Weite in den Realitäten des Lebens gewinnen, weil sie sich der Tiefe ihrer Hoffnung im Vertrauen auf Gott aussetzt und hingibt; sie wird nicht der volkskirchlichen Erfolgs-Pastoral des Erntens nach- 25 jammern, sondern ihre Sendung heute als Zeit des Säens wagen; sie wird die einzelnen wohl selber gehen lassen, aber nicht alleine lassen, sondern gemeinsam den Weg suchen und gehen lassen. Katholisch sein kann man nie allein und nie gegen andere. So wird sich der Kirche die Einsicht als Auftrag und als Entlastung schenken, dass sie einer Liebe dient, die sie nicht selber erfüllen muss und kann. Gott ist immer grösser. Hat dazu das Konzil und der seitherige Weg der Kirche nicht Spuren gelegt, für die wir nur dankbar sein können und die als Impulse uns heute herausfordern und Mut machen. "Aufbruch aus der Erstarrung" ist für mich ein Vergrösserungsglas, eine Lupe, die mich das Konzil und seinen bisherigen Weg besser verstehen lässt und in die nächste und weitere Zukunft weist. Durch diese konkrete Kirche mit ihrer Geschichte ist mir bei allem Widerstand der Realitäten ein Zugang zu Jesus von Nazaret und zu seiner Botschaft eröffnet und geschenkt worden. Was kann ich uns Besseres wünschen. Zudem: auch in und durch diese Kirche durfte ich so vielen Menschen begegnen, die zu kennen mich einfach dankbar macht. Ohne diese Wege, auf denen ich von anderen mitgenommen und sozusagen abgeholt worden bin, könnte ich heute auch so nicht zu Ihnen zu sprechen versuchen. — Ohne Konzil hätten wir heute so nicht zusammengefunden — beim Träumen über den langen Atem in und mit und trotz der Kirche. Sie sehen, das Konzil geht weiter. Leo Karrer
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