pdf-Format - Zeitgemäß glauben

Aufbruch aus der Erstarrung
Das Konzil muss als Prozess weitergehen
I. Konzil: Prozess/Geschehen
In der Einladung zu dieser Rechenschaft über das Konzil steht zu
lesen: "Das Zweite Vatikanische Konzil zeitgemäss kommentiert". Dies deutet schon auf über 50 Jahre Vergangenheit hin.
Das wird einem so plastisch bewusst, wenn man (z.B. von der
Universität München) eingeladen wird, als "Zeitzeuge" über das
Konzil zu sprechen. Diese Geschichte erlaubt es uns nicht,
rückwärts gewandt die Texte des Konzils fundamentalistisch zu
vereinnahmen und gleichsam damals stehen zu bleiben. Das
Konzil war nach den Worten des Theologen und Mystikers Karl
Rahner "ein Anfang des Anfangs", sozusagen ein Aufbruch, der
trotz aller Abbrüche vieles aufbrechen liess und zum weiteren
Durchbrechen drängt. Eine Rechenschaft über diese Prozesse
zwischen Vergangenheit und Zukunft schenkt die Publikation
"Aufbruch aus der Erstarrung".
Das Konzil als Prozess muss weitergehen... und ist weitergegangen. Schon das Wort "Konzil" heisst ja von der
Wortbedeutung her Beratung und Zusammenkommen, um
Konzilianz in strittigen Fragen und drängenden Herausforderungen zu erreichen. Es ist also ein schöpferischer Begriff.
Es geht um eine Dynamik mit allen spannungsgeladenen
Lagerbildungen und Suchbewegungen, die nie abgeschlossen
sein werden. Es bleibt — wie so oft im Leben — eine Spannung
zwischen Chaos und Kosmos, zwischen Natur und Kultur,
zwischen Realität und Vision oder Wirklichkeit und Religion.
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Weil aber Natur stärker und massiver ist, ist sie eminent
kulturbedürftig. Das sehe ich auch im persönlichen Leben und im
Leben der Kirche so. Das als Hintergrund für meine Versuche,
das "II. Vatikanum" als Prozess und als Durchlauferhitzer zu
verstehen — mit offenem bzw. kaum berechenbarem Ausgang.
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II. Biographischer Zugang: in kurzer Zeit ein weiter Weg
Wenn man heute mit jüngeren Leuten, so sie noch an Kirche
interessiert sind, über das II. Vatikanische Konzil ins Gespräch
kommt und gleichsam für dieses Ereignis schwärmt, erntet man
leicht ein müdes Lächeln. Schon mehr als ein halbes Jahrhundert,
was soll das heute? — Anders in meiner Generation, die wir das
Konzil eben als sog. Zeitzeugen erlebt und dessen Verlauf mit
grosser innerer Anteilnahme verfolgt haben. Es war eine Zeit des
Ausbruchs aus einer Statik hin zur Dynamik eines Aufbruchs.
Und wir haben zu jener Zeit eine emotionale Alternative zur
heutigen Stimmungslage in der Kirche erlebt. Seither haben sich
unsere damaligen Naherwartungen auf nachkonziliäre Reformschritte hin massiv verzögert. Viele ehemals Engagierte erlebten
einen Burnout ihrer kirchlichen Reformanliegen und sind
enttäuscht.
Als das Konzil von Papst Johannes XXIII. am 25. Januar 1959
am Ende der Weltgebetswoche für die Einheit der Christen
angekündigt wurde, befand ich mich mitten im Philosophiestudium (in Wien-Mödling). Die Ankündigung löste grosses
Erstaunen und noch grössere Erwartungen aus. Natürlich gab es
nicht nur Begeisterte; das sickerte mit der Zeit durch. Vor allem
an der Kurie gab es Widerstand, denn man dachte sich, warum
ein neues Konzil, das Unruhe bringt, da doch seit dem I.
Vatikanum mit dem Unfehlbarkeitsdogma und mit dem
Jurisdiktions-Primat des Papstes amtlich alles geklärt werden
könne und deshalb die Zeit der Konzilien beendet sei. Natürlich
durchschaute ich dies erst viel später. Kirchlich-religiös habe ich
mich
aber
irgendwie
als
Gefühls-Fundamentalisten
in
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Erinnerung. Warum nicht? Aber für uns gab es atmosphärisch
eine befreiende Unruhe, obwohl ich mir konzeptionell wenig
Konkretes vorstellen konnte. Ich erlebte dann das Konzil
während des Theologiestudiums von 1961-1967 in Chicago und
München auf televisionäre Distanz und Nähe als inspirierenden
Aufbruchprozess und als geistig spirituelles Abenteuer. Es war
kirchlich und subjektiv ein dynamischer Prozess des Aufbruchs
aus einer dogmatischen und primär spekulativen Orientierung im
neo-scholastischen Zuschnitt.
Bis zum Beginn unserer Studienzeit war die Kirche eine wohl
behütete und Sicherheit garantierende Heimat, in der der
Katechismus und der Klerus mit seinen Heilsmitteln entscheidend waren. Die Lebenspraxis war der Anwendungsort der
lehramtlichen und disziplinären Doktrin. Kirche war erlebnismässig zuerst Pfarrei. Sie war kirchliche Heimat, gemütshaft,
aber auch hausbacken. Zweifel und Fragen hatten öffentlich
keine Chance. Es galten religiös prägende und moralische
Prinzipien mit einer üppigen Frömmigkeitskultur. Und ich
erinnere mich sehr klar an ein einschneidendes Erlebnis, an mein
"Turmerlebnis", als es mir an einem Freitagnachmittag in einer
Wiener Kirche wie ein Blitz durch das Bewusstsein zuckte, dass
das entscheidend Christliche nicht zuerst die Moral und religiöse
Leistungen, sondern Glaube, Hoffnung und Liebe seien. Das hing
wohl mit dem Konzilsgeschehen zusammen. Die Kirche
erwachte zur Achtsamkeit für die Lebenssituationen unter
gesellschaftlichen Bedingungen und zur Dialogbereitschaft und
argumentierenden Vertiefung ihrer biblischen Botschaft. Es begann der ökumenische Frühling. Eine interessante und lebendige
Kirche entstand, die sich als Volk Gottes und als Verkünderin des
Heils für alle Menschen verstand.
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Im Nachhinein wurde mir bewusst, wie dieser Aufbruch auch mit
dem Lebensgefühl und mit dem technischen Fortschritt in der
damaligen Kommunikationskultur zusammenhing. In der ersten
Hälfte der 60er Jahre herrschten generell ein Befreiungspathos
(Entkolonialisierung), eine euphorische Fortschrittsgläubigkeit
und ein Elan des Aufbruchs zu neuen Ufern (John F. Kennedy).
Auch die Konzilstexte, die heute auf uns z.T. recht blumig
wirken, sind davon geprägt. Es war eine andere Zeit als heute:
Kalter
Krieg, Eiserner Vorhang, global wahrgenommene
Weltprobleme, veränderte Rollen der Medien und der Öffentlichkeit, ideologische Lagerbildungen, konfessionell klare Grenzen
etc. Nicht zu vergessen das damals relativ noch junge Medium
Fernsehen, das einen dynamisierenden und bewusstseinsmässig
einen gleichsam demokratisierenden Effekt hatte und die Bilder
und Diskussionen der in Rom tagenden Kleriker (erstmals)
mitten hinein in die Wohnstuben der interessierten Leute trug.
Erst viel später wurde mir klar, dass wir in unserer Kirche eine
Art 68er-Bewegung hatten schon vor 1968. Das Konzil nahm
etwas vorweg, was die 68er Kulturrevolution später mit dem
Freiheitspathos und mit dem Auszug aus den miefigen Systemen
und autoritären Institutionen signalisierte. Und das Konzil berief
immerhin schon wenige Frauen als Beraterinnen zur Teilnahme
(im Vgl.: die Schweiz führte das Frauenstimmrecht erst 1971
ein). Das war man nicht gewohnt.
III. Aggiornamento: Grundmelodie des Konzils
In theologischen Vorlesungen in Chicago hatten wir einen
Professor, der im Zusammenhang mit dem Konzil plötzlich von
einem Swisstheologian Aans Ggung (Hans Küng) sprach. Küngs
Buch "Konzil und Wiedervereinigung" wurde für mich inhaltlich
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zu einem Augenöffner für das Konzil. Es war ein Gegenhorizont
zur sonst uns vermittelten Theologie. Es ging um Visionen wie
Erneuerung der Kirche als Voraussetzung für die Wiedervereinigung und um die Notwendigkeit steter Reformen. Und es
war eine Sprache, die ich verstand.
In der ersten Zeit nach dem Konzil standen wir — so vermute ich
heute — unter dem Eindruck des Konzils als Geschehen und als
Vorgang. Ein Stichwort des unvergesslichen Papstes Johannes
XXIII. prägte sich als Grundmelodie des Konzils ein:
"Aggiornamento": eine Kirche in einem offenen Dialog mit der
säkularen Welt und mit Andersdenkenden und Andersgläubigen,
die Überwindung des Ghettos hin zur Öffnung der Kirche auf die
Menschen und ihre Welt hin. "Aggiornamento" wurde von
Johannes XXIII. in die kirchliche Sprache eingeführt, so dass es
unübersetzt in den allgemeinen Sprachgebrauch aufgenommen
wurde (Giuseppe Alberigo). Auch unmittelbar nach dem Konzil
war die Poesie des Aufbruchs noch förmlich zu spüren. — Und
heute sind es genau der Prozess des Konzils, die Dynamik und
das Konzil als Geschehen, die weitergehen müssen. Es gibt
durchaus eine Gefahr des Konzilsfundamentalismus, in dem man
sich wortwörtlich auf Konzilsaussagen beruft, als wären wir nicht
selber immer noch im Fluss ihres Einflusses. Es geht zuerst um
die schöpferische Kreativität und um den Prozess des Konzils,
um den Geist dieses Seminars des Hl. Geistes, aber unter den
Bedingungen des menschlichen Daseins und der sich rapide
säkularisierenden
Gesellschaft.
Dies
erkenne
ich
als
eindrucksvolles Anliegen der vorgestellten Publikation "Aufbruch aus der Erstarrung". Wie war der Weg seit dem Konzilsgeschehen und welche Wege sind weiterhin ins Auge zu fassen?
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IV. Inhaltliche Meilensteine
Wenn ich im Folgenden an einige Texte bzw. Konzilsanliegen als
Inspirationen für den weiteren Weg der Kirche erinnere, dann
gewichte ich sicher subjektiv; aber das mindert ja nicht die Anliegen, für die das Konzil als Durchlauferhitzer wirkte. Dabei
darf durchaus an die eigentlich selbstverständliche Tatsache
erinnert werden, dass die Verlautbarungen des Konzils, gerade
bei den sog. heissen Eisen, vielfach Kompromisscharakter tragen. Das weist nochmals auf den Ereignischarakter des Konzilsgeschehens hin. — Zudem gewichte ich Stichworte, die differenziert in "Aufbruch aus der Erstarrung" zu Worte kommen.
— Als ein erstes Ergebnis ist ein dynamisches Kirchenbild zu
nennen, das Kirche als Volk des Gottes Jesu und als Sakrament
des Heils verstand und damit das Verständnis von Kirche als
klerikales System von oben nach unten relativierte — nicht
rechtlich, aber bewusstseinsmässig. In diesem Zusammenhang
sind auch die Impulse für die Kollegialität des Bischofskollegiums (Bischofssynoden) und die aktive Teilnahme der
Laien an der Heilssendung der Kirche mit der Empfehlung von
Seelsorge- und Pfarreiräten zu gewichten (Lumen gentium). In
die gleiche Richtung wies auch das Dekret über das Laienapostolat "Apostolicam actuositatem" (Charisma, gemeinsames
Priestertum...).
— Die Aktivierung der Laien zeigte sich auch in der Liturgiekonstitution (Sancrosanctum Concilium), die gegenüber einer
formalistischen Liturgiepraxis den Rückbezug auf die biblischen
und altkirchlichen Quellen forderte. In diesem Zusammenhang
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ist auch der Abschied vom Latein als einziger Sprache für den
Gottesdienst zu sehen.
— Die Ökumene wird positiv gewürdigt. Sie wird nicht als
blosse Rückkehr der getrennten Kirchen verstanden, sondern als
Dimension der Reformen (Unitatis redintegratio).
— Die Religionsfreiheit wird erstmals von der Kirche als
Menschenrecht anerkannt
— und zwar gegen ihre bisherige
Doktrin und Tradition. Die Freiheit und das Gewissen des
einzelnen Menschen sind vor jedem Zwang zu schützen
(Dignitatis humanae).
— In der Erklärung "Nostra aetate" geht es um das Verhältnis der
Kirche zu den nichtchristlichen Religionen. Der Geist Gottes ist
auch ausserhalb der Kirche am Werk. Damit wurde Abschied
genommen vom Prinzip "Ausserhalb der Kirche kein Heil". —
Besonders gewürdigt wurde das Judentum als Wurzel der Kirche.
Jedem Antisemitismus wird eine klare Absage erteilt und
religiöse oder rassistische Diskriminierung wird verurteilt.
— Für mich persönlich war damals am befreiendsten die
Erklärung über den allgemeinen Heilswillen Gottes (Nostra
aetate 1; Missionsdekret Ad gentes 7; Lumen gentium 16). Das
war für mich eine Erlösung aus einer kirchlichen Enge, die mich
als Kind so hilflos beschäftigt hat, nämlich dass die Menschen
ausserhalb der "richtigen" Kirche nicht in den "Himmel" kämen.
Wir denken heute dabei an die Impulse zum "anonymen
Christsein" von Karl Rahner, auch er ein grossartiger Pionier des
Konzilsaufbruchs.
Nach diesen inhaltlichen Eckdaten soll der Konzilskonstitution
"Gaudium et spes" besondere Aufmerksamkeit gewidmet
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werden, denn sie ist das exemplarische Beispiel für den Konzilsverlauf als Prozess und als Versuch, das Aggiornamento im Sinne
Johannes XXIII. zu entfalten — im Blick auf die Realitäten des
gesellschaftlichen Lebens..
V. "Gaudium et spes" (1965): Notenschlüssel zum Konzilsgeschehen
Das Ringen um das Selbstverständnis der Kirche ist bezeichnend
für den Prozess des konziliaren Geschehens. Schon am Ende der
ersten Konzilsperiode zeichnete sich in den Konzilsreden (z.B.
der Kardinäle Montini und Suenens) die Tendenz ab, die
Thematik Kirche in zwei Richtungen zu entfalten: Kirche nach
innen und Kirche nach aussen. Nachdem während des Konzilsverlaufs schon mehrere Texte zum Thema von "Gaudium et spes"
verfasst worden sind, konstituierte sich eine neue Konzilskommission aus Mitgliedern der theologischen Kommission und
der Kommission für das Laienapostolat. Erste Schemata kamen
nicht auf die Agenda der Konzilsversammlung. Eine neuere eher
"biblischere" Fassung wurde u.a. in der Redaktion der
"Orientierung" in Zürich in die Wege geleitet (Mario von Galli,
Ludwig Kaufmann...). Diese wurde zur Konzilsvorlage, die in
der Folge noch mehrmals geändert und ergänzt wurde, bis die
endgültige Fassung im Dezember 1965 grossmehrheitlich angenommen und feierlich als pastorale Konstitution verabschiedet
wurde.
Im Unterschied zur dogmatischen Konstitution "Lumen gentium"
(Kirche nach innen), die schon im November 1964 feierlich
promulgiert worden war, wollte "Gaudium et spes" (Kirche nach
aussen) als eine pastorale Konstitution verstanden sein: Kirche in
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der Welt von heute. — Ähnlich wie es bei der Erklärung zur
Religionsfreiheit der Fall war, hat sich "Gaudium et spes" erst
aus dem Konzilsverlauf heraus entwickelt. Der endgültige Text
befreite sich von den ursprünglichen Entwürfen und entwickelte
sich aus den Diskussionen ausserhalb und innerhalb der Konzilsaula. Das Ringen des Konzils um das Verhältnis zur Welt wurde
damals weltweit — auch von kirchenkritischen Medien und
Beobachtern — wahrgenommen und mit Überraschung zur
Kenntnis genommen. Es zeigte sich, dass die Gesellschaft andere
Fragen und Erwartungen bereithielt als das Interesse an binnenkirchlichen Erörterungen. Man staunte, dass die Kirche sich mit
der konkreten Menschheit solidarisch erklärte und die aktuellen
Probleme zur Kenntnis nahm. Darin allein schon steckten Lernimpulse für heute. Darum geht es ja deutlich in "Aufbruch aus
der Erstarrung". Der Mut, auf konkrete Herausforderungen eine
Antwort zu geben, stellte jene in Frage, die die Aufgabe der
Kirche auf ihr binnenkirchliches Kerngeschäft einengen wollen.
In diesem Sinn stellen die dogmatische Konstitution "Lumen
gentium" und die pastorale Konstitution "Gaudium et spes" die
zwei Pole der einen und unzertrennlichen Berufung und Sendung
der Kirche dar.
Die pastorale Grundabsicht des Konzils ist daher in "Gaudium et
spes" besonders ausgeprägt. Papst Johannes XXIII. Anliegen
wird hier entfaltet: "Zeichen der Zeit" zu erkennen und durch ein
"aggiornamento" auf Augenhöhe mit der Zeit zu sein.
Eine weitere "Lehre" ist das Verständnis von Seelsorge. Pastoral
müht sich nicht nur um die disziplinarische Gestaltung des
kirchlichen Alltags im Rahmen des Kirchenrechts. Vielmehr geht
es umfassender um das Verhältnis zur heutigen Gesellschaft, zum
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Menschen im konkreten Spannungsfeld des Lebens und zur
geschichtlichen Gegenwart — und dies im Horizont der
Botschaft Jesu. Dort ist der Ernstfall der kirchlichen Grundvollzüge zu suchen und zu finden, also im Humus des Lebens.
Und wo Humus ist, da gibt es auch Dreck, Mist und Chaos,
einfach: die Realitäten des Lebens.
Das Konzil hatte in "Gaudium et spes" und z.T. in weiteren
Konstitutionen, Dekreten und Erklärungen den Mut, sich der
Gegenwart zu stellen, ohne unfehlbare Sicherheit vorzuspiegeln.
Darin liegt ein weiterer Impuls des Konzils für die Zukunft
unserer Kirche. Es hat einen Anstoss gegeben, sich der Realität
zu stellen. Dieser Impuls harrt seiner Fortsetzung, denn Realitätsferne ist momentan eine der stärksten mentalen Schwächen der
sog. offiziellen Kirche.
VI. Kreative Konzilianz
Schon diese knappen Hinweise demonstrieren, dass das Konzil
nicht einfach den von der Kurie vorgefertigten Texten applaudierte, sondern dass die sog. Konzilsväter als Subjekte des
Geschehens selber aktiv wurden und mit Initiativen und
Protesten in die Prozesse eingriffen Man wollte sich nicht
gängeln lassen. Vorlagen wurden präsentiert, man bezog
Konzilsberater und ökumenische Beobachter in die Sachdiskussion ein und man erreichte Eingriffe in die Struktur des
Konzils. Darin entpuppte sich ein Grundanliegen von Papst
Johannes XXIII., der bewusst ein pastorales Konzil beabsichtigte, nicht Dogmen und Doktrinen des Lehramtes.
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Schon in der ersten Sitzungsperiode konnte man einen
unerwarteten Konflikt ausmachen, als es zu einem Schlagabtausch
zwischen
Bewahrern
(Kardinal
Ottaviani)
und
Erneuerern (Kardinäle Frings und Liénart) kam. Denn die Kurie
versuchte schon zu Beginn am 13. Oktober 1962 bei der
Besetzung
der
zehn
Konzilskommissionen
massgeblichen
Einfluss zu sichern. Durch den Widerstand entstand eine eigene
Dynamik und das Konzil suchte nun recht selbstbewusst von
Seiten der Konzilsväter eine klarere Zielbestimmung. So schlug
— wie schon erwähnt — Kardinal Montini, der baldige
Nachfolger von Johannes XXIII., die Konzeption einer doppelten
Thematik vor: Kirche nach innen und Kirche nach aussen. Die
breite Zustimmung zu diesem Vorschlag nahm sich für Kardinal
Ottaviani wie ein Machtverlust aus. Bei der Frage nach der Rolle
der Bischöfe in der zweiten Konzilssession betonten die mehr
reformerischen Kräfte die Kollegialität. In weiteren Sitzungsperioden ging es — wie schon angedeutet — um Religionsfreiheit und den katholischen Absolutheitsanspruch und später
um die Ökumene und das Verhältnis zu den nicht christlichen
Religionen. Je weiter das Konzil voranschritt, umso deutlicher
zeigten sich die Mehrheitsverhältnisse, wobei die konservativen
Kräfte damals eindeutig in der Minderheit waren. Papst Paul VI.
bemühte sich um die Integration dieser Minderheit. Auch dies
bezeichnet für mich eine wichtige Dimension des Konzilsgeschehens: Dialog über Parteiungen hinweg. So destillierte sich
durch das Konzilsgeschehen das heraus, was man später den
"Geist" des Konzils zu nennen pflegte, obwohl natürlich auch
dies zu unterschiedlichen Interpretationen führen musste.
Markante Akzente waren ohne Zweifel der pastorale Ansatz, die
Öffnung auf die gesellschaftlichen Herausforderungen und die
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Lebenswirklichkeit der Menschen hin, sodann die Rückkehr zu
den geschichtlich zu verstehenden Quellen des Glaubens. Und
die Option für die Armen (Katakombenpakt am 16. Nov. 1965:
40 Bischöfe in den Domitilla-Katakomben verpflichten sich für
eine dienende und arme Kirche). Die Kirche wurde nicht zuerst
von den institutionellen Ständen von Klerus und Laien her verstanden, sondern als Heilssakrament und als Volk Gottes. Dies
führte — wie schon mehrfach erwähnt — von einem statischen
zu einem dynamischen Kirchenverständnis. Ein wichtiger Akzent
ist die Betonung der Bibel als bleibender Bezugspunkt des
Glaubens. Nicht genug zu betonen die Bedeutung des Dialogs
mit der Welt und mit anderen christlichen Konfessionen, mit dem
Judentum und anderen nichtchristlichen Religionen. Und die
Bischöfe der Welt haben sich über die Grenzen ihrer Bistümer
hinaus wahrzunehmen gelernt. Es ist somit ein Prozess in Gang
gesetzt worden, der inzwischen weitergegangen ist und sich unter
radikaleren gesellschaftlichen Bedingungen der sog. Moderne
oder Post-Moderne bewähren sollte. Diese wichtigen Aspekte
sind m.E. in "Aufbruch aus der Erstarrung" über den Wortlaut der
Texte hinaus aktualisiert worden. Es ist gleichsam eine
Mobilmachung
der
Konzilsanliegen
im
Horizont
der
gegenwärtigen Herausforderungen.
VII. Konzilsgeschehen an der Basis: z.B. Synoden
Im Unterschied zu früheren Konzilen gab es nach dem II.
Vatikanum ein Novum, nämlich die Verlagerung des Konzilsgeschehens an die Basis durch Synoden. So gab es u.a. in allen
deutschsprachigen Ländern Synoden, die die Impulse des
Konzils auf der Ebene der Landes- und Ortskirchen umzusetzen
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versuchten. Ich selbst habe damals das synodale Geschehen in
der Schweiz (und auch in Holland und Wien) aus der Ferne
beobachtet, habe aber selber die deutsche sog. "Würzburger
Synode" als Mitglied der Kommission 7: "Dienste, Ämter,
Charismen" und im "Kontaktkreis" Synode miterleben dürfen
(dafür bin ich heute noch tief dankbar). Die Synoden bedeuteten
so etwas wie Demokratisierung des Konzils bzw. eine
Annäherung an das Volk Gottes bzw. an die konkreten Orte des
Lebens. Es war Basis-Gewinn, auch wenn die institutionellen
Reformschritte abgewehrt werden (Mitsprache der Laien etc.).
Durch das damals junge Fernsehen fanden — wie schon
vermerkt — die Debatten in Rom Eingang in die Stuben und
Wohnungen vieler Menschen. Die Kommunikationsformen
hatten entscheidenden Anteil an der Vermittlung des Konzils.
Auch darin erblicke ich Lehrgeld für die Zukunft der Kirche. Zu
erwähnen sind zudem die erwachsenenbildnerischen Initiativen
in den Pfarreien, kirchlichen und seelsorglichen Gremien und die
Gründung von Bildungshäusern und Akademien. Diese damals
neuen Formen wurden zu Trägern und Beschleunigern des
konziliaren Vorgangs, auch wenn sich schon in den späten 1960er
Jahren erste Verzögerungen unserer konziliären Naherwartungen
anzeigten (Polarisierung zwischen sog. konservativen und
progressiven Lagern; Bekräftigung des Pflichtzölibats durch Paul
VI im Jahre 1967; Humanae vitae 1968; Lehrentzug für Hans
Küng 1979). Erwähnt seien auch die innerkirchlichen Kulturkämpfe, ob das Konzil ein dogmatisches oder pastorales Konzil
gewesen sei und wo die Kontinuität in der Doktrin nicht gewahrt
bleibe. Ist das Konzil "nur" ein pastorales Konzil gewesen?
Trotz des eindrucksvollen Einsatzes so vieler ist nicht zu
vergessen, dass die Synoden Anliegen einer wachen Minderheit
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blieben. Es wurden indessen Perspektiven und Anliegen wach,
die den Rahmen des unmittelbar Realisierbaren z.T. überstiegen,
aber in ihrer Dringlichkeit ihre Aktualität nicht eingebüsst haben.
Trotzdem gedieh manches in der praktischen Pastoral an der
Basis weiter. In diesem Zusammenhang möchte ich beispielsweise nur auf die neuen Potentiale und Kategorien von Seelsorgern und Seelsorgerinnen hinweisen. Die Synoden verstärkten
das breitere Bewusstsein für sie und machten sie bekannt. Und
die Ortskirchen begannen, sich selber in grösseren Kontexten
wahr zunehmen. — Auf dem Konzil waren es Bischöfe und
Theologen, die über die Kirche und über die Laien verhandelten.
Auf der Ebene des kirchlichen Alltags sind die Prozesse jedoch
weitergediehen. Die sog. Laien sind gleichsam als mitdenkende
und mitwirkende Subjekte erwacht.
Nun stellt sich die Frage: Worin liegt der lange Atem, zu dem das
Konzil als Geschehen weiterhin Impulse schenkt, auch wenn sich
unsere damaligen Naherwartungen auf Reformschritte hin
verzögert haben. Wohin geht die Kirche? Dem Anliegen kann ich
nur noch in knapper Form gerecht zu werden versuchen.
VIII. Kirche — wohin?
1. Die Gesellschaft als bestimmende Quartiermeisterin für
die Kirch(n)
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Durch das Konzil und durch die Synoden in unseren Ländern
lernte die Kirche, sich unter den Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens wahrzunehmen (Gaudium et spes). Sie lernte, dass
sie eben auch von dieser Welt ist, aber auch auf die Welt kommen
muss. Dieser Weg zeigte, dass die unübersichtliche Komplexität
und überfordernde Kompliziertheit der Wirklichkeit vor den
Kirchentüren nicht Halt gemacht, sondern sich in die Kirche
selber ergossen hat. Eine hochdifferenzierte und individualisierte
(z.T. singularisierte und insofern auch desolidarisierende) ZivilGesellschaft mit ihrer Macht und ihren Normen, aber auch mit
ihrer Brüchigkeit und mit ihrer Brutalität sowie mit ihrer
medialen Öffentlichkeit ist zur massgeblichen Quartiermeisterin
auch für die Kirche geworden. Ich sehe in unserer gegenwärtigen
Gesellschaft auch Tendenzen zu einer Formalisierung aller
funktionalen
Lebensbereiche
mit
der
Abkühlung
der
Beziehungsqualität und der Sinnorientierung. Ästhetik und
Performance scheinen fast wichtiger als Werte und Inhalte. Das
soll nicht verallgemeinert werden. Es gibt gleichzeitig unterschiedliche Trends, wie wir alle wissen. Vielleicht schneller, als
wir ahnen, gibt es die Suche nach so etwas wie nach religiöser
Orientierung und nach menschlich tragender Heimat.
Wenn aber trotz dieses Kontextes z.B. Gleichstellung von Mann
und Frau, Partizipation, demokratische Entscheidungsfindung,
Menschenrechte und faire Konfliktverfahren selbstverständliche
Normen geworden sind, auch wenn man ihnen praktisch oft nicht
die Ehre antut, dann schafft das unüberwindliche Spannungen
zum geltenden kirchlichen Rechtssystem. Dieses kommt für viele
Menschen daher mit einem tiefen Argwohn gegenüber dem
freiheitsliebenden Denken und der Leiblichkeit mit der Vitalität
und der Sexualität des Menschen. Zudem ist die Kirche
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zentralistisch übersteuert und patriarchal strukturiert. Die interne
Kommunikation verläuft mit der medialen Ästhetik eines
Hofzeremoniells von oben nach unten. Und an jedem Hof
geniessen Denunzianten mehr Gehör als die Denunzierten
Schutz. In der Logik des Systems werden nicht zuerst pastoral
und kommunikativ kompetente Leute, sondern Systemloyale mit
z.T. erheblichen menschlichen Insuffizienzen in Linienpositionen
berufen, wie Bischofsernennungen schmerzlich zeigen, die
ganzen Bistümern den Frieden und die Freude kosten.
Nun: Einen Krisenherd zu benennen, heisst nicht, ihn hämisch
und selbstinszenierend zu bedienen, sondern sich ihm anzunähern, um heilende Schritte für die weitere Wegsuche auszukundschaften. Zudem ist Kirchen- und Selbstkritik aus dem
Geiste des Evangeliums heraus auch kirchliches und christliches
Handeln. Es geht um Glaubwürdigkeit.
2. Konflikthypothese: Konflikt mit dem Konflikt (System)
Die aktuellen Spannungen in der Innenarchitektur unserer Kirche
und der ungeheure Realitätsverlust des Systems sind wohl
folgendermassen zu diagnostizieren. Die vorhin genannten
Schritte der katholischen Kirche seit dem II. Vatikanischen
Konzil belegen, dass die Kirche sich in einer differenzierten und
pluralistisch gewordenen Welt im Konflikt mit sich selbst
befindet sowie in einem tiefgreifenden Wandlungsprozess. Was
ist damit gemeint? Die Kirchenverständnisse (-Bilder) und die
Vorstellungen über die Kirche haben sich intern vervielfacht und
atomisiert. Diese dynamisierenden Bewusstseinsschübe haben
den früher monolithischen Binnenraum der Kirche bzw. den
volkskirchlichen Dichtestress enthärtet und selber pluralisiert.
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Vervielfacht haben sich gleichzeitig die Konzepte des pastoralen
Handelns bis hin zu verschiedenen Kategorien von Spezialseelsorge, obwohl auch diese letztlich Normalseelsorge sind. Zudem:
in den letzten Jahren sind — unter dem Druck des Priester- bzw.
Personalmangels und infolge des Geldmangels — auch die
früheren kirchlichen Sozialformen wie Pfarrei und Dekanat neu
in Bewegung gesetzt und strukturiert worden. Aber nicht nur die
Kirchenbilder, nicht nur die Seelsorgekonzepte und die pastoralen Sozialformen haben sich enorm verändert und sich dem
gesellschaftlichen Kontext angepasst, sondern auch das kirchlichpastorale und theologische Betriebspersonal. Und dies greift
sozusagen intim in das hierarchische Selbstverständnis unserer
Kirche hinein. Das Monopol der Kleriker hat Konkurrenz
erhalten. Das wäre ein eigenes Thema.
Alles hat sich differenziert und professionalisiert und der Kirche
ein verändertes Profil beschert; nur einzig und allein das
kirchenrechtliche Gewand bzw. die geschichtlich entfaltete
Organisationsform der Kirche ist vorkonziliar stehen geblieben.
Dieses klerikal-hierarchische System wurde in seinem geradezu
feudalistischen Zuschnitt eher wieder offensiv forciert. Die
kanonische Kirche ist für das inzwischen üppig Gewachsene viel
zu eng geworden. Was spriessen und leben will, möchte sich
entfalten und beansprucht Lebensraum. Dadurch werden bemühende bzw. kräfteraubende Konflikte erzeugt. Regelverstösse,
Druck von unten und charismatische Dreistigkeit bzw. "schismatisierende" Selbsthilfe werden geradezu provoziert. Die sozusagen amtliche Kirche riskiert vieles, was pastoral eigentlich zu
retten wäre, wenn wir z.B. allein an den Reichtum des sakramentalen Lebens denken, der auch durch den sog. Priestermangel
bedroht ist. Aber es darf auch nicht unterschlagen werden, dass
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die meisten Konflikte in der Kirche wenig mit Theologie zu tun
haben, aber sehr viel mit Psychologie und mit einem idealisierten
unfehlbaren Kirchenverständnis, das Konflikte und Chaos grundsätzlich nur in der profanen Welt, nicht bei sich selber sah:
Konflikt mit dem Konflikt.
In Kurzform: Reformen des Systems sind angesagt. Sie sind
verantwortlich in die Wege zu leiten, Reformen, die pastoral
notwendig und theologisch möglich sind und die vom Konzil
genährt wurden. Es hilft alles nichts und heilt noch weniger,
wenn sich das kirchenrechtliche System dauernd gegen die
gewachsene Modernität im eigenen Hause und gegen die
Unverwüstlichkeit (Vitalität) der eigenen Basis stemmt und sich
daran wund reibt. Der binnenkirchliche Kulturkampf des
Systems mit der Modernität in den eigenen Reihen verliert sich
im Zweitrangigen und verschleudert die so vielen kostbaren
menschlichen Ressourcen. Zudem heilt es wohl kaum, wenn das
System den Phantomschmerz der Ewiggestrigen beflissen bedient. Zudem verlieren wir uns leicht in vordergründigen
Kirchensorgen. Dabei ist Seelsorge angesagt, die Sorge um die
Menschen und ihre Welt durch eine diakonisch orientierte
Kirche. Die eigentliche Personalfrage der Kirche sind die
Menschen im Alltag des Lebens, zu denen die Kirche gesandt ist.
3. Kirche nicht zu gross denken
Kirche ist nicht nur funktionales System, sondern primär eine
Gemeinschaft im Glauben aus vielen Menschen. In dieser Unter-
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scheidung der beiden Pole, die nicht zu trennen sind, liegen auch
Hinweise auf Heilungsressourcen. Das kanonische System der
Kirche ist eine geschichtliche Grösse von Menschenhand. Es ist
nicht selbst das Heil. Auch in der Kirche ist die Erkenntnis an
Raum und Zeit gebunden und an strukturierendes Vermögen, an
menschliche Bedingungen. Vielleicht verrät sich hinter all den
Kirchenkrisen und dem moralischen Grounding durch die
Missbrauchsfälle so etwas wie eine indirekte Pädagogik der
Umkehr. Ist eventuell zu lernen, auf die Botschaft Jesu von
einem Gott, der den Menschen in Liebe nahe ist, alle Karten zu
setzen und nicht zuerst auf die institutionalisierte Kirche mit all
dem Reichtum ihrer sog. "Heilsmittel". Denn Kirche dient einer
Liebe, die sie nicht selber erfüllt, sondern Gott. "Denkt nicht an
das, was früher war, und was vormals war — kümmert euch nicht
darum. Seht, ich schaffe Neues, schon spriesst es; seht ihr es
nicht?" (Jes 43,18f).
IX. Langer Atem — wenn sich die Zeit hinzieht
1. Perspektivenwechsel durch Papst Franziskus
Weltweit hat sich die innerkirchliche Stimmung unter dem
"neuen" Papst Franziskus geändert. Das mediale Echo auf seine
Impulse ist bis jetzt ungebrochen. Dies muss u.a. an seiner
charismatischen Persönlichkeit liegen. Aber es hat auch mit der
widersprüchlichen Basis-Stimmung in der Kirche zu tun. Das
geschichtlich gewachsene System der Kirche hat innerkirchliche
Probleme anstauen lassen, ohne konkrete Schritte im Sinne des
II. Vat. Konzils (1962-1965) auf Reformen hin zu unternehmen.
Die nachkonziliaren Naherwartungen auf Reformen hin haben
sich — wie schon vermerkt — verzögert. Das Problem liegt nun
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m.E. nicht zuerst in der praktischen Hilflosigkeit der Verantwortlichen, die strittigen Punkte kurz-, mittel- und langfristig
anzugehen. Das ist bei einem weltweiten Geisteskonzern wie der
Kirche auch alles andere als leicht. Aber dass die Kirchenführung
die sog. "heissen Eisen" nicht wahrnehmen wollte und sogar
deren Diskussion mit Berufung auf eine unfehlbare Einheit
tabuisiert, das vergiftet die Atmosphäre. Und die Kirche hat sich
in ihrer geschichtlich gewachsenen Sozialgestalt sakralisiert:
Heiliger Vater, Heiliger Stuhl, heiliges Konzil, göttliches Recht
usw. Damit hat sie sich selbst zur unfehlbaren Hierarchie (hl.
Herrschaft) und ihre menschlichen Strukturen zum Glaubenssatz
erhöht. Kirche ist im Unterschied zur profanen Welt heilig und
ohne Tadel (Konflikt mit dem Konflikt). Leicht sind dann auch
die Geweihten übergeordnet. Der Ruf nach Reformen wird schon
als Glaubens-Verrat geahndet. Dabei denke ich, Kirche ist
geerdetes Sakrament, nicht abgehobene Sakralität. Denkverbote
(z.B.
Priestermangel,
Ordination
der
Frauen,
synodale
Mitsprache, Ehepastoral usw.) verursachen mentale Infektionen.
Unter den letzten Päpsten sind die diesbezüglichen Hausaufgaben
abgewehrt worden. Und in dieser winterlichen Stimmung
durchbricht Papst Franziskus gerade diese Tabus bzw. Denk- und
Diskussionsverbote. Wie Papst Johannes XXIII. betont Papst
Franziskus, dass die Kirche für die Menschen da ist und aus allen
Menschen besteht, besonders den Armen. Dadurch bindet er auch
die institutionelle Kirchenleitung an die Impulse des Konzils.
Das Konzil muss auch als Prozess der Kirchenreform
weitergehen. Aggiornamento gilt auch für die "ecclesia semper
reformanda".
Eine einseitig sakrale und unfehlbare Kirche wird durch Papst
Franziskus in Frage gestellt durch Bilder wie Lazarett und
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verwundete Kirche. Tabus und Denkverbote werden durchbrochen. Seine Weihnachtsansprache am 22. Dezember 2014 an
die Oberen der vatikanischen Kurienbehörden hat das Bild einer
heilen Kirche radikal in Frage gestellt und nach ihrem konkreten
Dienst in der heutigen Welt gefragt. Dies entgiftet und befreit,
lässt schmunzeln und aufatmen. Auf die Dauer müssten aber
auch konkrete Schritte in die Wege geleitet werden, die nach
langen
synodalen
Prozessen
von
mehreren
Jahren
die
anstehenden Reformen angehen. Und Franziskus hat den Weg zur
Diskussion der Konzilsprozesse und der sog. heissen Eisen
atmosphärisch freigegeben.
2. Langer Atem: in und mit der Kirche
In dieser Situation ist wichtig, Kirche als Glaubensgemeinschaft
und als geschichtlich gewachsene Organisation mit ihrem
kanonischen System zu unterscheiden, aber ja nicht zu trennen.
Es wäre zu einfach, mit der berechtigten Kritik an der Kirche
bzw.
an
ihrem
System
sich
von
der
Kirche
als
Glaubensgemeinschaft zu verabschieden. Ich würde als einzelner
schnell verdummen sowie seelische und spirituelle Energien
verspielen, wenn ich mich aus der Erfahrungsnähe zu einer
solchen weltweiten Vernetzung im Glauben abkoppeln wollte.
Menschlich würde man sich letztlich auch selbst betrügen. Denn
mit Hinweis auf das unideale System kann ich mich nicht aus der
Eigenverantwortung stehlen und mir schenken, im Christsein
selber erwachsen zu werden und dabei mich selber und andere
auszuhalten. Zudem meint das spezifisch Christliche das
entscheidend
Menschliche.
Wenn
immer
es
um
das
23
Entscheidende im Leben geht, bezahlt man mit sich selber, auch
in seiner Glaubensbiographie.
Zudem ist nicht zu übersehen: Unsere Kirche ist mit den anderen
Kirchen zusammen eine zweitausendjährige auf der Basis der
jüdischen Tradition aufbauende Interpretationsgemeinschaft der
Botschaft Jesu und der Impulse für die praktische Nachfolge in
seinem Geiste. Trotz historischer Veruntreuungen ist dies auch
eine ungeheuer reiche Weisheits- und Solidaritätsgeschichte,
auch wenn dies in unserer medialen Öffentlichkeit nicht die
verdiente Beachtung findet. Die Kirche ist doch vielfach auch ein
Frühwarnsystem in der Welt mit ihren menschlichen Nöten, aber
auch ein Leuchtturm für Orientierung und Solidarisierung mit
jenen, die im Dunkel sitzen (Jes 42,7). Zudem ist das
institutionelle Gewand unserer Kirche ein weltweit bis in die
territoriale (Pfarrei-)Struktur hinein organisiertes System, das als
Solidaritätsverband kein vergleichbares Pendant in der Welt
findet... Ungeachtet des reformbedürftigen Systems gibt es auch
in
unserer
Kirche
hierzulande
und
weltweit
trotz
der
Ermüdungserscheinungen eine charismatische Dynamik, spirituelle und geistige Schubimpulse, menschliche Ressourcen,
ethische und solidarische Synergien und so viel guten Willen mit
prophetischer Wut und Glut und in aller Stille so viel selbstverständliche und stille Treue. Es gibt eine richtige Praxis auch in
einem falschen oder reformbedürftigen System. Und für diese
Praxis sind wir persönlich verantwortlich. Für die eigene
Glaubwürdigkeit gibt es keine Stellvertretung. Es geht um unsere
je eigene Verantwortung, aber möglichst mit anderen zusammen.
3. Gott nicht zu klein denken
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Die Grundfrage jeder Kirchenreform mündet letztlich in die
spirituelle Existenzfrage: Wem vertrauen wir? Auf wen setzen
wir die Hoffnung? Ist es das Vertrauen auf die Treue Gottes oder
auf die scheinbaren Garantien einer Institution? Natürlich steht
Kirchen-Reform immer an. Die ideale Kirche ist uns nicht
verheissen. Sie ist nicht machbar — schon allein deswegen nicht,
weil auch ich zu ihr gehöre.
Die Seele der Kirche ist im Horizont der biblischen Botschaft die
Einheit der Menschen- und Gottesliebe (Karl Rahner). Kirche
wird als solche da erfahren, wo Menschen sich miteinander auf
den Weg und die Botschaft Jesu einlassen, und wo in unserem
persönlichen und gesellschaftlichen Alltag von jener neueren und
grösseren Liebe und Hoffnung etwas gelebt und erfahren wird,
von denen uns die biblischen Urkunden des Glaubens erzählen.
Kirche wird demzufolge durch menschliche Beziehungen und
Kommunikation zum anschaulichen Hinweis auf das anbrechende Reich Gottes. Somit wird Kirche insofern glaubwürdig und
mystisch-spirituell einladend, als ihre Sozialformen und ihre
pastoralen Wege immer wieder zur christlichen TiefenDimension konvertieren. Darum ist Kirchen-Reform so wichtig;
es geht um ein glaubwürdiges Zeugnis. Dann wird sie zum
Erlebnisraum gelebten Christseins. Dann wird Kirche ökumenisch und offen für andere Religionen; sie wird dialogisch und
heilend; sie wird politisch engagiert im Kontext von sozialer
Gerechtigkeit, Freiheit, Menschenwürde und Solidarität; sie wird
eine Gemeinschaft von Pilgern auf dem Weg und nicht von passiven Passagieren im Kirchenkahn; sie wird Weite in den
Realitäten des Lebens gewinnen, weil sie sich der Tiefe ihrer
Hoffnung im Vertrauen auf Gott aussetzt und hingibt; sie wird
nicht der volkskirchlichen Erfolgs-Pastoral des Erntens nach-
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jammern, sondern ihre Sendung heute als Zeit des Säens wagen;
sie wird die einzelnen wohl selber gehen lassen, aber nicht
alleine lassen, sondern gemeinsam den Weg suchen und gehen
lassen. Katholisch sein kann man nie allein und nie gegen andere.
So wird sich der Kirche die Einsicht als Auftrag und als Entlastung schenken, dass sie einer Liebe dient, die sie nicht selber
erfüllen muss und kann. Gott ist immer grösser. Hat dazu das
Konzil und der seitherige Weg der Kirche nicht Spuren gelegt,
für die wir nur dankbar sein können und die als Impulse uns
heute herausfordern und Mut machen. "Aufbruch aus der
Erstarrung" ist für mich ein Vergrösserungsglas, eine Lupe, die
mich das Konzil und seinen bisherigen Weg besser verstehen
lässt und in die nächste und weitere Zukunft weist. Durch diese
konkrete Kirche mit ihrer Geschichte ist mir bei allem Widerstand der Realitäten ein Zugang zu Jesus von Nazaret und zu
seiner Botschaft eröffnet und geschenkt worden. Was kann ich
uns Besseres wünschen. Zudem: auch in und durch diese Kirche
durfte ich so vielen Menschen begegnen, die zu kennen mich
einfach dankbar macht. Ohne diese Wege, auf denen ich von
anderen mitgenommen und sozusagen abgeholt worden bin,
könnte ich heute auch so nicht zu Ihnen zu sprechen versuchen.
— Ohne Konzil hätten wir heute so nicht zusammengefunden —
beim Träumen über den langen Atem in und mit und trotz der
Kirche. Sie sehen, das Konzil geht weiter.
Leo Karrer