SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Musikstunde
Das ELSA-Quartett oder
Die vier Evangelisten (1)
Markus
Von Bettina Winkler
Sendung:
Redaktion:
Montag, 21. März 2016
Bettina Winkler
9.05 – 10.00 Uhr
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere
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Musikstunde
Das ELSA-Quartett oder Die vier Evangelisten (1)
Markus
Von Bettina Winkler
Indikativ 0‘20
Engel – Löwe – Stier – Adler: die Anfangsbuchstaben dieser vier Figuren bilden
zusammen das Wort Elsa! Und wofür stehen diese vier Symbole? Für die vier
Evangelisten: Matthäus, Markus, Lukas und Johannes. Seit dem 4. Jahrhundert
werden die Verfasser der vier Evangelien durch sie und mit ihnen dargestellt.
Aber nicht nur der Engel und der Adler, auch Löwe und Stier haben hier Flügel!
Schauen Sie sich doch einmal genauer in einer Kirche um, vielleicht entdecken
Sie ja dieses Quartett.
Bis ins 13. Jahrhundert hat man die Symbolfiguren oft zu einem einzigen Gebilde
zusammengefasst, genannt Tetramorph, was Viergestalt oder Viergetier
bedeutet. Schon im Alten Testament findet man beim Propheten Ezechiel eine
entsprechende Beschreibung, die den Cherubim gleicht, geflügelten
Fabelwesen mit Tierleib und Menschengesicht, die Engel von höherer
Rangordnung verkörpern:
„Und aus ihrer Mitte zeigte sich die Gestalt von vier Tieren, deren Aussehen dem
eines Menschen glich. Jedes hatte vier Gesichter und jedes vier Flügel. [...] Zur
Rechten hatten die Viere das Gesicht eines Menschen und das Gesicht eines
Löwen, zur Linken hatten die Viere das Gesicht eines Stieres und das Gesicht
eines Adlers. Von Oben waren ihre Gesichter und Flügel getrennt; zwei Flügel
eines jeden waren mit denen des anderen verbunden und bedeckten ihre
Leiber.“
Musik 1
Hildegard von Bingen
O gloriosissimi lux vivens angeli
Sinfonye
M0285093 009, bis 1’57
„O gloriosissimi lux vivens angeli“ – „O ihr Engel, die ihr im glorreichsten Licht lebt“,
eine Antiphon der Hildegard von Bingen, in dem die geflügelten Engel besungen
werden – ganz ähnlich dem vielfach geflügelten Tetramorphen des Propheten
Ezechiel. Sie hörten das Ensemble Sinfonye.
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Wahrscheinlich liegen die religionsgeschichtlichen Wurzeln des Tetramorphen in
der babylonischen Mythologie. Dort symbolisieren die vier Gestalten die vier
männlichen Planetengötter. Der Stier steht für den babylonischen Stadtgott
Marduk (römisch: Jupiter), der Löwe für den Kriegs- und Unterweltgott Nergal
(oder Mars), der Adler für den Windgott Ninurta (also Saturn) und der Mensch für
Nabu (Merkur), den Gott der Weisheit. Damit verbunden sind altorientalische
Vorstellungen von den Hütern der Weltecken und den Trägern des
Himmelsgewölbes in den Sternbildern des altbabylonischen Tierkreises: im ersten
steht der Stier, im vierten der Löwe, im siebten der Skorpionmensch und zehnten
der Wassermann, in dessen Nähe sich das Sternbild des Adlers befindet.
Musik 2
Karl Heinz Stockhausen
Tierkreis – Löwe
Schlagwerk Nordwest
Leitung: Axel Fries
M0080363 008, 2‘49
Ein Ausschnitt aus Karl Heinz Stockhausens „Tierkreis“ – und weil es ja heute um
den Evangelisten Markus gehen soll, war dies das Sternbild Löwe, gespielt vom
Schlagwerk Nordwest.
Die Offenbarung des Johannes im Neuen Testament nimmt die Thronvisionen der
Cherubim aus Ezechiel auf. Dazu kommen die Bilder der Seraphim aus Jesaja, die
im Gegensatz zu den Cherubim Engel mit menschlichem Körper und Flügeln sind.
Beide werden in der Offenbarung zu einer neuen Vision kombiniert. Hier
erscheinen nun nicht menschenähnliche Viergesichter, sondern vier einzelne
Wesen, die mit ihrer ganzen Gestalt wie folgt verglichen werden:
„Und vor dem Thron war etwas wie ein gläsernes Meer, gleich Kristall. Und in der
Mitte, rings um den Thron, waren vier Lebewesen voller Augen, vorn und hinten.
Das erste Lebewesen glich einem Löwen, das zweite einem Stier, das dritte sah
aus wie ein Mensch, das vierte glich einem fliegenden Adler. Und jedes der vier
Lebewesen hatte sechs Flügel, außen und innen voller Augen.“ (Offb 4,6-8)
Die Kombination der Symbole mit den vier Evangelisten und ihren Texten geht auf
die Kirchenväter zurück. Sie erkannten in den vier Gesichtern jener Wesen die vier
Schriften wieder, die in der unmittelbaren Gegenwart von Gottes Thron
beheimatet sind. Beim Kirchenvater Hieronymus findet man dazu folgende
Erklärung:
4
„Die erste Gestalt, die eines Menschen, deutet hin auf Matthäus, der wie über
einen Menschen zu schreiben beginnt: „Buch der Abstammung Jesu Christi, des
Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams“, die zweite Gestalt deutet auf Markus, bei
dem die Stimme eines brüllenden Löwen in der Wüste hörbar wird: „Stimme eines
Rufenden in der Wüste: Bereitet dem Herrn den Weg, macht eben seine Pfade“;
die dritte Gestalt eines Kalbs deutet hin auf jene, die der Evangelist Lukas vom
Priester Zacharias zu Beginn verwenden lässt; die vierte symbolisiert den
Evangelisten Johannes, der, weil er Schwingen eines Adlers erhält und so zu
Höherem eilen kann, das Wort Gottes erörtert.“
Musik 3
Johann Sebastian Bach
„Bereitet die Wege, bereitet die Bahn“ BWV 132, Kantate zum 4. Advent –
Anfangsarie
Emma Kirkby, Sopran
SWF-Sinfonieorchester Baden-Baden
Leitung: Christopher Hogwood
M0059767 001, 5‘25
Die Stimme des Rufenden in der Wüste: „Bereitet die Wege, bereitet die Bahn“,
der Beginn von Johann Sebastian Bachs Adventskantate BWV 132 mit Emmy
Kirkby und dem ehemaligen SWF-Sinfonieorchester Baden-Baden unter der
Leitung von Christopher Hogwood.
Engel – Löwe – Stier – Adler. Matthäus, Markus, Lukas, Johannes – das wäre die
Reihenfolge der Evangelisten in der Bibel. Ich will aber nicht mit Matthäus
beginnen, sondern mit Markus, denn sein Evangelium ist nach heutigem
Wissensstand das älteste und dieser Text hat wahrscheinlich zusammen mit der
sogenannten Quelle Q, der Logienquelle, als Vorlage für Matthäus und Lukas
gedient.
Johannes Markus oder Markus ist eine Gestalt aus dem Neuen Testaments. Ob
der anonyme Verfasser des Markusevangeliums mit den Namensträgern im
Neuen Testament tatsächlich identisch ist, bleibt fraglich. Johannes Markus war
ein Judenchrist aus Jerusalem und ein Vetter des Barnabas. Er wurde von
Barnabas und Paulus auf die erste Missionsreise mitgenommen, hielt aber nicht
durch und kehrte in Perge in Pamphylien um. Zur zweiten Missionsreise wollte
Barnabas Markus wieder mitnehmen, aber Paulus weigerte sich und wählte Silas
zum Gefährten, während Barnabas mit Markus nach Zypern fuhr. Später bestand
wohl wieder ein gutes Verhältnis zwischen Paulus und Markus, denn Markus ist
während der ersten Gefangenschaft bei Paulus in Rom und Paulus bittet bei
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seiner zweiten römischen Haft Timotheus ausdrücklich darum, nach Markus zu
schicken.
Ob Johannes Markus mit dem im 1. Petrusbrief genannten Markus identisch ist,
kann man nicht beweisen. Die kirchliche Tradition aber stellt diese Verbindung
her und legt damit Rom als Abfassungsort für das Markusevangelium fest.
Demnach befindet sich Markus in Rom bei Petrus, der ihn seinen „Sohn“ nennt.
Vielleicht ist der Autor des Markusevangeliums auch identisch mit dem
unbekannten Augenzeugen, der die Gefangennahme Jesu miterlebt – nur in
diesem Text wird ein junger Mann erwähnt, den ein römischer Soldat am
Gewand festhält, worauf er es abstreift und nackt flieht. Dann hätte sich der
Markus-Evangelist hier selbst porträtiert, ähnlich der Tradition vieler Maler und
Bildhauer, die einer Nebenfigur ihr Antlitz verleihen.
Auf jeden Fall berichten die Kirchenväter Eusebius, Hieronymus und Epiphanius,
dass Markus der Gründer der Gemeinde in Alexandria war. Nach koptischer
Tradition war er der erste Bischof von Alexandria und soll auch die Heilige Liturgie
zusammengestellt haben, von der die anderen drei orthodoxen Liturgien
abstammen.
Musik 4
Trad. (koptisch)
Amen ton thananton Agis
Ensemble David
Musique du monde arabe 321022, Take 2, 1’44
Das Ensemble David mit einem Ausschnitt aus der koptischen Liturgie.
Um 828 wurden die Markusreliquien von venezianischen Seefahrern aus
Alexandria geraubt und nach Venedig überführt. Dort baute man ihnen zu Ehren
die Vorläuferkirche des Markusdoms, die aber 976 komplett niederbrannte. 1094,
bei Beendigung des Baus des heutigen Markusdoms, fand man auf wundersame
Weise diese Gebeine wieder. Der geflügelte Markuslöwe wurde zum
Staatswappen der Republik Venedig, Ausdruck ihres Selbstbewusstseins
gegenüber Rom, dem Frankenreich und Byzanz. Der Legende nach soll Markus
auf seinen Missionsfahrten die damals noch unbewohnte Lagune von Venedig
durchquert haben und dort von einem Engel die Weissagung erhalten habe, hier
würden einst seine Gebeine ruhen. Den Gruß des Engels „PAX TIBI MARCE
EVANGELISTA MEUS“ (deutsch: „Friede dir, Markus, mein Evangelist“) findet man
bei den meisten venezianischen Darstellungen des Markuslöwen. Der heutige
steinerne Sarkophag unter dem Hauptaltar von San Marco trägt auf lateinisch
die Inschriften „Leib des heiligen Evangelisten Markus“ auf der Vorderseite und
„Es grüßt euch mein Sohn Markus“ auf der Rückseite.
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Musik 5
Claudio Monteverdi
„Laudate Dominum“ aus „Selva morale e spirituale“
Cantus Cölln
Concerto Palatino
Leitung: Konrad Junghänel
Harmonia mundi HMC 901718.20, CD 3, Take 10, 4‘06
„Laudate Dominum“ - Musik für eine Vesper im venezianischen Markusdom von
Claudio Monteverdi, Konrad Junghänel leitete den Cantus Cölln und das
Concerto Palatino.
Ein Teil der venezianischen Markus-Reliquien wurde 1968 anlässlich der 1900-JahrFeier der Gründung der koptischen Kirche an den Patriarchen von Alexandria als
Geste guten Willens zurückgegeben. Sie werden seitdem in der päpstlichen
Markuskathedrale in Kairo verwahrt.
Innerhalb der Religionsgeschichte nimmt das Markusevangelium eine zentrale
Stellung ein, denn es markiert zwei wichtige Übergänge: Den von der mündlichen
Jesustradition hin zur Evangelienschreibung und das Hineinwachsen des
Christentums aus dem semitischen in den hellenistisch-römischen Kulturraum. Vor
Markus existierte die Überlieferung der Geschichte Jesu vielfach in mündlicher
Form, etwa in Predigt, Katechese und Liturgie, doch Markus war wahrscheinlich
der erste, der das Leben Jesu von der Taufe bis zum Tod am Kreuz in einer
chronologischen Abfolge schriftlich festgehalten hat. Was ihn dazu veranlasst
hat, ist nicht ganz klar. Vielleicht musste sich die markinische Gemeinde mit
diversen Irrlehrern auseinandersetzen, gegen die Markus sein Evangelium als
apologetische Schrift verfasst hat. Oder er wollte den christlichen Glauben
schriftlich festhalten, der in der damaligen Zeit einen Wandel erfuhr, zumal die
Generation der Zeitgenossen Jesu zunehmend ausgestorben war.
Die neue literarische Gattung, die so entstanden war, nennt Markus Evangelium.
Dabei greift er aus dem semitischen alttestamentlichen Kulturraum das Vorbild
des Prophetenbuches auf und ordnet dieses in Form einer chronologischen
Biografie, die sich an den hellenistischen Herrscherbiografien orientiert. Lukas,
Matthäus, Johannes und diverse apokryphe Autoren haben diese Vorlage dann
nachgeahmt.
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Musik 6
Charles Wood
„Thy heavenly Word“ – Hymne aus der Markus-Passion
Chor des Jesus College, Cambridge
Jonathan Vaughan, Orgel
Leitung: Daniel Hyde
Naxos 8. 570561, Take 3, 2‘53
„Thy heavenly Word“, eine Hymne aus der Markus-Passion von Charles Wood, mit
dem Chor des Jesus College Cambridge und Jonathan Vaughan an der Orgel,
Dirigent war Daniel Hyde.
Das Markusevangelium ist das kürzeste der vier Bibel-Evangelien und erzählt die
Geschichte des Wirkens Jesu als erwachsener Mann. Man geht davon aus, dass
der Evangelist dafür den Zeitraum von einem Jahr veranschlagt hat. Am Anfang
dieses Wirkens steht die besondere Erwählung Jesu, die von der Taufe im Jordan
durch Johannes den Täufer unterstrichen wird, der einen „Stärkeren“ ankündigt.
Ausführlich schildert Markus dann, wie Jesus auf seine Mitmenschen wirkt: Er ruft
vor allem Staunen und Ehrfurcht bis hin zu Bestürzung und Unverständnis hervor.
Lange erkennt keiner, dass Jesus Gottes Sohn ist, selbst die Jünger scheinen es
nicht zu verstehen – Stichwort „Messiasgeheimnis“: Das unbegreifliche Geheimnis
der Geschichte Jesu liegt darin, dass er, obwohl er Gottes Sohn ist, den Weg des
Leidens gehen muss. Zwar erscheint Jesus von Anfang an als der von Gott
bezeugte Messias, doch trotz dieser klaren Offenbarung wird er verkannt, findet
beim Volk nur wenig Verständnis und wird selbst von seinen Jüngern nicht
begriffen.
Das gilt auch für all die Wunder und Exorzismen, die sich vor ihren Augen
ereignen. Das Erstaunliche dabei: Dämonen mit übermenschlichem Wissen
erkennen sofort das Wesen Jesu – sie nennen ihn „Sohn Gottes“.
Musik 7
Manuel Cardoso
„Mulier quae erat“, Motette
Tallis Scholars
Leitung: Peter Philips
1921216 011, 3’19 (auch als Privat-CD: Gimell CDGIM 021)
Die Tallis Scholars unter Peter Phillips mit Manuel Cardosos Motette „Mulier quae
erat“, eine Heilungsgeschichte aus dem 5. Kapitel des Markusevangeliums.
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Markus verankert Jesus in einer ländlichen Welt, die wahrscheinlich auch seine
eigene ist. Der See Genezareth ist für ihn ein „Meer“ und nicht ein „See“ wie für
den welterfahrenen Lukas.
Im Zentrum des Markusevangeliums steht der unschuldige Tod Jesu am Kreuz.
Deshalb wird es auch als „Passionsgeschichte mit ausführlicher Einleitung“
bezeichnet. Fast symmetrisch – nämlich in Kapitel 8, Vers 26 und 27 – teilt es sich
in zwei Abschnitte. Bis zu dieser Stelle steht das Wirken Jesu vor dem Volk im
Vordergrund, der geographische Bereich ist Galiläa. Danach beginnt der Weg
zum Leiden, das in Jerusalem seinen Lauf nimmt.
Das Markusevangelium gilt allgemein als das älteste der drei so genannten
synoptischen Evangelien. Man geht heute weitestgehend von der These aus,
dass sowohl in das Matthäus- als auch in das Lukasevangelium Materialien aus
dem Markusevangelium eingeflossen sind, zu denen dann noch weitere Quellen
hinzugefügt wurden. Dies weist das Markusevangelium klar als Vorlage der
beiden Großevangelien aus. Trotzdem führte das Markusevangelium lange Zeit
eher ein Schattendasein in der Kirchengeschichte und wurde erst spät in seiner
Besonderheit wahrgenommen. Auf Markus geht letztlich die Existenz der Gattung
Evangelium zurück, die sich auf das Leben Jesu, das Leben der Gemeinde und
das kommende Gottesreich bezieht und den Mittelpunkt des Neuen Testaments
ausmacht. Auch die Konzentration auf die Passion Jesu in der christlichen
Theologie und damit die zentrale Bedeutung des Kreuzes als Symbol für den
christlichen Glauben, dürfte vor allem auf Markus zurück zu führen sein.
Musik 8
Oswaldo Golijov
La Pasión Según San Marcos – Kreuzigung und Tod
Luciana Souza, Gesang
Schola Cantorum de Carácas
Cantoría Alberto Grau
Orquesta La Pasión
Leitung: Maria Guinand
Hänssler Classic 98.404, CD 2, Take 10-11, 3‘07
Kreuzigung und Tod aus der für das Bach-Jahr 2000 entstandenen Markuspassion
von Oswaldo Golijov mit Luciana Souza, der Schola Cantorum de Carácas, der
Cantoría Alberto Grau und dem Orquesta La Pasión unter der Leitung von Maria
Guinand.
Man geht davon aus, dass Markus bei der Verschriftlichung seines Evangeliums
auf zahlreiche christliche Traditionen um Jesus zurückgreifen konnte, die vor allem
aus der Missionspredigt, dem liturgischen Gebrauch und der
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Gemeindekatechese stammen. Viele dieser Traditionen finden sich in
hellenistisch geprägten Gemeinden im vorderasiatischen Raum, insbesondere in
Galiläa und Syrophönizien, aber auch in Jericho und Jerusalem. Einige Exegeten
vertreten die Ansicht, dass diese Traditionen teilweise schon zu größeren Einheiten
zusammengefasst und eventuell sogar bereits verschriftlicht waren.
Weitgehender Konsens besteht darüber, dass vor allem der Passionsbericht dem
Evangelisten bereits als größere Einheit in schriftlicher Form vorlag.
Im Markusevangelium sind vor allem Wunder- und Exorzismusgeschichten
verarbeitet, während Worte Jesu im Vergleich zu Lukas und Matthäus eher selten
auftreten. Grund dafür mag die Tatsache sein, dass dem Verfasser vor allem
Heilungswunder vorlagen, die wahrscheinlich aus der Missionsarbeit stammten.
Da im Markusevangelium viele jüdische Bräuche erläutert werden, kann man
annehmen, dass dieses Evangelium in erster Linie für Heidenchristen geschrieben
wurde und weniger für konvertierte Juden.
In den ältesten Handschriften des Markusevangeliums, im Codex Sinaiticus und
im Codex Vaticanus endet das Markusevangelium mit Kapitel 16,8.
„Da verließen sie das Grab und flohen; denn Schrecken und Entsetzen hatte sie
gepackt. Und sie sagten niemand etwas davon; denn sie fürchteten sich.“
Musik 9
Thomas Tallis
„Dum transisset Sabbatum“, Motette für 5 Stimmen a cappella, P 257
Alamire
Leitung: David Skinner
M0293294 014, 3‘52
„Als der Sabbat vorüber war“ – der Beginn des 16. Kapitels des
Markusevangeliums in Form einer Motette von Thomas Tallis. David Skinner leitete
das Ensemble Alamire.
Im Gegensatz zum Codex Sinaiticus und zum Codex Vaticanus, in denen das
Markusevangelium mit dem 16. Kapitel, Vers 8 endet, verwenden die meisten
anderen Handschriften den so genannten „kanonischen Schluss“ 16,9-20: Jesus
erscheint mehreren Personen nacheinander, kommt dann zu den Aposteln,
tadelt sie wegen ihrer Ungläubigkeit und gibt ihnen den Auftrag, das Evangelium
in der Welt zu verkünden. Anschließend fährt er in den Himmel auf – und die
Apostel folgen seinem Auftrag. Dieser Schluss stellt wohl eine Kombination von
Elementen des Lukas- und des Johannesevangeliums sowie der
Apostelgeschichte dar und entstand vermutlich später in der ersten Hälfte des 2.
Jahrhunderts.
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Die Interpretationen des abrupten Endes in 16,8 sind widersprüchlich: Eine
Möglichkeit wäre, dass das Markusevangelium ursprünglich unvollständig
veröffentlicht wurde oder aber der ursprüngliche Schluss verloren ging. Da der
Grabesengel aber schon alle Inhalte der urchristlichen Osterbotschaft verkündet,
rundet er eigentlich das Evangelium ab. Das Fehlen des Schlusses wäre dann ein
bewusstes Mittel des Evangelisten, um sein theologisches Anliegen einer
Kreuzestheologie zu unterstreichen. Allerdings ist nach Mk 14,28 eine Erscheinung
des Auferstandenen zu erwarten und das würde bedeuten, dass der Schluss
tatsächlich verloren ging.
Verloren gegangen ist auch Johann Sebastian Bachs Markuspassion BWV 247.
Während das Libretto von Picander in einer Gedichtsammlung vollständig
erhalten ist, gilt die Musik als verschollen. Mit Hilfe des Librettos kann man Bachs
Markuspassion bis zu einem gewissen Grade rekonstruieren, denn im Gegensatz
zu den beiden anderen erhaltenen Passionen war die Markus-Passion wohl eine
Parodie, d.h., sie verwertete Sätze von bereits zuvor komponierten Werken,
beispielsweise aus der Kantate „Widerstehe doch der Sünde“ BWV 54 und der
Trauerode „Lass Fürstin, lass noch einen Strahl“ BWV 198. Zwei Choräle aus der
Markus-Passion stammen aus dem Weihnachtsoratorium. Bei den
unterschiedlichen Rekonstruktionsversuchen werden die fehlenden Arien meist
aus anderen Werken Bachs genommen. Die Rezitative jedoch bleiben
verschollen, deshalb greifen einige Rekonstruktionsversuche diesbezüglich auf
andere Markus-Passionen von Bach-Zeitgenossen zurück.
Der folgende Schlusschor von Bachs Markuspassion stammt aus der
rekonstruierten Fassung von Dietmar Hellmann und Andreas Glöckner, die sich
dazu entschieden haben, die Rezitative von einem Sprecher vortragen zu lassen.
Und der Schlusschor nimmt als musikalische Grundlage den Chor aus Bachs
Trauerode BWV 198. Dort lautet der Text: „Doch Königin, du stirbest nicht“, in der
Markuspassion heißt es dann: „Bei deinem Grab und Leichenstein“.
Musik 10
Johann Sebastian Bach
Markuspassion BWV 247 (rekonstruierte Fassung)
Rezitativ und Schlusschor „Bei deinem Grab und Leichenstein“
Dominique Horwitz, Sprecher
Amarcord / Kölner Akademie
Leitung: Michael Alexander Willens
Carus 83.244, Take 43-44, 5‘12