SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Musikstunde Das ELSA-Quartett oder Die vier Evangelisten (1) Markus Von Bettina Winkler Sendung: Redaktion: Montag, 21. März 2016 Bettina Winkler 9.05 – 10.00 Uhr Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Musik sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für € 12,50 erhältlich. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert.Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2 2 Musikstunde Das ELSA-Quartett oder Die vier Evangelisten (1) Markus Von Bettina Winkler Indikativ 0‘20 Engel – Löwe – Stier – Adler: die Anfangsbuchstaben dieser vier Figuren bilden zusammen das Wort Elsa! Und wofür stehen diese vier Symbole? Für die vier Evangelisten: Matthäus, Markus, Lukas und Johannes. Seit dem 4. Jahrhundert werden die Verfasser der vier Evangelien durch sie und mit ihnen dargestellt. Aber nicht nur der Engel und der Adler, auch Löwe und Stier haben hier Flügel! Schauen Sie sich doch einmal genauer in einer Kirche um, vielleicht entdecken Sie ja dieses Quartett. Bis ins 13. Jahrhundert hat man die Symbolfiguren oft zu einem einzigen Gebilde zusammengefasst, genannt Tetramorph, was Viergestalt oder Viergetier bedeutet. Schon im Alten Testament findet man beim Propheten Ezechiel eine entsprechende Beschreibung, die den Cherubim gleicht, geflügelten Fabelwesen mit Tierleib und Menschengesicht, die Engel von höherer Rangordnung verkörpern: „Und aus ihrer Mitte zeigte sich die Gestalt von vier Tieren, deren Aussehen dem eines Menschen glich. Jedes hatte vier Gesichter und jedes vier Flügel. [...] Zur Rechten hatten die Viere das Gesicht eines Menschen und das Gesicht eines Löwen, zur Linken hatten die Viere das Gesicht eines Stieres und das Gesicht eines Adlers. Von Oben waren ihre Gesichter und Flügel getrennt; zwei Flügel eines jeden waren mit denen des anderen verbunden und bedeckten ihre Leiber.“ Musik 1 Hildegard von Bingen O gloriosissimi lux vivens angeli Sinfonye M0285093 009, bis 1’57 „O gloriosissimi lux vivens angeli“ – „O ihr Engel, die ihr im glorreichsten Licht lebt“, eine Antiphon der Hildegard von Bingen, in dem die geflügelten Engel besungen werden – ganz ähnlich dem vielfach geflügelten Tetramorphen des Propheten Ezechiel. Sie hörten das Ensemble Sinfonye. 3 Wahrscheinlich liegen die religionsgeschichtlichen Wurzeln des Tetramorphen in der babylonischen Mythologie. Dort symbolisieren die vier Gestalten die vier männlichen Planetengötter. Der Stier steht für den babylonischen Stadtgott Marduk (römisch: Jupiter), der Löwe für den Kriegs- und Unterweltgott Nergal (oder Mars), der Adler für den Windgott Ninurta (also Saturn) und der Mensch für Nabu (Merkur), den Gott der Weisheit. Damit verbunden sind altorientalische Vorstellungen von den Hütern der Weltecken und den Trägern des Himmelsgewölbes in den Sternbildern des altbabylonischen Tierkreises: im ersten steht der Stier, im vierten der Löwe, im siebten der Skorpionmensch und zehnten der Wassermann, in dessen Nähe sich das Sternbild des Adlers befindet. Musik 2 Karl Heinz Stockhausen Tierkreis – Löwe Schlagwerk Nordwest Leitung: Axel Fries M0080363 008, 2‘49 Ein Ausschnitt aus Karl Heinz Stockhausens „Tierkreis“ – und weil es ja heute um den Evangelisten Markus gehen soll, war dies das Sternbild Löwe, gespielt vom Schlagwerk Nordwest. Die Offenbarung des Johannes im Neuen Testament nimmt die Thronvisionen der Cherubim aus Ezechiel auf. Dazu kommen die Bilder der Seraphim aus Jesaja, die im Gegensatz zu den Cherubim Engel mit menschlichem Körper und Flügeln sind. Beide werden in der Offenbarung zu einer neuen Vision kombiniert. Hier erscheinen nun nicht menschenähnliche Viergesichter, sondern vier einzelne Wesen, die mit ihrer ganzen Gestalt wie folgt verglichen werden: „Und vor dem Thron war etwas wie ein gläsernes Meer, gleich Kristall. Und in der Mitte, rings um den Thron, waren vier Lebewesen voller Augen, vorn und hinten. Das erste Lebewesen glich einem Löwen, das zweite einem Stier, das dritte sah aus wie ein Mensch, das vierte glich einem fliegenden Adler. Und jedes der vier Lebewesen hatte sechs Flügel, außen und innen voller Augen.“ (Offb 4,6-8) Die Kombination der Symbole mit den vier Evangelisten und ihren Texten geht auf die Kirchenväter zurück. Sie erkannten in den vier Gesichtern jener Wesen die vier Schriften wieder, die in der unmittelbaren Gegenwart von Gottes Thron beheimatet sind. Beim Kirchenvater Hieronymus findet man dazu folgende Erklärung: 4 „Die erste Gestalt, die eines Menschen, deutet hin auf Matthäus, der wie über einen Menschen zu schreiben beginnt: „Buch der Abstammung Jesu Christi, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams“, die zweite Gestalt deutet auf Markus, bei dem die Stimme eines brüllenden Löwen in der Wüste hörbar wird: „Stimme eines Rufenden in der Wüste: Bereitet dem Herrn den Weg, macht eben seine Pfade“; die dritte Gestalt eines Kalbs deutet hin auf jene, die der Evangelist Lukas vom Priester Zacharias zu Beginn verwenden lässt; die vierte symbolisiert den Evangelisten Johannes, der, weil er Schwingen eines Adlers erhält und so zu Höherem eilen kann, das Wort Gottes erörtert.“ Musik 3 Johann Sebastian Bach „Bereitet die Wege, bereitet die Bahn“ BWV 132, Kantate zum 4. Advent – Anfangsarie Emma Kirkby, Sopran SWF-Sinfonieorchester Baden-Baden Leitung: Christopher Hogwood M0059767 001, 5‘25 Die Stimme des Rufenden in der Wüste: „Bereitet die Wege, bereitet die Bahn“, der Beginn von Johann Sebastian Bachs Adventskantate BWV 132 mit Emmy Kirkby und dem ehemaligen SWF-Sinfonieorchester Baden-Baden unter der Leitung von Christopher Hogwood. Engel – Löwe – Stier – Adler. Matthäus, Markus, Lukas, Johannes – das wäre die Reihenfolge der Evangelisten in der Bibel. Ich will aber nicht mit Matthäus beginnen, sondern mit Markus, denn sein Evangelium ist nach heutigem Wissensstand das älteste und dieser Text hat wahrscheinlich zusammen mit der sogenannten Quelle Q, der Logienquelle, als Vorlage für Matthäus und Lukas gedient. Johannes Markus oder Markus ist eine Gestalt aus dem Neuen Testaments. Ob der anonyme Verfasser des Markusevangeliums mit den Namensträgern im Neuen Testament tatsächlich identisch ist, bleibt fraglich. Johannes Markus war ein Judenchrist aus Jerusalem und ein Vetter des Barnabas. Er wurde von Barnabas und Paulus auf die erste Missionsreise mitgenommen, hielt aber nicht durch und kehrte in Perge in Pamphylien um. Zur zweiten Missionsreise wollte Barnabas Markus wieder mitnehmen, aber Paulus weigerte sich und wählte Silas zum Gefährten, während Barnabas mit Markus nach Zypern fuhr. Später bestand wohl wieder ein gutes Verhältnis zwischen Paulus und Markus, denn Markus ist während der ersten Gefangenschaft bei Paulus in Rom und Paulus bittet bei 5 seiner zweiten römischen Haft Timotheus ausdrücklich darum, nach Markus zu schicken. Ob Johannes Markus mit dem im 1. Petrusbrief genannten Markus identisch ist, kann man nicht beweisen. Die kirchliche Tradition aber stellt diese Verbindung her und legt damit Rom als Abfassungsort für das Markusevangelium fest. Demnach befindet sich Markus in Rom bei Petrus, der ihn seinen „Sohn“ nennt. Vielleicht ist der Autor des Markusevangeliums auch identisch mit dem unbekannten Augenzeugen, der die Gefangennahme Jesu miterlebt – nur in diesem Text wird ein junger Mann erwähnt, den ein römischer Soldat am Gewand festhält, worauf er es abstreift und nackt flieht. Dann hätte sich der Markus-Evangelist hier selbst porträtiert, ähnlich der Tradition vieler Maler und Bildhauer, die einer Nebenfigur ihr Antlitz verleihen. Auf jeden Fall berichten die Kirchenväter Eusebius, Hieronymus und Epiphanius, dass Markus der Gründer der Gemeinde in Alexandria war. Nach koptischer Tradition war er der erste Bischof von Alexandria und soll auch die Heilige Liturgie zusammengestellt haben, von der die anderen drei orthodoxen Liturgien abstammen. Musik 4 Trad. (koptisch) Amen ton thananton Agis Ensemble David Musique du monde arabe 321022, Take 2, 1’44 Das Ensemble David mit einem Ausschnitt aus der koptischen Liturgie. Um 828 wurden die Markusreliquien von venezianischen Seefahrern aus Alexandria geraubt und nach Venedig überführt. Dort baute man ihnen zu Ehren die Vorläuferkirche des Markusdoms, die aber 976 komplett niederbrannte. 1094, bei Beendigung des Baus des heutigen Markusdoms, fand man auf wundersame Weise diese Gebeine wieder. Der geflügelte Markuslöwe wurde zum Staatswappen der Republik Venedig, Ausdruck ihres Selbstbewusstseins gegenüber Rom, dem Frankenreich und Byzanz. Der Legende nach soll Markus auf seinen Missionsfahrten die damals noch unbewohnte Lagune von Venedig durchquert haben und dort von einem Engel die Weissagung erhalten habe, hier würden einst seine Gebeine ruhen. Den Gruß des Engels „PAX TIBI MARCE EVANGELISTA MEUS“ (deutsch: „Friede dir, Markus, mein Evangelist“) findet man bei den meisten venezianischen Darstellungen des Markuslöwen. Der heutige steinerne Sarkophag unter dem Hauptaltar von San Marco trägt auf lateinisch die Inschriften „Leib des heiligen Evangelisten Markus“ auf der Vorderseite und „Es grüßt euch mein Sohn Markus“ auf der Rückseite. 6 Musik 5 Claudio Monteverdi „Laudate Dominum“ aus „Selva morale e spirituale“ Cantus Cölln Concerto Palatino Leitung: Konrad Junghänel Harmonia mundi HMC 901718.20, CD 3, Take 10, 4‘06 „Laudate Dominum“ - Musik für eine Vesper im venezianischen Markusdom von Claudio Monteverdi, Konrad Junghänel leitete den Cantus Cölln und das Concerto Palatino. Ein Teil der venezianischen Markus-Reliquien wurde 1968 anlässlich der 1900-JahrFeier der Gründung der koptischen Kirche an den Patriarchen von Alexandria als Geste guten Willens zurückgegeben. Sie werden seitdem in der päpstlichen Markuskathedrale in Kairo verwahrt. Innerhalb der Religionsgeschichte nimmt das Markusevangelium eine zentrale Stellung ein, denn es markiert zwei wichtige Übergänge: Den von der mündlichen Jesustradition hin zur Evangelienschreibung und das Hineinwachsen des Christentums aus dem semitischen in den hellenistisch-römischen Kulturraum. Vor Markus existierte die Überlieferung der Geschichte Jesu vielfach in mündlicher Form, etwa in Predigt, Katechese und Liturgie, doch Markus war wahrscheinlich der erste, der das Leben Jesu von der Taufe bis zum Tod am Kreuz in einer chronologischen Abfolge schriftlich festgehalten hat. Was ihn dazu veranlasst hat, ist nicht ganz klar. Vielleicht musste sich die markinische Gemeinde mit diversen Irrlehrern auseinandersetzen, gegen die Markus sein Evangelium als apologetische Schrift verfasst hat. Oder er wollte den christlichen Glauben schriftlich festhalten, der in der damaligen Zeit einen Wandel erfuhr, zumal die Generation der Zeitgenossen Jesu zunehmend ausgestorben war. Die neue literarische Gattung, die so entstanden war, nennt Markus Evangelium. Dabei greift er aus dem semitischen alttestamentlichen Kulturraum das Vorbild des Prophetenbuches auf und ordnet dieses in Form einer chronologischen Biografie, die sich an den hellenistischen Herrscherbiografien orientiert. Lukas, Matthäus, Johannes und diverse apokryphe Autoren haben diese Vorlage dann nachgeahmt. 7 Musik 6 Charles Wood „Thy heavenly Word“ – Hymne aus der Markus-Passion Chor des Jesus College, Cambridge Jonathan Vaughan, Orgel Leitung: Daniel Hyde Naxos 8. 570561, Take 3, 2‘53 „Thy heavenly Word“, eine Hymne aus der Markus-Passion von Charles Wood, mit dem Chor des Jesus College Cambridge und Jonathan Vaughan an der Orgel, Dirigent war Daniel Hyde. Das Markusevangelium ist das kürzeste der vier Bibel-Evangelien und erzählt die Geschichte des Wirkens Jesu als erwachsener Mann. Man geht davon aus, dass der Evangelist dafür den Zeitraum von einem Jahr veranschlagt hat. Am Anfang dieses Wirkens steht die besondere Erwählung Jesu, die von der Taufe im Jordan durch Johannes den Täufer unterstrichen wird, der einen „Stärkeren“ ankündigt. Ausführlich schildert Markus dann, wie Jesus auf seine Mitmenschen wirkt: Er ruft vor allem Staunen und Ehrfurcht bis hin zu Bestürzung und Unverständnis hervor. Lange erkennt keiner, dass Jesus Gottes Sohn ist, selbst die Jünger scheinen es nicht zu verstehen – Stichwort „Messiasgeheimnis“: Das unbegreifliche Geheimnis der Geschichte Jesu liegt darin, dass er, obwohl er Gottes Sohn ist, den Weg des Leidens gehen muss. Zwar erscheint Jesus von Anfang an als der von Gott bezeugte Messias, doch trotz dieser klaren Offenbarung wird er verkannt, findet beim Volk nur wenig Verständnis und wird selbst von seinen Jüngern nicht begriffen. Das gilt auch für all die Wunder und Exorzismen, die sich vor ihren Augen ereignen. Das Erstaunliche dabei: Dämonen mit übermenschlichem Wissen erkennen sofort das Wesen Jesu – sie nennen ihn „Sohn Gottes“. Musik 7 Manuel Cardoso „Mulier quae erat“, Motette Tallis Scholars Leitung: Peter Philips 1921216 011, 3’19 (auch als Privat-CD: Gimell CDGIM 021) Die Tallis Scholars unter Peter Phillips mit Manuel Cardosos Motette „Mulier quae erat“, eine Heilungsgeschichte aus dem 5. Kapitel des Markusevangeliums. 8 Markus verankert Jesus in einer ländlichen Welt, die wahrscheinlich auch seine eigene ist. Der See Genezareth ist für ihn ein „Meer“ und nicht ein „See“ wie für den welterfahrenen Lukas. Im Zentrum des Markusevangeliums steht der unschuldige Tod Jesu am Kreuz. Deshalb wird es auch als „Passionsgeschichte mit ausführlicher Einleitung“ bezeichnet. Fast symmetrisch – nämlich in Kapitel 8, Vers 26 und 27 – teilt es sich in zwei Abschnitte. Bis zu dieser Stelle steht das Wirken Jesu vor dem Volk im Vordergrund, der geographische Bereich ist Galiläa. Danach beginnt der Weg zum Leiden, das in Jerusalem seinen Lauf nimmt. Das Markusevangelium gilt allgemein als das älteste der drei so genannten synoptischen Evangelien. Man geht heute weitestgehend von der These aus, dass sowohl in das Matthäus- als auch in das Lukasevangelium Materialien aus dem Markusevangelium eingeflossen sind, zu denen dann noch weitere Quellen hinzugefügt wurden. Dies weist das Markusevangelium klar als Vorlage der beiden Großevangelien aus. Trotzdem führte das Markusevangelium lange Zeit eher ein Schattendasein in der Kirchengeschichte und wurde erst spät in seiner Besonderheit wahrgenommen. Auf Markus geht letztlich die Existenz der Gattung Evangelium zurück, die sich auf das Leben Jesu, das Leben der Gemeinde und das kommende Gottesreich bezieht und den Mittelpunkt des Neuen Testaments ausmacht. Auch die Konzentration auf die Passion Jesu in der christlichen Theologie und damit die zentrale Bedeutung des Kreuzes als Symbol für den christlichen Glauben, dürfte vor allem auf Markus zurück zu führen sein. Musik 8 Oswaldo Golijov La Pasión Según San Marcos – Kreuzigung und Tod Luciana Souza, Gesang Schola Cantorum de Carácas Cantoría Alberto Grau Orquesta La Pasión Leitung: Maria Guinand Hänssler Classic 98.404, CD 2, Take 10-11, 3‘07 Kreuzigung und Tod aus der für das Bach-Jahr 2000 entstandenen Markuspassion von Oswaldo Golijov mit Luciana Souza, der Schola Cantorum de Carácas, der Cantoría Alberto Grau und dem Orquesta La Pasión unter der Leitung von Maria Guinand. Man geht davon aus, dass Markus bei der Verschriftlichung seines Evangeliums auf zahlreiche christliche Traditionen um Jesus zurückgreifen konnte, die vor allem aus der Missionspredigt, dem liturgischen Gebrauch und der 9 Gemeindekatechese stammen. Viele dieser Traditionen finden sich in hellenistisch geprägten Gemeinden im vorderasiatischen Raum, insbesondere in Galiläa und Syrophönizien, aber auch in Jericho und Jerusalem. Einige Exegeten vertreten die Ansicht, dass diese Traditionen teilweise schon zu größeren Einheiten zusammengefasst und eventuell sogar bereits verschriftlicht waren. Weitgehender Konsens besteht darüber, dass vor allem der Passionsbericht dem Evangelisten bereits als größere Einheit in schriftlicher Form vorlag. Im Markusevangelium sind vor allem Wunder- und Exorzismusgeschichten verarbeitet, während Worte Jesu im Vergleich zu Lukas und Matthäus eher selten auftreten. Grund dafür mag die Tatsache sein, dass dem Verfasser vor allem Heilungswunder vorlagen, die wahrscheinlich aus der Missionsarbeit stammten. Da im Markusevangelium viele jüdische Bräuche erläutert werden, kann man annehmen, dass dieses Evangelium in erster Linie für Heidenchristen geschrieben wurde und weniger für konvertierte Juden. In den ältesten Handschriften des Markusevangeliums, im Codex Sinaiticus und im Codex Vaticanus endet das Markusevangelium mit Kapitel 16,8. „Da verließen sie das Grab und flohen; denn Schrecken und Entsetzen hatte sie gepackt. Und sie sagten niemand etwas davon; denn sie fürchteten sich.“ Musik 9 Thomas Tallis „Dum transisset Sabbatum“, Motette für 5 Stimmen a cappella, P 257 Alamire Leitung: David Skinner M0293294 014, 3‘52 „Als der Sabbat vorüber war“ – der Beginn des 16. Kapitels des Markusevangeliums in Form einer Motette von Thomas Tallis. David Skinner leitete das Ensemble Alamire. Im Gegensatz zum Codex Sinaiticus und zum Codex Vaticanus, in denen das Markusevangelium mit dem 16. Kapitel, Vers 8 endet, verwenden die meisten anderen Handschriften den so genannten „kanonischen Schluss“ 16,9-20: Jesus erscheint mehreren Personen nacheinander, kommt dann zu den Aposteln, tadelt sie wegen ihrer Ungläubigkeit und gibt ihnen den Auftrag, das Evangelium in der Welt zu verkünden. Anschließend fährt er in den Himmel auf – und die Apostel folgen seinem Auftrag. Dieser Schluss stellt wohl eine Kombination von Elementen des Lukas- und des Johannesevangeliums sowie der Apostelgeschichte dar und entstand vermutlich später in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts. 10 Die Interpretationen des abrupten Endes in 16,8 sind widersprüchlich: Eine Möglichkeit wäre, dass das Markusevangelium ursprünglich unvollständig veröffentlicht wurde oder aber der ursprüngliche Schluss verloren ging. Da der Grabesengel aber schon alle Inhalte der urchristlichen Osterbotschaft verkündet, rundet er eigentlich das Evangelium ab. Das Fehlen des Schlusses wäre dann ein bewusstes Mittel des Evangelisten, um sein theologisches Anliegen einer Kreuzestheologie zu unterstreichen. Allerdings ist nach Mk 14,28 eine Erscheinung des Auferstandenen zu erwarten und das würde bedeuten, dass der Schluss tatsächlich verloren ging. Verloren gegangen ist auch Johann Sebastian Bachs Markuspassion BWV 247. Während das Libretto von Picander in einer Gedichtsammlung vollständig erhalten ist, gilt die Musik als verschollen. Mit Hilfe des Librettos kann man Bachs Markuspassion bis zu einem gewissen Grade rekonstruieren, denn im Gegensatz zu den beiden anderen erhaltenen Passionen war die Markus-Passion wohl eine Parodie, d.h., sie verwertete Sätze von bereits zuvor komponierten Werken, beispielsweise aus der Kantate „Widerstehe doch der Sünde“ BWV 54 und der Trauerode „Lass Fürstin, lass noch einen Strahl“ BWV 198. Zwei Choräle aus der Markus-Passion stammen aus dem Weihnachtsoratorium. Bei den unterschiedlichen Rekonstruktionsversuchen werden die fehlenden Arien meist aus anderen Werken Bachs genommen. Die Rezitative jedoch bleiben verschollen, deshalb greifen einige Rekonstruktionsversuche diesbezüglich auf andere Markus-Passionen von Bach-Zeitgenossen zurück. Der folgende Schlusschor von Bachs Markuspassion stammt aus der rekonstruierten Fassung von Dietmar Hellmann und Andreas Glöckner, die sich dazu entschieden haben, die Rezitative von einem Sprecher vortragen zu lassen. Und der Schlusschor nimmt als musikalische Grundlage den Chor aus Bachs Trauerode BWV 198. Dort lautet der Text: „Doch Königin, du stirbest nicht“, in der Markuspassion heißt es dann: „Bei deinem Grab und Leichenstein“. Musik 10 Johann Sebastian Bach Markuspassion BWV 247 (rekonstruierte Fassung) Rezitativ und Schlusschor „Bei deinem Grab und Leichenstein“ Dominique Horwitz, Sprecher Amarcord / Kölner Akademie Leitung: Michael Alexander Willens Carus 83.244, Take 43-44, 5‘12
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