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Aufbruch ins Gewissen – Eine Reise auf dem Jakobsweg
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Jürgen Schiefer
Aufbruch ins Gewissen
Eine Reise auf dem Jakobsweg
Gedanken über die Freiheit des Pilgerns,
die Freiheit in unseren Köpfen
und in unserer Gesellschaft
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© 2016 Jürgen Schiefer
Herstellung und Verlag: (folgt)
Coverfotografie: © 2015 Jürgen Schiefer, Kirche Foncébadon
Umschlaggestaltung: © 2016 Jürgen Schiefer
ISBN: (folgt)
Alle Fotografien im Buch stammen von der Pilgerreise des
Autors auf dem Camino Francés im April 2015 und sind
urheberrechtlich geschützt.
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Vorwort des Autors
Die in diesem Buch geschilderten Begegnungen, Erlebnisse
und Situationen sind wahrheitsgemäß und authentisch. Sie
geben meine Erlebnisse und Erfahrungen der Pilgerreise im
April 2015 auf dem Camino Francés, von León (Kastilien) bis
nach Santiago de Compostela (Galizien) wieder. Lediglich die
Namen der interagierenden Personen wurden verändert, um
deren Persönlichkeitsrechte zu wahren.
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Inhalt
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8 Prolog
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12 Erster Tag: León nach Villavante
-
9 Deutschland im Februar 2016
26 Zweiter Tag: Villavante nach Valdeviejas
o
Urlaub an der Mauer
38 Dritter Tag: Valdeviejas nach Rabanal
Vierter Tag: Rabanal nach Molinaseca
o
Der Fall des Eisernen Vorhangs
o
Besuch in Theresienstadt
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Fünfter Tag: Molinaseca nach Pieros
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Sechster Tag: Pieros nach Ruitelán
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Achter Tag: Alto de Poyo nach Sarria
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Siebter Tag: Von Ruitelán zum Alto de Poyo
Neunter Tag: Sarria nach Mercadoiro
Zehnter Tag: Mercadoiro nach San Xulian
Elfter Tag: San Xulian nach Boente
Zwölfter Tag: Boente nach Salceda
Dreizehnter Tag: Salceda nach Lavacolla
Vierzehnter Tag: Lavacolla nach Santiago
Santiago de Compostela
Die Schokoladenseite der Rückreise
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Pilgern – und danach?
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Epilog
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Freiheit – Wunschdenken?
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Prolog
Nun stehe ich da! In einer Bankreihe der Iglesia Santa Maria a
Real d´OCebreiro. Den Schlapphut, den ich mir bei der
Rentnerin in El Ganso gekauft habe, lege ich auf der
Kirchenbank ab und halte bedächtig meinen Pilgerstab fest in
der Hand. Seit Jahren habe ich keine Kirche mehr betreten,
um mich bewusst der Ruhe und Stille eines solch spirituellen
Ortes hinzugeben. Meine Blicke schweifen durch den Raum.
Meine Sinne saugen die andächtige Stimmung des
wunderbaren Gesangs der hochtönigen Frauenstimme, die
aus den Lautsprechern das gesamte Kirchenschiff erfüllt,
restlos auf. Ein Gefühl der Trauer durchfährt mich. Den
Pilgerweg, den ich beschreite, gehe ich in erster Linie für
mich. Doch ein stückweit gehe ich ihn auch für eine gute
Freundin. Sie ist krank und ich weiß nicht, ob ich sie noch
einmal sehen kann, um ihr von den Erlebnissen und
Erfahrungen, die mir der Weg bereitet hat, zu berichten. Mir
schießen die Tränen in die Augen und ich bin froh, eine
Person an meiner Seite zu haben, die mir Trost spenden kann.
Im Seitenschiff der Kirche stehen zahllose Kerzen, die von den
Kirchenbesuchern entzündet werden. Verbunden mit dem
inneren Wunsch, die hier, an diesem bedeutenden Ort,
entzündeten Lichter mögen meiner Familie und der
erkrankten Freundin helfen, stelle ich zwei weitere Kerzen
dazu. Nun stehe ich da. Und die Tränen fließen.
…..
Ach, würden wir doch nur alle die Freiheit besitzen, dort
hinzugehen, wo wir es für richtig halten.
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Deutschland im Februar 2016
Es ist Freitagabend, der 19. Februar 2016. Der Fernseher läuft
– nebenbei. Die Nachrichten zeigen einen Beitrag über den
bisher für fast Jedermann unbekannten Ort Clausnitz in
Sachsen. Ein 800-Seelen-Dorf im Erzgebirge. „Wir sind das
Volk“ skandieren rund 100 aufgebrachte Einwohner. Senioren
mit erbitterten Blicken, kahlköpfige Mitt-Dreißiger mit
fragwürdigen Tätowierungen an den sichtbaren
Körperstellen. Aus der Ferne nähert sich ein Bus, besetzt mit
38 Schutzsuchenden. Die meisten von ihnen sind Frauen und
Kinder. Doch die Asylgegner haben vorgesorgt. Die
Zufahrtsstraßen zu dem Ort sind blockiert. Es dauert, bis die
Straßensperren aus dem Weg geräumt sind, der Bus seinen
Weg zur Einrichtung fortsetzen kann, in der die Flüchtlinge
untergebracht werden sollen. Doch an der Einrichtung
eskaliert die Situation. Statt einem ersten Zufluchtsort
erreichen die Menschen, die in den letzten Wochen und
Monaten Gewalt, Terror, Stacheldrahtzäunen und
Vertreibung ausgesetzt waren, eine wütende Menge, die
ihnen klarmacht, dass sie auch hier unerwünscht sind.
Verängstigte Gesichter. Tränen. Kinder, die die Welt nicht
mehr verstehen. Auf der anderen Seite: „Wir sind das Volk!
Wir sind das Volk! Widerstand! Widerstand!“
„Refugees welcome“ nicht in Clausnitz!
5 Tage vorher: Maarat al-Numan. Im Norden von Syrien. 4
Raketen treffen ein Krankenhaus, das von Ärzte ohne
Grenzen unterstützt wird. Wo zuvor noch verletzte, kranke
und hilfebedürftige Menschen Hilfe suchten, steht jetzt kein
Stein mehr auf dem Anderen. Hilfe für Menschen.
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Weggebombt. Ausgelöscht. Nach den Medien zu Folge war
das Krankenhaus Anlaufstelle für rund 40000 Menschen aus
Maarat al-Numan und der Umgebung. Jetzt ist es nicht mehr
da. Dem Erdboden gleichgemacht, wie so vieles in den letzten
Monaten in dem von Gewalt und Terror heimgesuchten Land.
Die Kriegspropaganda funktioniert wie immer wunderbar.
Jede Partei weist eine Schuld von sich zurück. Schuld haben
natürlich immer die Anderen, die politischen Gegner. Den
Opfern, den Überlebenden des Terrors und der
Zivilbevölkerung dürfte es ohnehin egal sein. Sie wollen nur
eines: Frieden und ein Leben in Sicherheit und ohne Angst
führen.
Am selben Abend: Ich klicke mich durch das soziale Netzwerk,
in dem ich angemeldet bin. Ich gerate auf die Seite einer mir
unbekannten jungen Frau aus Bayern. Sie hat ein Video
verlinkt. Eine Hilfsorganisation mit dem Namen „IsraAid“ hat
sich am Strand der griechischen Insel Kos postiert. Sie warten
auf Schlauchboote, auf denen Kriegsflüchtlinge in
halsbrecherischer Manier über die Ägäis geschippert
kommen. Die Bilder sind schockierend. Erschöpfte Menschen.
Apathisch. Weinende Kinder. Alte. Gestandene Männer, die
ihre Tränen nicht zurückhalten können. Ein Boot der
Hilfsorganisation nähert sich einem Schlauchboot. Eine junge
Frau mit Schwimmweste bekleidet wagt den Sprung ins
Hilfsboot. Zu früh, sie rutscht ab und fällt in die wabernde
See. Schreie. Todesangst. Die Augen weit geöffnet. Ein Mann
im Hilfsboot streckt die Hand nach ihr aus. „Relax, Relax,
everything is okay!“ sind seine Worte, um die Frau von ihrer
Panik ein wenig zu befreien.
Er kann sie ins Boot ziehen. Währenddessen schöpfen die
Männer im Schlauchboot unentwegt Meerwasser in die See
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zurück, das sich durch die hohen Wellen ständig in das
überfüllte Flüchtlingsboot ergießt. Das überladene Boot ist
dem Untergang geweiht. Friedhof Ägäis. Dem Tod durch
Verfolgung, Folter und den brutalsten Mordpraktiken im
eigenen Land entkommen um kurz vor dem Ziel politisches
Asyl doch noch zu verrecken? Doch diese Menschen haben
Glück, dass ihnen IsraAid zu Hilfe eilt. Tausenden anderen
droht der Tod durch Ertrinken. Kurz vor dem sicheren Hafen
Europa. Sie riskieren ihr Leben. Bewusst! Das Risiko des
Untergangs während der Ägäis-Querung im überfüllten
Schlauchboot ist ihnen nicht fremd. Doch es ist ihr einzige
Chance, das Territorium der EU zu erreichen, indem sie – auf
dem Papier – als Kriegsflüchtlinge und politisch Verfolgte das
uneingeschränkte Recht auf Asyl haben. Der Landweg ist
ausgeschlossen! Nahezu hermetisch abgeriegelt. Innere
Freiheit – äußere Sicherheit.
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Der erste Tag – León nach Villavante
Samstag, 18. April 2015. Nun stehe ich da, am Busbahnhof
der kastilischen Metropole León. Es ist noch dunkel und
nachdem sich der Fernbus, aus dem ich hier als einziger
Passagier ausgestiegen bin, zurück auf den Weg in Richtung
Autobahn macht, bin ich weit und breit der einzige Passant im
Dunkel der Nacht. Meinen Rucksack mit rund 9 Kilo Gepäck
geschultert, schreite ich kurze Zeit später über den Rio
Bernesga und die Av. Ordono II in Richtung Plaza Major. Es
sind die ersten Schritte, die ich auf spanischen Boden setze,
wenn man einmal von den paar Metern absieht, die ich am
Aeroporto Adolfo Suárez nach meiner Ankunft gestern Abend
getätigt habe. Die nächsten zwei Wochen werden vom Laufen
dominiert werden. Ich habe rund 320 Kilometer Pilgerweg vor
mir. Von León aus wandere ich über Astorga, die Montes de
León bis nach Ponferrada. Weiter über den O´Cebreiro-Pass
nach Sarria und dann die letzten 100 Kilometer bis ins
galizische Santiago de Compostela. Diese „Reise“ trete ich
freiwillig an. Schon seit Monaten habe ich mich gedanklich
auf den Marsch vorbereitet, gefreut, dem Start
entgegengefiebert. Nun stehe ich da!
Oder besser gesagt, ich laufe da. An den Füßen habe ich noch
mein Paar Wohlfühlschuhe, die ich auf dem Flug und während
der Wartezeit am Flughafen anhatte, um nicht gleich mit
schwitzenden Füßen in klobigen Wanderschuhen
anzukommen. Doch bevor ich die erste Tagesetappe in Angriff
nehme ist sowieso noch ein ausgiebiges Frühstück und eine
frühmorgendliche Stadtbesichtigung von León geplant. Die
Busfahrt hat mich ganz schön gerädert. Viel Schlaf war in den
durchaus bequemen Polstersitzen des Reisebusses nicht zu
finden. Wahrscheinlich lag es an meiner Aufgeregtheit.
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Während ich die Av. Ordono II entlang schlendere kommen
mir nach und nach die ersten Menschen entgegen. Gut
gelaunt sind es meist junge Pärchen, die eng umschlungen
und amüsiert redend in die entgegengesetzte Richtung
laufen. Ein wenig fehl am Platz komme ich mir nun doch vor,
mit Wanderhose, weiß-roter Sportjacke und meinem grünen
Trekkingrucksack. Es ist halb fünf als ich kurz vor dem
Vorplatz der Kathedrale, an deren Südseite sich auch der
Plaza Major anschließt, lautes Treiben und ausgelassene
Stimmung wahrnehme. Erst jetzt wird mir bewusst, dass
heute Samstag ist und die Jugend und andere Junggebliebene
offensichtlich gerade dabei sind, die Partymeile der Stadt zu
verlassen und den Heimweg anzutreten. Es dauert nicht
lange, bis mich die erste junge Spanierin entlarvt hat und mir
mit angetrunkener Stimme ein „Hola Peregrino, Buen
Camino“ mehr spöttisch als nett herüberwirft. Auch wenn
man Spanien nachsagt, dass allerorts ein buntes Nachtleben
herrscht, so war es wohl der Euphorie geschuldet davon
auszugehen, dass ich morgens um halb 5 auf ein geöffnetes
Café stoße, in dem mir Brötchen und Kaffee serviert werden.
Möglicherweise hätte ich auf dem Plaza Major sogar Glück
gehabt, doch mit meiner Pilgermontur traue ich mich nun
doch nicht, die Partymeile und die dort noch grölenden und
feiernden Spanier aufzusuchen.
Auf einer Bank, die auf dem großen Vorplatz der Kathedrale
steht nehme ich erst einmal Platz und mache mir Gedanken
über die bevorstehende Zeit auf dem Jakobsweg und dem,
was mich wohl erwarten wird? In Gedanken versunken merke
ich, wie nach und nach die Kälte der Nacht durch meine
Kleidung dringt und es meinen ohnehin schon müden Körper
zu frösteln beginnt. Bis zum Sonnenaufgang wird es wohl
noch fast 2 Stunden dauern. Und darauf, mir bereits am
ersten Tag meiner Wanderung eine Erkältung wegen
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Unterkühlung einzufangen, kann ich auch verzichten. Meine
Planung, die ich in den letzten Wochen akribisch aufgestellt
hatte, sah für den ersten Tag nur eine kurze Etappe von rund
20 Kilometern vor, um mich und meinen Körper an die
Strapazen des Weges zu gewöhnen. Zwar hatte ich keine
Unterkünfte gebucht und auch keine wirklich festen
Etappenziele eingeplant. Die Tagesziele waren jedoch so
gesteckt, dass ich die rund 320 Kilometer Jakobsweg in 13
Tagesmärschen gut bewältigen konnte.
Doch nun, sitzend und frierend auf einer Bank in der
Dunkelheit der Nacht vor der Kathedrale von León, war ich
gedanklich gerade dabei, mich bereits vor meinem ersten
offiziellen Schritt auf dem Camino Francés von der Planung
der ersten Tagesetappe zu verabschieden. „Das geht ja gut
los“ denke ich mir und nehme meine eigene Entscheidung,
mit dem Vorhaben, die Stadt von León bei Tageslicht zu
besichtigen, zu brechen, mit einem Schmunzeln auf den
Lippen hin. Immer noch strömen lautstark die Partygänger
über den Platz der Kathedrale, um sich vor dem
Morgengrauen in Sicherheit zu bringen und die durchzechte
Nacht zu beenden. Ich beschließe, nicht länger zu warten und
zielgerichtet die ersten Kilometer des Caminos noch in der
Dunkelheit abzuspulen. Santiago, ich komme! Auf geht’s!
Doch zuvor gilt es noch, meine Füße auf den ersten
Tagesmarsch vorzubereiten. Einige Meter abseits der
Kathedrale finde ich – morgens um fünf – einen ruhigen Ort,
an dem ich meinen Rucksack öffne, die leichten Sportschuhe
an den Füßen gegen die klobigen Wanderschuhe tausche, mir
vorher jedoch noch eine Portion Hirschtalg gönne, mit dem
ich gegen Blasenbildung an Füßen und Zehen vorbeugen
möchte. Die Senkel der Wanderschuhe fest geschnürt, gehe
ich zurück zur Kathedrale und fühle mich fortan als Pilger. Für
die nächsten 14 Tage „a pie“ (zu Fuß) auf dem Weg immer
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gen Westen. Zwar kann ich nun mein Vorhaben, die
imposanten Bauwerke der Stadt von innen zu betrachten
nicht realisieren, aber der Anblick der historischen Mauern
bei Dunkelheit, angestrahlt durch die großzügig verteilten
Strahler und Lichtquellen, hat auch etwas ganz Besonderes.
So erreiche ich nach wenigen hundert Metern die Basilika de
San Isidoro und zücke zum ersten Mal meinen Fotoapparat,
um das nicht allzu hohe, dafür umso breitere Bauwerk für
künftige Erinnerungen festzuhalten. Für ein paar Minuten
setze ich mich auf einen steinernen Pfeiler um die
Atmosphäre aufzusaugen, den Zauber dieses Ortes zu spüren.
Jetzt fällt mir auf, dass die Gesänge und Laute der Menschen,
die eben noch den Vorplatz der Kathedrale beschallt haben,
hier kaum noch zu hören sind. Wieder merke ich, dass ich die
Nacht im Bus kaum Schlaf gefunden habe, denn die Müdigkeit
gibt sich alle Mühe, erneut von meinem Körper Besitz zu
ergreifen. Da hilft nur Bewegung. Ich erhebe mich von dem
Pfeiler und schreite weiter, die Calle Renueva entlang, bis ich
erneut einen großen Platz erreiche, auf dem ich das
majestätisch wirkende Monasterio Hostal de San Marcos
bewundern darf. Ein mittelalterlicher Prachtbau, der früher
Pilgerherberge war, ist heute als Luxushotel hergerichtet und
beherbergt die eher finanzkräftigen Besucher der kastilischen
Stadt. Wohl eher weniger ein Ort, an dem die Pilger der
Neuzeit absteigen dürften. Erneut beschließe ich, mich für
einen Moment niederzulassen und dem Anblick dieses
Bauwerks zu frönen. Eine antik wirkende Uhr auf dem
Vorplatz zeigt an, dass es kurz vor sechs Uhr sind. Langsam
aber sicher verschwinden die feiernden Menschen von der
Straße, die sie jetzt an Autos, Lieferwagen und erste
Radfahrer und Fußgänger freigeben, die auf dem Weg zur
Arbeit sind. Ein paar Erinnerungsfotos, dann geht es weiter.
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Monasterio Hostal de San Marcos in León
Erneut führt mich eine Brücke über den Rio Bernesga, nun
eher abseits von prunkvollen Prachtbauten entlang der
Gleisanlagen in ein eher unschönes Geschäfts- und
Häuserviertel von León. Schon gut noch in der Dunkelheit der
Nacht hier entlang zu laufen. So konzentriere ich mich auf den
Gehweg, dem gelben Pfeil folgend und darauf achtend, an
den vielen Überquerungen der kleinen Seitenstraßen nicht
von einem unachtsamen Autofahrer erwischt zu werden.
So geht es weiter entlang der Hauptstraße, bis ich pünktlich
mit dem Erscheinen der ersten Sonnenstrahlen die Ortschaft
La Virgen del Camino erreicht habe. Es ist gegen 7 Uhr, als ich
an der Fassade der modern wirkenden Kirche mit riesigem
Betonpfeiler auf dem ein steinernes Kreuz montiert ist stehen
bleibe und versuche, einen Blick auf die Jungfrau des Weges
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zu erhaschen. Doch auch hier habe ich Pech. Die Türen sind
noch fest verschlossen. So bleibt mir nichts anderes übrig, als
ein Erinnerungsfoto der Fassade zu schießen und meinen
Weg fortzusetzen.
Wenige Meter hinter dem Ortsausgang von La Virgen del
Camino treffe ich auf ein Wirrwarr von gelben Pfeilen auf
dem bröckeligen Asphalt einer Seitenstraße, die hier zum
Wirtschaftsweg wird. Vor dieser Stelle hat mein Reiseführer,
dessen wichtige Seiten ich mir nur als Fotokopie
mitgenommen habe um Gewicht zu sparen, gewarnt. Hier
teilt sich der Weg in die Route entlang der vielbefahrenen
Hauptstraße N-120 und die Alternativroute. Ländlich und
verkehrsberuhigt geht es über ein paar kleine Kuhdörfer, bis
sich der Jakobsweg in Hospital de Orbigo, rund 25 Kilometer
westlich gelegen, wieder vereint. Für mich stand schon vorher
fest, dass ich die Alternativroute wähle, da ich noch zu gut die
Erzählungen unseres Pilgerkomikers in den Ohren habe, der
den permanenten Verkehrsfluss und die beißenden Auto- und
LKW-Abgase schon bald leid war, jedoch damals offensichtlich
keine Möglichkeit sah, den Marsch entlang der Schnellstraße
irgendwie zu umgehen. Das Wirrwarr an Pfeilen ist
offensichtlich den konkurrierenden Restaurants und
Herbergsbetrieben entlang der beiden Routen geschuldet.
Jeder Pilger, der den anderen Weg wählt, ist ein potentiell
verlorener Kunde. Auch das ist Camino. Der Kampf um den
Gast, der Kampf um das Geld der pilgernden Menschen.
Wenig später bin ich froh, endlich der Hektik des
Großstadtlebens entflohen zu sein. Nach Flug, dem
Aufenthalt am betriebsamen Flughafen in Madrid, der
Busfahrt nach León und den ersten Stunden meines Daseins
in der von Partygängern und zur Arbeit hastenden Menschen
geprägten Stadt in den Häuser- und Geschäftsvierteln von
León genieße ich die ersten Schritte durch die doch recht
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karge, teils steppenartige Landschaft. Mir fällt auf, dass ich
nun schon rund zweieinhalb Stunden unterwegs bin, bislang
jedoch noch keine andere Pilgerseele zu Gesicht bekommen
habe. Wo sind sie denn bloß alle, die Peregrinos und
Peregrinas? Einzig und allein ein hektisch wirkender, in seinen
Pilgerführer starrender Amerikaner, begegnet mir auf der
Straße nach Chozas de Abacho. „Is this the right way?“ ruft er
mir entgegen und ohne wirklich eine Antwort abzuwarten
starrt er wieder in sein Büchlein. „Yes, I think so!“ rufe ich ihm
entgegen. Doch seine Hektik und Unsicherheit verleitet ihn
dazu, wieder umzukehren und offensichtlich eine seiner
Meinung nach bessere Lösung für den Weg nach Santiago zu
finden. Ich schaue auf den Asphalt, sehe einen gelben Pfeil,
der den Weg nach Compostela kennzeichnet. „Just believe in
the yellow signs“ denke ich mir, will es ihm noch
hinterherrufen, doch da ist er schon umgekehrt und läuft nun
zurück in Richtung León.
Unbeirrt setze ich meinen Weg fort. Bereits hier auf den
ersten Kilometern meiner Pilgerreise wird mir klar, dass es
mehr oder weniger unnötig ist, eine Landkarte mitzuführen,
solange man sich auf dem offiziell markierten Pilgerweg
aufhält, denn die Markierung durch den gelben Pfeil ist fast
allerorts eindeutig und kaum übersehbar angebracht. Meter
um Meter, Schritt um Schritt setze ich einen Fuß vor den
anderen um Chozas de Abacho zu erreichen und mich dort
nach etwas essbarem umzusehen. Schließlich mußte ich
notgedrungen das Frühstück in León ausfallen lassen und
auch in La Virgen del Camino konnte ich in der
Morgendämmerung kein Bistro, kein Geschäft ausmachen,
das bereits seine Pforten geöffnet hatte. Am Ortseingang von
Chozas de Abacho teilt sich der Weg wiederum. Ein gelber
Pfeil nach rechts. Ein anderer nach links mit großen gelben
Lettern darunter, die das Wort BAR signalisieren.
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Glücklich und voller Hoffnung, eine geöffnete Tür, einen
warmen Kaffee und etwas zu essen serviert zu bekommen,
schlage ich den Weg ins Dorf ein. Hier, einige Kilometer
abseits der Großstadt, scheint die Zeit stehen geblieben zu
sein. Auf den Straßen ist es ruhig. Kein Mensch ist zu sehen.
Im vermeintlichen Zentrum des Dorfs gelange ich auf eine Art
Marktplatz. Zur rechten steht an einem der Gebäude eine Tür
offen, davor eine Bank unter einer Veranda. Ein paar Tafeln
neben der Türe weisen darauf hin, dass dies wohl die
beworbene Bar sein muß, in der es die gewünschten
Spezialitäten geben muss. Nur noch wenige Meter von der
geöffneten Türe entfernt vernehme ich Stimmen und gute
Laune. In der Bar sitzen an einem großen Holztisch mehrere
Pilger, die sich bei Kaffee und einige von ihnen mit einem
Snack in der Hand austauschen. Ich schreite zielstrebig zur
Theke, werfe einen kurzen Blick auf die Tafeln, die als
Preisschilder hinter dem netten Betreiber der Bar an der
Wand hängen und bestelle: “Buenos dias Senór, tomo un café
con leche y un Bocadillo Jamas, por favor!“ (Guten Morgen
der Herr. Ich nehme einen Milchkaffee und ein Bocadillo mit
Schinken, bitte!)
„Perdon Senór, no Bocadillos. BlablaBla…“ Der
darauffolgende Dialog verkommt schnell zum Monolog, denn
der freundliche Barbesitzer hat meine paar Wörter Spanisch
wohl so interpretiert, als könnte ich seiner Erzählung gut
folgen. Nichts von dem! Meine Grundkenntnisse habe ich mir
in den letzten Wochen über einen Smartphone-Sprachkurs
angeeignet. Die paar Vokabeln reichen aus, um die Menschen
freundlich anzusprechen, mir etwas zu trinken und zu essen
zu bestellen und im Zweifelsfall nach dem Weg zu fragen.
Mehr nicht! Lediglich seine Kernbotschaft, dass es leider
keine Bocadillos gibt, nehme ich leidend zur Kenntnis und
schaue ihn wohl etwas traurig an. „Café con Leche?“ fragt er
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mich mehr bemitleidend als auffordernd, worauf ich ihm mit
einem „si“ signalisiere, dass ich es mit meinem Kaffeedurst
durchaus ernst meine. Eigentlich wäre mir jetzt zum Fluchen
zumute, doch mehr glücklich als enttäuscht setze ich mich mit
meinem frisch gebrühten Milchkaffee an einen freien Platz.
Einige der Pilger sind gerade in Aufbruchstimmung und
verlassen den Raum. Ein herzliches „Buen Camino!“ wird
mehrfach von Pilger zu Pilger durch den Raum geworfen.
Nach kurzer Zeit verbleibe ich alleine im Gastraum.
Das nun folgende Schauspiel ist ebenso skurril wie
wunderbar. Zwar verstehe ich von dem intensiven
Gesprächsaustausch der nächsten Minuten kein Wort, die
Szenen hätten jedoch in einem Spielfilm nicht besser
dargestellt werden können. Der Gastgeber hat seinen
Küchengehilfen damit beauftragt, den Bäcker im Ort
aufzusuchen, um endlich die heiß begehrten Bocadillos zu
holen, damit hungrige Pilger versorgt werden können. Doch
wenige Minuten nachdem der Gehilfe die Bar verlassen hat
kommt er zurück und teilt seinem Chef schulterzuckend mit,
dass er erfolglos war (Ich vermute mal, dass er den Bäcker
nicht angetroffen hat!?). Der Gastwirt stammelt einen
Monolog vor sich hin, schaut mehrmals auf die große
Wanduhr und erwähnt mindestens zehn mal das Wort
Bocadillos in seinem Selbstgespräch. Es dauert nicht lange, da
hält ein weißer Kastenwagen vor der Tür. Ein weiß gekleideter
Mann steigt aus und bringt dem Gastwirt freudestrahlend
eine große weiße Tüte. Das müssen die begehrten Bocadillos
sein. Die Mine des Gastwirts wird abrupt freundlicher und auf
ein kurzes Gespräch zwischen den beiden Spaniern hält der
Mann mir strahlend ein riesiges Baguettebrot entgegen und
fragt: “Bocadillo? Jamas?“ Auf seine Frage antworte ich kurz
und knapp mit einem „si“ und bestelle mir dazu noch einen
weiteren Café con Leche.
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Nach der Stärkung und dem doppelten Milchkaffe setze ich
voller Elan meinen Weg in Richtung Villar de Mazarife fort.
Sehr weit ist es nicht mehr. Laut meinem kopierten
Reiseführer sind es vielleicht noch 4 oder 5 Kilometer. Doch
wir haben erst kurz nach 11 Uhr. Dabei hatte ich Villar de
Mazarife als Etappenziel für den ersten Wandertag
auserkoren. Doch jetzt, am frühen Mittag, schon eine Bleibe
für die kommende Nacht aufzusuchen erscheint mir doch
etwas früh. Als ich den Ortsanfang von Villar de Mazarife
erreiche blicke ich auf ein kunstvolles Mosaik, das die Kirche
des Ortes und mehrere kunstvoll gestaltete Pilger zeigt.
Darunter der Name des Ortes, eine Pilgermuschel ebenfalls
aus Mosaiksteinen und die Jahresgravur, die aufzeigt, dass
dieses Gemälde 1994 entstanden ist. Die Mosaikpilger bleiben
die einzigen Pilger, die ich in dem Ort zu Gesicht bekomme.
Villar de Mazarife scheint jetzt, zur Mittagszeit, wie
ausgestorben. Wahrscheinlich befinde ich mich gerade in
einer Art „menschenleeren Pilger-Blase“? Diejenigen, die die
Nacht in León verbracht haben werden noch weit hinter mir
sein, denn kein anderer Pilger außer mir ist so verrückt und
startet seinen Tagesmarsch von der kastilischen Metropole
aus morgens um kurz vor 5, jedenfalls nicht zu dieser
Jahreszeit. Die wenigen Seelen, die in La Virgen del Camino
genächtigt haben sind eine gute halbe Stunde voraus (das
muss die kleine Pilgergruppe gewesen sein, die ich in der Bar
in Chozas de Abacho angetroffen habe) und sicherlich weiter
gezogen mit dem Ziel Hospital de Orbigo. Und Pilger, die die
Nacht in Villar de Mazarife verbracht haben sind jetzt längst
losgezogen und werden schon die Hälfte der Strecke bis nach
Astorga hinter sich gebracht haben. Außerdem nehmen viele
Pilger die unattraktivere, aber dafür etwas kürzere Route
entlang der Hauptstraße. Erneut zücke ich meine Fotokopie
und schaue etwas entsetzt auf eine schnurgerade rote Linie,
die den Weg bis in den nächsten Ort Villavante markiert. Als
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sei dieser Strich nicht Warnung genug spricht der Reiseführer
von gefragter Nervenstärke, denn die nach dem Ort folgende
Landstraße erstreckt sich über 5 Kilometer schnurgerade und
geht dann in einen öden und eintönigen Feldweg über, bis
man nach rund 2 Stunden die nächste
Übernachtungsmöglichkeit in Villavante erreicht hat. Doch es
hilft alles nichts! Ich muß weiterziehen. Und somit das
unattraktive Teilstück bereits heute hinter mich bringen. Ein
Grund mehr, meine Planung für die erste Tagesetappe über
Bord zu werfen und Villar de Mazarife den Rücken zukehren.
Was folgt ist die reinste Odyssee. Die Kilometer auf der
harten Landstraße geraten zur reinsten Qual. Mit jedem
Schritt brennen die Fußsohlen etwas mehr und das schier
nicht auszumachende Ende der Straße läßt den Weg
unendlich lang erscheinen. Die Felder links und rechts des
Weges verleihen dem Marsch eine fast unerträgliche
Monotonie, die ab und zu nur von einem der vorbeirasenden
Autos unterbrochen wird, die auf der Asphaltpiste
ungebremst und mit gefühlten 150 Sachen an mir vorbei
heizen. In der Geschwindigkeit sind diese Irren innerhalb von
2 Minuten am Ende der Straße angelangt. Ich brauche dafür
gut anderthalb Stunden, bis ich den Feldweg und damit ein
wenig Abwechslung erreicht habe.
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Landstraße von Villar de Mazarife nach Villavante
Es ist gegen 14 Uhr als ich an der Albergue Santa Lucia in
Villavante ankomme. Aus den geplanten 20 Kilometern sind
nun knappe 35 geworden. Das Ganze ohne wirklichen Schlaf
in der letzten Nacht und mit einem einzigen Bocadillo als
Verpflegung. Am Tresen der Herberge sehe ich zwei Frauen,
denen ich bereits in der Bar begegnet bin. Nachdem ich
meinen Rucksack mit einem Seufzer vor dem kleinen Tresen
abgesetzt habe spricht mich eine der Frauen an: „You want to
stay here for tonight?“ (Du willst heute Nacht hierbleiben?)
„Oh ja“ entgegne ich auf Englisch. „Ich bin um 5 Uhr in León
gestartet und dies ist mein erster Tag heute auf dem
Jakobsweg. Für heute genug gelaufen. Ich bin müde und
brauche erst mal etwas Schlaf.“ „Ah okay, we will walk
towards Hospital de Orbigo. So, Buen Camino!“ (Aha okay, wir
möchten bis Hospital de Orbigo laufen. Buen Camino)
Eine nette junge Dame kommt derweil zum Tresen, sieht in
mein müdes Gesicht und fragt nur: „Albergue?“ „Si“ meine
knappe Antwort und schon haben wir uns darauf verständigt,
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dass ich für heute Nacht Gast in dieser netten Unterkunft sein
werde. „Credencial, por favor“ lautet ihre Bitte, mit der sie
mich nett darauf aufmerksam macht, dass ich ihr meinen
Pilgerpass vorzeigen muss. Nach einem prüfenden Blick muß
ich außerdem noch meinen Personalausweis vorzeigen, denn
bei jungfräulichen Credencials wird bei der ersten
Übernachtung die Identität des Pilgers anhand des
Personalausweises überprüft. Heilfroh, die Passkontrolle
ohne Erklärungsnöte überstanden zu haben erhalte ich von
der netten Spanierin meinen ersten Stempel und bekomme
eine exklusive Herbergsführung, bei der mir alle zur
Verfügung stehenden Räumlichkeiten gezeigt werden. In dem
Schlafsaal mit 26 Betten habe ich freie Auswahl, denn ich bin
der erste Gast am heutigen Tage. Ich belege ein Bett direkt
am Fenster, gehe duschen und lege mich in meinen
Schlafsack um mich von den Strapazen des ersten Tages ein
wenig zu erholen und die Geschehnisse des Tages Revue
passieren zu lassen. Es dauert nicht lange und ich falle in
einen tiefen Schlaf.
i: Das Credencial, zu Deutsch Pilgerpass oder Pilgerausweis
genannt, weist den Pilger auf dem Jakobsweg offiziell als
Pilger aus. Nur gegen Vorlage des Credencial erhalten
Pilger eine Übernachtungsmöglichkeit in öffentlichen oder
kirchlichen Herbergen. Beim Vorlegen des Credencial an
den Herbergsbetrieben wird ein Stempel in den Ausweis
gestempelt. Der Credencial muss im Pilgerbüro von
Santiago de Compostela vorgelegt werden um dort die
offizielle Pilgerurkunde, die Compostela, zu erhalten.
Der Pilgerausweis kann zu Beginn der Pilgerschaft in St.
Jean Pied-de-Port ausgestellt werden. Es gibt auch auf dem
Weg verschiedene Pfarrämter und Herbergsbetriebe, an
denen ein Credencial erhältlich ist. Es ist jedoch
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empfehlenswert, sich den Credencial bereits im Vorfeld zu
besorgen, sollte man seine Pilgerreise nicht in St. Jean Piedde-Port beginnen. Anlaufstellen in Deutschland sind hier die
Deutsche Sankt Jakobusgesellschaft in Aachen und die
Jakobusfreunde Paderborn.
www.jakobusfreunde-paderborn.eu
www.deutsche-jakobus-gesellschaft.de
(Stand April 2016)
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Der zweite Tag – Villavante nach Valdeviejas
Gegen sechs Uhr morgens wache ich gut erholt auf. Den
Schlafsaal teile ich mir nun doch noch mit 5 anderen Pilgern,
die am späten Nachmittag des Vortages in die Albergue Santa
Lucia eingecheckt haben. Zu meiner Überraschung sprechen
fast alle Mitbewohner Deutsch. Nur Svetlana aus der
Tschechei ist der deutschen Sprache nicht mächtig. Mir
gegenüber hat Wolfgang sein Bett bezogen. Mit ihm habe ich
mich vor dem Schlafen gehen noch ein wenig ausgetauscht.
Er ist Ende März in St. Jean Pied-de-Port gestartet, dem
eigentlichen Ausgangspunkt des Camino Francés, rund 500
Kilometer Weg weiter östlich, am französischen Fuße der
Pyrenäen. Nach einer Katzenwäsche packe ich meine sieben
Sachen zusammen und sammle meine teils noch feuchte
Kleidung von der Wäscheleine im Innenhof der Herberge ein.
Die milde Nachmittagssonne reichte gestern nicht aus, um die
Wäsche komplett zu trocknen. So binde ich die feuchten
Socken und das Shirt außen am Rucksack fest. Nachdem das
Tageslicht die Dunkelheit besiegt hat erstrahlt der kleine
Dorfplatz vor dem Refugio in gleißendem Sonnenlicht. Was
für ein wundervoller Frühlingsmorgen!
Mein heutiges Pilgerziel heißt Valdeviejas. Ein kleiner
verschlafener Ort kurz hinter dem Ortsausgang von Astorga.
Mit Wolfgang hatte ich vereinbart, dass wir uns dort am
Abend treffen. Unser Pilgerführer spricht von einer einfachen
„Albergue de Peregrinos Ecco Homo“ mit kleinen
Schlafräumen, die zwischen 2 und 4 Betten vorhalten. So war
klar, dass heute rund 25 Kilometer Weg vor mir liegen.
Nach gut einer Stunde erreiche ich das Zentrum von Hospital
de Orbigo und bleibe ehrfürchtig vor der 20-bogigen
historischen Brücke stehen, die seit nunmehr 900 Jahren
diesen Ort zu einem ganz besonderen macht. Im 11.
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Jahrhundert wurden ihre Pfeiler auf römischen Fundamenten
errichtet. Sie ist mit etwa 300 Metern Länge die längste
Brücke am Jakobsweg und hier, in Hospital de Orbigo, finden
jedes Jahr zum ersten Juniwochenende die ´Justas
Medievales´ statt. Mittelalterliche Ritterspiele, die an den
´Passo honroso´ erinnern. Ein Ritter Namens Suero de
Quineros rief im Heiligen Jahr 1434 den Lanzenkampf gegen
jeden über die Brücke kommenden Ritter aus, um sich mit der
mutigen Tat von einer Halsfessel zu befreien, die er sich
selber jeden Donnerstag als Zeichen seiner unglücklichen
Liebe zu einer Dame anlegte. Mit seinen neun Genossen
besiegte Quineros über 1100 fremde Ritter, die über die
Brücke geeilt kamen. Damit befreite er sich erfolgreich von
seiner Liebesfessel. (frei nach Cordula Rabe, Spanischer
Jakobsweg, Bergverlag Rother)
Brücke in Hospital de Orbigo
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Beim Überqueren der Brücke bekomme ich einen Eindruck
davon, wie sich unsere Mobilität in den letzten Jahrhunderten
vereinfacht haben muss. Dicke Pflastersteine mit tiefen
Furchen dazwischen erinnern bei jedem Schritt daran, dass
Wege und Pfade früher viel unebener und schwerer zu
beschreiten waren. Kopfsteinpflaster wie hier war da wohl
schon der pure Luxus. Außerhalb der Städte gab es meist nur
plattgetrampelte Wege oder morastige Matschpisten, die
alles andere als leicht zu bewältigen waren. Wie leicht es der
Pilger der Neuzeit doch heute hat! Links neben der Brücke
blicke ich auf das weitläufige Feld auf dem alljährlich die
Ritterspiele stattfinden. Heute ist von den historischen
Spielen nichts auszumachen. Der Lanzenkampf spielt sich nur
in meiner Phantasie ab und lässt mich einen Moment
regungslos an der Brüstung der Mauer stehen und auf die
Flußauen herabblicken.
Nachdem ich den bildhübschen aber an diesem
Sonntagmorgen noch schlafenden Ort durchquert habe
pausiere ich an einem Brunnen, dessen Umrandung mir als
Sitzgelegenheit dient und entledige mich meines Pullovers,
den ich in der früh noch unter die Jacke gezogen habe. Da
kommen mir zwei bekannte Gesichter auf der Straße
entgegen. Svetlana und Sonja, die ebenfalls in Villavante
übernachtet haben. Die beiden sind, so wie ich, auf der Suche
nach einer Bar, die Frühstück anbietet. Wir beschließen bis
zum nächsten Ort gemeinsam zu wandern. In Villares de
Orbigo werden wir fündig. In einem wohnlich ausgestatteten
Gastraum bestellen wir Café con Leche, Sandwichtoast mit
Schinken und Kartoffel-Tortilla. Das Frühstück ist wunderbar.
Und während wir drei uns die Köstlichkeiten des Hauses
schmecken lassen unterhalten wir uns über unsere Motive,
unsere bisherigen Erfahrungen als Pilger (die bei mir
zugegebenermaßen bislang nach erst einem Tag recht dürftig
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ausfallen) und unsere Herkunft. „Ich komme aus Köln“ gebe
ich den beiden zu erkennen. „Ah, aus Köln“ erwidert Sonja.
„Da ist noch jemand aus Köln unterwegs. Rosi, wir haben sie
vor ein paar Tagen zuletzt angetroffen. Vielleicht siehst du sie
ja irgendwann?“ Mag sein, denke ich. Wäre schön, jemanden
aus meiner Heimatstadt anzutreffen. Aber bei dem ganzen
Pilgervolk die eine Person zu finden ist wohl in etwa so, wie
eine Stecknadel im Heuhaufen zu suchen. Naja, mal sehen.
Vielleicht habe ich ja Glück?
Eine gute Stunde später verlassen wir die Bar. Es liegen rund
11 Kilometer Feldweg vor uns, bis wir die nächste Stadt
erreichen, sieht man einmal von dem verschlafenen Nest
Santibanez de Valdeiglesias ab, das neben ein paar
Wohnhäusern und natürlich einer Kirche nichts Aufregendes
zu bieten hat. Auf dem morastigen Abschnitt, recht flach doch
dafür stetig bergan, hänge ich meine Begleiterinnen schnell
ab und marschiere für ein paar Kilometer abseits von
Straßenlärm, Stadt- und Dorfhektik alleine weiter. Erstmals
geht es nun auf meinem Wanderweg wirklich durch die
Natur. Keine Pflastersteine, keine betonierten Wege, kein
Asphalt. Auch keine Häuser in Sicht. Einfach Natur, der Weg
und ich. Nach einigen Kilometern öffnet sich der Wald zu
einer freien Hochebene mit Äckern und Feldern links und
rechts des Weges. In der Ferne, ein paar hundert Meter
voraus, entdecke ich plötzlich einen kleinen Stand an einer
Wüstung. Ich vermute einen windigen Geschäftsmann, der
hier oben in der Einsamkeit die Gunst der Stunde nutzt, um
mit dem Durst und Hunger von vorbeieilenden Pilgern Kasse
zu machen. Doch meine Sinne täuschen mich. Ich treffe auf
David, einen bunten Paradiesvogel, der hier oben den Einstieg
in den Ausstieg gefunden hat und eine Pilgerbar mit
zahlreichen Köstlichkeiten anbietet, die er den Pilgern gratis,
oder gegen Zahlung einer freiwilligen ´Donativo´ (Spende), zur
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Verfügung stellt. Seine kleine Bar, ein Verschlag mit Dach, ist
kaum größer als ein Küchentisch und bis zum Überlaufen
gefüllt. Säfte, Früchte, Wasser, Kaffee, Nüsse, etwas Brot und
Kekse lassen keine Wünsche offen. Auf einer kleinen
Holzbank, die David mitten neben dem Feldweg geparkt hat
setze ich mich hin, möchte mit David ins Gespräch kommen,
mehr über ihn erfahren. Seine Geschichte ist so fantastisch,
dass ich sie zunächst gar nicht glauben kann. Doch nach und
nach schlägt mein Unglaube in die pure Begeisterung für
diesen Menschen um. Laut seiner Erzählung lebt er seit 6
Jahren hier oben. Alle 4 Jahreszeiten macht er durch, täglich
seine kleine Pilgerbar betreibend um den Vorbeikommenden
etwas Gutes zu tun, sie zu empfangen, zu beköstigen und für
den noch anstrengenden Weg nach Santiago zu stärken.
Seine Bleibe, ein noch halbwegs intakter Raum in der
großflächigen Wüstung dient ihm als Wohnung. Kein Strom,
kein fließendes Wasser. Unter einer mit Tarpe abgedeckten
Ecke hinter der hohen Mauer des ehemaligen Gehöfts hat er
sogar Schlafstellen für Pilger eingerichtet, die bei ihm
übernachten möchten. ´Outdoor´ versteht sich. Geld bedeute
ihm nichts, sagt er. Die Herzlichkeit der Menschen auf dem
Weg sei ihm der viel größere Lohn. Geld verderbe die
Menschen, mache sie schlecht und böswillig. Früher habe er
einen Job gehabt und gut Geld verdient, bis er gemerkt hat,
dass er nicht nur seine Zeit, sondern auch seine Seele damit
verkauft habe. Es gehe ihm sehr gut hier oben. Eine Vielzahl
der angebotenen Sachen von seiner Pilgerbar bekomme er
von der Kirche gestiftet oder der Supermarkt im nächsten Ort
spendet ihm Obst und andere Kleinigkeiten. Der Rest wird
von den Spenden der Pilger finanziert, ganz uneigennützig. Im
Sommer hat er gut zu tun, im Winter treffe er an manchen
Tagen nur einen Pilger an, manchmal auch gar keinen. David
fasziniert mich dermaßen, dass ich eine geschlagene Stunde
auf seiner Bank sitzen bleibe und mich mit ihm über Gott und
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die Welt unterhalte. Ich will gerade aufbrechen, da erreichen
Svetlana und Sonja auch die Oase des Paradiesvogels. Eine
weitere Erfrischung und ein paar Erinnerungsfotos später
brechen wir gemeinsam auf, dem gelben Pfeil weiter in
Richtung Santiago folgend.
Steinernes Wegkreuz von Santo Toribo
Wenige hundert Meter später erreichen wir den Bergrücken,
an dem das steinerne Kreuz des Santo Toribo steht. Von hier
aus hat man einen wundervollen Ausblick auf die Tiefebene,
in der Astorga mit seiner Kathedrale und dem ein wenig wie
im Märchen anmutenden Gaudi-Palast eingebettet liegt. Den
recht steilen asphaltierten Hang herunter schreitend fällt uns
schon bald eine Auseinandersetzung zwischen einem Mann
und der ´Guardia Civil´, der spanischen Polizei, auf. Der Mann,
der wie ein Wegelagerer ausschaut und sich auch so
benimmt, hat sich am Wegesrand an einer Bank postiert.
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Einen Haufen Steine hat er sich auf der Sitzfläche
zurechtgelegt, ein jeder gerade so groß, dass er ihn mit einer
Hand fassen könnte um ihn den Gesetzeshütern entgegen zu
schleudern. Seiner rauen Stimme nach zu urteilen hat er die
Stimmbänder regelmäßig mit Alkoholika geölt, was auch dem
aktuellen Gemütszustand des Mannes anzumerken ist. Mit
wilden Gesten und nicht zu interpretierenden spanischen
Schimpfwörtern – so klingt es zumindest – signalisiert er den
Polizisten, dass diese sich ihm bloß nicht nähern sollten. Jedes
Mal, wenn die Ordnungshüter einen Schritt nach vorne setzen
und die virtuelle Sicherheitslinie des Wegelagerers
überschreiten, nimmt dieser einen der Steine in seine rechte
Hand und droht mit einem Feuerwerk verbaler Tiraden, das
Wurfgeschoss in Richtung der Beamten abzufeuern. Die
Polizisten scheinen hilflos, denn nach jedem Schritt, den sie
nach vorne setzen, folgend zwei Schritte Rückwärts.
Wir verlangsamen unsere Schrittfrequenz, bis wir in sicherer
Entfernung kurz stehen bleiben um die Situation besser zu
beurteilen. Was tun? Hierbleiben und dem Schauspiel
zusehen, bis die Situation eskaliert oder sich durch das
Eingreifen der Polizei entspannt? Oder sollen wir es wagen in
Tuchfühlung an dem offensichtlich stark betrunkenen Mann
vorbei zu gehen? Als ob ich meine Frage laut gestellt hätte
dreht sich der Trunkenbold plötzlich um, schaut uns kurz an
und ruft uns in der Manier und Stimmlage eines vollbärtigen
Seeräuberkapitäns „PEREGRINOS! VENGA, VENGA!“ entgegen
und winkt uns mit auffordernden Gesten an ihm vorbei.
So ist der Weg frei nach San Justo de la Vega, dem Vorort von
Astorga, an dem sich die Wege von mir und den beiden
Pilgerinnen wieder trennen. Sie biegen in ein Geschäft ab,
während ich unbeirrt dem Straßenverlauf durch das Dorf
folge. Kurz vor Astorga ist der ursprüngliche Wegverlauf
plötzlich durch zwei hohe Zäune getrennt, denn hier verläuft
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ein Schienenstrang, der scheinbar erst in den letzten Jahren
verlegt wurde. Die Straße lässt vermuten, dass der Weg hier
früher einmal durchgängig verlaufen sein muss. Jetzt zeigen
die gelben Pfeile nach links, führen durch eine Seitenstraße zu
einem Metallgerippe, das scheinbar einzig und alleine für
Pilger wie mich errichtet wurde. Denn außer den
Treppenstufen und der dadurch erreichbaren Verbindung des
Fußweges auf der anderen Seite der Schienen scheint dieses
Brückenbauwerk keine andere Bewandnis zu haben.
Blick auf Astorga
Auf der obersten Ebene halte ich einen Moment inne, schaue
auf das Panorama der Stadt, die mit den Stadtmauern und
dem vielen sichtbaren Beton wie eine Festung wirkt. Eine
Festung, die die Menschen in der Stadt schützen soll, ihnen
Sicherheit und Rückzugsort bieten soll. Keine Festung, wie
man sie sich etwa in einem Gefängnis vorstellen würde…
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Urlaub an der Mauer
Zu Beginn der 1980er Jahre. Mit meiner Mutter
besuche ich in den Sommerferien eine Bekannte
im Oberfränkischen Hof. Wir sind für ein paar
Tage in den Urlaub eingeladen. Sie besitzt ein
großes Grundstück mit einem alten
Backsteinhaus, das geräumig genug ist, uns für
einige Tage aufzunehmen. Das Anwesen befindet
sich direkt an der Zonengrenze. Der Mauer, die
Westdeutschland von der Deutschen
Demokratischen Republik abtrennt, kann man
sich auf westdeutscher Seite an manchen Stellen
bis auf wenige Meter nähern. Der Todesstreifen
liegt dahinter. Minenfelder, Selbstschussanlagen,
Stacheldrahtzäune, elektronische Sicherungen.
Zusätzlich stehen alle paar hundert Meter
baumhohe Wachtürme, ein jeder besetzt mit
bewaffneten Grenzsoldaten der Staatssicherheit.
Es gilt Schießbefehl. Versucht ein Staatsbürger
der DDR, die Grenzanlagen zu überwinden, muss
er damit rechnen, von einem Scharfschützen eine
Kugel in den Körper gejagt zu bekommen. Auf der
westdeutschen Seite wirkt die Mauer wie die
Abgrenzung eines Gefängnisses. Auf der anderen
Seite ist es ein Gefängnis. Millionen Bürger
werden daran gehindert das eigene Land zu
verlassen. Notfalls mit Waffengewalt.
Vieles davon verstehe ich damals nicht. Ich bin
gerade einmal 8 oder 9 Jahre alt, als ich in dem
großen Garten des Anwesens versteckte Winkel
entdecke und auskundschafte. In meiner
Erinnerung kommt mir ein Paradiesgarten zum
Vorschein. Hohes Gras, verwucherte Ecken. Dann
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wieder ein gepflegtes Rasenstück auf dem man
Fußball spielen kann. „Geht nicht hinter die rotweiß markierten Pfeiler“ sagt unsere Bekannte.
„Dahinter könnten schlimmstenfalls Minen
liegen“ lautet ihre Warnung. Mitten im
Paradiesgarten beginnt die Gefahr. An einem der
rot-weißen Pfeiler stehend schaue ich auf einen
rauschenden, aber nur mäßig Wasser führenden
Wildbach, der sich wenige Meter hinter den
Pfeilern durch das Grundstück unserer Bekannten
schlängelt. Dahinter ein Dickicht aus Bäumen
und sonstigem Wildwuchs, das die Sicht auf die
graue, unmenschliche Mauer an dieser Stelle
verdeckt. Ich wünsche mir so sehr, aus Neugier
einmal darüber zu schauen, wie das Leben auf der
anderen Seite aussieht. Wie die Menschen leben,
wie die Häuser, die Straßen und die Landschaft
auf mich wirken. Doch der Wunsch bleibt mir
verwehrt. Keine Chance, das Leben der Anderen,
die die gleiche Sprache sprechen, zu begutachten.
Einige Tage später fahren wir mit dem Zug wieder
zurück nach Hause. Unser Urlaub ist vorüber. Die
Mauer lassen wir hinter uns. Und schon bald
verblassen die Erinnerungen an das Unwirkliche.
Ein Privileg, das nur wir hatten. Die Bürger
westlich der Mauer. Für die ostdeutsche
Bevölkerung blieb sie präsent. Auch, wenn sie nur
von den wenigsten wirklich gesehen wurde. Im
Osten gab es eine Sperrzone. In rund 5 Kilometer
Abstand zur Grenze richtete die DDR ein
Sperrgebiet ein. Niemand, mal abgesehen von den
Grenzschutzsoldaten der Armee, durfte sich in der
Sperrzone aufhalten. Eine Maßnahme, die zur
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Absicherung und zur Vermeidung der deutschdeutschen Flucht von der Staatssicherheit der
DDR getroffen wurde.
Die Mauer war das wohl symbolträchtigste
Bauwerk, welches die Abschottung des
Kommunismus zur westlichen, kapitalistischen
Welt verbildlichte.
Wenig später habe ich den steilen Anstieg ins Zentrum von
Astorga bewältigt. Die Bauwerke wirken ungewohnt modern.
Geradezu wie hergerichtet für die Heerscharen an Touristen,
die sich sprichwörtlich die Klinke in die Hand drücken.
Vielleicht einer der Gründe, warum ich mit der eigentlich
schönen Stadt nicht so richtig warm werden will. Dem GaudiPalast widme ich ein paar Minuten, ein, zwei Fotos, dann
weiter. Die Kathedrale bindet mich schon etwas länger, lässt
mich über den Detailreichtum des Portals eine ganze Weile
staunen. Zwei, drei Fotos, dann weiter. Ein wenig bedrängt
fühle ich mich von dem belebten Marktplatz, auf dem viele
der Tische, die an den Straßencafés stehen, von Touristen mit
schweren Spiegelreflexkameras um den Hals hängend, belegt
sind. Trotz meines intensiven Röntgenblicks kann ich an den
Tischen niemanden ausmachen, den ich in den letzten
anderthalb Tagen unterwegs als Pilger identifiziert habe. Auf
einen Café con Leche habe ich jetzt auch keine Lust und das
Essen möchte ich mir bis zum Abend in der Herberge
aufsparen. An der Straße befindet sich ein Souvenirladen.
Neben Postkarten, Ansteck-Pins, Rosenkränzen, AstorgaReliefs und anderem Krimskrams steht auch ein
Schirmständer mit hölzernen Pilgerstäben neben der
Eingangstür. Ein guter Moment! Für morgen steht der Aufstieg
in die Montes de León bevor und da ich sowieso geplant
hatte, hier vor Ort eine entsprechende Pilger-Gehhilfe zu
kaufen, nehme ich nach kurzer Begutachtung einen der Stäbe
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mit. Ich schaue mich noch nach einer passenden
Kopfbedeckung um. Ein Hut oder ähnliches wollte ich mir
auch hier in Spanien kaufen, da ich zu Hause nichts Passendes
gefunden habe. Lediglich eine Sturmhaube habe ich im
Rucksack, die ich als windschützende Kopfbedeckung tragen
kann und ebenso gut als Schal, wenn es mal kalt sein sollte.
Doch die nette Verkäuferin muss passen. Keine Hüte im
Angebot!
Nach dem Einkauf wandere ich weiter, mache mich auf den
Weg, die letzten rund zweieinhalb Kilometer bis Valdeviejas
abzuspulen. Die Hospitalera der kleinen Unterkunft, die von
einem Nachbarschaftsverein betrieben wird, empfängt mich
freundlich. Die überschaubare Einrichtung ist schnell erklärt,
ein Bett ausgewählt und der Credencial gestempelt. Dann das
übliche Programm, das ich bereits gestern Nachmittag
erfolgreich absolviert hatte. Handwäsche, Duschen, in dem
kleinen Gemeinschaftsraum eine Suppe und einen kleinen
Snack, Tagebuch schreiben. Wolfgang ist noch nicht da. Ich
lege mich erst mal hin, etwas dösen und den zweiten Tag
Revue passieren lassen. Es dauert nicht lange und ich nicke
ein.
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