Aufbruch ins Gewissen – Eine Reise auf dem Jakobsweg -1- -2- Jürgen Schiefer Aufbruch ins Gewissen Eine Reise auf dem Jakobsweg Gedanken über die Freiheit des Pilgerns, die Freiheit in unseren Köpfen und in unserer Gesellschaft -3- © 2016 Jürgen Schiefer Herstellung und Verlag: (folgt) Coverfotografie: © 2015 Jürgen Schiefer, Kirche Foncébadon Umschlaggestaltung: © 2016 Jürgen Schiefer ISBN: (folgt) Alle Fotografien im Buch stammen von der Pilgerreise des Autors auf dem Camino Francés im April 2015 und sind urheberrechtlich geschützt. -4- Vorwort des Autors Die in diesem Buch geschilderten Begegnungen, Erlebnisse und Situationen sind wahrheitsgemäß und authentisch. Sie geben meine Erlebnisse und Erfahrungen der Pilgerreise im April 2015 auf dem Camino Francés, von León (Kastilien) bis nach Santiago de Compostela (Galizien) wieder. Lediglich die Namen der interagierenden Personen wurden verändert, um deren Persönlichkeitsrechte zu wahren. -5- Inhalt - 8 Prolog - 12 Erster Tag: León nach Villavante - 9 Deutschland im Februar 2016 26 Zweiter Tag: Villavante nach Valdeviejas o Urlaub an der Mauer 38 Dritter Tag: Valdeviejas nach Rabanal Vierter Tag: Rabanal nach Molinaseca o Der Fall des Eisernen Vorhangs o Besuch in Theresienstadt - Fünfter Tag: Molinaseca nach Pieros - Sechster Tag: Pieros nach Ruitelán - Achter Tag: Alto de Poyo nach Sarria - Siebter Tag: Von Ruitelán zum Alto de Poyo Neunter Tag: Sarria nach Mercadoiro Zehnter Tag: Mercadoiro nach San Xulian Elfter Tag: San Xulian nach Boente Zwölfter Tag: Boente nach Salceda Dreizehnter Tag: Salceda nach Lavacolla Vierzehnter Tag: Lavacolla nach Santiago Santiago de Compostela Die Schokoladenseite der Rückreise -6- - Pilgern – und danach? - Epilog - Freiheit – Wunschdenken? -7- Prolog Nun stehe ich da! In einer Bankreihe der Iglesia Santa Maria a Real d´OCebreiro. Den Schlapphut, den ich mir bei der Rentnerin in El Ganso gekauft habe, lege ich auf der Kirchenbank ab und halte bedächtig meinen Pilgerstab fest in der Hand. Seit Jahren habe ich keine Kirche mehr betreten, um mich bewusst der Ruhe und Stille eines solch spirituellen Ortes hinzugeben. Meine Blicke schweifen durch den Raum. Meine Sinne saugen die andächtige Stimmung des wunderbaren Gesangs der hochtönigen Frauenstimme, die aus den Lautsprechern das gesamte Kirchenschiff erfüllt, restlos auf. Ein Gefühl der Trauer durchfährt mich. Den Pilgerweg, den ich beschreite, gehe ich in erster Linie für mich. Doch ein stückweit gehe ich ihn auch für eine gute Freundin. Sie ist krank und ich weiß nicht, ob ich sie noch einmal sehen kann, um ihr von den Erlebnissen und Erfahrungen, die mir der Weg bereitet hat, zu berichten. Mir schießen die Tränen in die Augen und ich bin froh, eine Person an meiner Seite zu haben, die mir Trost spenden kann. Im Seitenschiff der Kirche stehen zahllose Kerzen, die von den Kirchenbesuchern entzündet werden. Verbunden mit dem inneren Wunsch, die hier, an diesem bedeutenden Ort, entzündeten Lichter mögen meiner Familie und der erkrankten Freundin helfen, stelle ich zwei weitere Kerzen dazu. Nun stehe ich da. Und die Tränen fließen. ….. Ach, würden wir doch nur alle die Freiheit besitzen, dort hinzugehen, wo wir es für richtig halten. -8- Deutschland im Februar 2016 Es ist Freitagabend, der 19. Februar 2016. Der Fernseher läuft – nebenbei. Die Nachrichten zeigen einen Beitrag über den bisher für fast Jedermann unbekannten Ort Clausnitz in Sachsen. Ein 800-Seelen-Dorf im Erzgebirge. „Wir sind das Volk“ skandieren rund 100 aufgebrachte Einwohner. Senioren mit erbitterten Blicken, kahlköpfige Mitt-Dreißiger mit fragwürdigen Tätowierungen an den sichtbaren Körperstellen. Aus der Ferne nähert sich ein Bus, besetzt mit 38 Schutzsuchenden. Die meisten von ihnen sind Frauen und Kinder. Doch die Asylgegner haben vorgesorgt. Die Zufahrtsstraßen zu dem Ort sind blockiert. Es dauert, bis die Straßensperren aus dem Weg geräumt sind, der Bus seinen Weg zur Einrichtung fortsetzen kann, in der die Flüchtlinge untergebracht werden sollen. Doch an der Einrichtung eskaliert die Situation. Statt einem ersten Zufluchtsort erreichen die Menschen, die in den letzten Wochen und Monaten Gewalt, Terror, Stacheldrahtzäunen und Vertreibung ausgesetzt waren, eine wütende Menge, die ihnen klarmacht, dass sie auch hier unerwünscht sind. Verängstigte Gesichter. Tränen. Kinder, die die Welt nicht mehr verstehen. Auf der anderen Seite: „Wir sind das Volk! Wir sind das Volk! Widerstand! Widerstand!“ „Refugees welcome“ nicht in Clausnitz! 5 Tage vorher: Maarat al-Numan. Im Norden von Syrien. 4 Raketen treffen ein Krankenhaus, das von Ärzte ohne Grenzen unterstützt wird. Wo zuvor noch verletzte, kranke und hilfebedürftige Menschen Hilfe suchten, steht jetzt kein Stein mehr auf dem Anderen. Hilfe für Menschen. -9- Weggebombt. Ausgelöscht. Nach den Medien zu Folge war das Krankenhaus Anlaufstelle für rund 40000 Menschen aus Maarat al-Numan und der Umgebung. Jetzt ist es nicht mehr da. Dem Erdboden gleichgemacht, wie so vieles in den letzten Monaten in dem von Gewalt und Terror heimgesuchten Land. Die Kriegspropaganda funktioniert wie immer wunderbar. Jede Partei weist eine Schuld von sich zurück. Schuld haben natürlich immer die Anderen, die politischen Gegner. Den Opfern, den Überlebenden des Terrors und der Zivilbevölkerung dürfte es ohnehin egal sein. Sie wollen nur eines: Frieden und ein Leben in Sicherheit und ohne Angst führen. Am selben Abend: Ich klicke mich durch das soziale Netzwerk, in dem ich angemeldet bin. Ich gerate auf die Seite einer mir unbekannten jungen Frau aus Bayern. Sie hat ein Video verlinkt. Eine Hilfsorganisation mit dem Namen „IsraAid“ hat sich am Strand der griechischen Insel Kos postiert. Sie warten auf Schlauchboote, auf denen Kriegsflüchtlinge in halsbrecherischer Manier über die Ägäis geschippert kommen. Die Bilder sind schockierend. Erschöpfte Menschen. Apathisch. Weinende Kinder. Alte. Gestandene Männer, die ihre Tränen nicht zurückhalten können. Ein Boot der Hilfsorganisation nähert sich einem Schlauchboot. Eine junge Frau mit Schwimmweste bekleidet wagt den Sprung ins Hilfsboot. Zu früh, sie rutscht ab und fällt in die wabernde See. Schreie. Todesangst. Die Augen weit geöffnet. Ein Mann im Hilfsboot streckt die Hand nach ihr aus. „Relax, Relax, everything is okay!“ sind seine Worte, um die Frau von ihrer Panik ein wenig zu befreien. Er kann sie ins Boot ziehen. Währenddessen schöpfen die Männer im Schlauchboot unentwegt Meerwasser in die See - 10 - zurück, das sich durch die hohen Wellen ständig in das überfüllte Flüchtlingsboot ergießt. Das überladene Boot ist dem Untergang geweiht. Friedhof Ägäis. Dem Tod durch Verfolgung, Folter und den brutalsten Mordpraktiken im eigenen Land entkommen um kurz vor dem Ziel politisches Asyl doch noch zu verrecken? Doch diese Menschen haben Glück, dass ihnen IsraAid zu Hilfe eilt. Tausenden anderen droht der Tod durch Ertrinken. Kurz vor dem sicheren Hafen Europa. Sie riskieren ihr Leben. Bewusst! Das Risiko des Untergangs während der Ägäis-Querung im überfüllten Schlauchboot ist ihnen nicht fremd. Doch es ist ihr einzige Chance, das Territorium der EU zu erreichen, indem sie – auf dem Papier – als Kriegsflüchtlinge und politisch Verfolgte das uneingeschränkte Recht auf Asyl haben. Der Landweg ist ausgeschlossen! Nahezu hermetisch abgeriegelt. Innere Freiheit – äußere Sicherheit. - 11 - Der erste Tag – León nach Villavante Samstag, 18. April 2015. Nun stehe ich da, am Busbahnhof der kastilischen Metropole León. Es ist noch dunkel und nachdem sich der Fernbus, aus dem ich hier als einziger Passagier ausgestiegen bin, zurück auf den Weg in Richtung Autobahn macht, bin ich weit und breit der einzige Passant im Dunkel der Nacht. Meinen Rucksack mit rund 9 Kilo Gepäck geschultert, schreite ich kurze Zeit später über den Rio Bernesga und die Av. Ordono II in Richtung Plaza Major. Es sind die ersten Schritte, die ich auf spanischen Boden setze, wenn man einmal von den paar Metern absieht, die ich am Aeroporto Adolfo Suárez nach meiner Ankunft gestern Abend getätigt habe. Die nächsten zwei Wochen werden vom Laufen dominiert werden. Ich habe rund 320 Kilometer Pilgerweg vor mir. Von León aus wandere ich über Astorga, die Montes de León bis nach Ponferrada. Weiter über den O´Cebreiro-Pass nach Sarria und dann die letzten 100 Kilometer bis ins galizische Santiago de Compostela. Diese „Reise“ trete ich freiwillig an. Schon seit Monaten habe ich mich gedanklich auf den Marsch vorbereitet, gefreut, dem Start entgegengefiebert. Nun stehe ich da! Oder besser gesagt, ich laufe da. An den Füßen habe ich noch mein Paar Wohlfühlschuhe, die ich auf dem Flug und während der Wartezeit am Flughafen anhatte, um nicht gleich mit schwitzenden Füßen in klobigen Wanderschuhen anzukommen. Doch bevor ich die erste Tagesetappe in Angriff nehme ist sowieso noch ein ausgiebiges Frühstück und eine frühmorgendliche Stadtbesichtigung von León geplant. Die Busfahrt hat mich ganz schön gerädert. Viel Schlaf war in den durchaus bequemen Polstersitzen des Reisebusses nicht zu finden. Wahrscheinlich lag es an meiner Aufgeregtheit. - 12 - Während ich die Av. Ordono II entlang schlendere kommen mir nach und nach die ersten Menschen entgegen. Gut gelaunt sind es meist junge Pärchen, die eng umschlungen und amüsiert redend in die entgegengesetzte Richtung laufen. Ein wenig fehl am Platz komme ich mir nun doch vor, mit Wanderhose, weiß-roter Sportjacke und meinem grünen Trekkingrucksack. Es ist halb fünf als ich kurz vor dem Vorplatz der Kathedrale, an deren Südseite sich auch der Plaza Major anschließt, lautes Treiben und ausgelassene Stimmung wahrnehme. Erst jetzt wird mir bewusst, dass heute Samstag ist und die Jugend und andere Junggebliebene offensichtlich gerade dabei sind, die Partymeile der Stadt zu verlassen und den Heimweg anzutreten. Es dauert nicht lange, bis mich die erste junge Spanierin entlarvt hat und mir mit angetrunkener Stimme ein „Hola Peregrino, Buen Camino“ mehr spöttisch als nett herüberwirft. Auch wenn man Spanien nachsagt, dass allerorts ein buntes Nachtleben herrscht, so war es wohl der Euphorie geschuldet davon auszugehen, dass ich morgens um halb 5 auf ein geöffnetes Café stoße, in dem mir Brötchen und Kaffee serviert werden. Möglicherweise hätte ich auf dem Plaza Major sogar Glück gehabt, doch mit meiner Pilgermontur traue ich mich nun doch nicht, die Partymeile und die dort noch grölenden und feiernden Spanier aufzusuchen. Auf einer Bank, die auf dem großen Vorplatz der Kathedrale steht nehme ich erst einmal Platz und mache mir Gedanken über die bevorstehende Zeit auf dem Jakobsweg und dem, was mich wohl erwarten wird? In Gedanken versunken merke ich, wie nach und nach die Kälte der Nacht durch meine Kleidung dringt und es meinen ohnehin schon müden Körper zu frösteln beginnt. Bis zum Sonnenaufgang wird es wohl noch fast 2 Stunden dauern. Und darauf, mir bereits am ersten Tag meiner Wanderung eine Erkältung wegen - 13 - Unterkühlung einzufangen, kann ich auch verzichten. Meine Planung, die ich in den letzten Wochen akribisch aufgestellt hatte, sah für den ersten Tag nur eine kurze Etappe von rund 20 Kilometern vor, um mich und meinen Körper an die Strapazen des Weges zu gewöhnen. Zwar hatte ich keine Unterkünfte gebucht und auch keine wirklich festen Etappenziele eingeplant. Die Tagesziele waren jedoch so gesteckt, dass ich die rund 320 Kilometer Jakobsweg in 13 Tagesmärschen gut bewältigen konnte. Doch nun, sitzend und frierend auf einer Bank in der Dunkelheit der Nacht vor der Kathedrale von León, war ich gedanklich gerade dabei, mich bereits vor meinem ersten offiziellen Schritt auf dem Camino Francés von der Planung der ersten Tagesetappe zu verabschieden. „Das geht ja gut los“ denke ich mir und nehme meine eigene Entscheidung, mit dem Vorhaben, die Stadt von León bei Tageslicht zu besichtigen, zu brechen, mit einem Schmunzeln auf den Lippen hin. Immer noch strömen lautstark die Partygänger über den Platz der Kathedrale, um sich vor dem Morgengrauen in Sicherheit zu bringen und die durchzechte Nacht zu beenden. Ich beschließe, nicht länger zu warten und zielgerichtet die ersten Kilometer des Caminos noch in der Dunkelheit abzuspulen. Santiago, ich komme! Auf geht’s! Doch zuvor gilt es noch, meine Füße auf den ersten Tagesmarsch vorzubereiten. Einige Meter abseits der Kathedrale finde ich – morgens um fünf – einen ruhigen Ort, an dem ich meinen Rucksack öffne, die leichten Sportschuhe an den Füßen gegen die klobigen Wanderschuhe tausche, mir vorher jedoch noch eine Portion Hirschtalg gönne, mit dem ich gegen Blasenbildung an Füßen und Zehen vorbeugen möchte. Die Senkel der Wanderschuhe fest geschnürt, gehe ich zurück zur Kathedrale und fühle mich fortan als Pilger. Für die nächsten 14 Tage „a pie“ (zu Fuß) auf dem Weg immer - 14 - gen Westen. Zwar kann ich nun mein Vorhaben, die imposanten Bauwerke der Stadt von innen zu betrachten nicht realisieren, aber der Anblick der historischen Mauern bei Dunkelheit, angestrahlt durch die großzügig verteilten Strahler und Lichtquellen, hat auch etwas ganz Besonderes. So erreiche ich nach wenigen hundert Metern die Basilika de San Isidoro und zücke zum ersten Mal meinen Fotoapparat, um das nicht allzu hohe, dafür umso breitere Bauwerk für künftige Erinnerungen festzuhalten. Für ein paar Minuten setze ich mich auf einen steinernen Pfeiler um die Atmosphäre aufzusaugen, den Zauber dieses Ortes zu spüren. Jetzt fällt mir auf, dass die Gesänge und Laute der Menschen, die eben noch den Vorplatz der Kathedrale beschallt haben, hier kaum noch zu hören sind. Wieder merke ich, dass ich die Nacht im Bus kaum Schlaf gefunden habe, denn die Müdigkeit gibt sich alle Mühe, erneut von meinem Körper Besitz zu ergreifen. Da hilft nur Bewegung. Ich erhebe mich von dem Pfeiler und schreite weiter, die Calle Renueva entlang, bis ich erneut einen großen Platz erreiche, auf dem ich das majestätisch wirkende Monasterio Hostal de San Marcos bewundern darf. Ein mittelalterlicher Prachtbau, der früher Pilgerherberge war, ist heute als Luxushotel hergerichtet und beherbergt die eher finanzkräftigen Besucher der kastilischen Stadt. Wohl eher weniger ein Ort, an dem die Pilger der Neuzeit absteigen dürften. Erneut beschließe ich, mich für einen Moment niederzulassen und dem Anblick dieses Bauwerks zu frönen. Eine antik wirkende Uhr auf dem Vorplatz zeigt an, dass es kurz vor sechs Uhr sind. Langsam aber sicher verschwinden die feiernden Menschen von der Straße, die sie jetzt an Autos, Lieferwagen und erste Radfahrer und Fußgänger freigeben, die auf dem Weg zur Arbeit sind. Ein paar Erinnerungsfotos, dann geht es weiter. - 15 - Monasterio Hostal de San Marcos in León Erneut führt mich eine Brücke über den Rio Bernesga, nun eher abseits von prunkvollen Prachtbauten entlang der Gleisanlagen in ein eher unschönes Geschäfts- und Häuserviertel von León. Schon gut noch in der Dunkelheit der Nacht hier entlang zu laufen. So konzentriere ich mich auf den Gehweg, dem gelben Pfeil folgend und darauf achtend, an den vielen Überquerungen der kleinen Seitenstraßen nicht von einem unachtsamen Autofahrer erwischt zu werden. So geht es weiter entlang der Hauptstraße, bis ich pünktlich mit dem Erscheinen der ersten Sonnenstrahlen die Ortschaft La Virgen del Camino erreicht habe. Es ist gegen 7 Uhr, als ich an der Fassade der modern wirkenden Kirche mit riesigem Betonpfeiler auf dem ein steinernes Kreuz montiert ist stehen bleibe und versuche, einen Blick auf die Jungfrau des Weges - 16 - zu erhaschen. Doch auch hier habe ich Pech. Die Türen sind noch fest verschlossen. So bleibt mir nichts anderes übrig, als ein Erinnerungsfoto der Fassade zu schießen und meinen Weg fortzusetzen. Wenige Meter hinter dem Ortsausgang von La Virgen del Camino treffe ich auf ein Wirrwarr von gelben Pfeilen auf dem bröckeligen Asphalt einer Seitenstraße, die hier zum Wirtschaftsweg wird. Vor dieser Stelle hat mein Reiseführer, dessen wichtige Seiten ich mir nur als Fotokopie mitgenommen habe um Gewicht zu sparen, gewarnt. Hier teilt sich der Weg in die Route entlang der vielbefahrenen Hauptstraße N-120 und die Alternativroute. Ländlich und verkehrsberuhigt geht es über ein paar kleine Kuhdörfer, bis sich der Jakobsweg in Hospital de Orbigo, rund 25 Kilometer westlich gelegen, wieder vereint. Für mich stand schon vorher fest, dass ich die Alternativroute wähle, da ich noch zu gut die Erzählungen unseres Pilgerkomikers in den Ohren habe, der den permanenten Verkehrsfluss und die beißenden Auto- und LKW-Abgase schon bald leid war, jedoch damals offensichtlich keine Möglichkeit sah, den Marsch entlang der Schnellstraße irgendwie zu umgehen. Das Wirrwarr an Pfeilen ist offensichtlich den konkurrierenden Restaurants und Herbergsbetrieben entlang der beiden Routen geschuldet. Jeder Pilger, der den anderen Weg wählt, ist ein potentiell verlorener Kunde. Auch das ist Camino. Der Kampf um den Gast, der Kampf um das Geld der pilgernden Menschen. Wenig später bin ich froh, endlich der Hektik des Großstadtlebens entflohen zu sein. Nach Flug, dem Aufenthalt am betriebsamen Flughafen in Madrid, der Busfahrt nach León und den ersten Stunden meines Daseins in der von Partygängern und zur Arbeit hastenden Menschen geprägten Stadt in den Häuser- und Geschäftsvierteln von León genieße ich die ersten Schritte durch die doch recht - 17 - karge, teils steppenartige Landschaft. Mir fällt auf, dass ich nun schon rund zweieinhalb Stunden unterwegs bin, bislang jedoch noch keine andere Pilgerseele zu Gesicht bekommen habe. Wo sind sie denn bloß alle, die Peregrinos und Peregrinas? Einzig und allein ein hektisch wirkender, in seinen Pilgerführer starrender Amerikaner, begegnet mir auf der Straße nach Chozas de Abacho. „Is this the right way?“ ruft er mir entgegen und ohne wirklich eine Antwort abzuwarten starrt er wieder in sein Büchlein. „Yes, I think so!“ rufe ich ihm entgegen. Doch seine Hektik und Unsicherheit verleitet ihn dazu, wieder umzukehren und offensichtlich eine seiner Meinung nach bessere Lösung für den Weg nach Santiago zu finden. Ich schaue auf den Asphalt, sehe einen gelben Pfeil, der den Weg nach Compostela kennzeichnet. „Just believe in the yellow signs“ denke ich mir, will es ihm noch hinterherrufen, doch da ist er schon umgekehrt und läuft nun zurück in Richtung León. Unbeirrt setze ich meinen Weg fort. Bereits hier auf den ersten Kilometern meiner Pilgerreise wird mir klar, dass es mehr oder weniger unnötig ist, eine Landkarte mitzuführen, solange man sich auf dem offiziell markierten Pilgerweg aufhält, denn die Markierung durch den gelben Pfeil ist fast allerorts eindeutig und kaum übersehbar angebracht. Meter um Meter, Schritt um Schritt setze ich einen Fuß vor den anderen um Chozas de Abacho zu erreichen und mich dort nach etwas essbarem umzusehen. Schließlich mußte ich notgedrungen das Frühstück in León ausfallen lassen und auch in La Virgen del Camino konnte ich in der Morgendämmerung kein Bistro, kein Geschäft ausmachen, das bereits seine Pforten geöffnet hatte. Am Ortseingang von Chozas de Abacho teilt sich der Weg wiederum. Ein gelber Pfeil nach rechts. Ein anderer nach links mit großen gelben Lettern darunter, die das Wort BAR signalisieren. - 18 - Glücklich und voller Hoffnung, eine geöffnete Tür, einen warmen Kaffee und etwas zu essen serviert zu bekommen, schlage ich den Weg ins Dorf ein. Hier, einige Kilometer abseits der Großstadt, scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Auf den Straßen ist es ruhig. Kein Mensch ist zu sehen. Im vermeintlichen Zentrum des Dorfs gelange ich auf eine Art Marktplatz. Zur rechten steht an einem der Gebäude eine Tür offen, davor eine Bank unter einer Veranda. Ein paar Tafeln neben der Türe weisen darauf hin, dass dies wohl die beworbene Bar sein muß, in der es die gewünschten Spezialitäten geben muss. Nur noch wenige Meter von der geöffneten Türe entfernt vernehme ich Stimmen und gute Laune. In der Bar sitzen an einem großen Holztisch mehrere Pilger, die sich bei Kaffee und einige von ihnen mit einem Snack in der Hand austauschen. Ich schreite zielstrebig zur Theke, werfe einen kurzen Blick auf die Tafeln, die als Preisschilder hinter dem netten Betreiber der Bar an der Wand hängen und bestelle: “Buenos dias Senór, tomo un café con leche y un Bocadillo Jamas, por favor!“ (Guten Morgen der Herr. Ich nehme einen Milchkaffee und ein Bocadillo mit Schinken, bitte!) „Perdon Senór, no Bocadillos. BlablaBla…“ Der darauffolgende Dialog verkommt schnell zum Monolog, denn der freundliche Barbesitzer hat meine paar Wörter Spanisch wohl so interpretiert, als könnte ich seiner Erzählung gut folgen. Nichts von dem! Meine Grundkenntnisse habe ich mir in den letzten Wochen über einen Smartphone-Sprachkurs angeeignet. Die paar Vokabeln reichen aus, um die Menschen freundlich anzusprechen, mir etwas zu trinken und zu essen zu bestellen und im Zweifelsfall nach dem Weg zu fragen. Mehr nicht! Lediglich seine Kernbotschaft, dass es leider keine Bocadillos gibt, nehme ich leidend zur Kenntnis und schaue ihn wohl etwas traurig an. „Café con Leche?“ fragt er - 19 - mich mehr bemitleidend als auffordernd, worauf ich ihm mit einem „si“ signalisiere, dass ich es mit meinem Kaffeedurst durchaus ernst meine. Eigentlich wäre mir jetzt zum Fluchen zumute, doch mehr glücklich als enttäuscht setze ich mich mit meinem frisch gebrühten Milchkaffee an einen freien Platz. Einige der Pilger sind gerade in Aufbruchstimmung und verlassen den Raum. Ein herzliches „Buen Camino!“ wird mehrfach von Pilger zu Pilger durch den Raum geworfen. Nach kurzer Zeit verbleibe ich alleine im Gastraum. Das nun folgende Schauspiel ist ebenso skurril wie wunderbar. Zwar verstehe ich von dem intensiven Gesprächsaustausch der nächsten Minuten kein Wort, die Szenen hätten jedoch in einem Spielfilm nicht besser dargestellt werden können. Der Gastgeber hat seinen Küchengehilfen damit beauftragt, den Bäcker im Ort aufzusuchen, um endlich die heiß begehrten Bocadillos zu holen, damit hungrige Pilger versorgt werden können. Doch wenige Minuten nachdem der Gehilfe die Bar verlassen hat kommt er zurück und teilt seinem Chef schulterzuckend mit, dass er erfolglos war (Ich vermute mal, dass er den Bäcker nicht angetroffen hat!?). Der Gastwirt stammelt einen Monolog vor sich hin, schaut mehrmals auf die große Wanduhr und erwähnt mindestens zehn mal das Wort Bocadillos in seinem Selbstgespräch. Es dauert nicht lange, da hält ein weißer Kastenwagen vor der Tür. Ein weiß gekleideter Mann steigt aus und bringt dem Gastwirt freudestrahlend eine große weiße Tüte. Das müssen die begehrten Bocadillos sein. Die Mine des Gastwirts wird abrupt freundlicher und auf ein kurzes Gespräch zwischen den beiden Spaniern hält der Mann mir strahlend ein riesiges Baguettebrot entgegen und fragt: “Bocadillo? Jamas?“ Auf seine Frage antworte ich kurz und knapp mit einem „si“ und bestelle mir dazu noch einen weiteren Café con Leche. - 20 - Nach der Stärkung und dem doppelten Milchkaffe setze ich voller Elan meinen Weg in Richtung Villar de Mazarife fort. Sehr weit ist es nicht mehr. Laut meinem kopierten Reiseführer sind es vielleicht noch 4 oder 5 Kilometer. Doch wir haben erst kurz nach 11 Uhr. Dabei hatte ich Villar de Mazarife als Etappenziel für den ersten Wandertag auserkoren. Doch jetzt, am frühen Mittag, schon eine Bleibe für die kommende Nacht aufzusuchen erscheint mir doch etwas früh. Als ich den Ortsanfang von Villar de Mazarife erreiche blicke ich auf ein kunstvolles Mosaik, das die Kirche des Ortes und mehrere kunstvoll gestaltete Pilger zeigt. Darunter der Name des Ortes, eine Pilgermuschel ebenfalls aus Mosaiksteinen und die Jahresgravur, die aufzeigt, dass dieses Gemälde 1994 entstanden ist. Die Mosaikpilger bleiben die einzigen Pilger, die ich in dem Ort zu Gesicht bekomme. Villar de Mazarife scheint jetzt, zur Mittagszeit, wie ausgestorben. Wahrscheinlich befinde ich mich gerade in einer Art „menschenleeren Pilger-Blase“? Diejenigen, die die Nacht in León verbracht haben werden noch weit hinter mir sein, denn kein anderer Pilger außer mir ist so verrückt und startet seinen Tagesmarsch von der kastilischen Metropole aus morgens um kurz vor 5, jedenfalls nicht zu dieser Jahreszeit. Die wenigen Seelen, die in La Virgen del Camino genächtigt haben sind eine gute halbe Stunde voraus (das muss die kleine Pilgergruppe gewesen sein, die ich in der Bar in Chozas de Abacho angetroffen habe) und sicherlich weiter gezogen mit dem Ziel Hospital de Orbigo. Und Pilger, die die Nacht in Villar de Mazarife verbracht haben sind jetzt längst losgezogen und werden schon die Hälfte der Strecke bis nach Astorga hinter sich gebracht haben. Außerdem nehmen viele Pilger die unattraktivere, aber dafür etwas kürzere Route entlang der Hauptstraße. Erneut zücke ich meine Fotokopie und schaue etwas entsetzt auf eine schnurgerade rote Linie, die den Weg bis in den nächsten Ort Villavante markiert. Als - 21 - sei dieser Strich nicht Warnung genug spricht der Reiseführer von gefragter Nervenstärke, denn die nach dem Ort folgende Landstraße erstreckt sich über 5 Kilometer schnurgerade und geht dann in einen öden und eintönigen Feldweg über, bis man nach rund 2 Stunden die nächste Übernachtungsmöglichkeit in Villavante erreicht hat. Doch es hilft alles nichts! Ich muß weiterziehen. Und somit das unattraktive Teilstück bereits heute hinter mich bringen. Ein Grund mehr, meine Planung für die erste Tagesetappe über Bord zu werfen und Villar de Mazarife den Rücken zukehren. Was folgt ist die reinste Odyssee. Die Kilometer auf der harten Landstraße geraten zur reinsten Qual. Mit jedem Schritt brennen die Fußsohlen etwas mehr und das schier nicht auszumachende Ende der Straße läßt den Weg unendlich lang erscheinen. Die Felder links und rechts des Weges verleihen dem Marsch eine fast unerträgliche Monotonie, die ab und zu nur von einem der vorbeirasenden Autos unterbrochen wird, die auf der Asphaltpiste ungebremst und mit gefühlten 150 Sachen an mir vorbei heizen. In der Geschwindigkeit sind diese Irren innerhalb von 2 Minuten am Ende der Straße angelangt. Ich brauche dafür gut anderthalb Stunden, bis ich den Feldweg und damit ein wenig Abwechslung erreicht habe. - 22 - Landstraße von Villar de Mazarife nach Villavante Es ist gegen 14 Uhr als ich an der Albergue Santa Lucia in Villavante ankomme. Aus den geplanten 20 Kilometern sind nun knappe 35 geworden. Das Ganze ohne wirklichen Schlaf in der letzten Nacht und mit einem einzigen Bocadillo als Verpflegung. Am Tresen der Herberge sehe ich zwei Frauen, denen ich bereits in der Bar begegnet bin. Nachdem ich meinen Rucksack mit einem Seufzer vor dem kleinen Tresen abgesetzt habe spricht mich eine der Frauen an: „You want to stay here for tonight?“ (Du willst heute Nacht hierbleiben?) „Oh ja“ entgegne ich auf Englisch. „Ich bin um 5 Uhr in León gestartet und dies ist mein erster Tag heute auf dem Jakobsweg. Für heute genug gelaufen. Ich bin müde und brauche erst mal etwas Schlaf.“ „Ah okay, we will walk towards Hospital de Orbigo. So, Buen Camino!“ (Aha okay, wir möchten bis Hospital de Orbigo laufen. Buen Camino) Eine nette junge Dame kommt derweil zum Tresen, sieht in mein müdes Gesicht und fragt nur: „Albergue?“ „Si“ meine knappe Antwort und schon haben wir uns darauf verständigt, - 23 - dass ich für heute Nacht Gast in dieser netten Unterkunft sein werde. „Credencial, por favor“ lautet ihre Bitte, mit der sie mich nett darauf aufmerksam macht, dass ich ihr meinen Pilgerpass vorzeigen muss. Nach einem prüfenden Blick muß ich außerdem noch meinen Personalausweis vorzeigen, denn bei jungfräulichen Credencials wird bei der ersten Übernachtung die Identität des Pilgers anhand des Personalausweises überprüft. Heilfroh, die Passkontrolle ohne Erklärungsnöte überstanden zu haben erhalte ich von der netten Spanierin meinen ersten Stempel und bekomme eine exklusive Herbergsführung, bei der mir alle zur Verfügung stehenden Räumlichkeiten gezeigt werden. In dem Schlafsaal mit 26 Betten habe ich freie Auswahl, denn ich bin der erste Gast am heutigen Tage. Ich belege ein Bett direkt am Fenster, gehe duschen und lege mich in meinen Schlafsack um mich von den Strapazen des ersten Tages ein wenig zu erholen und die Geschehnisse des Tages Revue passieren zu lassen. Es dauert nicht lange und ich falle in einen tiefen Schlaf. i: Das Credencial, zu Deutsch Pilgerpass oder Pilgerausweis genannt, weist den Pilger auf dem Jakobsweg offiziell als Pilger aus. Nur gegen Vorlage des Credencial erhalten Pilger eine Übernachtungsmöglichkeit in öffentlichen oder kirchlichen Herbergen. Beim Vorlegen des Credencial an den Herbergsbetrieben wird ein Stempel in den Ausweis gestempelt. Der Credencial muss im Pilgerbüro von Santiago de Compostela vorgelegt werden um dort die offizielle Pilgerurkunde, die Compostela, zu erhalten. Der Pilgerausweis kann zu Beginn der Pilgerschaft in St. Jean Pied-de-Port ausgestellt werden. Es gibt auch auf dem Weg verschiedene Pfarrämter und Herbergsbetriebe, an denen ein Credencial erhältlich ist. Es ist jedoch - 24 - empfehlenswert, sich den Credencial bereits im Vorfeld zu besorgen, sollte man seine Pilgerreise nicht in St. Jean Piedde-Port beginnen. Anlaufstellen in Deutschland sind hier die Deutsche Sankt Jakobusgesellschaft in Aachen und die Jakobusfreunde Paderborn. www.jakobusfreunde-paderborn.eu www.deutsche-jakobus-gesellschaft.de (Stand April 2016) - 25 - Der zweite Tag – Villavante nach Valdeviejas Gegen sechs Uhr morgens wache ich gut erholt auf. Den Schlafsaal teile ich mir nun doch noch mit 5 anderen Pilgern, die am späten Nachmittag des Vortages in die Albergue Santa Lucia eingecheckt haben. Zu meiner Überraschung sprechen fast alle Mitbewohner Deutsch. Nur Svetlana aus der Tschechei ist der deutschen Sprache nicht mächtig. Mir gegenüber hat Wolfgang sein Bett bezogen. Mit ihm habe ich mich vor dem Schlafen gehen noch ein wenig ausgetauscht. Er ist Ende März in St. Jean Pied-de-Port gestartet, dem eigentlichen Ausgangspunkt des Camino Francés, rund 500 Kilometer Weg weiter östlich, am französischen Fuße der Pyrenäen. Nach einer Katzenwäsche packe ich meine sieben Sachen zusammen und sammle meine teils noch feuchte Kleidung von der Wäscheleine im Innenhof der Herberge ein. Die milde Nachmittagssonne reichte gestern nicht aus, um die Wäsche komplett zu trocknen. So binde ich die feuchten Socken und das Shirt außen am Rucksack fest. Nachdem das Tageslicht die Dunkelheit besiegt hat erstrahlt der kleine Dorfplatz vor dem Refugio in gleißendem Sonnenlicht. Was für ein wundervoller Frühlingsmorgen! Mein heutiges Pilgerziel heißt Valdeviejas. Ein kleiner verschlafener Ort kurz hinter dem Ortsausgang von Astorga. Mit Wolfgang hatte ich vereinbart, dass wir uns dort am Abend treffen. Unser Pilgerführer spricht von einer einfachen „Albergue de Peregrinos Ecco Homo“ mit kleinen Schlafräumen, die zwischen 2 und 4 Betten vorhalten. So war klar, dass heute rund 25 Kilometer Weg vor mir liegen. Nach gut einer Stunde erreiche ich das Zentrum von Hospital de Orbigo und bleibe ehrfürchtig vor der 20-bogigen historischen Brücke stehen, die seit nunmehr 900 Jahren diesen Ort zu einem ganz besonderen macht. Im 11. - 26 - Jahrhundert wurden ihre Pfeiler auf römischen Fundamenten errichtet. Sie ist mit etwa 300 Metern Länge die längste Brücke am Jakobsweg und hier, in Hospital de Orbigo, finden jedes Jahr zum ersten Juniwochenende die ´Justas Medievales´ statt. Mittelalterliche Ritterspiele, die an den ´Passo honroso´ erinnern. Ein Ritter Namens Suero de Quineros rief im Heiligen Jahr 1434 den Lanzenkampf gegen jeden über die Brücke kommenden Ritter aus, um sich mit der mutigen Tat von einer Halsfessel zu befreien, die er sich selber jeden Donnerstag als Zeichen seiner unglücklichen Liebe zu einer Dame anlegte. Mit seinen neun Genossen besiegte Quineros über 1100 fremde Ritter, die über die Brücke geeilt kamen. Damit befreite er sich erfolgreich von seiner Liebesfessel. (frei nach Cordula Rabe, Spanischer Jakobsweg, Bergverlag Rother) Brücke in Hospital de Orbigo - 27 - Beim Überqueren der Brücke bekomme ich einen Eindruck davon, wie sich unsere Mobilität in den letzten Jahrhunderten vereinfacht haben muss. Dicke Pflastersteine mit tiefen Furchen dazwischen erinnern bei jedem Schritt daran, dass Wege und Pfade früher viel unebener und schwerer zu beschreiten waren. Kopfsteinpflaster wie hier war da wohl schon der pure Luxus. Außerhalb der Städte gab es meist nur plattgetrampelte Wege oder morastige Matschpisten, die alles andere als leicht zu bewältigen waren. Wie leicht es der Pilger der Neuzeit doch heute hat! Links neben der Brücke blicke ich auf das weitläufige Feld auf dem alljährlich die Ritterspiele stattfinden. Heute ist von den historischen Spielen nichts auszumachen. Der Lanzenkampf spielt sich nur in meiner Phantasie ab und lässt mich einen Moment regungslos an der Brüstung der Mauer stehen und auf die Flußauen herabblicken. Nachdem ich den bildhübschen aber an diesem Sonntagmorgen noch schlafenden Ort durchquert habe pausiere ich an einem Brunnen, dessen Umrandung mir als Sitzgelegenheit dient und entledige mich meines Pullovers, den ich in der früh noch unter die Jacke gezogen habe. Da kommen mir zwei bekannte Gesichter auf der Straße entgegen. Svetlana und Sonja, die ebenfalls in Villavante übernachtet haben. Die beiden sind, so wie ich, auf der Suche nach einer Bar, die Frühstück anbietet. Wir beschließen bis zum nächsten Ort gemeinsam zu wandern. In Villares de Orbigo werden wir fündig. In einem wohnlich ausgestatteten Gastraum bestellen wir Café con Leche, Sandwichtoast mit Schinken und Kartoffel-Tortilla. Das Frühstück ist wunderbar. Und während wir drei uns die Köstlichkeiten des Hauses schmecken lassen unterhalten wir uns über unsere Motive, unsere bisherigen Erfahrungen als Pilger (die bei mir zugegebenermaßen bislang nach erst einem Tag recht dürftig - 28 - ausfallen) und unsere Herkunft. „Ich komme aus Köln“ gebe ich den beiden zu erkennen. „Ah, aus Köln“ erwidert Sonja. „Da ist noch jemand aus Köln unterwegs. Rosi, wir haben sie vor ein paar Tagen zuletzt angetroffen. Vielleicht siehst du sie ja irgendwann?“ Mag sein, denke ich. Wäre schön, jemanden aus meiner Heimatstadt anzutreffen. Aber bei dem ganzen Pilgervolk die eine Person zu finden ist wohl in etwa so, wie eine Stecknadel im Heuhaufen zu suchen. Naja, mal sehen. Vielleicht habe ich ja Glück? Eine gute Stunde später verlassen wir die Bar. Es liegen rund 11 Kilometer Feldweg vor uns, bis wir die nächste Stadt erreichen, sieht man einmal von dem verschlafenen Nest Santibanez de Valdeiglesias ab, das neben ein paar Wohnhäusern und natürlich einer Kirche nichts Aufregendes zu bieten hat. Auf dem morastigen Abschnitt, recht flach doch dafür stetig bergan, hänge ich meine Begleiterinnen schnell ab und marschiere für ein paar Kilometer abseits von Straßenlärm, Stadt- und Dorfhektik alleine weiter. Erstmals geht es nun auf meinem Wanderweg wirklich durch die Natur. Keine Pflastersteine, keine betonierten Wege, kein Asphalt. Auch keine Häuser in Sicht. Einfach Natur, der Weg und ich. Nach einigen Kilometern öffnet sich der Wald zu einer freien Hochebene mit Äckern und Feldern links und rechts des Weges. In der Ferne, ein paar hundert Meter voraus, entdecke ich plötzlich einen kleinen Stand an einer Wüstung. Ich vermute einen windigen Geschäftsmann, der hier oben in der Einsamkeit die Gunst der Stunde nutzt, um mit dem Durst und Hunger von vorbeieilenden Pilgern Kasse zu machen. Doch meine Sinne täuschen mich. Ich treffe auf David, einen bunten Paradiesvogel, der hier oben den Einstieg in den Ausstieg gefunden hat und eine Pilgerbar mit zahlreichen Köstlichkeiten anbietet, die er den Pilgern gratis, oder gegen Zahlung einer freiwilligen ´Donativo´ (Spende), zur - 29 - Verfügung stellt. Seine kleine Bar, ein Verschlag mit Dach, ist kaum größer als ein Küchentisch und bis zum Überlaufen gefüllt. Säfte, Früchte, Wasser, Kaffee, Nüsse, etwas Brot und Kekse lassen keine Wünsche offen. Auf einer kleinen Holzbank, die David mitten neben dem Feldweg geparkt hat setze ich mich hin, möchte mit David ins Gespräch kommen, mehr über ihn erfahren. Seine Geschichte ist so fantastisch, dass ich sie zunächst gar nicht glauben kann. Doch nach und nach schlägt mein Unglaube in die pure Begeisterung für diesen Menschen um. Laut seiner Erzählung lebt er seit 6 Jahren hier oben. Alle 4 Jahreszeiten macht er durch, täglich seine kleine Pilgerbar betreibend um den Vorbeikommenden etwas Gutes zu tun, sie zu empfangen, zu beköstigen und für den noch anstrengenden Weg nach Santiago zu stärken. Seine Bleibe, ein noch halbwegs intakter Raum in der großflächigen Wüstung dient ihm als Wohnung. Kein Strom, kein fließendes Wasser. Unter einer mit Tarpe abgedeckten Ecke hinter der hohen Mauer des ehemaligen Gehöfts hat er sogar Schlafstellen für Pilger eingerichtet, die bei ihm übernachten möchten. ´Outdoor´ versteht sich. Geld bedeute ihm nichts, sagt er. Die Herzlichkeit der Menschen auf dem Weg sei ihm der viel größere Lohn. Geld verderbe die Menschen, mache sie schlecht und böswillig. Früher habe er einen Job gehabt und gut Geld verdient, bis er gemerkt hat, dass er nicht nur seine Zeit, sondern auch seine Seele damit verkauft habe. Es gehe ihm sehr gut hier oben. Eine Vielzahl der angebotenen Sachen von seiner Pilgerbar bekomme er von der Kirche gestiftet oder der Supermarkt im nächsten Ort spendet ihm Obst und andere Kleinigkeiten. Der Rest wird von den Spenden der Pilger finanziert, ganz uneigennützig. Im Sommer hat er gut zu tun, im Winter treffe er an manchen Tagen nur einen Pilger an, manchmal auch gar keinen. David fasziniert mich dermaßen, dass ich eine geschlagene Stunde auf seiner Bank sitzen bleibe und mich mit ihm über Gott und - 30 - die Welt unterhalte. Ich will gerade aufbrechen, da erreichen Svetlana und Sonja auch die Oase des Paradiesvogels. Eine weitere Erfrischung und ein paar Erinnerungsfotos später brechen wir gemeinsam auf, dem gelben Pfeil weiter in Richtung Santiago folgend. Steinernes Wegkreuz von Santo Toribo Wenige hundert Meter später erreichen wir den Bergrücken, an dem das steinerne Kreuz des Santo Toribo steht. Von hier aus hat man einen wundervollen Ausblick auf die Tiefebene, in der Astorga mit seiner Kathedrale und dem ein wenig wie im Märchen anmutenden Gaudi-Palast eingebettet liegt. Den recht steilen asphaltierten Hang herunter schreitend fällt uns schon bald eine Auseinandersetzung zwischen einem Mann und der ´Guardia Civil´, der spanischen Polizei, auf. Der Mann, der wie ein Wegelagerer ausschaut und sich auch so benimmt, hat sich am Wegesrand an einer Bank postiert. - 31 - Einen Haufen Steine hat er sich auf der Sitzfläche zurechtgelegt, ein jeder gerade so groß, dass er ihn mit einer Hand fassen könnte um ihn den Gesetzeshütern entgegen zu schleudern. Seiner rauen Stimme nach zu urteilen hat er die Stimmbänder regelmäßig mit Alkoholika geölt, was auch dem aktuellen Gemütszustand des Mannes anzumerken ist. Mit wilden Gesten und nicht zu interpretierenden spanischen Schimpfwörtern – so klingt es zumindest – signalisiert er den Polizisten, dass diese sich ihm bloß nicht nähern sollten. Jedes Mal, wenn die Ordnungshüter einen Schritt nach vorne setzen und die virtuelle Sicherheitslinie des Wegelagerers überschreiten, nimmt dieser einen der Steine in seine rechte Hand und droht mit einem Feuerwerk verbaler Tiraden, das Wurfgeschoss in Richtung der Beamten abzufeuern. Die Polizisten scheinen hilflos, denn nach jedem Schritt, den sie nach vorne setzen, folgend zwei Schritte Rückwärts. Wir verlangsamen unsere Schrittfrequenz, bis wir in sicherer Entfernung kurz stehen bleiben um die Situation besser zu beurteilen. Was tun? Hierbleiben und dem Schauspiel zusehen, bis die Situation eskaliert oder sich durch das Eingreifen der Polizei entspannt? Oder sollen wir es wagen in Tuchfühlung an dem offensichtlich stark betrunkenen Mann vorbei zu gehen? Als ob ich meine Frage laut gestellt hätte dreht sich der Trunkenbold plötzlich um, schaut uns kurz an und ruft uns in der Manier und Stimmlage eines vollbärtigen Seeräuberkapitäns „PEREGRINOS! VENGA, VENGA!“ entgegen und winkt uns mit auffordernden Gesten an ihm vorbei. So ist der Weg frei nach San Justo de la Vega, dem Vorort von Astorga, an dem sich die Wege von mir und den beiden Pilgerinnen wieder trennen. Sie biegen in ein Geschäft ab, während ich unbeirrt dem Straßenverlauf durch das Dorf folge. Kurz vor Astorga ist der ursprüngliche Wegverlauf plötzlich durch zwei hohe Zäune getrennt, denn hier verläuft - 32 - ein Schienenstrang, der scheinbar erst in den letzten Jahren verlegt wurde. Die Straße lässt vermuten, dass der Weg hier früher einmal durchgängig verlaufen sein muss. Jetzt zeigen die gelben Pfeile nach links, führen durch eine Seitenstraße zu einem Metallgerippe, das scheinbar einzig und alleine für Pilger wie mich errichtet wurde. Denn außer den Treppenstufen und der dadurch erreichbaren Verbindung des Fußweges auf der anderen Seite der Schienen scheint dieses Brückenbauwerk keine andere Bewandnis zu haben. Blick auf Astorga Auf der obersten Ebene halte ich einen Moment inne, schaue auf das Panorama der Stadt, die mit den Stadtmauern und dem vielen sichtbaren Beton wie eine Festung wirkt. Eine Festung, die die Menschen in der Stadt schützen soll, ihnen Sicherheit und Rückzugsort bieten soll. Keine Festung, wie man sie sich etwa in einem Gefängnis vorstellen würde… - 33 - Urlaub an der Mauer Zu Beginn der 1980er Jahre. Mit meiner Mutter besuche ich in den Sommerferien eine Bekannte im Oberfränkischen Hof. Wir sind für ein paar Tage in den Urlaub eingeladen. Sie besitzt ein großes Grundstück mit einem alten Backsteinhaus, das geräumig genug ist, uns für einige Tage aufzunehmen. Das Anwesen befindet sich direkt an der Zonengrenze. Der Mauer, die Westdeutschland von der Deutschen Demokratischen Republik abtrennt, kann man sich auf westdeutscher Seite an manchen Stellen bis auf wenige Meter nähern. Der Todesstreifen liegt dahinter. Minenfelder, Selbstschussanlagen, Stacheldrahtzäune, elektronische Sicherungen. Zusätzlich stehen alle paar hundert Meter baumhohe Wachtürme, ein jeder besetzt mit bewaffneten Grenzsoldaten der Staatssicherheit. Es gilt Schießbefehl. Versucht ein Staatsbürger der DDR, die Grenzanlagen zu überwinden, muss er damit rechnen, von einem Scharfschützen eine Kugel in den Körper gejagt zu bekommen. Auf der westdeutschen Seite wirkt die Mauer wie die Abgrenzung eines Gefängnisses. Auf der anderen Seite ist es ein Gefängnis. Millionen Bürger werden daran gehindert das eigene Land zu verlassen. Notfalls mit Waffengewalt. Vieles davon verstehe ich damals nicht. Ich bin gerade einmal 8 oder 9 Jahre alt, als ich in dem großen Garten des Anwesens versteckte Winkel entdecke und auskundschafte. In meiner Erinnerung kommt mir ein Paradiesgarten zum Vorschein. Hohes Gras, verwucherte Ecken. Dann - 34 - wieder ein gepflegtes Rasenstück auf dem man Fußball spielen kann. „Geht nicht hinter die rotweiß markierten Pfeiler“ sagt unsere Bekannte. „Dahinter könnten schlimmstenfalls Minen liegen“ lautet ihre Warnung. Mitten im Paradiesgarten beginnt die Gefahr. An einem der rot-weißen Pfeiler stehend schaue ich auf einen rauschenden, aber nur mäßig Wasser führenden Wildbach, der sich wenige Meter hinter den Pfeilern durch das Grundstück unserer Bekannten schlängelt. Dahinter ein Dickicht aus Bäumen und sonstigem Wildwuchs, das die Sicht auf die graue, unmenschliche Mauer an dieser Stelle verdeckt. Ich wünsche mir so sehr, aus Neugier einmal darüber zu schauen, wie das Leben auf der anderen Seite aussieht. Wie die Menschen leben, wie die Häuser, die Straßen und die Landschaft auf mich wirken. Doch der Wunsch bleibt mir verwehrt. Keine Chance, das Leben der Anderen, die die gleiche Sprache sprechen, zu begutachten. Einige Tage später fahren wir mit dem Zug wieder zurück nach Hause. Unser Urlaub ist vorüber. Die Mauer lassen wir hinter uns. Und schon bald verblassen die Erinnerungen an das Unwirkliche. Ein Privileg, das nur wir hatten. Die Bürger westlich der Mauer. Für die ostdeutsche Bevölkerung blieb sie präsent. Auch, wenn sie nur von den wenigsten wirklich gesehen wurde. Im Osten gab es eine Sperrzone. In rund 5 Kilometer Abstand zur Grenze richtete die DDR ein Sperrgebiet ein. Niemand, mal abgesehen von den Grenzschutzsoldaten der Armee, durfte sich in der Sperrzone aufhalten. Eine Maßnahme, die zur - 35 - Absicherung und zur Vermeidung der deutschdeutschen Flucht von der Staatssicherheit der DDR getroffen wurde. Die Mauer war das wohl symbolträchtigste Bauwerk, welches die Abschottung des Kommunismus zur westlichen, kapitalistischen Welt verbildlichte. Wenig später habe ich den steilen Anstieg ins Zentrum von Astorga bewältigt. Die Bauwerke wirken ungewohnt modern. Geradezu wie hergerichtet für die Heerscharen an Touristen, die sich sprichwörtlich die Klinke in die Hand drücken. Vielleicht einer der Gründe, warum ich mit der eigentlich schönen Stadt nicht so richtig warm werden will. Dem GaudiPalast widme ich ein paar Minuten, ein, zwei Fotos, dann weiter. Die Kathedrale bindet mich schon etwas länger, lässt mich über den Detailreichtum des Portals eine ganze Weile staunen. Zwei, drei Fotos, dann weiter. Ein wenig bedrängt fühle ich mich von dem belebten Marktplatz, auf dem viele der Tische, die an den Straßencafés stehen, von Touristen mit schweren Spiegelreflexkameras um den Hals hängend, belegt sind. Trotz meines intensiven Röntgenblicks kann ich an den Tischen niemanden ausmachen, den ich in den letzten anderthalb Tagen unterwegs als Pilger identifiziert habe. Auf einen Café con Leche habe ich jetzt auch keine Lust und das Essen möchte ich mir bis zum Abend in der Herberge aufsparen. An der Straße befindet sich ein Souvenirladen. Neben Postkarten, Ansteck-Pins, Rosenkränzen, AstorgaReliefs und anderem Krimskrams steht auch ein Schirmständer mit hölzernen Pilgerstäben neben der Eingangstür. Ein guter Moment! Für morgen steht der Aufstieg in die Montes de León bevor und da ich sowieso geplant hatte, hier vor Ort eine entsprechende Pilger-Gehhilfe zu kaufen, nehme ich nach kurzer Begutachtung einen der Stäbe - 36 - mit. Ich schaue mich noch nach einer passenden Kopfbedeckung um. Ein Hut oder ähnliches wollte ich mir auch hier in Spanien kaufen, da ich zu Hause nichts Passendes gefunden habe. Lediglich eine Sturmhaube habe ich im Rucksack, die ich als windschützende Kopfbedeckung tragen kann und ebenso gut als Schal, wenn es mal kalt sein sollte. Doch die nette Verkäuferin muss passen. Keine Hüte im Angebot! Nach dem Einkauf wandere ich weiter, mache mich auf den Weg, die letzten rund zweieinhalb Kilometer bis Valdeviejas abzuspulen. Die Hospitalera der kleinen Unterkunft, die von einem Nachbarschaftsverein betrieben wird, empfängt mich freundlich. Die überschaubare Einrichtung ist schnell erklärt, ein Bett ausgewählt und der Credencial gestempelt. Dann das übliche Programm, das ich bereits gestern Nachmittag erfolgreich absolviert hatte. Handwäsche, Duschen, in dem kleinen Gemeinschaftsraum eine Suppe und einen kleinen Snack, Tagebuch schreiben. Wolfgang ist noch nicht da. Ich lege mich erst mal hin, etwas dösen und den zweiten Tag Revue passieren lassen. Es dauert nicht lange und ich nicke ein. - 37 -
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