von der Filmlänge und vom Aufwand her ohne zweifel die spektakulärste Restaurierung des Jahres 2015, beeindruckend durch die Perfektion des Resultats und die Schönheit der in ihrer ursprünglichen Farbigkeit wiedererstandenen Bilder. Eine breite Farbpalette mit »tinting« und »toning« verstärkte den epischen Rahmen dieser äusserst packenden version von victor Hugos Roman mit der herausragenden schauspielerischen Leistung von Gabriel Gabrio als valjean. Brian Robinson, Sight & Sound 12/2015 Fünf Bände mit 48 Büchern, 365 Kapitel auf rund 2000 Seiten, immer wieder unerbittlich in historische, philosophische, selbst architekturkritische Exkurse abschweifend – Victor Hugos 1862 veröffentlichtes Meisterwerk ist der wohl weitläufigste Roman der Weltliteratur. Paradoxerweise ist er auch der am häufigsten adaptierte mit über 50 Verfilmungen seit 1909, zahllosen Bühnenbearbeitungen, Animationsfilmen, Videospielen, Hörfunkfassungen (darunter Orson Welles' siebenteilige Version von 1937, in der der 22-Jährige selber den Jean Valjean gab). Henri Fescourts ciné-roman von 1925/26 kann man auf allen Ebenen als die werkgetreueste unter all diesen Adaptionen bezeichnen: hinsichtlich des Handlungsgefüges, der Weltanschauung, der Menschlichkeit und der moralischen Haltung. Das ist Victor Hugo. Fescourt (1880–1956) zählt zu den am meisten unterschätzten Regisseuren Frankreichs, nicht zuletzt deshalb, weil sein Name vor allem mit dem seriellen cinéroman verbunden ist, einem populären Genre, das seine intellektuellen Zeitgenossen wie beispielsweise sein Freund Louis Delluc zutiefst verachteten. Trotzdem war Fescourt einer der wenigen Regisseure alter Schule, die von der nouvelle vague geschätzt wurden. François Truffaut schrieb an Fescourt kurz vor dessen Tod: »Ich hoffe, dass ich mir so wie Sie den Glauben bewahren kann und diese immense Neugier behalte auf alles, was geschrieben, gefilmt, gespielt wird«. Bestenfalls kennt man ihn noch als den Verfasser einer persönlich gehaltenen Geschichte des französischen Kinos in der Stumm- und der frühen Tonfilmzeit: »La Foi et les montagnes« (1959). Fescourt brachte dem Kino eine reiche und vielfältige Kultur. Er unterteilte Hugos fünf Romane in vier Episoden, eine Struktur, die fast alle späteren Bearbeitungen übernahmen: Jean valjean, Fantine, Marius, L’Épopée de la rue Saint-Denis. Nur eine bedeutsame Episode lässt er aus – Valjeans Wiederverhaftung, seine Einkerkerung in Toulon und seine Flucht zu Beginn von Hugos zweitem Band, cosette. Ja, Fescourt leistet sich Auslassungen, bei denen er auf die Vertrautheit seines Publikums mit dem Stück Nationalliteratur zählt: Man- Les Misérables Wiederentdeckt: Les Misérables 37 Les Misérables 38 che Beziehungen werden nicht erklärt – so dürften weniger geschulte heutige Leser Gavroche und seine Geschwister nicht automatisch als die Nachkommen der üblen Thénardiers identifizieren. Das steht der Erzählung aber nicht im Weg. Wie Hugo gelingt es auch Fescourt, die detailversessene dokumentarische Schilderung mit der epischen Struktur, mit aufgesetzten Schicksalsfügungen und Beziehungen ex machina (wie der mystischen Allgegenwart Javerts) unter einen Hut zu bringen. Fescourt drehte einen Großteil vor Ort in Südfrankreich und in Montreuil-sur-Mer, der mittelalterlichen ummauerten Stadt am Ärmelkanal, die sich nicht verändert hatte, seit Hugo 1837 auf Schauplatzsuche für den Roman erstmals vorbeigekommen war. Atelieraufnahmen erfolgten in Paris, bei Cinéromans-Joinville-lePont und Pathé-Vincennes, wo der dortige Filmausstatter Georges Quénu trotz einiger befremdlicher gemalter Hintergründe eine Reihe schauriger nächtlicher Stadtansichten und Sackgassen gestaltete. Die aufwändige Nachschöpfung der Welt Hugos folgte den 200 Illustrationen Gustave Brions für die Erstausgabe von »Les Misérables« und den darauf folgenden Werken Émile Bayards, dessen Portrait der Cosette spätestens seit 1985 als Plakatmotiv und Logo des endlos laufenden Bühnenmusicals weltberühmt ist. Für Fescourt stand die Erzählung stets im Mittelpunkt, doch die Geschichte teilt sich über die Bilder und die Darsteller mit, und sein LES MISÉRABLES verfügt hier über eine unvergleichliche Galerie. Jean Valjeans spirituelle Odyssee bildet stets das Zentrum des gewaltigen Panoramas. Lenny Borger & David Robinson, Le Giornate del cinema Muto Er mag das Kino nicht neu erfinden, doch in einem Qualitätsfilm wie diesem liegt letztlich die Definition des Kinos: Jede Einzelheit der Charakterzeichnung wird sorgfältig beachtet, ebenso wie jeder Zentimeter der mise en scène aufs genaueste vorbereitet ist. Die kurze Szene nach der Schlacht von Waterloo beispielsweise ist so kunstvoll komponiert, beleuchtet, getont und gefärbt wie ein Ölgemälde, das man stundenlang betrachten könnte, doch zugleich trifft uns das Blutvergießen und das abstoßende Grauen der Szene in der Magengrube. Was den Film davor bewahrt, zum bloßen Großfilm und Historienschinken zu verkommen, ist sein Thema: Die explosive Romanvorlage handelt von den grausamen Ungleichheiten, auf denen unsere Gesellschaft (heute wie damals) aufbaut, und vom labilen Gleichgewicht der Seele. Daher ist LES MISÉRABLES malerisch anzuschauen, aber nicht gänzlich geschönt, zum Glück. Der Anblick der niedlichen kleinen Cosette in Lumpen ist unmittelbar anrührend, nicht herzig-süß; die Kanalisation ist finster und verkotet; Valjeans Brandwunden nässen. In dieser Restaurierung, die die Begriffe sorgfältig und mühselig neu definiert, wirkt LES MISÉRABLES wie neugeboren und sollte so oft wie nur möglich gezeigt werden. Neil Brand übernahm die herkulische Aufgabe, den gesamten Film zu begleiten. Er spielte und spielte und spielte derart empfindsam und opulent – ich glaubte kaum, dass das alles nur ein Musiker an nur einem einzigen Klavier war. Brands Musik, die die Gewaltigkeit und die Eigenheiten dieses Films Note für Note trafen, war ein triumphales Ereignis, wie es diesem Film zusteht. Pamela Hutchinson, www.silentlondon.co.uk Les Misérables (Mensch unter Menschen) | Frankreich 1925 | R+B: Henri Fescourt | K: Georges Lafont, Karénine Mérobian, Raoul Aubourdier, Léon Donot | D: Gabriel Gabrio, Sandra Milowanoff, Jean Toulot, George Saillard, Renée Carl, Paul Jorge, François Rozet, Andrée Rolane, Henri Maillard | Teil 1: 118 min, Teil 2: 97 min, Teil 3: 97 min, Teil 4: 85 min | OmeU | ▶ Samstag, 9. April 2016, 18.30 Uhr (Teil 1 & 2) | LiveMusik: Neil Brand ▶▶ Sonntag, 10. April 2016, 18.30 Uhr (Teil 3 & 4) | Live-Musik: Neil Brand
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