Heiko Maas: „Nicht länger schweigen“ Der Justizminister über rechte Hetze, die AfD und die stille Mitte ▶ Seite 13 AUSGABE BERLIN | NR. 10972 | 11. WOCHE | 38. JAHRGANG FREITAG, 18. MÄRZ 2016 | WWW.TAZ.DE € 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND Denk ich an Syrien … ANZEIGE DOSSIER Große Sorge, leise Hoffnung: Fünf Jahre nach Beginn des Aufstands gegen Assad beschreiben syrische AutorInnen ihre Sicht auf den Krieg in der Heimat. Analysen und ein Essay von Herfried Münkler ▶ SEITE 4–11 H EUTE I N DER TAZ LITERATUR Wer die Buchpreise in Leipzig bekommen hat ▶ SEITE 3 MUSIK Neues von Ste- fan Goldmann und Jeb Loy Nichols ▶ SEITE 19, 20 BERLIN „Ferne Liebe“: Film über Fans von Fußballklubs aus anderen Städten ▶ SEITE 28 Foto: dpa (oben) VERBOTEN Guten Tag, meine Damen und Herren! Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel hat die Übernahme der angeschlagenen Superpartei SPD durch den Handelsriesen CDU unter Auflagen genehmigt. Als Hauptgrund nannte er den „Erhalt der Arbeitsplätze und Arbeitnehmerrechte“ der SPD-Wähler. Dieses Ziel überwiege die Wettbewerbseinschränkung, die mit der Fusion einhergehe. Die Sicherung der SPD-Wähler lasse sich „nur durch eine Gesamtübernahme durch Merkel wirkungsvoll realisieren“, sagte Gabriel und betonte: „Es geht um Menschen, die jedenfalls nicht zu den Gutverdienenden gehören.“ TAZ MUSS SEI N Die tageszeitung wird ermöglicht durch 15.701 GenossInnen, die in die Pressevielfalt investieren. 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Fünf Jahre nach den politischen Umbrüchen in Tunesien, Ägypten und Libyen und fünf Jahre nach dem Beginn der zunächst friedlichen, landesweiten Proteste in der syrischen Stadt Daraa gegen das Baath-Regime in Damaskus, zeigen solche Diskussionen, dass sich die Lage in Syrien selbst, aber auch auf internationaler Ebene geändert hat. Heute gibt es die vorsichtige Hoffnung auf eine friedlichere Zukunft. Der Anstoß dafür kam von außen. Es waren Moskau und Washington, die eine Waffenruhe vereinbarten. Auf politischer Ebene wurde diese von den Verhandlungen in Genf unter der Ägide der UNO begleitet. Doch zu viel Optimismus ist nicht angebracht. Nach wie vor lässt der syrische Diktator keinen Zweifel daran, dass er weiterhin an der Macht zu bleiben gedenkt. Weite Teile der Opposition lehnen aber jedwede Rolle Assads auch während der von der UNO vorgeschlagenen 18-monatigen Übergangszeit ab. Andere wiederum könnten für eine begrenzte Periode damit leben, quasi nach dem Motto „Kein Waffenstillstand ohne Assad, keine Zukunft für Syrien mit Assad“. Und schließlich gibt es noch die AlNusra-Front, den syrischen Ableger von al-Qaida, sowie den „Islamischen Staat“. Editorial Beide könnten eine Einigung jederzeit torpedieren und neue Gefechte auslösen. So hat die Al-Nusra-Front am Mittwoch angekündigt, in den kommenden Tagen eine Offensive gegen die gemäßigte oppositionelle Freie Syrische Armee zu beginnen. Sollte der Waffenstillstand anhalten, bei den Genfer Gesprächen erste Fortschritte erzielt werden und eine Befriedung der Lage in Syrien in greifbare Nähe rücken, drängen jedoch schnell neue Probleme auf die Tagesordnung. Jenseits der Syrien ist vor allem ein gesellschaftlicher Aussöhnungsprozess zu wünschen Haftstrafen für Brandstifter URTEIL Nach Anschlag auf Asylheim: Richter vergleicht Täter mit „SA-Trupps“ HANNOVER epd/taz | Rund ein halbes Jahr nach dem Brandanschlag auf ein bewohntes Flüchtlingsheim in Salzhemmendorf bei Hameln hat das Landgericht Hannover am Donnerstag die Täter zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Die Strafkammer befand den 31-jährigen Haupttäter Dennis L. des versuchten Mordes in vier Fällen und der versuchten Brandstif- tung für schuldig. Dafür muss er für acht Jahre ins Gefängnis. Seinen Kumpanen Sascha D. (25) verurteilte das Gericht zu sieben Jahren Haft, er muss zudem eine Alkoholentziehung machen. Die dritte Angeklagte Saskia B. (24) erhielt eine Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten. Er sehe drei Mordmerkmale als erfüllt an, sagte des Vorsitzende Richter, an die Verurteil- ten gewandt. „Sie handelten aus niederen Beweggründen, heimtückisch und mit einer gemeingefährlichen Waffe.“ Er verglich sie mit „marodierenden SA-Trupps“, die bei Terrorakten 1938 Geschäfte in Brand gesetzt und Tote und Verletzte billigend in Kauf genommen hätten: „Das ist die Reihe, in die Sie mit Ihrer Tat treten.“ ▶ Inland SEITE 13 zahlreichen praktischen Herausforderungen, von der Hilfe für Bedürftige bis hin zum Wiederaufbau, ist Syrien vor allem ein gesellschaftlicher Aussöhnungsprozess zu wünschen. Argentinien, Südafrika und Ruanda sind dafür Beispiele. „Schwarze Listen“ mit den Namen von Personen, die künftig vom politischen Leben ausgeschlossen werden sollen – und solche werden in Syrien sowohl von Behörden wie von radikalen Oppositionsgruppen geführt –, sind dafür jedoch nicht hilfreich. Der Irak und Libyen lassen grüßen. Ein Prozess der gesellschaftlichen Aussöhnung setzt zudem Vertrauen in neue Institutionen und die politische Führung des Landes voraus. Doch das ist mit Assad kaum vorstellbar. BEATE SEEL Alternativloser Gipfel FLÜCHTLINGSKRISE EU berät über Deal mit der Türkei BRÜSSEL rtr/taz | In Brüssel hat am Donnerstagnachmittag ein mindestens zweitägiges Gipfeltreffen zwischen der Europäischen Union und der Türkei begonnen, das eine Lösung der Flüchtlingskrise bringen soll. Es gebe keine Alternative zu dem geplanten Abkommen, wonach die Türkei Flüchtlinge zurücknehmen soll und dafür Finanzhilfen und Visafreiheit erhält, sagte Mark Rutte, Regierungschef der Niederlande, die derzeit die EU-Ratspräsidentschaft hält. Eine Vereinbarung werde nach Ansicht von Litauens Präsidentin Dalia Grybauskaite aber schwer umzusetzen sein: „Sie ist am Rande des internationalen Rechts.“ Überschattet wurde der Gipfel von neuen deutschtürkischen Spannungen. ▶ Schwerpunkt SEITE 2 02 TAZ.DI E TAGESZEITU NG PORTRAIT NACH RICHTEN US-GEH EIMDI ENST NSA KLIMASCHUTZ Steinmeier verteidigt Kooperation Weltweiter Ausstoß von CO2 stagniert BERLIN | Außenminister Frank- Aus der Türkei ausgewiesen: Hasnain Kazim Foto: imago Der sich zum Teufel schert F amilie, Freunde und Kollegen sagten vorher: Pass auf dich auf“, schreibt SpiegelKorrespondent Hasnain Kazim im September über die Reaktionen auf eine geplante Reise. Dabei wollte der erfahrene Krisenreporter, der vier Jahre aus dem terrorgeplagten Pakistan berichtet hatte, nur das sächsische Heidenau besuchen, wo gerade ein rassistischer Mob getobt hatte. Der heute 41-jährige Kazim, der indisch-pakistanischer Abstammung ist und im Alten Land bei Hamburg aufwuchs, macht sich gern selbst ein Bild. Er geht Dingen auf den Grund und nennt Probleme beim Namen. Das führt schon in Deutschland zu rassistischen Anfeindungen. Vor drei Jahren schien für Kazim und seine Familie die Versetzung in die Türkei ein ruhigeres und sichereres Arbeiten zu versprechen als in Pakistan. Doch seitdem hat sich nicht nur die Sicherheitslage in der Türkei verschärft, sondern auch die Arbeitsbedingungen der in- und ausländischen Journalisten wurden schlechter. Jetzt hat Kazim das Land verlassen müssen. Die türkische Regierung hatte seine jährlich zu verlängernde Akkreditierung so lange verschleppt, dass es nicht mehr verantwortbar war, länger zu bleiben. Ohne gültige Papiere hätte er jederzeit sanktioniert werden können. Der taz erklärte Kazim, dass er wohl persönlich den Zorn von Recep Tayyip Erdoğan erregt habe. Vor knapp zwei Jahren hatte der Reporter über das Bergwerksunglück in Soma mit mehr als 300 Toten berichtet. Kazim zitierte einen Überlebenden, der sich vom damaligen Premier und heutigen Präsidenten Erdoğan im Stich gelassen fühlte. „Scher dich zum Teufel, Erdoğan“, sagte dieser. Das Zitat wurde zum Titel des Berichts und löste in der Türkei eine Kampagne gegen Kazim aus. Die Anfeindungen, die er schon aus Deutschland kennt, wurden durch verbale Angriffe aus der Türkei ergänzt. Sie reichten bis zu Morddrohungen. Vorsichtshalber verließ Kazim für einige Wochen das Land. Als Reserveoffizier der Bundesmarine kennt er sich auch mit Angriffen aus. Persönlich ist er eher sanft und humorvoll. Doch vor allem ist er ein guter Journalist, der Menschen fair behandelt, ohne jemandem nach dem Mund zu SVEN HANSEN reden. Der Tag FREITAG, 18. MÄRZ 2016 Walter Steinmeier (SPD) hat die im Jahr 2002 vereinbarte Zusammenarbeit mit dem USGeheimdienst NSA verteidigt. Die Anschläge vom 11. September 2001 seien „eine völlig neue Qualität des Terrorismus“ gewesen, erklärte der damalige Kanzleramtschef am Donnerstag im NSA-Untersuchungsausschuss des Bundestags. Die Bundesregierung habe damals vor der Aufgabe gestanden, die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit zu finden. „Das ist uns, wie ich glaube, in verantwortlicher Weise gelungen“, sagte er. Der Ausschuss untersucht die umstrittene Kooperation des Bundesnachrichtendienstes (BND) mit der NSA. Steinmeier sagte, zwischen beiden Ländern seien damals verbindliche Regeln vereinbart worden. So sei klar gewesen, dass die Zusammenarbeit „auf dem Boden der deutschen Rechtsordnung erfolgen muss“. Damals sei „kein Freifahrtschein für die NSA“ erteilt worden. Die Vereinbarung beinhalte auch keine Genehmigung zur Überwachung von europäischen Regierungen und Institutionen. Deshalb halte er den Vertrag bis heute für richtig. (dpa) BERLIN | Gute Nachrichten fürs Klima: Der energiebedingte CO2Ausstoß hat letztes Jahr weltweit zum zweiten Mal in Folge stagniert. „Damit erleben wir, dass sich der Ausstoß von Treibhausgasen vom Wirtschaftswachstum entkoppelt hat“, sagte der Direktor der Internationalen Energieagentur, Fatih Birol, gestern in Berlin. In Deutschland stieg der CO2-Ausstoß 2015 hingegen um 0,7 Prozent an, teilte das Umweltministerium mit – vor allem wegen des kalten Winters und der niedrigen Kraftstoffpreise. (taz) L AUT ODER LEISE? ISRAEL Etablierte Musiker, frische Jungbands, Pop-Diskurse sowie Interviews mit SängerInnen und Klang-Fricklern: Aufs nächste Konzert einstimmen auf taz.de/musik Konzerte Kritiken Klänge www.taz.de Meisterspion Meir Dagan gestorben JERUSALEM | Meir Dagan, Chef des israelischen Auslandsgeheimdienstes Mossad, ist tot. Der 71-Jährige sei nach langer Krankheit verstorben, hieß es gestern. Dagan wurde am 30. Januar 1945 im russischen Nowosibirsk als Meir Hubermann geboren. Er war von 2002 bis 2010 Mossad-Direktor. In seine Dienstzeit fielen verdeckte Maßnahmen zur Sabotage des iranischen Atomprogramms. Dazu gehörten Attentate auf Atomforscher, Explosionen in Nuklearanlagen und Angriffe mit dem Computerwurm Stuxnet. (afp) Das einzig Sichere hier ist die Repression TÜRKEI Wegen Terrorgefahr werden die deutschen Einrichtungen vorübergehend geschlossen. Die Presse wird weiter drangsaliert. Ein PKK-Ableger bekennt sich zum Terror. Und Erdoğan kennt nur noch Freund und Feind VON JÜRGEN GOTTSCHLICH Ausgerechnet am Tag des Türkei-EU Gipfels müssen die deutschen Auslandsvertretungen in der Türkei geschlossen werden. Wegen einer sehr konkreten Terrorwarnung, so Außenminister Frank-Walter Steinmeier, wurden die deutsche Botschaft in Ankara, das Generalkonsulat in Istanbul und die Deutschen Schulen in Ankara und Istanbul geschlossen. Die Terrorwarnungen seien am Mittwochabend bei den deutschen Sicherheitsbehörden eingegangen. „Zum Schutz deut- scher Bürger werden die deutschen Vertretungen vorübergehend geschlossen. Das deutsche Generalkonsulat warnt darüber hinaus, die Gegend um das Konsulat in Istanbul zu betreten. Dass Konsulat liegt nur wenige hundert Meter vom zentralen Taksimplatz entfernt. Es ist das „Demokratie, Freiheit und Rechtsstaat haben für uns keinen Wert mehr“ STAATSPRÄSIDENT ERDOĞAN erste Mal seit Jahrzehnten, dass die deutschen Vertretungen in der Türkei aus Sicherheitsgründen schließen müssen. Noch ein zweiter Vorfall wirft am Tag des EU-Türkei-Gipfels einen Schatten auf die deutschtürkischen Beziehungen. Der Korrespondent von Spiegel Online, Hasnain Kazim, musste das Land verlassen. Die Regierung hatte dem Journalisten die Akkreditierung verweigert, womit auch sein Aufenthaltsrecht entfiel und er ausreisen musste. Zunächst schien es so, als sei Kazims Fall ein Fall unter anderen. Fast alle Korrespondenten Stillleben mit fetter Katze: am Donnerstag vor den geschlossenen Toren der Deutschen Schule in Istanbul Foto: Sedat Suna/dpa In Idomeni will niemand zurück GRENZE rororganisation TAK (Die Freiheitsfalken) zu dem verheerenden Anschlag in Ankara vom Sonntag bekannt. Dabei waren 37 überwiegend junge Menschen getötet und knapp 100 Personen schwer verletzt worden. Die TAK ist eine Unterorganisation der PKK, obwohl sie selbst einen organisatorischen Zusammenhang bestreitet. Es war das erste Mal, dass eine militante kurdische Organisation einen Terroranschlag auf unbeteiligte Zivilisten verübte. Bislang zeichneten sich Anschläge der PKK dadurch aus, dass sie gezielt gegen Militär- oder Polizeieinrichtungen durchgeführt wurden. In ihrem Bekennerschreiben behauptet die TAK nun, auch dieser Anschlag hätte sich eigentlich gegen Sicherheitskräfte gerichtet. Durch eine Intervention der Polizei sei es dann aber zu der Explosion auf dem Kızılay-Platz in Ankara gekommen. Man trauere um die Opfer. Diese Stellungnahme wird wohl nichts daran ändern, dass die Wut gegen die PKK in der türkischen Bevölkerung stark zugenommen hat. Und diese Wut wird von Staatspräsident Erdoğan noch systematisch geschürt. Nachdem er zuerst erklärte, jeder der durch seine Haltung die „PKK-Terroristen“ unterstütze, sei ab sofort selbst als Terrorist anzusehen, legte Erdoğan bei einer Veranstaltung mit Bürgermeistern noch einmal nach. „Demokratie, Freiheit und Rechtsstaat haben für uns keinen Wert mehr“, sagte er. „Wer im Kampf gegen den Terror an unserer Seite ist, ist unser Freund, wer nicht, ist unser Feind. Alles andere zählt jetzt nicht mehr.“ THEMA DES TAGES ausländischer Medien in der Türkei hatten in diesem Jahr Schwierigkeiten, ihre Akkreditierung zu verlängern. Ein großer Teil internationaler Korrespondenten wurden über zwei Monate hingehalten. Auch Nachfragen des deutschen Botschafters halfen zunächst nicht. Erst ein Gespräch mit Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu während seines Besuchs in Berlin im Februar führte dann dazu, dass der größte Teil der deutschen Korrespondenten ihre Akkreditierung erhielten. Nach tagelangem Zögern hat sich gestern die kurdische Ter- Die Menschen im Zeltlager sind entsetzt über die Aussicht, von der EU bald zurück in die Türkei geschickt zu werden AUS IDOMENI ERICH RATHFELDER „In die Türkei zurück, bist du verrückt?“ Der 26-jährige Palästinenser Momir Samir Muhammed will nicht nach „Asien“. Die Leute im Lager Idomeni wissen, dass die EU mit der Türkei ein Abkommen treffen will, doch sie sind wachsam. „Wir haben es immerhin nach Griechenland geschafft, in Asien ist es doch überall gefährlich“, fügt Momir hinzu. Alle umstehenden Flüchtlinge zeigen sich entsetzt über die Aussicht, in die Türkei abgeschoben zu werden. Sie wollen nicht einmal das Lager Idomeni verlassen. „Wir harren hier aus, ob das nun Wochen oder Monate dauert, wir wollen in Europa bleiben“, sagen sie. „Wir leben zwar hier im Dreck“, sagt eine Frau, die ein dreijähriges Kind im Arm hält, „aber wir geben nicht auf.“ Alle nicken zustimmend. Kemal M., ein 32-jähriger Kurde, hält die Türkei für einen Terrorstaat, „da ist niemand seines Lebens sicher“, auch er will hier bleiben. Sie wissen zwar nicht, dass auch internationale Juristen und der UNHCR Mas- senabschiebungen als Bruch des internationalen Rechts ansehen. Das Prinzip der Nichtzurückweisung gelte nach diesen Stimmen vor allem, wenn den Abgeschobenen dort schwere Menschenrechtsverletzungen drohten. Doch die Flüchtlinge spüren, welche Gefahr jetzt droht. „Wenn die Griechen das Lager auflösen wollen, dann müssen sie dies gewaltsam tun. Wir werden uns wehren.“ Viele weigern sich sogar, in die am Mittwoch und Donnerstag von Ärzte ohne Grenzen aufgestellten wasserdichten Großzelte umzuziehen. „Das Geschrei der Kinder kann ich nicht ertragen, vor allem Frauen und Kinder sind dort“, sagt der 58-jährige Syrer Muhammed Abdullah, „und außerdem sollten Frauen und Männer getrennt schlafen.“ In den kleinen Zelten könne man sich wenigstens wärmen, in den Großzelten ist es zu kalt.“ Das Wetter ist besser geworden, in den nächsten Tagen soll es endlich trocken und wärmer werden. Das Lagerleben verstetigt sich. Manche haben vor ihren Zelten Schutzdächer aus Wolldecken gebastelt, an den Feuer- stellen wird Wasser für den unentbehrlichen Tee gekocht. Fliegende Händler verkaufen Obst und andere Lebensmittel, Friseure schneiden die Haare. Die freiwilligen internationalen Helfer sind weiterhin emsig dabei, die Flüchtlinge mit dem Nötigsten zu versorgen. Momir Samir Muhammed sehnt sich nach einem „normalen Bett in einem Hotel“, er will sich duschen und rasieren, aber nach ein par Tagen käme er wieder hierher zurück, betont er. Mehr als die Hoffnung bleibt ihm nicht. Schwerpunkt Leipziger Buchmesse FREITAG, 18. MÄRZ 2016 TAZ.DI E TAGESZEITU NG 03 Das Fest der schönen Literatur, des klugen Sachbuchs und der guten Übersetzung beginnt wieder mit einer Reihe von Preisverleihungen Flüchtlinge und Bildungsbürger WIDERSPRUCH Der Buchhandel setzt sich „für das Wort und die Freiheit“ ein. Und zeichnet zugleich den Historiker Heinrich August Winkler aus, der der Kanzlerin wegen ihrer Flüchtlingspolitik Nationalismus unterstellt AUS LEIPZIG ANDREAS FANIZADEH Der Eröffnungsabend der Buchmesse im Leipziger Gewandhaus steht traditionell im Zeichen einer Selbstvergewisserung der Werte. Der Vorsteher des Börsenvereins des deutschen Buchhandels, Heinrich Riethmüller, klingt dieses Jahr für seine Verhältnisse fast schon aktionistisch. Er ruft die Versammelten aus Buchbranche und Politik, die sich an diesem Mittwoch versammelt haben, dazu auf, deutlich Flagge für die Demokratie zu zeigen. Auf sein Zeichen erhebt sich das Publikum zum Fotoshooting. Hunderte strecken vorgefertigte Pappschilder in die Höhe. Auf denen steht: „Für das Wort und die Freiheit“. Durch alle Reden zieht sich die Sorge vor dem neuen Rassismus in Europa, sehr unterschiedlich ist dabei der Bezug auf die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin. Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) versucht, sich als Kommunalpolitiker klar zu äußern: „Unser Problem heißt nicht Flüchtlingskrise, sondern Rassismus und Fremdenfeindlichkeit.“ Und, das ist wohl an den später am Abend ausgezeichneten Historiker Heinrich August Winkler gerichtet: „Wir vor Ort in den Kommunen und den Städten haben eine Antwort darauf: Menschlichkeit, Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft“, sagt Jung. Auf AfD und Pegida nimmt auch Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU) Bezug. Seine Rede zeigt, wie sehr die Politik gerade im Osten unter Druck steht, wo in einzelnen Kommunen neben den Flüchtlingen längst auch demokratische Amtsträger angegriffen werden. Er mahnt das Engagement der Zivilgesellschaft an – „die eigene Verantwortung endet nicht am heimischen Bücherregal.“ – „Wir haben in der DDR erlebt, wie sehr es auf das Engagement der Bürger ankommt und wie hilfreich eine Bestärkung von außen ist,“ sagt Tillich. Im Kampf gegen den Rechtspopulismus müsse man die demokratischen Parteien und Organisation attraktiver machen, damit sich mehr Menschen aktiv beteiligten. Im benachbarten südlichen Teil von Sachsen-Anhalt sind am Wochenende sämtliche Wahlkreisen an die AfD gegangen. Der erste Preis dieser Buchmesse geht an den 1938 in Königsberg geborenen Heinrich August Winkler. Der Historiker wird für seine vierbändige „Geschichte des Westens“ geehrt. Laudator Volker Ullrich, einst Redakteur der Zeit, hebt hervor, was unstrittig ist: Winkler gehöre zu bedeutenden Historikern der Bundesrepublik. Ansonsten befleißigt sich Ullrich in seiner Laudatio genau jenes Vokabulars, weswegen Winkler mitunter selbst Von links nach rechts: Heinrich Riethmüller, die unvermeidlichen Blumen und Heinrich August Winkler am Mittwochabend Foto: Hendrik Schmidt/dpa wie das bildungsbürgerliche Sprachrohr der AngstbürgerInnen erscheint. Er bejaht Winklers Thesen einer angeblichen „deutschen Sondermoral“ im Zuge von Merkels Flüchtlingspolitik: „Wie hochempfindlich unsere Nachbarn in Europa immer noch reagieren, wenn sich Deutschland als moralischer Lehrmeister aufspielt, das hat gerade in jüngster Zeit die Aus- einandersetzung um die Flüchtlingskrise gezeigt,“ meint Ullrich. In dieser Sicht stehen nicht die nationalistischen unter den EU-Mitgliedstaaten in der Kritik, die sich weigern, Flüchtlinge aufzunehmen, sondern eine Kanzlerin, die die Grenzen im Spätsommer 2015 öffnen ließ. Und Winkler, was sagt der Meister selbst? Er legt in Leipzig in seiner Kanzlerinnen-Schelte nach, die er seit September immer wieder vorgebracht hat. „Eine humanitäre Asylpolitik, die nachhaltig sein will, muss darauf achten, dass die Bedingungen ihrer Möglichkeit auch morgen und übermorgen noch gesichert sind“, so Winkler. „Zu diesen Bedingungen gehört nicht nur die Beachtung der Grenzen der Aufnahme- und Integrationsfähigkeit, sondern auch der politische Rückhalt in der Bevölkerung.“ Dann behauptet Winkler einmal mehr, der eigentliche Nationalismus stecke in Merkels Offenheit gegenüber den Flüchtlingen, „die von unseren Nachbarn als selbstgerecht und anmaßend empfunden wird – als ein Versuch, zumindest auf dem Gebiet der Asylpolitik ein ‚deutsches Europa‘ zu schaffen.“ Guntram Vesper Foto: dpa Brigitte Döbert Foto: Ariel Gout Jürgen Goldstein Foto: Archiv verfasst: Mit James Cook umsegelte Georg Forster die Welt, verfasste erfahrungsgesättigte, literarische Naturbeschreibungen und ethnologische Beobachtungen, die Humboldt und Goethe begeisterten. Forster rief als republikanischer Revolutionär die Mainzer Republik aus – die erste Republik in Deutschland. Der Autor führt Georg Forsters Naturwahrnehmung und Politik zusammen. Er möchte die radikale Naturanthropologie Forsters entschlüsseln und damit eine Verbindung von Naturgewalt und Freiheit nachvollziehbar machen, die für die Philosophen des 18. Jahrhundert charakteristisch und heute oft befremdlich ist. Das Naturhafte einer doch vom Menschen gemachten Po- litik zu behaupten, widerspricht unserer Idee von demokratischen Aushandlungsprozessen. Dennoch: In Vergessenheit geraten ist Forster, so Goldstein, vermutlich eher wegen seiner politischen Radikalität, die sogar Forsters Vater sagen ließ, er wolle seinen Sohn am Galgen sehen. *** In der Kategorie Übersetzung wird Brigitte Döbert für ihre deutsche Fassung von Bora Ćosić’ Roman „Die Tutoren“ ausgezeichnet. Ćosić’ auf 792 Seiten erzählte, einen Zeitraum von 150 Jahren umspannende Familienchronik ist voller Stilbrüche, wechselnder Textsorten. Sie pflegt einen höchst spielerischen Umgang mit Sprache – und enthält zahlreiche parodistische Anspielungen, die für deutsche Leser oft kaum nachvollziehbar sind. Das macht die Übertragung besonders schwer. Seiner sprachlichen und stilistischen Eigenheiten wegen galt das Buch als „unübersetzbar“. Zudem ist es in einem höchst beiläufigen Plauderton gehalten oder wartet seitenweise mit Listen auf, die Einträge enthalten wie: „Deutlich: wenn du so sprichst, dass es jedem in den Schädel fährt“ oder „Wählen: tut man seine Worte, aber es kommt dumm und nichtig heraus.“ Döbert sagt, sie benötigte zweieinhalb Jahre für die Übersetzung. Das mutet im Verhältnis zur bewältigten Aufgabe durchaus sportlich an. FATMA AYDEMIR, Geschichten des Lebens Guntram Vesper, Jürgen Goldstein und Brigitte Döbert werden in Leipzig in den Kategorien Belletristik, Sachbuch und Übersetzung geehrt PREISE LEIPZIG taz | Es gibt Geschichten, an denen schreiben Menschen ein Leben lang. Und es gibt Menschen, die Leben als eine Reihe von Geschichten begreifen. Dass Guntram Vesper für „Frohburg“ mit dem diesjährigen Belletristik-Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde, hat sicher auch mit dem Aufwand und der Zeit zu tun, die in diesem Lebenswerkprojekt stecken. Vor dreißig Jahren schon hatte der Schriftsteller einen Gedichtband veröffentlicht, den er schlicht nach seinem Geburtsort Frohburg benannte. Nun hat der inzwischen 74-Jährige einen 1.000 Seiten dicken Roman mit demselben Titel nachgelegt. Man ahnt es: Vesper hatte nie aufgehört daran zu arbeiten. Auf halber Strecke zwischen Leipzig und Chemnitz befindet sich die 10.000-Seelen-Stadt, die Vesper als Ausgangspunkt nimmt, um nicht eine, sondern viele verästelte Geschichten zu erzählen. Als Jugendlicher war Vesper 1957 gemeinsam mit sei- ner Familie über Westberlin in die Bundesrepublik geflohen. Immer wieder kreist sein Werk um Herkunft und Heimatverlust. Fast musealen Charakter hat nun sein Opus magnum, das sich collagenhaft aus Gesprächsnotizen, Erinnerungen und Tagebuchaufzeichnungen zusammensetzt. Der Roman erzählt vom Zweiten Weltkrieg, den Anfängen der sowjetischen Besatzung, der Nachkriegszeit in Ost und West – Weltgeschichte wird auf einem Kleinstadt-Marktplatz verhandelt, anekdotisch, essayistisch, autobiografisch – und fiktional. Am stärksten ist die Erzählung immer dann, wenn Vesper seine Erinnerungsarbeit reflektiert, und zwar als Romancier, nicht als Dokumentar: „Die Geschichten, die ich als Kind […] eingetrichtert bekam, waren meist falsch. Erst die Fortsetzungen, die ich mir selber ausdachte, […] klangen einigermaßen wahr, wenn ich sie mir erzählte.“ *** In der Kategorie Sachbuch/Essayistik waren Bücher von fünf Professoren nominiert, über eine Frau in diesem Kreise wäre sicher niemand betrübt gewesen. Mit der Nominierung von Hans Joachim Schellnhubers Buch „Selbstverbrennung“ und Werner Busches Porträt von Adolph Menzel hat die Jury erstmals den Blick für die Naturwissenschaften und den Kunstband geöffnet. Den diesjährigen Preis erhält dann Jürgen Goldstein, der die LeserInnen auch in die Aufklärung führt, aber nicht in die Panoramaperspektive, sondern zu einem vergessenen, aber in seiner Zeit viel diskutierten Entdecker, Naturforscher, Revolutionär und Übersetzer: Georg Forster. Goldstein, Professor für Philosphie in Koblenz-Landau, hat mit „Georg Forster. Zwischen Freiheit und Naturgewalt“ die gut erzählte Biografie einer schillernden Gestalt TIM CASPAR BOEHME, TANIA MARTINI
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