taz.die tageszeitung

Heiko Maas: „Nicht länger schweigen“
Der Justizminister über rechte Hetze, die AfD und die stille Mitte ▶ Seite 13
AUSGABE BERLIN | NR. 10972 | 11. WOCHE | 38. JAHRGANG
FREITAG, 18. MÄRZ 2016 | WWW.TAZ.DE
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Denk ich an Syrien …
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DOSSIER Große Sorge, leise Hoffnung: Fünf Jahre nach Beginn des Aufstands gegen Assad beschreiben syrische
AutorInnen ihre Sicht auf den Krieg in der Heimat. Analysen und ein Essay von Herfried Münkler ▶ SEITE 4–11
H EUTE I N DER TAZ
LITERATUR Wer die
Buchpreise in Leipzig
bekommen hat ▶ SEITE 3
MUSIK Neues von Ste-
fan Goldmann und Jeb
Loy Nichols ▶ SEITE 19, 20
BERLIN „Ferne Liebe“:
Film über Fans von Fußballklubs aus anderen
Städten ▶ SEITE 28
Foto: dpa (oben)
VERBOTEN
Guten Tag,
meine Damen und Herren!
Bundeswirtschaftsminister
Sigmar Gabriel hat die Übernahme der angeschlagenen
Superpartei SPD durch den
Handelsriesen CDU unter Auflagen genehmigt. Als Hauptgrund nannte er den „Erhalt
der Arbeitsplätze und Arbeitnehmerrechte“ der SPD-Wähler. Dieses Ziel überwiege die
Wettbewerbseinschränkung,
die mit der Fusion einhergehe.
Die Sicherung der SPD-Wähler
lasse sich „nur durch eine Gesamtübernahme durch Merkel
wirkungsvoll realisieren“, sagte
Gabriel und betonte:
„Es geht um Menschen, die
jedenfalls nicht zu den Gutverdienenden gehören.“
TAZ MUSS SEI N
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Kleine Zeichen der Zuversicht: Aktivisten pflanzen zum Jahrestag des Aufstands Olivenbäumchen inmitten zerstörter Wohnviertel in Jobar, einem Vorort von Damaskus Foto: Anadolu Agency/afp
W
ird sich der syrische Präsident
Baschar al-Assad mit seiner Familie ins iranische Exil begeben? Über diese Frage wird derzeit auch
in syrischen Kreisen spekuliert, die nicht
eben der Opposition nahestehen. Fünf Jahre nach den
politischen Umbrüchen in
Tunesien, Ägypten und Libyen und fünf Jahre nach dem Beginn der
zunächst friedlichen, landesweiten Proteste in der syrischen Stadt Daraa gegen
das Baath-Regime in Damaskus, zeigen
solche Diskussionen, dass sich die Lage
in Syrien selbst, aber auch auf internationaler Ebene geändert hat.
Heute gibt es die vorsichtige Hoffnung
auf eine friedlichere Zukunft. Der Anstoß
dafür kam von außen. Es waren Moskau
und Washington, die eine Waffenruhe
vereinbarten. Auf politischer Ebene
wurde diese von den Verhandlungen in
Genf unter der Ägide der UNO begleitet.
Doch zu viel Optimismus ist nicht angebracht. Nach wie vor lässt der syrische
Diktator keinen Zweifel daran, dass er weiterhin an der
Macht zu bleiben gedenkt.
Weite Teile der Opposition
lehnen aber jedwede Rolle Assads auch
während der von der UNO vorgeschlagenen 18-monatigen Übergangszeit ab.
Andere wiederum könnten für eine begrenzte Periode damit leben, quasi nach
dem Motto „Kein Waffenstillstand ohne
Assad, keine Zukunft für Syrien mit Assad“.
Und schließlich gibt es noch die AlNusra-Front, den syrischen Ableger von
al-Qaida, sowie den „Islamischen Staat“.
Editorial
Beide könnten eine Einigung jederzeit
torpedieren und neue Gefechte auslösen. So hat die Al-Nusra-Front am Mittwoch angekündigt, in den kommenden
Tagen eine Offensive gegen die gemäßigte oppositionelle Freie Syrische Armee zu beginnen.
Sollte der Waffenstillstand anhalten,
bei den Genfer Gesprächen erste Fortschritte erzielt werden und eine Befriedung der Lage in Syrien in greifbare Nähe
rücken, drängen jedoch schnell neue Probleme auf die Tagesordnung. Jenseits der
Syrien ist vor allem ein
gesellschaftlicher Aussöhnungsprozess zu wünschen
Haftstrafen für Brandstifter
URTEIL
Nach Anschlag auf Asylheim: Richter vergleicht Täter mit „SA-Trupps“
HANNOVER epd/taz | Rund ein
halbes Jahr nach dem Brandanschlag auf ein bewohntes Flüchtlingsheim in Salzhemmendorf
bei Hameln hat das Landgericht Hannover am Donnerstag die Täter zu mehrjährigen
Haftstrafen verurteilt. Die Strafkammer befand den 31-jährigen
Haupttäter Dennis L. des versuchten Mordes in vier Fällen
und der versuchten Brandstif-
tung für schuldig. Dafür muss
er für acht Jahre ins Gefängnis.
Seinen Kumpanen Sascha D. (25)
verurteilte das Gericht zu sieben
Jahren Haft, er muss zudem eine
Alkoholentziehung machen. Die
dritte Angeklagte Saskia B. (24)
erhielt eine Freiheitsstrafe von
vier Jahren und sechs Monaten.
Er sehe drei Mordmerkmale
als erfüllt an, sagte des Vorsitzende Richter, an die Verurteil-
ten gewandt. „Sie handelten aus
niederen Beweggründen, heimtückisch und mit einer gemeingefährlichen Waffe.“ Er verglich sie mit „marodierenden
SA-Trupps“, die bei Terrorakten
1938 Geschäfte in Brand gesetzt
und Tote und Verletzte billigend
in Kauf genommen hätten: „Das
ist die Reihe, in die Sie mit Ihrer
Tat treten.“
▶ Inland SEITE 13
zahlreichen praktischen Herausforderungen, von der Hilfe für Bedürftige bis
hin zum Wiederaufbau, ist Syrien vor allem ein gesellschaftlicher Aussöhnungsprozess zu wünschen. Argentinien, Südafrika und Ruanda sind dafür Beispiele.
„Schwarze Listen“ mit den Namen von
Personen, die künftig vom politischen Leben ausgeschlossen werden sollen – und
solche werden in Syrien sowohl von Behörden wie von radikalen Oppositionsgruppen geführt –, sind dafür jedoch
nicht hilfreich. Der Irak und Libyen lassen grüßen.
Ein Prozess der gesellschaftlichen
Aussöhnung setzt zudem Vertrauen in
neue Institutionen und die politische
Führung des Landes voraus. Doch das
ist mit Assad kaum vorstellbar. BEATE SEEL
Alternativloser Gipfel
FLÜCHTLINGSKRISE
EU berät über Deal mit der Türkei
BRÜSSEL rtr/taz | In Brüssel hat
am Donnerstagnachmittag ein
mindestens zweitägiges Gipfeltreffen zwischen der Europäischen Union und der Türkei
begonnen, das eine Lösung der
Flüchtlingskrise bringen soll. Es
gebe keine Alternative zu dem
geplanten Abkommen, wonach
die Türkei Flüchtlinge zurücknehmen soll und dafür Finanzhilfen und Visafreiheit erhält,
sagte Mark Rutte, Regierungschef der Niederlande, die derzeit die EU-Ratspräsidentschaft
hält. Eine Vereinbarung werde
nach Ansicht von Litauens Präsidentin Dalia Grybauskaite aber
schwer umzusetzen sein: „Sie
ist am Rande des internationalen Rechts.“ Überschattet wurde
der Gipfel von neuen deutschtürkischen Spannungen.
▶ Schwerpunkt SEITE 2
02
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
PORTRAIT
NACH RICHTEN
US-GEH EIMDI ENST NSA
KLIMASCHUTZ
Steinmeier verteidigt Kooperation
Weltweiter Ausstoß
von CO2 stagniert
BERLIN | Außenminister Frank-
Aus der Türkei ausgewiesen:
Hasnain Kazim Foto: imago
Der sich zum
Teufel schert
F
amilie, Freunde und Kollegen sagten vorher: Pass auf
dich auf“, schreibt SpiegelKorrespondent Hasnain Kazim
im September über die Reaktionen auf eine geplante Reise.
Dabei wollte der erfahrene Krisenreporter, der vier Jahre aus
dem terrorgeplagten Pakistan
berichtet hatte, nur das sächsische ­Heidenau besuchen, wo
gerade ein rassistischer Mob getobt hatte.
Der heute 41-jährige Kazim,
der indisch-pakistanischer Abstammung ist und im Alten
Land bei Hamburg aufwuchs,
macht sich gern selbst ein Bild.
Er geht Dingen auf den Grund
und nennt Probleme beim
Namen. Das führt schon in
Deutschland zu rassistischen
Anfeindungen.
Vor drei Jahren schien für Kazim und seine Familie die Versetzung in die Türkei ein ruhigeres und sichereres Arbeiten
zu versprechen als in Pakistan.
Doch seitdem hat sich nicht nur
die Sicherheitslage in der Türkei
verschärft, sondern auch die Arbeitsbedingungen der in- und
ausländischen Journalisten wurden schlechter. Jetzt hat Kazim
das Land verlassen müssen. Die
türkische Regierung hatte seine
jährlich zu verlängernde Akkreditierung so lange verschleppt,
dass es nicht mehr verantwortbar war, länger zu bleiben. Ohne
gültige Papiere hätte er jederzeit
sanktioniert werden können.
Der taz erklärte Kazim, dass
er wohl persönlich den Zorn
von Recep Tayyip Erdoğan erregt habe. Vor knapp zwei Jahren hatte der Reporter über das
Bergwerksunglück in Soma mit
mehr als 300 Toten berichtet.
Kazim zitierte einen Überlebenden, der sich vom damaligen
Premier und heutigen Präsidenten Erdoğan im Stich gelassen
fühlte. „Scher dich zum Teufel,
Erdoğan“, sagte dieser.
Das Zitat wurde zum Titel des
Berichts und löste in der Türkei
eine Kampagne gegen Kazim
aus. Die Anfeindungen, die er
schon aus Deutschland kennt,
wurden durch verbale Angriffe
aus der Türkei ergänzt. Sie reichten bis zu Morddrohungen. Vorsichtshalber verließ Kazim für
einige Wochen das Land. Als Reserveoffizier der Bundesmarine
kennt er sich auch mit Angriffen
aus. Persönlich ist er eher sanft
und humorvoll. Doch vor allem
ist er ein guter Journalist, der
Menschen fair behandelt, ohne
jemandem nach dem Mund zu
SVEN HANSEN
reden. Der Tag
FREITAG, 18. MÄRZ 2016
Walter Steinmeier (SPD) hat die
im Jahr 2002 vereinbarte Zusammenarbeit mit dem USGeheimdienst NSA verteidigt.
Die Anschläge vom 11. September 2001 seien „eine völlig neue
Qualität des Terrorismus“ gewesen, erklärte der damalige
Kanzleramtschef am Donnerstag im NSA-Untersuchungsausschuss des Bundestags. Die Bundesregierung habe damals vor
der Aufgabe gestanden, die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit zu finden. „Das ist uns,
wie ich glaube, in verantwortlicher Weise gelungen“, sagte er.
Der Ausschuss untersucht
die umstrittene Kooperation
des Bundesnachrichtendienstes
(BND) mit der NSA. Steinmeier
sagte, zwischen beiden Ländern
seien damals verbindliche Regeln vereinbart worden. So sei
klar gewesen, dass die Zusammenarbeit „auf dem Boden der
deutschen Rechtsordnung erfolgen muss“. Damals sei „kein Freifahrtschein für die NSA“ erteilt
worden. Die Vereinbarung beinhalte auch keine Genehmigung
zur Überwachung von europäischen Regierungen und Institutionen. Deshalb halte er den Vertrag bis heute für richtig. (dpa)
BERLIN | Gute Nachrichten fürs
Klima: Der energiebedingte CO2Ausstoß hat letztes Jahr weltweit
zum zweiten Mal in Folge stagniert. „Damit erleben wir, dass
sich der Ausstoß von Treibhausgasen vom Wirtschaftswachstum entkoppelt hat“, sagte der
Direktor der Internationalen
Energieagentur, Fatih Birol,
gestern in Berlin. In Deutschland stieg der CO2-Ausstoß 2015
hingegen um 0,7 Prozent an,
teilte das Umweltministerium
mit – vor allem wegen des kalten Winters und der niedrigen
Kraftstoffpreise. (taz)
L AUT ODER LEISE?
ISRAEL
Etablierte Musiker, frische
Jungbands, Pop-Diskurse sowie
Interviews mit SängerInnen und
Klang-Fricklern: Aufs nächste Konzert einstimmen auf taz.de/musik
Konzerte
Kritiken
Klänge
www.taz.de
Meisterspion Meir
Dagan gestorben
JERUSALEM | Meir Dagan, Chef
des israelischen Auslandsgeheimdienstes Mossad, ist tot.
Der 71-Jährige sei nach langer
Krankheit verstorben, hieß es
gestern. Dagan wurde am 30. Januar 1945 im russischen Nowosibirsk als Meir Hubermann
geboren. Er war von 2002 bis
2010 Mossad-Direktor. In seine
Dienstzeit fielen verdeckte Maßnahmen zur Sabotage des iranischen Atomprogramms. Dazu
gehörten Attentate auf Atomforscher, Explosionen in Nuklearanlagen und Angriffe mit dem
Computerwurm Stuxnet. (afp)
Das einzig Sichere hier ist die Repression
TÜRKEI Wegen Terrorgefahr werden die deutschen Einrichtungen vorübergehend geschlossen. Die Presse wird
weiter drangsaliert. Ein PKK-Ableger bekennt sich zum Terror. Und Erdoğan kennt nur noch Freund und Feind
VON JÜRGEN GOTTSCHLICH
Ausgerechnet am Tag des Türkei-EU Gipfels müssen die deutschen Auslandsvertretungen in
der Türkei geschlossen werden.
Wegen einer sehr konkreten Terrorwarnung, so Außenminister
Frank-Walter Steinmeier, wurden die deutsche Botschaft in
Ankara, das Generalkonsulat
in Istanbul und die Deutschen
Schulen in Ankara und Istanbul
geschlossen.
Die Terrorwarnungen seien
am Mittwochabend bei den
deutschen Sicherheitsbehörden
eingegangen. „Zum Schutz deut-
scher Bürger werden die deutschen Vertretungen vorübergehend geschlossen. Das deutsche
Generalkonsulat warnt darüber
hinaus, die Gegend um das Konsulat in Istanbul zu betreten.
Dass Konsulat liegt nur wenige
hundert Meter vom zentralen
Taksimplatz entfernt. Es ist das
„Demokratie, Freiheit und Rechtsstaat
haben für uns keinen
Wert mehr“
STAATSPRÄSIDENT ERDOĞAN
erste Mal seit Jahrzehnten, dass
die deutschen Vertretungen in
der Türkei aus Sicherheitsgründen schließen müssen.
Noch ein zweiter Vorfall wirft
am Tag des EU-Türkei-Gipfels einen Schatten auf die deutschtürkischen Beziehungen. Der
Korrespondent von Spiegel Online, Hasnain Kazim, musste das
Land verlassen. Die Regierung
hatte dem Journalisten die Akkreditierung verweigert, womit
auch sein Aufenthaltsrecht entfiel und er ausreisen musste.
Zunächst schien es so, als sei
Kazims Fall ein Fall unter anderen. Fast alle Korrespondenten
Stillleben mit fetter Katze: am Donnerstag vor den geschlossenen Toren der Deutschen Schule in Istanbul Foto: Sedat Suna/dpa
In Idomeni will niemand zurück
GRENZE
rororganisation TAK (Die Freiheitsfalken) zu dem verheerenden Anschlag in Ankara vom
Sonntag bekannt. Dabei waren
37 überwiegend junge Menschen getötet und knapp 100
Personen schwer verletzt worden. Die TAK ist eine Unterorganisation der PKK, obwohl sie
selbst einen organisatorischen
Zusammenhang bestreitet. Es
war das erste Mal, dass eine militante kurdische Organisation
einen Terroranschlag auf unbeteiligte Zivilisten verübte.
Bislang zeichneten sich Anschläge der PKK dadurch aus,
dass sie gezielt gegen Militär- oder Polizeieinrichtungen
durchgeführt wurden. In ihrem
Bekennerschreiben behauptet
die TAK nun, auch dieser Anschlag hätte sich eigentlich gegen Sicherheitskräfte gerichtet.
Durch eine Intervention der Polizei sei es dann aber zu der Explosion auf dem Kızılay-Platz in
Ankara gekommen. Man trauere um die Opfer.
Diese Stellungnahme wird
wohl nichts daran ändern, dass
die Wut gegen die PKK in der
türkischen Bevölkerung stark
zugenommen hat. Und diese
Wut wird von Staatspräsident
Erdoğan noch systematisch geschürt. Nachdem er zuerst erklärte, jeder der durch seine
Haltung die „PKK-Terroristen“
unterstütze, sei ab sofort selbst
als Terrorist anzusehen, legte
Erdoğan bei einer Veranstaltung mit Bürgermeistern noch
einmal nach. „Demokratie, Freiheit und Rechtsstaat haben für
uns keinen Wert mehr“, sagte er.
„Wer im Kampf gegen den Terror an unserer Seite ist, ist unser
Freund, wer nicht, ist unser
Feind. Alles andere zählt
jetzt nicht mehr.“
THEMA
DES
TAGES
ausländischer Medien in der
Türkei hatten in diesem Jahr
Schwierigkeiten, ihre Akkreditierung zu verlängern. Ein großer Teil internationaler Korrespondenten wurden über zwei
Monate hingehalten. Auch Nachfragen des deutschen Botschafters halfen zunächst nicht. Erst
ein Gespräch mit Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu während
seines Besuchs in Berlin im Februar führte dann dazu, dass der
größte Teil der deutschen Korrespondenten ihre Akkreditierung erhielten.
Nach tagelangem Zögern hat
sich gestern die kurdische Ter-
Die Menschen im Zeltlager sind entsetzt über die Aussicht, von der EU bald zurück in die Türkei geschickt zu werden
AUS IDOMENI ERICH RATHFELDER
„In die Türkei zurück, bist du
verrückt?“ Der 26-jährige Palästinenser Momir Samir Muhammed will nicht nach „Asien“. Die
Leute im Lager Idomeni wissen,
dass die EU mit der Türkei ein
Abkommen treffen will, doch
sie sind wachsam. „Wir haben
es immerhin nach Griechenland geschafft, in Asien ist es
doch überall gefährlich“, fügt
Momir hinzu.
Alle umstehenden Flüchtlinge
zeigen sich entsetzt über die Aussicht, in die Türkei abgeschoben
zu werden. Sie wollen nicht einmal das Lager Idomeni verlassen. „Wir harren hier aus, ob das
nun Wochen oder Monate dauert, wir wollen in Europa bleiben“, sagen sie. „Wir leben zwar
hier im Dreck“, sagt eine Frau,
die ein dreijähriges Kind im Arm
hält, „aber wir geben nicht auf.“
Alle nicken zustimmend.
Kemal M., ein 32-jähriger
Kurde, hält die Türkei für einen
Terrorstaat, „da ist niemand seines Lebens sicher“, auch er will
hier bleiben. Sie wissen zwar
nicht, dass auch internationale
Juristen und der UNHCR Mas-
senabschiebungen als Bruch des
internationalen Rechts ansehen.
Das Prinzip der Nichtzurückweisung gelte nach diesen Stimmen
vor allem, wenn den Abgeschobenen dort schwere Menschenrechtsverletzungen drohten.
Doch die Flüchtlinge spüren, welche Gefahr jetzt droht.
„Wenn die Griechen das Lager
auflösen wollen, dann müssen
sie dies gewaltsam tun. Wir werden uns wehren.“ Viele weigern
sich sogar, in die am Mittwoch
und Donnerstag von Ärzte ohne
Grenzen aufgestellten wasserdichten Großzelte umzuziehen.
„Das Geschrei der Kinder kann
ich nicht ertragen, vor allem
Frauen und Kinder sind dort“,
sagt der 58-jährige Syrer Muhammed Abdullah, „und außerdem sollten Frauen und Männer
getrennt schlafen.“
In den kleinen Zelten könne
man sich wenigstens wärmen, in
den Großzelten ist es zu kalt.“ Das
Wetter ist besser geworden, in
den nächsten Tagen soll es endlich trocken und wärmer werden. Das Lagerleben verstetigt
sich. Manche haben vor ihren
Zelten Schutzdächer aus Wolldecken gebastelt, an den Feuer-
stellen wird Wasser für den unentbehrlichen Tee gekocht. Fliegende Händler verkaufen Obst
und andere Lebensmittel, Friseure schneiden die Haare.
Die freiwilligen internationalen Helfer sind weiterhin emsig
dabei, die Flüchtlinge mit dem
Nötigsten zu versorgen. Momir
Samir Muhammed sehnt sich
nach einem „normalen Bett in
einem Hotel“, er will sich duschen und rasieren, aber nach
ein par Tagen käme er wieder
hierher zurück, betont er. Mehr
als die Hoffnung bleibt ihm
nicht.
Schwerpunkt
Leipziger Buchmesse
FREITAG, 18. MÄRZ 2016
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
03
Das Fest der schönen Literatur, des klugen Sachbuchs und der guten
Übersetzung beginnt wieder mit einer Reihe von Preisverleihungen
Flüchtlinge und
Bildungsbürger
WIDERSPRUCH Der Buchhandel setzt sich
„für das Wort und die Freiheit“ ein. Und
zeichnet zugleich den Historiker Heinrich
August Winkler aus, der der Kanzlerin
wegen ihrer Flüchtlingspolitik
Nationalismus unterstellt
AUS LEIPZIG ANDREAS FANIZADEH
Der Eröffnungsabend der Buchmesse im Leipziger Gewandhaus steht traditionell im Zeichen einer Selbstvergewisserung der Werte. Der Vorsteher
des Börsenvereins des deutschen Buchhandels, Heinrich
Riethmüller, klingt dieses Jahr
für seine Verhältnisse fast
schon aktionistisch. Er ruft die
Versammelten aus Buchbranche und Politik, die sich an diesem Mittwoch versammelt haben, dazu auf, deutlich Flagge
für die Demokratie zu zeigen.
Auf sein Zeichen erhebt sich
das Publikum zum Fotoshooting. Hunderte strecken vorgefertigte Pappschilder in die
Höhe. Auf denen steht: „Für das
Wort und die Freiheit“.
Durch alle Reden zieht sich
die Sorge vor dem neuen Rassismus in Europa, sehr unterschiedlich ist dabei der Bezug
auf die Flüchtlingspolitik der
Kanzlerin. Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD)
versucht, sich als Kommunalpolitiker klar zu äußern: „Unser
Problem heißt nicht Flüchtlingskrise, sondern Rassismus und
Fremdenfeindlichkeit.“ Und,
das ist wohl an den später am
Abend ausgezeichneten Historiker Heinrich August Winkler gerichtet: „Wir vor Ort in den Kommunen und den Städten haben
eine Antwort darauf: Menschlichkeit, Hilfsbereitschaft und
Gastfreundschaft“, sagt Jung.
Auf AfD und Pegida nimmt
auch Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU) Bezug. Seine Rede zeigt, wie sehr
die Politik gerade im Osten unter Druck steht, wo in einzelnen
Kommunen neben den Flüchtlingen längst auch demokratische Amtsträger angegriffen
werden. Er mahnt das Engagement der Zivilgesellschaft an –
„die eigene Verantwortung endet nicht am heimischen Bücherregal.“ – „Wir haben in der
DDR erlebt, wie sehr es auf das
Engagement der Bürger ankommt und wie hilfreich eine
Bestärkung von außen ist,“ sagt
Tillich. Im Kampf gegen den
Rechtspopulismus müsse man
die demokratischen Parteien
und Organisation attraktiver
machen, damit sich mehr Menschen aktiv beteiligten.
Im benachbarten südlichen
Teil von Sachsen-Anhalt sind am
Wochenende sämtliche Wahlkreisen an die AfD gegangen.
Der erste Preis dieser Buchmesse geht an den 1938 in Königsberg geborenen Heinrich
August Winkler. Der Historiker
wird für seine vierbändige „Geschichte des Westens“ geehrt.
Laudator Volker Ullrich, einst
Redakteur der Zeit, hebt hervor, was unstrittig ist: Winkler
gehöre zu bedeutenden Historikern der Bundesrepublik.
Ansonsten befleißigt sich
Ullrich in seiner Laudatio genau jenes Vokabulars, weswegen Winkler mitunter selbst
Von links nach rechts: Heinrich Riethmüller, die unvermeidlichen Blumen und Heinrich August Winkler am Mittwochabend Foto: Hendrik Schmidt/dpa
wie das bildungsbürgerliche
Sprachrohr der AngstbürgerInnen erscheint. Er bejaht Winklers Thesen einer angeblichen
„deutschen Sondermoral“ im
Zuge von Merkels Flüchtlingspolitik: „Wie hochempfindlich
unsere Nachbarn in Europa immer noch reagieren, wenn sich
Deutschland als moralischer
Lehrmeister aufspielt, das hat
gerade in jüngster Zeit die Aus-
einandersetzung um die Flüchtlingskrise gezeigt,“ meint Ullrich. In dieser Sicht stehen nicht
die nationalistischen unter den
EU-Mitgliedstaaten in der Kritik,
die sich weigern, Flüchtlinge
aufzunehmen, sondern eine
Kanzlerin, die die Grenzen im
Spätsommer 2015 öffnen ließ.
Und Winkler, was sagt der
Meister selbst? Er legt in Leipzig
in seiner Kanzlerinnen-Schelte
nach, die er seit September immer wieder vorgebracht hat.
„Eine humanitäre Asylpolitik,
die nachhaltig sein will, muss
darauf achten, dass die Bedingungen ihrer Möglichkeit auch
morgen und übermorgen noch
gesichert sind“, so Winkler. „Zu
diesen Bedingungen gehört
nicht nur die Beachtung der
Grenzen der Aufnahme- und
Integrationsfähigkeit, sondern
auch der politische Rückhalt in
der Bevölkerung.“
Dann behauptet Winkler
einmal mehr, der eigentliche
Nationalismus stecke in Merkels Offenheit gegenüber den
Flüchtlingen, „die von unseren
Nachbarn als selbstgerecht und
anmaßend empfunden wird –
als ein Versuch, zumindest auf
dem Gebiet der Asylpolitik ein
‚deutsches Europa‘ zu schaffen.“
Guntram Vesper Foto: dpa
Brigitte Döbert Foto: Ariel Gout
Jürgen Goldstein Foto: Archiv
verfasst: Mit James Cook umsegelte ­Georg Forster die Welt, verfasste erfahrungsgesättigte, literarische Naturbeschreibungen
und ethnologische Beobachtungen, die Humboldt und Goethe
begeisterten. Forster rief als republikanischer Revolutionär die
Mainzer Republik aus – die erste
Republik in Deutschland.
Der Autor führt Georg Forsters Naturwahrnehmung und
Politik zusammen. Er möchte
die radikale Naturanthropologie Forsters entschlüsseln und
damit eine Verbindung von Naturgewalt und Freiheit nachvollziehbar machen, die für die
Philosophen des 18. Jahrhundert
charakteristisch und heute oft
befremdlich ist.
Das Naturhafte einer doch
vom Menschen gemachten Po-
litik zu behaupten, widerspricht
unserer Idee von demokratischen Aushandlungsprozessen.
Dennoch: In Vergessenheit geraten ist Forster, so Goldstein, vermutlich eher wegen seiner politischen Radikalität, die sogar
Forsters Vater sagen ließ, er wolle
seinen Sohn am Galgen sehen.
***
In der Kategorie Übersetzung
wird Brigitte Döbert für ihre
deutsche Fassung von Bora
Ćosić’ Roman „Die Tutoren“
ausgezeichnet. Ćosić’ auf 792
Seiten erzählte, einen Zeitraum
von 150 Jahren umspannende
Familienchronik ist voller Stilbrüche, wechselnder Textsorten. Sie pflegt einen höchst spielerischen Umgang mit Sprache
– und enthält zahlreiche parodistische Anspielungen, die für
deutsche Leser oft kaum nachvollziehbar sind. Das macht die
Übertragung besonders schwer.
Seiner sprachlichen und stilistischen Eigenheiten wegen
galt das Buch als „unübersetzbar“. Zudem ist es in einem
höchst beiläufigen Plauderton
gehalten oder wartet seitenweise mit Listen auf, die Einträge
enthalten wie: „Deutlich: wenn
du so sprichst, dass es jedem in
den Schädel fährt“ oder „Wählen: tut man seine Worte, aber
es kommt dumm und nichtig
heraus.“
Döbert sagt, sie benötigte
zweieinhalb Jahre für die Übersetzung. Das mutet im Verhältnis zur bewältigten Aufgabe durchaus sportlich an.
FATMA AYDEMIR,
Geschichten des Lebens
Guntram Vesper, Jürgen Goldstein und Brigitte Döbert werden in
Leipzig in den Kategorien Belletristik, Sachbuch und Übersetzung geehrt
PREISE
LEIPZIG taz | Es gibt Geschichten,
an denen schreiben Menschen
ein Leben lang. Und es gibt Menschen, die Leben als eine Reihe
von Geschichten begreifen. Dass
Guntram Vesper für „Frohburg“
mit dem diesjährigen Belletristik-Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde, hat
sicher auch mit dem Aufwand
und der Zeit zu tun, die in diesem Lebenswerkprojekt stecken.
Vor dreißig Jahren schon
hatte der Schriftsteller einen Gedichtband veröffentlicht, den er
schlicht nach seinem Geburtsort Frohburg benannte. Nun
hat der inzwischen 74-Jährige
einen 1.000 Seiten dicken Roman mit demselben Titel nachgelegt. Man ahnt es: Vesper hatte
nie aufgehört daran zu arbeiten.
Auf halber Strecke zwischen
Leipzig und Chemnitz befindet
sich die 10.000-Seelen-Stadt,
die Vesper als Ausgangspunkt
nimmt, um nicht eine, sondern
viele verästelte Geschichten zu
erzählen. Als Jugendlicher war
Vesper 1957 gemeinsam mit sei-
ner Familie über Westberlin in
die Bundesrepublik geflohen.
Immer wieder kreist sein Werk
um Herkunft und Heimatverlust. Fast musealen Charakter
hat nun sein Opus magnum, das
sich collagenhaft aus Gesprächsnotizen, Erinnerungen und Tagebuchaufzeichnungen zusammensetzt.
Der Roman erzählt vom Zweiten Weltkrieg, den Anfängen der
sowjetischen Besatzung, der
Nachkriegszeit in Ost und West
– Weltgeschichte wird auf einem
Kleinstadt-Marktplatz verhandelt, anekdotisch, essayistisch,
autobiografisch – und fiktional. Am stärksten ist die Erzählung immer dann, wenn Vesper
seine Erinnerungsarbeit reflektiert, und zwar als Romancier,
nicht als Dokumentar: „Die Geschichten, die ich als Kind […]
eingetrichtert bekam, waren
meist falsch. Erst die Fortsetzungen, die ich mir selber ausdachte, […] klangen einigermaßen wahr, wenn ich sie mir erzählte.“
***
In der Kategorie Sachbuch/Essayistik waren Bücher von fünf
Professoren nominiert, über
eine Frau in diesem Kreise wäre
sicher niemand betrübt gewesen. Mit der Nominierung von
Hans Joachim Schellnhubers
Buch „Selbstverbrennung“ und
Werner Busches Porträt von
Adolph Menzel hat die Jury erstmals den Blick für die Naturwissenschaften und den Kunstband
geöffnet.
Den diesjährigen Preis erhält
dann Jürgen Goldstein, der die
LeserInnen auch in die Aufklärung führt, aber nicht in die Panoramaperspektive, sondern zu
einem vergessenen, aber in seiner Zeit viel diskutierten Entdecker, Naturforscher, Revolutionär und Übersetzer: Georg
Forster.
Goldstein, Professor für Philosphie in Koblenz-Landau,
hat mit „Georg Forster. Zwischen Freiheit und Naturgewalt“ die gut erzählte Biografie einer schillernden Gestalt
TIM CASPAR BOEHME, TANIA MARTINI