Die Geschichte ist nicht zu Ende

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DEUTSCHLANDFUNK
Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur
Redaktion: Hermann Theißen
Sendung:
Dienstag, 08.03.2016
19.15 – 20.00 Uhr
Die Geschichte ist nicht zu Ende
Szenen einer russisch-deutschen Ehe
Von Tita Gaehme
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- Unkorrigiertes Manuskript -
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Atmo / Musik
Ansage
Die Geschichte ist nicht zu Ende
Szenen einer russisch-deutschen Ehe
Ein Feature von Tita Gaehme
Musik
Sprecher
Neue Heimat:
O-Ton Swetlana
Als ich das Haus gesehen habe, habe ich gedacht, mein Gott, wer macht
solche Fenster. Eigentlich ich finde, das ist das unmenschlich.
O-Ton Reimar
Ein anderer Mensch würde seine kulturellen Unterschiede anders ausdrücken, die er
empfindet. Bei Swetlana ist es halt so. Was ihr von Anfang an nicht gefallen hat, das
waren unsere Fenstersprossen.
O-Ton Swetlana
Und ich muss ehrlich sagen: zum Putzen, das sind 900 Ecken! Jede Ecke muss
man sauber machen. Wenn man ein normales Fenster hat, dann macht man
dschick, dschick, und ist alles sauber, eins, zwei, drei vier. Und hier
neunhundert Ecken! Da kann man wirklich Arme kaputt machen. Mich
unterdrückt das einfach, für mich ist das eine Katastrophe.
Sprecherin
Swetlana wohnt jetzt in Bayern. Geboren wurde sie nach dem Krieg, Ende 1945 in
einem sowjetischen Dorf. Als junge Frau kam sie in die Großstadt Pskow, 280
Kilometer südwestlich von Petersburg. Hier zog sie ihre Tochter groß, nach der
Ehescheidung allein. Seit den 1990er-Jahren lebt Swetlanas Tochter in Deutschland.
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O-Ton Swetlana
Das Leben spielt mit uns wie mit Puppen.
Sprecherin
Fünfzehn Jahre nach ihrer Tochter kam auch Swetlana nach Deutschland. Sie
heiratete Reimar und zog zu ihm in ein oberbayerisches Dorf, in die Nachbarschaft
von bunten Gärten, Häusern mit Lüftlmalereien, blumenbehängten Holzbalkonen.
Swetlana und Reimar wohnen am Rand des Ortes. Hinter ihrem Haus liegt eine
Bergwiese und das Panorama der Zugspitzkette.
O-Ton Swetlana
Ich muss immer raus, damit ich was sehen kann. Ich kann nicht aus dem Zimmer so
gucken. Man bekommt kein Bild, man bekommt den geteilten Himmel, wie bei, wie
hieß sie, bei Christa Wolf.
O-Ton Reimar
Ich hab früher einige Häuser gebaut, die haben Fensterscheiben gehabt von der
einen Zimmerwand zur andern Zimmerwand, und von der Decke bis zum Fußboden.
Ich kenne das natürlich als Architekt, viel Glas oder eben nicht. Und hier im Dorf
haben die alten Häuser alle Sprossenfenster. Also haben wir es auch gemacht.
Sprecherin
Reimar ist fast 90. Im Dezember 1926 wurde er in Mannheim geboren und
verbrachte seine Berufsjahre im Rheinland. Er leitete in Düsseldorf gemeinsam mit
seinem Bruder ein Architekturbüro und hatte mit seiner ersten Ehefrau drei Kinder.
Im Alter erfüllten sich die Brüder ihren Herzenswunsch, gemeinsam nach
Süddeutschland zu ziehen.
O-Ton Reimar
Ich bin hierher gezogen, um mich aus der Großstadt zu entfernen, den ganzen
Stress hinter mir zu lassen, in dem ich mein Leben zugebracht habe. Ich habe hier
die wunderbarste Luft, ich hab schönes friedliches Leben, wohin ich auch gucke,
vielleicht ist auch mal ein bisschen Kuhscheiße auf der Straße. Das sehe ich, wenn
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ich aus dem Fenster schaue und freue mich an den bewaldeten Bergen, die das
Ganze umrahmen.
Sprecherin
Die Brüder planten auch ihr Haus gemeinsam, ein Doppelhaus für den Lebensabend.
O-Ton Reimar
Ich weiß, dass unser Haus überhaupt nicht dunkel ist. Im Gegenteil, es ist
lichtdurchflutet von hinten nach vorn. Bei Swetlana zu Hause ist es viel, viel dunkler,
nur sie empfindet das nicht so.
Sprecher
Swetlanas Jugend
O-Ton Swetlana
Ich hab mein ganzes Leben lang gelebt in Erwartung. Da soll was kommen, da
kommt entweder Perestroika oder irgendwelche neue Gesetze oder noch was.
Musik
O-Ton Swetlana
Ich bin in einem Nachkriegsdorf aufgewachsen, und wir mussten richtig als Kinder
schon arbeiten wie Erwachsene, im Garten. Nach dem Schulunterricht haben wir
gearbeitet, Kartoffeln ausgegraben, schwere, wirklich schwere Arbeit gemacht. Als
Kind habe ich schon sieben Kilometer gelaufen. Dann haben wir zwei oder mehr
Stunden an der Schlange gestanden, um Brot zu kaufen, aber das gehörte zu
unserem Leben. Und das hat mich wirklich ganz stark gemacht. Ich kann überall
leben. Ich kann Feuer machen, ich kann Brot backen, ich kann alles machen. Und
außerdem was ich wichtig finde, das Materielle spielt für mich nicht die Hauptrolle.
Sprecherin
Swetlana studierte Sprachen und Germanistik in Leningrad. Anschließend arbeitete
sie in einem Betrieb, der Schweißgeräte herstellte und auch westeuropäische Länder
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belieferte. Für einen Hinzuverdienst übernahm sie privat Übersetzungen, gab auch
privaten Sprachunterricht.
O-Ton Swetlana
Ich bedaure bis heute, dass ich nicht Jura studiert habe, aber es ist so gelaufen und
mit der deutschen Sprache, in der Schule habe ich gute Lehrerin gehabt. Ich hab
überhaupt in der Schule sehr gute Lehrer gehabt, sehr gut, und dann hab ich immer
was mit der Sprache gemacht.
O-Ton Autorin
Was hat sich mit den Deutschen für Sie verbunden? Die Deutschen waren ja
diejenigen, die im Krieg viel Unglück ins Land gebracht haben.
O-Ton Swetlana
Wissen Sie, ich hab das mit der Sprache überhaupt nicht verbunden. Für mich war
das so ein Fach, und dann, wir haben in der Schule ganz gute Bibliothek gehabt, das
war eine Dorfschule, aber wir haben Maupassant gelesen und Rousseau und
Shakespeare, es gab alles. Und deutsch: Ich hab in der Übersetzung auf Russisch
Goethe gelesen, Heine gelesen, Lessing noch nicht, aber hab auch gehört, das
stand bei uns, Hamburgische Dramaturgie. In der Schule, in einer Dorfschule in
Russland!
O-Ton Autorin
In Ihrer Jugend ist das Deutsche Ihnen eher über die Literatur und die Kultur
vermittelt als über Politik und den Krieg und die Gegnerschaft?
O-Ton Swetlana
Ja, das war Literatur. Bei uns war es so, dass die Menschen jedenfalls in meiner
Familie, sie haben viel erlebt, mein Vater war im Krieg, aber sie haben erstens sehr
wenig über den Krieg gesprochen, wenn dann keine grausamen Sachen. Sie haben
uns Kinder geschont. Die Menschen, die so viel erlebt haben und den Sieg hatten,
sie wollten nicht, dass wir als Kinder Hass gegen ein anders Volk haben. Ich meine,
das ist auch mit der orthodoxen Kirche verbunden, aber nicht die Kirche als Anstalt,
nicht die Kirche als Kirche, sondern das sind die moralischen Voraussetzungen, die
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moralischen Grundlagen: kein Hass zu anderen Menschen. Man muss immer eine
Ursache finden, warum haben die Menschen sich so benommen? Ja, dieses:
Verzeih andern Menschen, verbreite keinen Hass, helfe den Menschen, teile das
Letzte, nicht wenn du was übrig hast, dann kannst du einfach geben, sondern das
Letzte, was du hast, teile mit dem Nächsten. So bin ich erzogen.
Sprecher
Reimars Jugend
O-Ton Reimar
Das war ganz selbstverständlich, dem konnte man sich überhaupt nicht erwehren.
Das war nicht nur ne Mode-Erscheinung unter Schülern damals, sondern es war
Wehrpflicht. Selbstverständlich hatte jeder zwei Jahre zum Militär zu gehen.
O-Ton Autorin
Und mit welchen Gefühlen erinnern Sie sich daran? Mit welchem Selbstbewusstsein
Sie diese militärische Karriere in Angriff genommen haben?
O-Ton Reimar
Man merkt einen großen Unterschied an Ihren Fragen gegenüber denen, die in
dieser Zeit aufgewachsen sind. Also, das sind alles Selbstverständlichkeiten
gewesen. Ich war selbstverständlich Hitlerjugendangehöriger, nicht bei der HJ, die
erst mit 14 Jahren beginnt, sondern beim deutschen Jungvolk.
O-Ton Autorin
Wie alt musste man sein, um zum Jungvolk zu kommen?
O-Ton Reimar
Ich glaube, da gab es schon Küken mit sechs Jahren, die da rein gehen könnten,
sonst jedenfalls mit 10 Jahren.
O-Ton Autorin
Und was hat Sie begeistert? Damals?
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O-Ton Reimar
Die Geländespiele z. B., die wir gemacht haben. Das war ne Jugendbewegung, bei
der wir den propagandistischen Hintergrund natürlich nicht gemerkt haben, der aber
selbstverständlich war, oder den erzieherischen zum Soldaten.
Musik
Sprecherin
Als Reimars Vater - auch ein Architekt - Chef der Bauabteilung der Deutschen Bank
wurde, zog die Familie von Mannheim nach Berlin. Die Eltern seien keine Nazis
gewesen, keine Parteimitglieder, aber auch keine Gegner; eher Mitläufer wie die
meisten, sagt Reimar. Kurz nach seinem 16. Geburtstag wurde er als
Luftwaffenhelfer eingezogen und an einer Flugabwehrkanone, der Flak, ausgebildet.
O-Ton Reimar
Da war ich Schüler. Luftwaffenhelfer ist kein Soldat, sondern es sind Kinder, die mit
16 eingezogen wurden, deren Eltern man versprach, dass jeden zweiten Tag Schule
sein wird, und dann wurde so leise gesagt, außer natürlich, wenn nachts Luftangriffe
sind. Da wir aber in Berlin jeden Nacht Luftangriffe hatten, gab`s auch keinen
Unterricht mehr.
Sprecherin
Wenn die Umgebung bombardiert wurde, Reimar stand auf den Dächern der Stadt
an der Flak.
O-Ton Reimar
Das gleiche auf dem Funkhaus in Berlin, da habe ich auch oben drauf gestanden, als
Charlottenburg gänzlich zerstört wurde. Oben auf dem Dach, als die Masurenhalle
von einer Luftmine gegenüber zerstört wurde.
O-Ton Autorin
Was haben Sie da getan?
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O-Ton Reimar
Eigentlich nichts. Denn die 2 cm Flak, bei der ich da war, schoss nur 2000 m hoch
und die Amerikaner und Engländer flogen 6000 m hoch zu der Zeit. Wir hatten da
nichts zu tun.
Musik
Atmo
Sprecherin
Ohne Schulabschluss, die Schule hatte sich erledigt, wurde er im März 1945 an die
Front geschickt, mit dem Marschbefehl nach Nordosten zur neu aufgestellten
Division Müncheberg. Da war Reimar 18 Jahre alt, Swetlana noch nicht auf der Welt.
O-Ton Reimar
Und dann war ich einige Wochen an der Ostfront, in der Nähe von Küstrin an der
Oder und hab dann die letzte Offensive der Russen mitgemacht. Das größte
Trommelfeuer aller Zeiten, wie es hinterher im Wehrmachtsbericht hieß, hab ich
schlafend erledigt. Weil ich vorher so wenig geschlafen hab, bin ich da bei dem
dauernden Krachen eingeschlafen, in einem Erdloch, was man sich gebuddelt hat,
und wenn wieder so ne Schütte Erde von einer Granate über einen geworfen wurde,
hat man sich ein bisschen geschüttelt und weiter geschlafen, und aufgewacht bin ich,
als das Trommelfeuer zu Ende ging.
O-Ton Autorin
Wenn sie das jetzt so erzählen, man hat das abgeschüttelt, dann klingt das ja aus
der Erinnerung lässig.
O-Ton Reimar
Tja
Sprecherin
Reimar meldete sich zum Einsatz an die Flakkanone, die auf eine Lafette montiert
war.
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O-Ton Reimar
Ich war ein freier Mensch mit dieser Selbstfahrlafette, und mein Fahrer war ein
desertierter Deutschrusse, der wusste ganz genau, was ihm passiert, wenn er in
russische Hände kommt und im Prinzip hatten wir nur vier Rückwartsgänge und
keinen Vorwärtsgang mit diesem Fahrer, und das dürfte wohl der Grund sein, warum
ich heute hier sitze. Die Front war über uns gerollt, ohne dass wir das gemerkt
haben. Und von da an waren wir immer hinter den russischen Linien und haben
geguckt, wie wir da durchkommen, ohne dass uns einer erwischt.
Sprecherin
Der rettende Rückzug nach Westen, Ende April 1945, in den letzten Kriegstagen,
scheiterte.
O-Ton Reimar
Wir sind auf unserer Flucht in eine Waldlichtung gekommen, ne Wiese, und rannten
in großen flüchtenden Massen, einzelne Menschen, Soldaten, Offiziere hatten
inzwischen ihre Schulterklappen abmontiert. Ich hatte aber immer noch meinen
Stahlhelm, Patronentaschen und ein Gewehr bei mir, und auf einmal sahen wir
irgendeine Bewegung an diesem Waldrand, und da fielen lauter Bäume, und da hatte
die russische Artillerieeinheit, die dort lag, ihre Tarnung weg geschmissen, und da
sahen wir, wie die Kanonenrohre sich drehten auf uns, und dann kamen wir in ein
direktes Artilleriefeuer von ungefähr zwölf Geschützen. Das kann ich gar nicht
erzählen, was da los ist. … Und im Rennen sehe ich, da ist ein Loch, so`n
Schützenloch, was sich ein anderer vorher gegraben hatte, und dieses Loch stand
aber voll Wasser und trotzdem bin ich rein gesprungen, und in dem Moment gibt es
einen Riesenknall...
Sprecherin
Etwa eine Viertelstunde später sei er wieder zu sich gekommen, hätte seinen Körper
betrachtet, sich befühlt, abgetastet.
O-Ton Reimar
Ich war voll Dreck, und mit der Zeit hab ich auch gemerkt, ich hab irgendwas
Klebriges auf dem Gesicht, dann hab ich an dem Stahlhelm rumgefingert, da waren
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lauter Löcher drin, alles in dem Trancezustand, in dem man sich in so ´nem
Schockmoment befindet. Und dann hab ich den Stahlhelm abgesetzt, mit der Hand
auf den Kopf gefasst, da waren so fünf, sechs, sieben kleine Eisensplitter in der
Kopfhaut und die hab ich rausgepflückt. Da war nichts weiter, der Kopf war nicht
verletzt, nur die Kopfhaut. Den Stahlhelm hatte ich nur auf, weil er mir beim Rennen
immer gegen den Knochen schlug. So hat man in dieser Zeit ein Erlebnis nach dem
andern, dessen Ausgang man sein Überleben verdankt.
O-Ton Autorin
Hat das `ne Folge für Ihre Lebensphilosophie? Eine Möglichkeit wäre ja zu denken,
Gott hat mich gerettet und die andere Möglichkeit ist, zu sagen, der Zufall hat mich
gerettet.
O-Ton Reimar
Ich glaube nicht, dass Gott in dieser Gelegenheit, so weit man überhaupt an Gott
glaubt, für jeden Einzelnen Zeit gehabt hat, für mich ganz sicher nicht.
Sprecherin
In diesem Schützenloch sah er, noch benommen, sowjetische Soldaten über die
Wiese auf die Deutschen zu laufen. Die wehrten sich nicht mehr. Widerstandslos
sammelten sie sich am Feldweg. In der Enge des Erdlochs drehte Reimar
umständlich, mühsam den Lauf seines Gewehrs gegen sich selbst, legte ihn an die
Schläfe. Drückte ab. Doch es löste sich kein Schuss - klick - klick - Klick - er blieb am
Leben. Dasselbe Artilleriefeuer, das dem Soldaten neben ihm die Schädeldecke vom
Kopf gerissen hatte, traf durch einen Granatsplitter auch das Schloss seines
Gewehrs. So erinnert Reimar das.
Er wunderte sich, dass der russische Soldat, der ihn aus dem Erdloch zwang, ihm
nicht zuerst das Gewehr abnahm, sondern seine Uhr verlangte, weiter rannte, um
Uhren zu sammeln. Sein kaputtes Gewehr warf Reimar selbst weg.
Dann begannen die Fußmärsche durch die Mark Brandenburg und die Niederlausitz
in die Gefangenschaft.
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O-Ton Reimar
Und ich habe zwei Jahre lang in Gefangenschaft gehungert, dass wir Schmerzen vor
Hunger hatten. Aber die Russen hatten auch nichts, die uns da bewacht haben,
sonst hätten sie uns auch abgegeben.
Sprecherin
Tagelange Märsche, wochenlanger Stumpfsinn im Stacheldrahtlager, wo
dreißigtausend Männer nichts zu essen und nichts zu tun hatten. Transporte im
Viehwaggon, Nächte auf der Pritsche. Die Männer lagen so eng, dass sich keiner
allein bewegen konnte. Arbeit in der Zuckerfabrik. Dann die Endstation: ein KohleBergwerk in der Ukraine. Den Aufenthalt dort, die Kosten für ihre Bewachung und
Ernährung mussten die Gefangenen zahlen. Ihre Arbeit wurde entlohnt. Den Hauern
vor der Kohle blieb von dem Geld sogar etwas übrig. Reimar schaufelte den Abraum
weg, eine noch geringer bezahlte Dreckarbeit.
Seit 1948 kamen die nicht mehr arbeitsfähigen Männer zurück nach Deutschland, ab
Januar 1949 beschloss Reimar sich durch Hunger zu schwächen. Heimlich verkaufte
er seine Zucker- und Brotrationen an Kameraden, riskierte die Todesstrafe, doch
sein Plan ging auf.
Musik
Erzählerin
Entkräftet wurde Reimar im Mai 1949 zum Abtransport kommandiert. im Auffanglager
Friedland gab man ihm die Fahrkarte nach Wuppertal, wo seine Eltern inzwischen
lebten.
Das Abitur machte er in einem speziellen Kurz-Lehrgang für Spätheimkehrer und
1950 begann er mit dem Architekturstudium in Aachen.
O-Ton Reimar
49 kam ich zurück, nach insgesamt beinahe sieben Jahren Militär und
Kriegsgefangenschaft, und das war meine Jugend. Ich empfinde das natürlich auch
als einen ganz schweren Verlust, wenn ich beobachte, wie die jüngeren Leute ihre
Jugend verbringen, und das war meine Jugend. Ich empfinde diese Tatsachen
natürlich bis heute zutiefst, und wenn ich dran denke, kommt mir das Selbstmitleid.
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Das ist Mitleid wie mit nem anderen, aber mit sich selbst. Es gibt schon Zeitpunkte,
wo mich das ergreift, bis heute. In der Nacht zum Beispiel, wenn man nicht schlafen
kann, und es kommen einem Gedanken, die man nicht will. Das sind schwere
Erinnerungen.
O-Ton Swetlana
Man soll nicht vergessen, was während des Krieges in Pskow passiert ist. Das waren
mehr als 200.000 Menschen umgebracht wurden. Das waren Kriegsgefangene, das
waren Bewohner der Stadt und die Stadt wurde überhaupt völlig zerstört.
Sprecherin
In Pskow überlebten 164 Menschen den Einmarsch der Deutschen Wehrmacht, nur
16 Häuser standen nach dem Krieg noch unversehrt.
O-Ton Swetlana
Bei uns an Pfingsten sammeln sich alle Menschen aus allen Dörfern auf diesem
Friedhof. Das war so stark im Kopf. Bis heute. Da haben die Frauen geweint. Dass
sie nicht gewusst haben, wo ihre Kinder, Väter und Ehemänner gefallen sind, wo ihre
Gräber sind. Entschuldigung, ich muss Taschentuch, Entschuldigung, aber das ist
wirklich ganz stark immer. Drei Jahre war ich in Leipzig. Ich hab da studiert an der
Uni. Ich wollte immer deutsche Frauen sehen, Wissen sie. Ich war schon mehr als 20
Jahre alt, ich wollte immer deutsche Frauen sehen, weil ich sehen wollte, welche
Frauen, Entschuldigung, können solche Männer, solche Söhne gebären, dass sie
sich so benehmen. Wir haben dann sehr viele Filme gesehen, die gefilmt wurden von
den deutschen Soldaten. Und insbesondere ein Film hat mich so beeindruckt, das
war eine Gruppe von Soldaten, junge Männer, nicht verhungert, gut aussehend, gut
gekleidet, alles da. Und einer von ihnen hat einer schwangeren Frau den Bauch
geschnitten. Und dieses Bild hat mich dann mein ganzes Leben verfolgt. Ich wollte
wirklich die Frauen sehen, die diese Jungs geboren hatten, diese Monster. Ich
verstehe das nicht, was der Krieg mit den Menschen überhaupt macht.
O-Ton Reimar
Ich hab mein Leben lang immer ganz bewusst die Schuld getragen, die wir
Deutschen auf uns geladen haben mit diesem schrecklichen Krieg. Weil ich auch
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selber drunter gelitten habe, und dieser entsetzliche, unser heiß geliebter Führer mir
meine Jugend gestohlen hat. Dann ist das Bewusstsein doch einfach umwerfend,
was wir der Welt angetan haben mit dem Krieg.
Musik
Sprecher
Schuld und Sühne
Sprecherin
Anfang der 90er-Jahre beschloss die Landessynode der Evangelischen Kirche im
Rheinland, den Versöhnungsprozess mit Russland durch Taten, durch soziale
Projekte zu intensivieren. Der damalige Direktor der Evangelischen Akademie
Mülheim, der Theologe Dr. Dieter Bach, war Motor dieser Bewegung und machte die
Aussöhnung mit den östlichen Nachbarn zum Schwerpunkt seiner Arbeit.
Reimar kannte Dieter Bach, hatte bereits Bauten der evangelischen Akademie
entworfen und betreut. Zwei Jahre, nachdem er sein Architekturbüro in Düsseldorf
geschlossen hatte, rief Dieter Bach bei ihm an und bat um fachliche Hilfe.
O-Ton Reimar
Was er erzählt hat, war so neu für mich und so brennend interessant. Das Ganze
war so 1997 ungefähr. Wir hatten eine Wehrmachtsausstellung hier und was noch
alles, und wissen mehr über den Krieg, als wir damals selber erfahren haben. Da
kam schon der Wunsch, da möchte ich auch mal hin.
Sprecherin
Dieter Bach hatte Pskow ausgewählt, eine besonders geschundene russische Stadt.
Gemeinsam mit betroffenen Eltern wurde die Idee entwickelt, eine Schule für Kinder
mit geistigen und körperlichen Handicaps zu bauen.
O-Ton Swetlana
Wissen sie, es ist so, wenn irgendjemand was gibt, es muss so sein, dass der
das nimmt, sich gut fühlen. Der, der gibt, der fühlt sich großzügig und so was,
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aber der, der nimmt, muss sich in dieser Situation auch gut fühlen, dass der,
der nimmt, sich nicht beleidigt fühlt und nicht klein fühlt.
Sprecherin
Die Stadt Pskow stellte das Grundstück zur Verfügung, das Land NRW gab
Zuschüsse für das erste Projekt, die Schule. Durch den Einsatz von
evangelischen und orthodoxen Christen entstand im Laufe der Zeit ein
Heilpädagogisches Zentrum mit einem pädagogischen Konzept, das jungen
hilfsbedürftigen Menschen Leben und Lernen möglich macht. Für die
Schulabgänger wurden Werkstätten geplant.
O-Ton Reimar
Da ich Architekt bin, hätte ich diese Werkstätten bauen können, und dafür haben sie
mich dann auch eingesetzt.
Sprecherin
Eine beglückende Erfolgsgeschichte. Eine Schule, ein Kindergarten,
Beratungsstellen für Eltern mit behinderten Kindern; Werkstätten, ein Hospiz. Ein
sorgfältiges und umfassendes Konzept, das von Deutschen und Russen gemeinsam
erdacht und verwirklicht wurde. Seit 1998 gibt es die „Initiative Pskow“, die heute
immer stärker von dort lebenden Russen getragen wird. Die deutschen
Repräsentanten dieser Initiative wurden von russischen Institutionen dankbar geehrt,
wurden „Ehrenbürger“ der Stadt Pskow, „Ehrendoktor der Universität Moskau“.
O-Ton Swetlana
Ich würde keinen Ehrenbürger-, diesen Titel nehmen in der Stadt, der völlig
zerbombt war, 250.000 waren tot in dieser Stadt, und dann man kommt, man
macht die Werkstätten, man wollte gelobt werden und gepriesen werden. Ich
finde das nicht besonders sympathisch. Die wollten, dass überall in der Presse
das steht, und sowas, im Fernsehen, unbedingt. Putin hat einen Brief
geschrieben, danke schön gesagt. So was. Ein wenig aufdringlich. Man muss
ein bisschen bescheidener sein mit dem Volk.
Musik
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Sprecherin
Niemand in unserer Initiative tat es, um geehrt zu werden, widerspricht Reimar. Etwa
50 Menschen hätten jahrelang selbstlos und ohne Bezahlung für dieses Projekte
gearbeitet.
Mindestens einmal im Monat reiste er damals nach Pskow zu Baubesprechungen,
später sogar wöchentlich. Anfangs arbeitete er mit unterschiedlichen Dolmetschern,
die bis dahin nie etwas mit dem Bauwesen zu tun hatten.
O-Ton Reimar
Diese Schwierigkeiten, die führten mal dazu, dass ich missverstanden wurde und
Rohrleitungen außerhalb des warmen Gebäudes geführt wurden, weil ich gesagt
habe, sie sollen ausschließlich innerhalb des beheizten Gebäudes geführt werden,
und die Frau hat das „ausschließlich“ nicht richtig verstanden, so dass ich nachher
Rohrleitungen nachher abreißen lassen musste, die im Frost lagen.
Sprecherin
Swetlana war schon Rentnerin, aber doch fast zwanzig Jahre jünger als Reimar, als
sie sich während der Bauarbeiten für die Werkstätten kennen lernten.
O-Ton Reimar
Und eines Tages wurde mir die Swetlana zugeteilt. Das war ein so riesengroßer
Unterschied. Sie hat mich während der Sitzungen leise gefragt, was heißt das, oder
wie drückt ihr das aus.
O-Ton Swetlana
Reimar war auch ganz entgegenkommend, er hat einfach gezeichnet, und das hat
auch geholfen.
O-Ton Reimar
Und dann haben wir jahrelang, zehn Jahre lang immerhin zusammen gearbeitet, und
mit der Zeit hat sich da wegen der gemeinsamen Arbeit ein Vertrauensverhältnis
herausgestellt.
Musik
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O-Ton Swetlana
Es gibt unterschiedliche Menschen unter Russen und unter Deutschen. Aber
Deutsche sind wirklich sehr konsequent. Wenn sie ein Ziel haben, dann gehen sie zu
diesem Ziel bis zum Ende. Sie werden bis zum Ende dich belehren oder erziehen
oder so, bis du ganz kaputt bist. Moralisch meine ich. Nicht unbedingt körperlich,
nicht physisch. Sie machen das sehr konsequent. Sie machen keinen Schluss. Das
habe ich selbst erlebt. Unter Russen habe ich so was nicht erlebt. Sie sind vielleicht
weicher in der Seele. Wenn ich merke, es geht den Menschen schlecht, und er ist
traurig und verträgt das nicht mehr, dann mache ich Schluss. Ich muss nicht bis zum
Ende meinen Gedanken bringen, obwohl ich meine, ich hab Recht.
O-Ton Reimar
Jeder hat das in einem Leben schon mal festgestellt, dass eine intensive
Zusammenarbeit von zwei sympathischen Menschen nicht selten zu einer Art
Liebesbeziehung führt.
O-Ton Swetlana
Reimar ist älter und hat vielleicht mehr Lebenserfahrung.
O-Ton Reimar
Die Swetlana ist ein sehr, sehr kluger Mensch und in ihrer Art, wie sie ihre Klugheit
anbringt, liegt auch sehr viel Sympathisches, aus meiner Sicht jedenfalls.
Sprecher
Verschiedene Gefühle
O-Ton Reimar
Welikaja ist ein ziemlich großer Fluss, mindestens so groß wie die Donau in Ulm mit
Strömung und Eis, und da geht ne Brücke rüber und diese Brücke war total vereist.
Die Russen haben nach Perestroika, wie Swetlana immer sagt, also nach dem
Zusammenbruch der Sowjetunion, ihre Straßen nicht mehr gefegt. Unbegehbare
Wege waren das und die vereist, und so sind wir mal auf so `ner unbegehbaren
Brückensituation über die Brücke gelaufen, und da gab`s gar nichts anderes, als
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dass wir uns beide fest eingehakt haben, und das haben wir beide als sehr schön
empfunden.
O-Ton Swetlana
Das ist eine ganz komplizierte Frage. Es gibt so einen Begriff, unsere Seele.
Liebe würde ich nicht sagen, vielleicht Zuneigung, und es ist mehr Mitleid,
Mitgefühl, Hilfsbereitschaft. Ja, so ist es.
O-Ton Reimar
Durch den Fall, dass meine frühere Frau wieder nach Amerika gehen wollte, wo sie
aufgewachsen ist, und ich dann plötzlich alleine stand, da hab ich sie angerufen in
Russland und hab gesagt, hör mal, die Susanne ist nach Amerika, wir leben in
Trennung, und da hat sie dazu gesagt, das ist ja ne ganz neue Situation.
O-Ton Swetlana
Das ist immer interessant, was Neues zu erleben. Und außerdem, das war auch eine
Ursache, meine Tochter ist in Deutschland, und ich hab gedacht, ich hab jetzt die
Möglichkeit, sie öfters zu sehen.
O-Ton Autorin
Wie kam es denn, dass auf einmal aus einer Arbeitsbeziehung eine private
Beziehung wird?
O-Ton Swetlana
Gewohnheit (fröhliches Lachen) Das war ein Witz.
O-Ton Reimar
Wenn sie in die Werkstatt kam, und die Behinderten haben das gemerkt, wer in der
Nähe war, kamen gerannt und sofort war eine Traube um Swetlana. Sie sprangen an
ihr hoch vor Freude, und das war die Dolmetscherin in Pskow, von der ich nicht mehr
lassen wollte.
O-Ton Autorin
Haben Sie sich als junge Frau mal gewünscht, in Deutschland zu leben?
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O-Ton Swetlana
Nein, hab ich nie. Nie. Hab ich nie gewünscht.
Sprecher
Unter den Deutschen
O-Ton Swetlana
Bei uns sagt man, in ein fremdes Kloster geht man nicht mit dem eigenen Statut.
Muss man schon das berücksichtigen und das akzeptieren, dass das Leben hier
anders ist.
O-Ton Reimar
Wenn ein Russe von Russland hierher kommt, dann hat er die äußersten
Vorstellungen, welches Zuckerland hier besteht, und wie gut hier alles ist. Es ist aber
nicht alles gut.
O-Ton Swetlana
Wenn man in einem deutschen Dorf lebt, dann fühlt man sich wirklich sehr einsam.
Bei uns die Menschen können ohne Termin zu machen zueinander kommen. Ich
vermisse diese Nähe, dass ich kommen könnte zu einem und offen sprechen, Tee
trinken oder zusammen was unternehmen, das vermisse ich. Ich empfinde das, je
näher die Menschen zueinander sind, desto besser ist das. Da hat man ein ganz
angenehmes Gefühl, ich bin nicht allein, ich kann zu meiner Nachbarin kommen,
dann brauch ich keinen Arzt. Mir wird es leichter, weil der Mensch versteht mich und
dem Menschen wird es leichter, er ist auch verstanden worden.
Musik
O-Ton Swetlana
Ich bin so unter Deutschen und empfinde sehr viele Sachen vielleicht zu scharf.
Vielleicht ist auch die Vergangenheit nicht so ganz weg. Wenn ich gesehen habe, die
Menschen leben viel besser als wir, materiell jedenfalls, und ob sie wirklich in der
Tiefe ihrer Seelen wirklich verstehen, was sie gemacht haben früher bei uns, das
bezweifle ich.
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Das ist unwillkürlich, aber ich gucke und versuche rauszukriegen, warum sind sie so
anders. Manchmal auch Hochnäsigkeit: Wir sind eine besondere Nation. Wir sind
besser als die anderen. Das merke ich. Wir sind besser, wir verstehen alles besser,
wir machen alles besser. Das merke ich.
O-Ton Reimar
Ich weiß nicht, wie rum das ist, ob sie das Haus, das ich hier gebaut habe, und das
ich eigentlich völlig in Ordnung fand, ob sie das deshalb ablehnt, weil sie zu mir nicht
den richtigen Kontakt hat. Oder ob es umgekehrt ist. Jedenfalls hat sie an den
Kreuzsprossen, die ich hier gebaut habe, etwas auszusetzen und fühlt sich wie im
Gefängnis hinter Gittern, ich weiß nicht, ob es an den Kreuzsprossen liegt oder an
ganz anderen Dingen.
Atmo: Schritte
Sprecherin
Swetlana und Reimar zeigen ihr Haus. Den großen, offenen Wohnraum, die
moderne Küche, die vielen Zimmer, die großzügig Platz für Gäste und Familie bieten,
das ausgebaute Dachgeschoss, die zahlreichen Wirtschaftsräume im Souterrain.
O-Ton Swetlana
Für zwei Menschen so was zu bauen, ich finde, das ist zu großzügig.
O-Ton Autorin
Und ist das nicht auch ein Gefühl von Dankbarkeit oder Freude, das man jetzt einen
so großzügigen Raum zur Verfügung hat?
O-Ton Swetlana
Man kann sich verstecken irgendwo (lacht), aber von der anderen Seite, das ist
immer viel Arbeit.
O-Ton Autorin
Was ist denn hinter diesen vielen Türen?
O-Ton Swetlana
Das ist Waschküche. Waschmaschine, Trockner, auch Badewanne, riesig (lacht).
Das ist, Reimar wie nennst du diesen Raum?
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O-Ton Reimar
Das war ursprünglich mein Archiv.
O-Ton Autorin
Und hier ist ja ein richtiger Wohnraum im Keller!
O-Ton Reimar
Ja, das ist ein richtiger Wohnraum. Und das war auch mal belegt, hier das Zimmer.
O-Ton Autorin
Und da ist noch ne Tür?
O-Ton Swetlana
Ja, Ja. Das ist für den Fall des Atomkrieges. (Lacht) Sag ich nur. Abstellraum.
Riesiggroß. Das ist unter der Garage.
O-Ton Reimar
Das haben wir geplant für eventuelle Notwendigkeiten.
Und jetzt muss man allmählich mal aufräumen und alles wegschmeißen, weil so viel
drin ist.
Atmo lachen
O-Ton Autorin
Na toll.
O-Ton Swetlana
Da gibt’s auch noch ne Werkstatt.
O-Ton Autorin
Man denkt ja wirklich, dass alles gut durchdacht ist.
O-Ton Reimar
Ich nehme mal an, dass ich alles gut durchdacht habe, ich geh davon aus.
Es ist vor allem trocken, so dass es unterm Teppich nicht fault wie bei andern
Leuten.
O-Ton Autorin
Wenn man hier als Gast rein kommt, dann denkt man es ist ein sehr schönes Haus.
Atmo Treppe steigen
O-Ton Reimar
Man kann auch dazu sagen, man kann auch alles schlecht machen.
O-Ton Autorin
Und diesen Vorwurf, man kann auch alles schlecht machen, wie gehen Sie damit
um?
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O-Ton Reimar
Kein Vorwurf
O-Ton Swetlana
Bin gewohnt.
O-Ton Autorin
Haben Sie das Gefühl, dass Sie es schlecht machen?
O-Ton Swetlana
Nein. Ich mache nicht schlecht. Ich sage nur meine Meinung, ja.
O-Ton Reimar
Ja.
O-Ton Swetlana
Ich meine, ich hab auch Recht dafür.
O-Ton Reimar
Ja
O-Ton Swetlana
Das ist meine Meinung.
O-Ton Reimar
So was kann ich auch anders ausdrücken.
O-Ton Autorin
Hätten sie sich manchmal gewünscht, selber in diesem Haus irgendetwas zu
gestalten? Also ein schwarzes Sofa…dass Sie da gerne andere Möbel gehabt hätten
oder hat es so einen Wunsch gegeben?
O-Ton Swetlana
Nee. Das Gefühl irgendwas zu ändern, hab ich nie gehabt. Weil das ist schon
gemacht. Ich meine, Reimar und seine Frau haben alles durchdacht und ich kann
nicht kommen und sagen und jetzt stelle ich hier was her oder hier mache ich so
was. Das geht einfach nicht.
O-Ton Autorin
Aha?
O-Ton Swetlana
Ich bin schon...
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O-Ton Reimar
Da kann ich nur sagen, was die Swetlana hier mal zufügt, das sind zum Beispiel die
wunderschönen Blumensträuße überall. Das ist alles wunderschön. Macht sie
wunderbar.
Musik
Atmo Schritte im Haus
O-Ton Swetlana
Man kann wenig haben und glücklicher sein.
O-Ton Reimar
Das erste Wort, was mir dazu einfällt, das wäre Toleranz.
O-Ton Autorin
Wem fehlt die Toleranz?
O-Ton Reimar
Wahrscheinlich beiden.
O-Ton Autorin
An welcher Stelle sind Sie intolerant?
O-Ton Reimar
In meiner Ausdrucksweise. Wie ich reagiere. Das mag Swetlana manchmal
aufregen. Ich kann in Swetlanas Benehmen nichts finden, das ich auf den
Unterschied der Kulturen schieben wollte.
O-Ton Swetlana
Heimatgefühl, das ist nicht nur Häuser, oder bestimmte Städte oder bestimmte
Dörfer auch, das steckt sehr tief. Ich meine, wir erben nicht nur Augenfarbe, wir
erben auch unsere Geschichte, die Erfahrung unserer Ahnen und auch unsere
Kultur. Nicht nur Dostojewski und Tschechow, alles andere auch.
O-Ton Reimar
Ich glaube nicht daran, dass die Kultur von Russen und Deutschen so
unterschiedlich ist, dass man daraus wirklich Missverständnisse bilden müsste.
Sondern wenn man Missverständnisse hat, dann schiebt man das auf die
Unterschiede in der Kultur.
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O-Ton Swetlana
Das ist so schön. Oder es gibt auch sehr viele, „Sie haben mich gequälet, blau und
blass, die einen mit ihrer Liebe, die andern mit ihrem Hass.“ Und so weiter. Ja, das
ist ganz fein. Und bei ihm die Melodik, das ist ganz schön. Ich mag Heine.
O-Ton Reimar
Wir sind oft durch Pskow gelaufen, und Swetlana hat mir Gedichte von Heine
aufgesagt.
O-Ton Swetlana
„Im tollen Wahn hab ich dich mal verlassen“, oder einst verlassen, „ich wollte gehen
die ganze Welt zu Ende und wollte sehn, ob ich die Liebe fände, um liebevoll die
Liebe zu erfassen.“ Und weiter folgt: auf allen Gassen hat er die Liebe gesucht, hat
nie gefunden, und dann ist er zurückgekehrt, und seine Mutter ist ihm entgegen
gekommen, und was er empfunden hat, das war die Liebe, die lang gesuchte Liebe.
Musik
O-Ton Swetlana
Austauschen Erfahrungen ist gut. Aber ich meine, jedes Volk muss auch seine
eigene Kultur, seine eigene Vergangenheit, und die Zukunft so gestalten, dass er als
Volk bleibt. Mit eigenen Eigenschaften, mit eigenen Bestrebungen, mit eigener
Geschichte. Das finde ich, ist besser, als wie alle gleich sind. Ich finde, dass jedes
Volk soll eigentlich eigene Sprache pflegen. Weil man darf nicht vergessen, was
unsere Ahnen gemacht haben. Das ist auch Geschichte und wir müssen das auch
weiter pflegen. Ich finde, es ist sehr schön, wenn wir andere Sprachen lernen, dass
wir andere Länder kennen lernen, aber meine Heimat und mein richtiges Zuhause
sind in Russland.
O-Ton Reimar
Für Swetlana scheint es so zu sein.
O-Ton Swetlana
Ich würde nicht sagen, dass es ganz zerbrochen ist, aber das, was ich zu Hause
wahrgenommen habe, hier nehme ich ganz anders wahr.
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O-Ton Reimar
Ich habe gestern Tschechow gelesen, und ich habe darin kein Wort gefunden, was
auf Unterschiede zwischen deutscher und russischer Kultur schließen ließe und die
Art der Erzählung hat mich so begeistert und so angefreundet, und wenn Russen
sich mit deutscher Musik, mit deutscher Literatur beschäftigen, werden sie dort
wahrscheinlich auch sehr viel Schönes drin finden.
Musik
O-Ton Swetlana
Vielleicht muss ich auch was machen, damit die Beziehungen besser werden, aber
ich habe immer diese Hemmung. Es fehlt das Vertrauen, dass ich richtig verstanden
würde.
O-Ton Reimar
Solange wir uns liebten, war da keine Schwierigkeit.
Musik
Absage:
Die Geschichte ist nicht zu Ende
Szenen einer russisch-deutschen Ehe
Ein Feature von Tita Gaehme
Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2016.
Es sprachen: Lena Stolze und Christoph Wittelsbürger
Ton und Technik: Wolfgang Rixius und Anna D‘hein
Regie: Roland Schäfer
Redaktion: Hermann Theißen
Musik
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