1 DEUTSCHLANDFUNK Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Redaktion: Hermann Theißen Sendung: Dienstag, 08.03.2016 19.15 – 20.00 Uhr Die Geschichte ist nicht zu Ende Szenen einer russisch-deutschen Ehe Von Tita Gaehme URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript - 1 2 Atmo / Musik Ansage Die Geschichte ist nicht zu Ende Szenen einer russisch-deutschen Ehe Ein Feature von Tita Gaehme Musik Sprecher Neue Heimat: O-Ton Swetlana Als ich das Haus gesehen habe, habe ich gedacht, mein Gott, wer macht solche Fenster. Eigentlich ich finde, das ist das unmenschlich. O-Ton Reimar Ein anderer Mensch würde seine kulturellen Unterschiede anders ausdrücken, die er empfindet. Bei Swetlana ist es halt so. Was ihr von Anfang an nicht gefallen hat, das waren unsere Fenstersprossen. O-Ton Swetlana Und ich muss ehrlich sagen: zum Putzen, das sind 900 Ecken! Jede Ecke muss man sauber machen. Wenn man ein normales Fenster hat, dann macht man dschick, dschick, und ist alles sauber, eins, zwei, drei vier. Und hier neunhundert Ecken! Da kann man wirklich Arme kaputt machen. Mich unterdrückt das einfach, für mich ist das eine Katastrophe. Sprecherin Swetlana wohnt jetzt in Bayern. Geboren wurde sie nach dem Krieg, Ende 1945 in einem sowjetischen Dorf. Als junge Frau kam sie in die Großstadt Pskow, 280 Kilometer südwestlich von Petersburg. Hier zog sie ihre Tochter groß, nach der Ehescheidung allein. Seit den 1990er-Jahren lebt Swetlanas Tochter in Deutschland. 2 3 O-Ton Swetlana Das Leben spielt mit uns wie mit Puppen. Sprecherin Fünfzehn Jahre nach ihrer Tochter kam auch Swetlana nach Deutschland. Sie heiratete Reimar und zog zu ihm in ein oberbayerisches Dorf, in die Nachbarschaft von bunten Gärten, Häusern mit Lüftlmalereien, blumenbehängten Holzbalkonen. Swetlana und Reimar wohnen am Rand des Ortes. Hinter ihrem Haus liegt eine Bergwiese und das Panorama der Zugspitzkette. O-Ton Swetlana Ich muss immer raus, damit ich was sehen kann. Ich kann nicht aus dem Zimmer so gucken. Man bekommt kein Bild, man bekommt den geteilten Himmel, wie bei, wie hieß sie, bei Christa Wolf. O-Ton Reimar Ich hab früher einige Häuser gebaut, die haben Fensterscheiben gehabt von der einen Zimmerwand zur andern Zimmerwand, und von der Decke bis zum Fußboden. Ich kenne das natürlich als Architekt, viel Glas oder eben nicht. Und hier im Dorf haben die alten Häuser alle Sprossenfenster. Also haben wir es auch gemacht. Sprecherin Reimar ist fast 90. Im Dezember 1926 wurde er in Mannheim geboren und verbrachte seine Berufsjahre im Rheinland. Er leitete in Düsseldorf gemeinsam mit seinem Bruder ein Architekturbüro und hatte mit seiner ersten Ehefrau drei Kinder. Im Alter erfüllten sich die Brüder ihren Herzenswunsch, gemeinsam nach Süddeutschland zu ziehen. O-Ton Reimar Ich bin hierher gezogen, um mich aus der Großstadt zu entfernen, den ganzen Stress hinter mir zu lassen, in dem ich mein Leben zugebracht habe. Ich habe hier die wunderbarste Luft, ich hab schönes friedliches Leben, wohin ich auch gucke, vielleicht ist auch mal ein bisschen Kuhscheiße auf der Straße. Das sehe ich, wenn 3 4 ich aus dem Fenster schaue und freue mich an den bewaldeten Bergen, die das Ganze umrahmen. Sprecherin Die Brüder planten auch ihr Haus gemeinsam, ein Doppelhaus für den Lebensabend. O-Ton Reimar Ich weiß, dass unser Haus überhaupt nicht dunkel ist. Im Gegenteil, es ist lichtdurchflutet von hinten nach vorn. Bei Swetlana zu Hause ist es viel, viel dunkler, nur sie empfindet das nicht so. Sprecher Swetlanas Jugend O-Ton Swetlana Ich hab mein ganzes Leben lang gelebt in Erwartung. Da soll was kommen, da kommt entweder Perestroika oder irgendwelche neue Gesetze oder noch was. Musik O-Ton Swetlana Ich bin in einem Nachkriegsdorf aufgewachsen, und wir mussten richtig als Kinder schon arbeiten wie Erwachsene, im Garten. Nach dem Schulunterricht haben wir gearbeitet, Kartoffeln ausgegraben, schwere, wirklich schwere Arbeit gemacht. Als Kind habe ich schon sieben Kilometer gelaufen. Dann haben wir zwei oder mehr Stunden an der Schlange gestanden, um Brot zu kaufen, aber das gehörte zu unserem Leben. Und das hat mich wirklich ganz stark gemacht. Ich kann überall leben. Ich kann Feuer machen, ich kann Brot backen, ich kann alles machen. Und außerdem was ich wichtig finde, das Materielle spielt für mich nicht die Hauptrolle. Sprecherin Swetlana studierte Sprachen und Germanistik in Leningrad. Anschließend arbeitete sie in einem Betrieb, der Schweißgeräte herstellte und auch westeuropäische Länder 4 5 belieferte. Für einen Hinzuverdienst übernahm sie privat Übersetzungen, gab auch privaten Sprachunterricht. O-Ton Swetlana Ich bedaure bis heute, dass ich nicht Jura studiert habe, aber es ist so gelaufen und mit der deutschen Sprache, in der Schule habe ich gute Lehrerin gehabt. Ich hab überhaupt in der Schule sehr gute Lehrer gehabt, sehr gut, und dann hab ich immer was mit der Sprache gemacht. O-Ton Autorin Was hat sich mit den Deutschen für Sie verbunden? Die Deutschen waren ja diejenigen, die im Krieg viel Unglück ins Land gebracht haben. O-Ton Swetlana Wissen Sie, ich hab das mit der Sprache überhaupt nicht verbunden. Für mich war das so ein Fach, und dann, wir haben in der Schule ganz gute Bibliothek gehabt, das war eine Dorfschule, aber wir haben Maupassant gelesen und Rousseau und Shakespeare, es gab alles. Und deutsch: Ich hab in der Übersetzung auf Russisch Goethe gelesen, Heine gelesen, Lessing noch nicht, aber hab auch gehört, das stand bei uns, Hamburgische Dramaturgie. In der Schule, in einer Dorfschule in Russland! O-Ton Autorin In Ihrer Jugend ist das Deutsche Ihnen eher über die Literatur und die Kultur vermittelt als über Politik und den Krieg und die Gegnerschaft? O-Ton Swetlana Ja, das war Literatur. Bei uns war es so, dass die Menschen jedenfalls in meiner Familie, sie haben viel erlebt, mein Vater war im Krieg, aber sie haben erstens sehr wenig über den Krieg gesprochen, wenn dann keine grausamen Sachen. Sie haben uns Kinder geschont. Die Menschen, die so viel erlebt haben und den Sieg hatten, sie wollten nicht, dass wir als Kinder Hass gegen ein anders Volk haben. Ich meine, das ist auch mit der orthodoxen Kirche verbunden, aber nicht die Kirche als Anstalt, nicht die Kirche als Kirche, sondern das sind die moralischen Voraussetzungen, die 5 6 moralischen Grundlagen: kein Hass zu anderen Menschen. Man muss immer eine Ursache finden, warum haben die Menschen sich so benommen? Ja, dieses: Verzeih andern Menschen, verbreite keinen Hass, helfe den Menschen, teile das Letzte, nicht wenn du was übrig hast, dann kannst du einfach geben, sondern das Letzte, was du hast, teile mit dem Nächsten. So bin ich erzogen. Sprecher Reimars Jugend O-Ton Reimar Das war ganz selbstverständlich, dem konnte man sich überhaupt nicht erwehren. Das war nicht nur ne Mode-Erscheinung unter Schülern damals, sondern es war Wehrpflicht. Selbstverständlich hatte jeder zwei Jahre zum Militär zu gehen. O-Ton Autorin Und mit welchen Gefühlen erinnern Sie sich daran? Mit welchem Selbstbewusstsein Sie diese militärische Karriere in Angriff genommen haben? O-Ton Reimar Man merkt einen großen Unterschied an Ihren Fragen gegenüber denen, die in dieser Zeit aufgewachsen sind. Also, das sind alles Selbstverständlichkeiten gewesen. Ich war selbstverständlich Hitlerjugendangehöriger, nicht bei der HJ, die erst mit 14 Jahren beginnt, sondern beim deutschen Jungvolk. O-Ton Autorin Wie alt musste man sein, um zum Jungvolk zu kommen? O-Ton Reimar Ich glaube, da gab es schon Küken mit sechs Jahren, die da rein gehen könnten, sonst jedenfalls mit 10 Jahren. O-Ton Autorin Und was hat Sie begeistert? Damals? 6 7 O-Ton Reimar Die Geländespiele z. B., die wir gemacht haben. Das war ne Jugendbewegung, bei der wir den propagandistischen Hintergrund natürlich nicht gemerkt haben, der aber selbstverständlich war, oder den erzieherischen zum Soldaten. Musik Sprecherin Als Reimars Vater - auch ein Architekt - Chef der Bauabteilung der Deutschen Bank wurde, zog die Familie von Mannheim nach Berlin. Die Eltern seien keine Nazis gewesen, keine Parteimitglieder, aber auch keine Gegner; eher Mitläufer wie die meisten, sagt Reimar. Kurz nach seinem 16. Geburtstag wurde er als Luftwaffenhelfer eingezogen und an einer Flugabwehrkanone, der Flak, ausgebildet. O-Ton Reimar Da war ich Schüler. Luftwaffenhelfer ist kein Soldat, sondern es sind Kinder, die mit 16 eingezogen wurden, deren Eltern man versprach, dass jeden zweiten Tag Schule sein wird, und dann wurde so leise gesagt, außer natürlich, wenn nachts Luftangriffe sind. Da wir aber in Berlin jeden Nacht Luftangriffe hatten, gab`s auch keinen Unterricht mehr. Sprecherin Wenn die Umgebung bombardiert wurde, Reimar stand auf den Dächern der Stadt an der Flak. O-Ton Reimar Das gleiche auf dem Funkhaus in Berlin, da habe ich auch oben drauf gestanden, als Charlottenburg gänzlich zerstört wurde. Oben auf dem Dach, als die Masurenhalle von einer Luftmine gegenüber zerstört wurde. O-Ton Autorin Was haben Sie da getan? 7 8 O-Ton Reimar Eigentlich nichts. Denn die 2 cm Flak, bei der ich da war, schoss nur 2000 m hoch und die Amerikaner und Engländer flogen 6000 m hoch zu der Zeit. Wir hatten da nichts zu tun. Musik Atmo Sprecherin Ohne Schulabschluss, die Schule hatte sich erledigt, wurde er im März 1945 an die Front geschickt, mit dem Marschbefehl nach Nordosten zur neu aufgestellten Division Müncheberg. Da war Reimar 18 Jahre alt, Swetlana noch nicht auf der Welt. O-Ton Reimar Und dann war ich einige Wochen an der Ostfront, in der Nähe von Küstrin an der Oder und hab dann die letzte Offensive der Russen mitgemacht. Das größte Trommelfeuer aller Zeiten, wie es hinterher im Wehrmachtsbericht hieß, hab ich schlafend erledigt. Weil ich vorher so wenig geschlafen hab, bin ich da bei dem dauernden Krachen eingeschlafen, in einem Erdloch, was man sich gebuddelt hat, und wenn wieder so ne Schütte Erde von einer Granate über einen geworfen wurde, hat man sich ein bisschen geschüttelt und weiter geschlafen, und aufgewacht bin ich, als das Trommelfeuer zu Ende ging. O-Ton Autorin Wenn sie das jetzt so erzählen, man hat das abgeschüttelt, dann klingt das ja aus der Erinnerung lässig. O-Ton Reimar Tja Sprecherin Reimar meldete sich zum Einsatz an die Flakkanone, die auf eine Lafette montiert war. 8 9 O-Ton Reimar Ich war ein freier Mensch mit dieser Selbstfahrlafette, und mein Fahrer war ein desertierter Deutschrusse, der wusste ganz genau, was ihm passiert, wenn er in russische Hände kommt und im Prinzip hatten wir nur vier Rückwartsgänge und keinen Vorwärtsgang mit diesem Fahrer, und das dürfte wohl der Grund sein, warum ich heute hier sitze. Die Front war über uns gerollt, ohne dass wir das gemerkt haben. Und von da an waren wir immer hinter den russischen Linien und haben geguckt, wie wir da durchkommen, ohne dass uns einer erwischt. Sprecherin Der rettende Rückzug nach Westen, Ende April 1945, in den letzten Kriegstagen, scheiterte. O-Ton Reimar Wir sind auf unserer Flucht in eine Waldlichtung gekommen, ne Wiese, und rannten in großen flüchtenden Massen, einzelne Menschen, Soldaten, Offiziere hatten inzwischen ihre Schulterklappen abmontiert. Ich hatte aber immer noch meinen Stahlhelm, Patronentaschen und ein Gewehr bei mir, und auf einmal sahen wir irgendeine Bewegung an diesem Waldrand, und da fielen lauter Bäume, und da hatte die russische Artillerieeinheit, die dort lag, ihre Tarnung weg geschmissen, und da sahen wir, wie die Kanonenrohre sich drehten auf uns, und dann kamen wir in ein direktes Artilleriefeuer von ungefähr zwölf Geschützen. Das kann ich gar nicht erzählen, was da los ist. … Und im Rennen sehe ich, da ist ein Loch, so`n Schützenloch, was sich ein anderer vorher gegraben hatte, und dieses Loch stand aber voll Wasser und trotzdem bin ich rein gesprungen, und in dem Moment gibt es einen Riesenknall... Sprecherin Etwa eine Viertelstunde später sei er wieder zu sich gekommen, hätte seinen Körper betrachtet, sich befühlt, abgetastet. O-Ton Reimar Ich war voll Dreck, und mit der Zeit hab ich auch gemerkt, ich hab irgendwas Klebriges auf dem Gesicht, dann hab ich an dem Stahlhelm rumgefingert, da waren 9 10 lauter Löcher drin, alles in dem Trancezustand, in dem man sich in so ´nem Schockmoment befindet. Und dann hab ich den Stahlhelm abgesetzt, mit der Hand auf den Kopf gefasst, da waren so fünf, sechs, sieben kleine Eisensplitter in der Kopfhaut und die hab ich rausgepflückt. Da war nichts weiter, der Kopf war nicht verletzt, nur die Kopfhaut. Den Stahlhelm hatte ich nur auf, weil er mir beim Rennen immer gegen den Knochen schlug. So hat man in dieser Zeit ein Erlebnis nach dem andern, dessen Ausgang man sein Überleben verdankt. O-Ton Autorin Hat das `ne Folge für Ihre Lebensphilosophie? Eine Möglichkeit wäre ja zu denken, Gott hat mich gerettet und die andere Möglichkeit ist, zu sagen, der Zufall hat mich gerettet. O-Ton Reimar Ich glaube nicht, dass Gott in dieser Gelegenheit, so weit man überhaupt an Gott glaubt, für jeden Einzelnen Zeit gehabt hat, für mich ganz sicher nicht. Sprecherin In diesem Schützenloch sah er, noch benommen, sowjetische Soldaten über die Wiese auf die Deutschen zu laufen. Die wehrten sich nicht mehr. Widerstandslos sammelten sie sich am Feldweg. In der Enge des Erdlochs drehte Reimar umständlich, mühsam den Lauf seines Gewehrs gegen sich selbst, legte ihn an die Schläfe. Drückte ab. Doch es löste sich kein Schuss - klick - klick - Klick - er blieb am Leben. Dasselbe Artilleriefeuer, das dem Soldaten neben ihm die Schädeldecke vom Kopf gerissen hatte, traf durch einen Granatsplitter auch das Schloss seines Gewehrs. So erinnert Reimar das. Er wunderte sich, dass der russische Soldat, der ihn aus dem Erdloch zwang, ihm nicht zuerst das Gewehr abnahm, sondern seine Uhr verlangte, weiter rannte, um Uhren zu sammeln. Sein kaputtes Gewehr warf Reimar selbst weg. Dann begannen die Fußmärsche durch die Mark Brandenburg und die Niederlausitz in die Gefangenschaft. 10 11 O-Ton Reimar Und ich habe zwei Jahre lang in Gefangenschaft gehungert, dass wir Schmerzen vor Hunger hatten. Aber die Russen hatten auch nichts, die uns da bewacht haben, sonst hätten sie uns auch abgegeben. Sprecherin Tagelange Märsche, wochenlanger Stumpfsinn im Stacheldrahtlager, wo dreißigtausend Männer nichts zu essen und nichts zu tun hatten. Transporte im Viehwaggon, Nächte auf der Pritsche. Die Männer lagen so eng, dass sich keiner allein bewegen konnte. Arbeit in der Zuckerfabrik. Dann die Endstation: ein KohleBergwerk in der Ukraine. Den Aufenthalt dort, die Kosten für ihre Bewachung und Ernährung mussten die Gefangenen zahlen. Ihre Arbeit wurde entlohnt. Den Hauern vor der Kohle blieb von dem Geld sogar etwas übrig. Reimar schaufelte den Abraum weg, eine noch geringer bezahlte Dreckarbeit. Seit 1948 kamen die nicht mehr arbeitsfähigen Männer zurück nach Deutschland, ab Januar 1949 beschloss Reimar sich durch Hunger zu schwächen. Heimlich verkaufte er seine Zucker- und Brotrationen an Kameraden, riskierte die Todesstrafe, doch sein Plan ging auf. Musik Erzählerin Entkräftet wurde Reimar im Mai 1949 zum Abtransport kommandiert. im Auffanglager Friedland gab man ihm die Fahrkarte nach Wuppertal, wo seine Eltern inzwischen lebten. Das Abitur machte er in einem speziellen Kurz-Lehrgang für Spätheimkehrer und 1950 begann er mit dem Architekturstudium in Aachen. O-Ton Reimar 49 kam ich zurück, nach insgesamt beinahe sieben Jahren Militär und Kriegsgefangenschaft, und das war meine Jugend. Ich empfinde das natürlich auch als einen ganz schweren Verlust, wenn ich beobachte, wie die jüngeren Leute ihre Jugend verbringen, und das war meine Jugend. Ich empfinde diese Tatsachen natürlich bis heute zutiefst, und wenn ich dran denke, kommt mir das Selbstmitleid. 11 12 Das ist Mitleid wie mit nem anderen, aber mit sich selbst. Es gibt schon Zeitpunkte, wo mich das ergreift, bis heute. In der Nacht zum Beispiel, wenn man nicht schlafen kann, und es kommen einem Gedanken, die man nicht will. Das sind schwere Erinnerungen. O-Ton Swetlana Man soll nicht vergessen, was während des Krieges in Pskow passiert ist. Das waren mehr als 200.000 Menschen umgebracht wurden. Das waren Kriegsgefangene, das waren Bewohner der Stadt und die Stadt wurde überhaupt völlig zerstört. Sprecherin In Pskow überlebten 164 Menschen den Einmarsch der Deutschen Wehrmacht, nur 16 Häuser standen nach dem Krieg noch unversehrt. O-Ton Swetlana Bei uns an Pfingsten sammeln sich alle Menschen aus allen Dörfern auf diesem Friedhof. Das war so stark im Kopf. Bis heute. Da haben die Frauen geweint. Dass sie nicht gewusst haben, wo ihre Kinder, Väter und Ehemänner gefallen sind, wo ihre Gräber sind. Entschuldigung, ich muss Taschentuch, Entschuldigung, aber das ist wirklich ganz stark immer. Drei Jahre war ich in Leipzig. Ich hab da studiert an der Uni. Ich wollte immer deutsche Frauen sehen, Wissen sie. Ich war schon mehr als 20 Jahre alt, ich wollte immer deutsche Frauen sehen, weil ich sehen wollte, welche Frauen, Entschuldigung, können solche Männer, solche Söhne gebären, dass sie sich so benehmen. Wir haben dann sehr viele Filme gesehen, die gefilmt wurden von den deutschen Soldaten. Und insbesondere ein Film hat mich so beeindruckt, das war eine Gruppe von Soldaten, junge Männer, nicht verhungert, gut aussehend, gut gekleidet, alles da. Und einer von ihnen hat einer schwangeren Frau den Bauch geschnitten. Und dieses Bild hat mich dann mein ganzes Leben verfolgt. Ich wollte wirklich die Frauen sehen, die diese Jungs geboren hatten, diese Monster. Ich verstehe das nicht, was der Krieg mit den Menschen überhaupt macht. O-Ton Reimar Ich hab mein Leben lang immer ganz bewusst die Schuld getragen, die wir Deutschen auf uns geladen haben mit diesem schrecklichen Krieg. Weil ich auch 12 13 selber drunter gelitten habe, und dieser entsetzliche, unser heiß geliebter Führer mir meine Jugend gestohlen hat. Dann ist das Bewusstsein doch einfach umwerfend, was wir der Welt angetan haben mit dem Krieg. Musik Sprecher Schuld und Sühne Sprecherin Anfang der 90er-Jahre beschloss die Landessynode der Evangelischen Kirche im Rheinland, den Versöhnungsprozess mit Russland durch Taten, durch soziale Projekte zu intensivieren. Der damalige Direktor der Evangelischen Akademie Mülheim, der Theologe Dr. Dieter Bach, war Motor dieser Bewegung und machte die Aussöhnung mit den östlichen Nachbarn zum Schwerpunkt seiner Arbeit. Reimar kannte Dieter Bach, hatte bereits Bauten der evangelischen Akademie entworfen und betreut. Zwei Jahre, nachdem er sein Architekturbüro in Düsseldorf geschlossen hatte, rief Dieter Bach bei ihm an und bat um fachliche Hilfe. O-Ton Reimar Was er erzählt hat, war so neu für mich und so brennend interessant. Das Ganze war so 1997 ungefähr. Wir hatten eine Wehrmachtsausstellung hier und was noch alles, und wissen mehr über den Krieg, als wir damals selber erfahren haben. Da kam schon der Wunsch, da möchte ich auch mal hin. Sprecherin Dieter Bach hatte Pskow ausgewählt, eine besonders geschundene russische Stadt. Gemeinsam mit betroffenen Eltern wurde die Idee entwickelt, eine Schule für Kinder mit geistigen und körperlichen Handicaps zu bauen. O-Ton Swetlana Wissen sie, es ist so, wenn irgendjemand was gibt, es muss so sein, dass der das nimmt, sich gut fühlen. Der, der gibt, der fühlt sich großzügig und so was, 13 14 aber der, der nimmt, muss sich in dieser Situation auch gut fühlen, dass der, der nimmt, sich nicht beleidigt fühlt und nicht klein fühlt. Sprecherin Die Stadt Pskow stellte das Grundstück zur Verfügung, das Land NRW gab Zuschüsse für das erste Projekt, die Schule. Durch den Einsatz von evangelischen und orthodoxen Christen entstand im Laufe der Zeit ein Heilpädagogisches Zentrum mit einem pädagogischen Konzept, das jungen hilfsbedürftigen Menschen Leben und Lernen möglich macht. Für die Schulabgänger wurden Werkstätten geplant. O-Ton Reimar Da ich Architekt bin, hätte ich diese Werkstätten bauen können, und dafür haben sie mich dann auch eingesetzt. Sprecherin Eine beglückende Erfolgsgeschichte. Eine Schule, ein Kindergarten, Beratungsstellen für Eltern mit behinderten Kindern; Werkstätten, ein Hospiz. Ein sorgfältiges und umfassendes Konzept, das von Deutschen und Russen gemeinsam erdacht und verwirklicht wurde. Seit 1998 gibt es die „Initiative Pskow“, die heute immer stärker von dort lebenden Russen getragen wird. Die deutschen Repräsentanten dieser Initiative wurden von russischen Institutionen dankbar geehrt, wurden „Ehrenbürger“ der Stadt Pskow, „Ehrendoktor der Universität Moskau“. O-Ton Swetlana Ich würde keinen Ehrenbürger-, diesen Titel nehmen in der Stadt, der völlig zerbombt war, 250.000 waren tot in dieser Stadt, und dann man kommt, man macht die Werkstätten, man wollte gelobt werden und gepriesen werden. Ich finde das nicht besonders sympathisch. Die wollten, dass überall in der Presse das steht, und sowas, im Fernsehen, unbedingt. Putin hat einen Brief geschrieben, danke schön gesagt. So was. Ein wenig aufdringlich. Man muss ein bisschen bescheidener sein mit dem Volk. Musik 14 15 Sprecherin Niemand in unserer Initiative tat es, um geehrt zu werden, widerspricht Reimar. Etwa 50 Menschen hätten jahrelang selbstlos und ohne Bezahlung für dieses Projekte gearbeitet. Mindestens einmal im Monat reiste er damals nach Pskow zu Baubesprechungen, später sogar wöchentlich. Anfangs arbeitete er mit unterschiedlichen Dolmetschern, die bis dahin nie etwas mit dem Bauwesen zu tun hatten. O-Ton Reimar Diese Schwierigkeiten, die führten mal dazu, dass ich missverstanden wurde und Rohrleitungen außerhalb des warmen Gebäudes geführt wurden, weil ich gesagt habe, sie sollen ausschließlich innerhalb des beheizten Gebäudes geführt werden, und die Frau hat das „ausschließlich“ nicht richtig verstanden, so dass ich nachher Rohrleitungen nachher abreißen lassen musste, die im Frost lagen. Sprecherin Swetlana war schon Rentnerin, aber doch fast zwanzig Jahre jünger als Reimar, als sie sich während der Bauarbeiten für die Werkstätten kennen lernten. O-Ton Reimar Und eines Tages wurde mir die Swetlana zugeteilt. Das war ein so riesengroßer Unterschied. Sie hat mich während der Sitzungen leise gefragt, was heißt das, oder wie drückt ihr das aus. O-Ton Swetlana Reimar war auch ganz entgegenkommend, er hat einfach gezeichnet, und das hat auch geholfen. O-Ton Reimar Und dann haben wir jahrelang, zehn Jahre lang immerhin zusammen gearbeitet, und mit der Zeit hat sich da wegen der gemeinsamen Arbeit ein Vertrauensverhältnis herausgestellt. Musik 15 16 O-Ton Swetlana Es gibt unterschiedliche Menschen unter Russen und unter Deutschen. Aber Deutsche sind wirklich sehr konsequent. Wenn sie ein Ziel haben, dann gehen sie zu diesem Ziel bis zum Ende. Sie werden bis zum Ende dich belehren oder erziehen oder so, bis du ganz kaputt bist. Moralisch meine ich. Nicht unbedingt körperlich, nicht physisch. Sie machen das sehr konsequent. Sie machen keinen Schluss. Das habe ich selbst erlebt. Unter Russen habe ich so was nicht erlebt. Sie sind vielleicht weicher in der Seele. Wenn ich merke, es geht den Menschen schlecht, und er ist traurig und verträgt das nicht mehr, dann mache ich Schluss. Ich muss nicht bis zum Ende meinen Gedanken bringen, obwohl ich meine, ich hab Recht. O-Ton Reimar Jeder hat das in einem Leben schon mal festgestellt, dass eine intensive Zusammenarbeit von zwei sympathischen Menschen nicht selten zu einer Art Liebesbeziehung führt. O-Ton Swetlana Reimar ist älter und hat vielleicht mehr Lebenserfahrung. O-Ton Reimar Die Swetlana ist ein sehr, sehr kluger Mensch und in ihrer Art, wie sie ihre Klugheit anbringt, liegt auch sehr viel Sympathisches, aus meiner Sicht jedenfalls. Sprecher Verschiedene Gefühle O-Ton Reimar Welikaja ist ein ziemlich großer Fluss, mindestens so groß wie die Donau in Ulm mit Strömung und Eis, und da geht ne Brücke rüber und diese Brücke war total vereist. Die Russen haben nach Perestroika, wie Swetlana immer sagt, also nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, ihre Straßen nicht mehr gefegt. Unbegehbare Wege waren das und die vereist, und so sind wir mal auf so `ner unbegehbaren Brückensituation über die Brücke gelaufen, und da gab`s gar nichts anderes, als 16 17 dass wir uns beide fest eingehakt haben, und das haben wir beide als sehr schön empfunden. O-Ton Swetlana Das ist eine ganz komplizierte Frage. Es gibt so einen Begriff, unsere Seele. Liebe würde ich nicht sagen, vielleicht Zuneigung, und es ist mehr Mitleid, Mitgefühl, Hilfsbereitschaft. Ja, so ist es. O-Ton Reimar Durch den Fall, dass meine frühere Frau wieder nach Amerika gehen wollte, wo sie aufgewachsen ist, und ich dann plötzlich alleine stand, da hab ich sie angerufen in Russland und hab gesagt, hör mal, die Susanne ist nach Amerika, wir leben in Trennung, und da hat sie dazu gesagt, das ist ja ne ganz neue Situation. O-Ton Swetlana Das ist immer interessant, was Neues zu erleben. Und außerdem, das war auch eine Ursache, meine Tochter ist in Deutschland, und ich hab gedacht, ich hab jetzt die Möglichkeit, sie öfters zu sehen. O-Ton Autorin Wie kam es denn, dass auf einmal aus einer Arbeitsbeziehung eine private Beziehung wird? O-Ton Swetlana Gewohnheit (fröhliches Lachen) Das war ein Witz. O-Ton Reimar Wenn sie in die Werkstatt kam, und die Behinderten haben das gemerkt, wer in der Nähe war, kamen gerannt und sofort war eine Traube um Swetlana. Sie sprangen an ihr hoch vor Freude, und das war die Dolmetscherin in Pskow, von der ich nicht mehr lassen wollte. O-Ton Autorin Haben Sie sich als junge Frau mal gewünscht, in Deutschland zu leben? 17 18 O-Ton Swetlana Nein, hab ich nie. Nie. Hab ich nie gewünscht. Sprecher Unter den Deutschen O-Ton Swetlana Bei uns sagt man, in ein fremdes Kloster geht man nicht mit dem eigenen Statut. Muss man schon das berücksichtigen und das akzeptieren, dass das Leben hier anders ist. O-Ton Reimar Wenn ein Russe von Russland hierher kommt, dann hat er die äußersten Vorstellungen, welches Zuckerland hier besteht, und wie gut hier alles ist. Es ist aber nicht alles gut. O-Ton Swetlana Wenn man in einem deutschen Dorf lebt, dann fühlt man sich wirklich sehr einsam. Bei uns die Menschen können ohne Termin zu machen zueinander kommen. Ich vermisse diese Nähe, dass ich kommen könnte zu einem und offen sprechen, Tee trinken oder zusammen was unternehmen, das vermisse ich. Ich empfinde das, je näher die Menschen zueinander sind, desto besser ist das. Da hat man ein ganz angenehmes Gefühl, ich bin nicht allein, ich kann zu meiner Nachbarin kommen, dann brauch ich keinen Arzt. Mir wird es leichter, weil der Mensch versteht mich und dem Menschen wird es leichter, er ist auch verstanden worden. Musik O-Ton Swetlana Ich bin so unter Deutschen und empfinde sehr viele Sachen vielleicht zu scharf. Vielleicht ist auch die Vergangenheit nicht so ganz weg. Wenn ich gesehen habe, die Menschen leben viel besser als wir, materiell jedenfalls, und ob sie wirklich in der Tiefe ihrer Seelen wirklich verstehen, was sie gemacht haben früher bei uns, das bezweifle ich. 18 19 Das ist unwillkürlich, aber ich gucke und versuche rauszukriegen, warum sind sie so anders. Manchmal auch Hochnäsigkeit: Wir sind eine besondere Nation. Wir sind besser als die anderen. Das merke ich. Wir sind besser, wir verstehen alles besser, wir machen alles besser. Das merke ich. O-Ton Reimar Ich weiß nicht, wie rum das ist, ob sie das Haus, das ich hier gebaut habe, und das ich eigentlich völlig in Ordnung fand, ob sie das deshalb ablehnt, weil sie zu mir nicht den richtigen Kontakt hat. Oder ob es umgekehrt ist. Jedenfalls hat sie an den Kreuzsprossen, die ich hier gebaut habe, etwas auszusetzen und fühlt sich wie im Gefängnis hinter Gittern, ich weiß nicht, ob es an den Kreuzsprossen liegt oder an ganz anderen Dingen. Atmo: Schritte Sprecherin Swetlana und Reimar zeigen ihr Haus. Den großen, offenen Wohnraum, die moderne Küche, die vielen Zimmer, die großzügig Platz für Gäste und Familie bieten, das ausgebaute Dachgeschoss, die zahlreichen Wirtschaftsräume im Souterrain. O-Ton Swetlana Für zwei Menschen so was zu bauen, ich finde, das ist zu großzügig. O-Ton Autorin Und ist das nicht auch ein Gefühl von Dankbarkeit oder Freude, das man jetzt einen so großzügigen Raum zur Verfügung hat? O-Ton Swetlana Man kann sich verstecken irgendwo (lacht), aber von der anderen Seite, das ist immer viel Arbeit. O-Ton Autorin Was ist denn hinter diesen vielen Türen? O-Ton Swetlana Das ist Waschküche. Waschmaschine, Trockner, auch Badewanne, riesig (lacht). Das ist, Reimar wie nennst du diesen Raum? 19 20 O-Ton Reimar Das war ursprünglich mein Archiv. O-Ton Autorin Und hier ist ja ein richtiger Wohnraum im Keller! O-Ton Reimar Ja, das ist ein richtiger Wohnraum. Und das war auch mal belegt, hier das Zimmer. O-Ton Autorin Und da ist noch ne Tür? O-Ton Swetlana Ja, Ja. Das ist für den Fall des Atomkrieges. (Lacht) Sag ich nur. Abstellraum. Riesiggroß. Das ist unter der Garage. O-Ton Reimar Das haben wir geplant für eventuelle Notwendigkeiten. Und jetzt muss man allmählich mal aufräumen und alles wegschmeißen, weil so viel drin ist. Atmo lachen O-Ton Autorin Na toll. O-Ton Swetlana Da gibt’s auch noch ne Werkstatt. O-Ton Autorin Man denkt ja wirklich, dass alles gut durchdacht ist. O-Ton Reimar Ich nehme mal an, dass ich alles gut durchdacht habe, ich geh davon aus. Es ist vor allem trocken, so dass es unterm Teppich nicht fault wie bei andern Leuten. O-Ton Autorin Wenn man hier als Gast rein kommt, dann denkt man es ist ein sehr schönes Haus. Atmo Treppe steigen O-Ton Reimar Man kann auch dazu sagen, man kann auch alles schlecht machen. O-Ton Autorin Und diesen Vorwurf, man kann auch alles schlecht machen, wie gehen Sie damit um? 20 21 O-Ton Reimar Kein Vorwurf O-Ton Swetlana Bin gewohnt. O-Ton Autorin Haben Sie das Gefühl, dass Sie es schlecht machen? O-Ton Swetlana Nein. Ich mache nicht schlecht. Ich sage nur meine Meinung, ja. O-Ton Reimar Ja. O-Ton Swetlana Ich meine, ich hab auch Recht dafür. O-Ton Reimar Ja O-Ton Swetlana Das ist meine Meinung. O-Ton Reimar So was kann ich auch anders ausdrücken. O-Ton Autorin Hätten sie sich manchmal gewünscht, selber in diesem Haus irgendetwas zu gestalten? Also ein schwarzes Sofa…dass Sie da gerne andere Möbel gehabt hätten oder hat es so einen Wunsch gegeben? O-Ton Swetlana Nee. Das Gefühl irgendwas zu ändern, hab ich nie gehabt. Weil das ist schon gemacht. Ich meine, Reimar und seine Frau haben alles durchdacht und ich kann nicht kommen und sagen und jetzt stelle ich hier was her oder hier mache ich so was. Das geht einfach nicht. O-Ton Autorin Aha? O-Ton Swetlana Ich bin schon... 21 22 O-Ton Reimar Da kann ich nur sagen, was die Swetlana hier mal zufügt, das sind zum Beispiel die wunderschönen Blumensträuße überall. Das ist alles wunderschön. Macht sie wunderbar. Musik Atmo Schritte im Haus O-Ton Swetlana Man kann wenig haben und glücklicher sein. O-Ton Reimar Das erste Wort, was mir dazu einfällt, das wäre Toleranz. O-Ton Autorin Wem fehlt die Toleranz? O-Ton Reimar Wahrscheinlich beiden. O-Ton Autorin An welcher Stelle sind Sie intolerant? O-Ton Reimar In meiner Ausdrucksweise. Wie ich reagiere. Das mag Swetlana manchmal aufregen. Ich kann in Swetlanas Benehmen nichts finden, das ich auf den Unterschied der Kulturen schieben wollte. O-Ton Swetlana Heimatgefühl, das ist nicht nur Häuser, oder bestimmte Städte oder bestimmte Dörfer auch, das steckt sehr tief. Ich meine, wir erben nicht nur Augenfarbe, wir erben auch unsere Geschichte, die Erfahrung unserer Ahnen und auch unsere Kultur. Nicht nur Dostojewski und Tschechow, alles andere auch. O-Ton Reimar Ich glaube nicht daran, dass die Kultur von Russen und Deutschen so unterschiedlich ist, dass man daraus wirklich Missverständnisse bilden müsste. Sondern wenn man Missverständnisse hat, dann schiebt man das auf die Unterschiede in der Kultur. 22 23 O-Ton Swetlana Das ist so schön. Oder es gibt auch sehr viele, „Sie haben mich gequälet, blau und blass, die einen mit ihrer Liebe, die andern mit ihrem Hass.“ Und so weiter. Ja, das ist ganz fein. Und bei ihm die Melodik, das ist ganz schön. Ich mag Heine. O-Ton Reimar Wir sind oft durch Pskow gelaufen, und Swetlana hat mir Gedichte von Heine aufgesagt. O-Ton Swetlana „Im tollen Wahn hab ich dich mal verlassen“, oder einst verlassen, „ich wollte gehen die ganze Welt zu Ende und wollte sehn, ob ich die Liebe fände, um liebevoll die Liebe zu erfassen.“ Und weiter folgt: auf allen Gassen hat er die Liebe gesucht, hat nie gefunden, und dann ist er zurückgekehrt, und seine Mutter ist ihm entgegen gekommen, und was er empfunden hat, das war die Liebe, die lang gesuchte Liebe. Musik O-Ton Swetlana Austauschen Erfahrungen ist gut. Aber ich meine, jedes Volk muss auch seine eigene Kultur, seine eigene Vergangenheit, und die Zukunft so gestalten, dass er als Volk bleibt. Mit eigenen Eigenschaften, mit eigenen Bestrebungen, mit eigener Geschichte. Das finde ich, ist besser, als wie alle gleich sind. Ich finde, dass jedes Volk soll eigentlich eigene Sprache pflegen. Weil man darf nicht vergessen, was unsere Ahnen gemacht haben. Das ist auch Geschichte und wir müssen das auch weiter pflegen. Ich finde, es ist sehr schön, wenn wir andere Sprachen lernen, dass wir andere Länder kennen lernen, aber meine Heimat und mein richtiges Zuhause sind in Russland. O-Ton Reimar Für Swetlana scheint es so zu sein. O-Ton Swetlana Ich würde nicht sagen, dass es ganz zerbrochen ist, aber das, was ich zu Hause wahrgenommen habe, hier nehme ich ganz anders wahr. 23 24 O-Ton Reimar Ich habe gestern Tschechow gelesen, und ich habe darin kein Wort gefunden, was auf Unterschiede zwischen deutscher und russischer Kultur schließen ließe und die Art der Erzählung hat mich so begeistert und so angefreundet, und wenn Russen sich mit deutscher Musik, mit deutscher Literatur beschäftigen, werden sie dort wahrscheinlich auch sehr viel Schönes drin finden. Musik O-Ton Swetlana Vielleicht muss ich auch was machen, damit die Beziehungen besser werden, aber ich habe immer diese Hemmung. Es fehlt das Vertrauen, dass ich richtig verstanden würde. O-Ton Reimar Solange wir uns liebten, war da keine Schwierigkeit. Musik Absage: Die Geschichte ist nicht zu Ende Szenen einer russisch-deutschen Ehe Ein Feature von Tita Gaehme Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2016. Es sprachen: Lena Stolze und Christoph Wittelsbürger Ton und Technik: Wolfgang Rixius und Anna D‘hein Regie: Roland Schäfer Redaktion: Hermann Theißen Musik 24
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