DerSprachinstinkt StevenPinker SpracheistkeinkulturellesArtefakt1,daswiraufdieselbeArtundWeiseerlernen wie das Lesen einer Uhr oder den Aufbau der Bundesregierung. Sie bildet viel mehr einen klar umrissenen Teil der biologischen Ausstattung unseres Gehirns. Sprache ist eine komplexe, hochentwickelte Fertigkeit, die sich ohne bewusste Anstrengungen oder formale Unterweisung beim Kind ganz spontan entwickeltundsichentfaltet,ohnedassdasKindsichderihrzugrundeliegenden Logik bewusst wird; sie ist qualitativ bei allen Menschen gleich und von allgemeineren Fähigkeiten wie dem Verarbeiten von Informationen oder intelligentem Verhalten zu trennen. Aus diesen Gründen beschreiben einige KognitionswissenschaftlerSprachealspsychologischengumgrenzteFähigkeit,alsmentales Organ, neuronales System oder als Berechnungsmodul. Ich persönlich jedoch ziehe den zugegebenermassen merkwürdigen Begriff „Instinkt“ vor. In ihm drückt sich die Vorstellung aus, dass das Sprachvermögen des Menschen mehr oderwenigermitderWebkunstderSpinnevergleichbarist.DieHerstellungeines Spinnennetzes wurde nicht etwa von irgendeinen in Vergessenheit geratenen Spinnengenie erfunden und ist unabhängig von einer soliden Ausbildung oder der Begabung zum Architekten oder Bauingenieur. Vielmehr spinnt eine Spinne ihr Netz, weil sie ein Spinnengehirn besitzt, dass in ihr den Drang zu spinnen weckt und sie befähigt, diesem Drang mit Erfolg nachzugeben. Auch wenn zwischen Spinnweben und Wörtern gewisse Unterschiede bestehen, so möchteichSiedazuanhalten,dasSprachvermögenindiesemLichtezubetrachten,weildiehieruntersuchtenPhänomenedannleichterzuverstehensind. Sprache als einen Instinkt zu betrachten heißt, die öffentlich Meinung – insbesonderedievondenGeistes-undSozialwissenschaftentradierte–umzukehren. Sprache ist genausowenig eine kulturelle Erfindung wie der aufrechte Gang. In ihrmanifestiertsichauchnichteineallgemeineFähigkeit,mitSymbolenumzugehen–wiewirsehenwerden,isteinedreijährigesKindeingrammatischesGenie,abervölligunbeschlagenaufdemGebietderbildendenKunst,derreligiösen Ikonographie2,derVerkehrszeichenundindenanderenBereichendessemiotischenSpektrums3.ObwohldieSpracheeinegroßartigeFähigkeitist,dievonallenlebendenArtennurderHomoSapiensbeherrscht,solltederMenschauchin ZukunfteinForschungsobjektderBiologenbleiben,denndassübereinegroßartigeFähigkeitnureineeinzigelebendeSpeziesverfügt,istimTierreichdurchaus nichteinmalig.[...]DieKomplexitätderSpracheist,vomStandpunktdesWissenschaftlersausbetrachtet,TeilunseresbiologischenGeburtsrechts.Sieistnichts, wasElternihrenKindernbeibringenoderwasinderSchuleverfeinertwerden müsste.[...] DieVorstellung,SpracheseieinerArtInstinkt,wurdezumerstenMal1871von Darwinselbstgeäußert.In„DieAbstammungdesMenschen“mussteersichmit 1Artefakt:Kunsterzeugnis 2religiöseIkonographie:DeutungreligiöserBildnisse 3semiotischesSpektrum:dasvielfältigeGebietderZeichenundihrerBedeutung Sprachvermögen auseinandersetzen, weil dessen Beschränkung auf den MenschenDarwinsTheorieinFragezustellenschien.[...] DieberühmtestenArgumentediesesJahrhundertsfürdieInstinkthaftigkeitder SprachestammenvonNoamChomsky,demLinguisten,derdieKomplexitätdes SystemsalsersteraufgedecktundmöglicherweisedengrößtenBeitragzurmodernen Revolution in der Sprach- und Kognitionswissenschaft geleistet hat. In denFünfzigerjahrenwurdendieSozialwissenschaftenvomBehaviourismusdominiert, den John B. Watson und B.F. Skinner bekannt gemacht haben. Mentale Begriffe wie „Wissen“ und „Denken“ wurden als unwissenschaftlich gebrandmarkt, und Wörter wie „Geist“ und „angeboren“ durfte man nicht in den Mund nehmen. Man erklärte sämtliches Verhalten anhand einiger Gesetze das Reiz-, Reaktions-Lernens und untersuchte sie an Ratten, die auf Hebel drückten, und Hunden, die auf bestimmte Geräusche mit Speichelfluss reagierten. Chomsky aberwiesaufzweigrundlegendeEigenschaftenvonSprachehin.Erstensbesteht buchstäblich jeder Satz, den eine Person äußert oder versteht, aus einer völlig neuenWortkombination,dieinderGeschichtedesWeltallsbislangniedagewesenist.VondaherkanneineSprachekeinRepertoireausverschiedenenReaktionsmöglichkeiten sein; vielmehr muss das Gehirn über eine Anleitung oder ein Programm verfügen, das aus einer endlichen Wortliste eine unendliche Menge vonSätzenerzeugenkann.DiesesProgrammkannmanalsmentaleGrammatik bezeichnen(nichtzuverwechselnmitpädagogischenoderstilistischenGrammatiken,dienichtsweitersindalsVerhaltensmaßregelnfürdasVerfassenvonProsatexten). Die zweite grundlegende Eigenschaften besteht darin, dass Kinder diese komplexen Grammatiken außerordentlich schnell und ohne formale Unterweisung entwickeln und schlüssige Interpretationen für völlig neuartige Satzkonstruktionen liefern können, mit denen sie bis zu diesem Zeitpunkt nie Bekanntschaft gemacht haben. Laut Chomsky müssen Kinder deswegen mit einemangeborenenPlanausgestattetsein,derdenGrammatikensämtlicherSprachengemeinsamist–miteinerUniversalgrammatik,dieihnensagt,wieausder gesprochenen Sprache ihrer Eltern die syntaktischen Muster herauszufiltern sind. ausStevenPinker:DerSprachinstinkt.WiederGeistdieSprachebildet.Droemer/Knaur, München1998.
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