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Krank durch rezeptfreie Medikamente | Manuskript
Krank durch rezeptfreie Medikamente
Bericht: Annett Glatz, Andreas Rummel
Endstation Dialyse. Fünf Schmerztabletten pro Tag gegen Kopf und Schulterschmerzen – und
das über zwei bis drei Jahre. Martina Roschlau wurden frei verkäufliche Schmerzmittel zum
Verhängnis. Diagnose: Nierenschaden.
Martina Roschlau, Nierenpatientin:
"Also ich bin damals als der Arzt mir das gesagt hat, was mir alles passieren kann, bin ich
schon weinend nach Hause, total erschüttert. Das war für mich eigentlich das härteste."
Jahre später ist die Befürchtung, dass ihre Nieren versagen könnten, eingetreten: Drei Mal
pro Woche muss Martina Roschlau jetzt zur Blutreinigung. Eine Strapaze. Dass Schmerzmittel
ohne Rezept in beliebiger Menge einfach in der Apotheke zu bekommen sind – heute kann
sie das nicht mehr verstehen.
Martina Roschlau, Nierenpatientin:
"Mich macht das wütend, maßlos wütend, weil ich das auch geschluckt habe. Ich kann das
nachvollziehen, dass das so einfach ist, aber ich versuche immer zu missionieren bei
jedem, wo ich sehe, dass er Schmerzmittel nimmt und ich werde natürlich manchmal
belächelt."
Pro Jahr sparen sich geschätzte 3,8 Millionen Menschen bei Schmerzen den Gang zum Arzt
und kaufen sich die Tabletten selbst. Wie verbreitet der sorglose Griff zur Schmerztablette
ist, zeigt sich im Freizeitsport. So schlucken Teilnehmer von Marathonläufen die Tabletten
massenweise nur zur Vorbeugung.
Wolfgang Becker-Brüser, arzneitelegramm
"Aus Studien weiß man, dass dort jeder Zweite Schmerzmittel prophylaktisch einnimmt.
Das heißt, er nimmt Arzneimittel ein, um Schmerzen, die entstehen können, im Laufe des
Laufes sich entwickeln können, im Vorhinein zu dämpfen oder zu beseitigen. Das ist in
meinen Augen eine breite missbräuchliche Verwendung aus Lifestylegründen für den
Breitensport. Die Menschen wissen gar nicht, was sie dort potentiell mit ihrem Körper
anrichten."
Viele Menschen glauben, weil die Schmerzmittel ohne Rezept und in beliebiger Menge in der
Apotheke erhältlich sind, müssten sie auch harmlos sein. Studien zeigen zudem, dass die
wenigsten die Packungsbeilagen beachten. Dabei drohen bei Dauergebrauch oder zu hoher
Dosierung tatsächlich schwere Gesundheitsrisiken.
Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf nur für den privaten Gebrauch des Empfängers
verwendet werden. Jede Verwertung ohne Zustimmung des Urheberberechtigten ist unzulässig.
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Prof. Thomas Herdegen, Pharmakologe:
"Frei verkäufliche Schmerzmittel wie das Ibuprofen, das Naporxen, oder das Diclofenac
können im schlimmsten Fall schwere Organstörungen hervorrufen. Die Herzfunktion kann
dramatisch verschlechtert werden, die Niere kann versagen und am meisten fürchten wir
die tödlichen Magen-Darm-Blutungen."
Fakt ist: Gerade die Großpackungen mit 50 und mehr Tabletten laden zum Dauergebrauch
geradezu ein. Das für Arzneimittelsicherheit zuständige Bundesinstitut in Bonn geht
inzwischen davon aus, dass die Risiken für die Verbraucher in ihrer Dimension bislang
deutlich unterschätzt wurden.
Prof. Walter Schwerdtfeger, Präsident Bundesinstitut für Arzneimittel und
Medizinprodukte (BfArM):
"Wir wissen, dass durch den Fehlgebrauch dieser verschreibungsfreien Arzneimittel etwa,
ja, mehr als 3.000 Krankenhauseinweisungen pro Jahr in Deutschland entstehen. Darüber
hinaus gibt es auch andere Nebenwirkungen, die auch in öffentlichen Datenbanken
gesammelt sind. Da sind die Zahlen noch deutlich höher, insbesondere wenn man
einrechnet, dass es eine Dunkelziffer gibt, die vermutlich dann letzten Endes auf das Zehnoder 20-fache der gemeldeten Zahlen hinauslaufen würde, wenn man alle Meldungen, die
tatsächlich gegeben werden könnten, auch erhielte."
Doch wo kein Arzt im Spiel ist, wird nicht gemeldet. In der Schmerzambulanz des Klinikums
St. Georg in Leipzig sieht man regelmäßig, wie sorglos der Umgang mit Schmerzmitteln ist.
Diese Patientin hatte Medikamente gegen ihre Rückenschmerzen vom Arzt verschrieben
bekommen. Und kaufte sich eine noch größere Menge einfach dazu.
Patientin: "Vornweg habe ich die Ibuprofen 800 genommen, bis zu dreimal täglich
zuzüglich Dolormin extra, die habe ich mir selbst gekauft für die Kopfschmerzen. Das ist
das einzige Präparat, mit dem ich das in Griff bekommen habe."
Arzt: "Und hatten Sie das bei ihrem Hausarzt mit angesagt, dass Sie das schon frei
verkäuflich haben?"
Patientin: "Wenn ich ehrlich bin nicht."
Arzt: "Das weiß der gar nicht ..."
Magenkrämpfe waren die Folge. Und so etwas sieht Oberarzt Carsten Funke häufig.
Dr. Carsten Funke, Oberarzt Klinikum St. Georg, Leipzig:
"Es kommen Patienten, die haben wirklich insgesamt dann durchaus im Kilo-Bereich
Tabletten eingenommen. Man will sich nicht mit der Ursache beschäftigen!
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Man versucht einfach, das – ja, ein bisschen so wie in der Kfz-Werkstatt: Reparieren – und
weiter geht's. Ohne sich mit den tieferen Hintergründen beschäftigen zu müssen, ja. Das
steckt schon mit dahinter!"
Im Schmerzzentrum des Klinikums St. Georg in Leipzig sollen die Patienten lernen, die
Schmerzen mit möglichst wenig Tabletten in den Griff zu bekommen. Doch die tägliche
Verführung ist groß.
Dr. Carsten Funke, Oberarzt Klinikum St. Georg, Leipzig:
"Die Werbung suggeriert, dass man mit einer Tablette wie mit einem Lichtschalter alles
ausschalten kann – der Schmerz ist weg, ich brauch' nichts dazu tun!"
Werbespots:
"Bei Schmerzen will man doch nur eins: Sie schnell wieder loswerden! Und da wirkt
zuverlässig Aspirin Effect. Zu jeder Zeit und überall!"
"Thomapyrin wirkt 15 Minuten schneller und ist dabei gut verträglich."
"Dolormin Extra – Schnelligkeit ist unsere Stärke."
Und so weiter, und so fort. In der Redaktion des pharmakritischen „arzneitelegramm“ hält
man es zwar für richtig, den Verkauf von Großpackungen einzuschränken, glaubt aber nicht,
dass das allein ausreicht.
Wolfgang Becker-Brüser, arzneitelegramm:
"Die Industrie verharmlost die Risiken, um mehr Schmerzmittel zu verkaufen, das muss
man ganz eindeutig sagen. Die Pharmawerbung für Schmerzmittel müsste meines
Erachtens eingeschränkt werden. Wenn man auch die Packungsgrößen einschränkt, dann
wäre das die logische Konsequenz."
Bereits vor einem Jahr hat das Sachverständigengremium für Verschreibungsplicht
empfohlen, die Schmerzmittel-Großpackungen abzuschaffen. Die maximale Menge soll vier
Therapietage beinhalten. Zwar wird man damit nicht verhindern, dass diejenigen, die es
wirklich wollen, von Apotheke zu Apotheke wandern. Doch sie werden zumindest gewarnt.
Prof. Walter Schwerdtfeger, BfArM:
"Es wird ja dann ein Verbraucher, der in seine Apotheke geht und gewöhnt ist, eine
Großpackung zu kaufen, die Frage stellen: Warum krieg ich die nicht mehr? Und der
Apotheker wird es ihm erläutern müssen.
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Von da an, wenn er trotzdem in die nächste Apotheke um die Ecke geht und sich dann eine
weitere Packung kauft und im weiteren noch mehrere Packungen, dann wird er das tun in
dem Bewusstsein, ich kaufe ein Produkt, dass durchaus bei mir auch gesundheitliche
Probleme erzeugen kann, wenn ich es länger anwende. Das ist der Unterschied zur jetzigen
Situation."
Doch seit einem Jahr ist zu dem Thema aus dem Gesundheitsministerium von Daniel Bahr
nichts zu hören. Auf unsere Anfrage heißt es, grundsätzlich teile man die Auffassung der
Experten. Doch man plane noch eine Analyse über den Umfang der Medikamenteneinnahme
in der Bevölkerung und prüfe eine Kombination von Maßnahmen. Offenbar hält man eine
schnelle Umsetzung für nicht wichtig genug.
Martina Roschlau hält das für fahrlässig. Sie hofft auf eine Spenderniere, um wieder normal
leben zu können.
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