Von Visionen und Hindernissen

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DEUTSCHER KREBSKONGRESS
Von Visionen und Hindernissen
Vera Zylka-Menhorn
icrosoft-Mitbegründer Bill Gates ist ein Visionär der IT-Branche. Vor 40 Jahren hatte er das
ehrgeizige Ziel, die Arbeitswelt mittels PC und Software zu erleichtern. Das ist wahrlich gelungen; diese
Techniken haben unser Leben revolutioniert. Vor wenigen Tagen äußerte Gates nun eine weitere Vision:
Krebs werde wegen enormer Fortschritte in der medizinischen Forschung bald kein Problem mehr sein. Gates
erachtet die Entwicklung zielgerichteter Medikamente
als ein „Wunder“, so dass Tumorerkrankungen in den
nächsten 30 Jahren weitgehend heilbar sein werden.
Nun, von Wundern und absehbarer Heilung wollte
beim 32. Deutschen Krebskongress in Berlin niemand
reden, aber eine gewisse Euphorie war durchaus zu
spüren. Denn die Onkologie erlebt einen unglaublichen
Innovationsschub – und damit Durchbrüche für die
Therapie bislang kaum behandelbarer Tumorerkrankungen (wie CML, GIST, multiples Myelom). Insbesondere Therapieverfahren, die unter den Begriffen
stratifizierte, individualisierte oder personalisierte
Krebsmedizin zusammengefasst werden, wecken Hoffnungen auf eine Verbesserung der Prognose für die Patienten. Allerdings: Aufgrund der molekulargenetischen
Komplexität der einzelnen Tumoren profitieren zurzeit
nur kleine Patientengruppen von den innovativen Arzneimitteln – man schätzt den Anteil auf fünf Prozent.
Zudem wirken manche Präparate nur wenige Monate,
dann kommt es zu neuen Genmutationen, die der Progression einer Tumorerkrankung Vorschub leisten.
Das ist für Ärzte wie für Patienten ernüchternd. In
Berlin war jedoch zu hören, dass man bei der personalisierten Medizin erst am Anfang einer Lernkurve – und
vor zahlreichen Hindernissen – stehe. „Die wissenschaftlich kontrollierte Umsetzung dieser neuen Konzepte in Diagnostik und Therapie findet in Deutschland
allenfalls punktuell statt, so dass bereits verfügbares
Wissen – wenn überhaupt – nur begrenzt zum Wohl der
Patienten eingesetzt wird“, sagte der Präsident der
Deutschen Krebsgesellschaft (DKG), Prof. Dr. med.
Wolff Schmiegel. Auf dem Kongress wurden Wege
M
Deutsches Ärzteblatt | Jg. 113 | Heft 9 | 4. März 2016
skizziert, wie die modernen Therapieverfahren zügig
und flächendeckend in die Regelversorgung überführt
werden könnten. Als vorrangige Aufgaben erachtet
man den Aufbau von Zentren mit hoher Expertise der
molekularen Multiplex-Diagnostik, den Ausbau von
Netzwerkstrukturen für alle Patienten einer Tumorentität, die Übernahme der Kosten für die molekulare
Diagnostik durch die Krankenkassen und die kontinuierliche Evaluation personalisierter Therapien in
großen Registerdatenbanken.
Einige Punkte betreffen damit auch die politische
Entscheidungsebene. Schmiegel begrüßte zwar, dass
mit dem Krebsfrüherkennungs- und -registergesetz
(KFRG) die ersten Punkte des 2008 gestarteten Nationalen Krebsplans in Angriff genommen worden sind
(„Wir erkennen an, dass die Gesundheitspolitik im vergangenen Jahr wichtige Aspekte der Hospiz- und Palliativversorgung angegangen ist.“), forderte von der
Politik aber konkrete Verbesserungen der Rahmenbedingungen für die personalisierte Krebsmedizin. „Wir
bedauern, dass der Diskussions- und Umsetzungsprozess ins Stocken geraten ist“, betonte Schmiegel. „Dieses ist aus Sicht unserer Fachgesellschaft beunruhigend, zumal Krebs weiterhin eines der führenden Gesundheitsprobleme der täglichen Krankenversorgung
darstellt.“ Dafür sind nun politische Visionen gefragt.
Vera Zylka-Menhorn
Ressortleiterin Medzinreport
A 349