23.02.2016, Gewalt durch Polizisten - Opfer kämpfen um

Manuskript
Beitrag: Gewalt durch Polizisten –
Opfer kämpfen um Glaubwürdigkeit
Sendung vom 23. Februar 2016
von Andreas Halbach, Thomas Münten und Heiko Rahms
Anmoderation:
Die Bilder zeigen eine grölende Menschenmenge, die einen Bus
mit Flüchtlingen umringt. Ein Polizist zerrt ein verängstigtes Kind
im Schwitzkasten aus dem Bus. Der Polizeipräsident behauptet
später, der Einsatz war „verhältnismäßig“. Fest steht: Ohne die
Privatvideos, die im Internet auftauchten, wäre das Vorgehen der
Polizei im sächsischen Clausnitz nicht dokumentiert und diskutiert
worden. Polizeiexperten fordern schon länger Kameras - sogar
von Staats wegen. Sogenannte Body-Cams an den Uniformen
können Beamte entlasten, sie können aber auch Polizeigewalt
aufdecken. Andreas Halbach, Thomas Münten und Heiko Rahms
mit Beispielen.
Text:
Bis heute hat Hüseyin Ercan keine Erklärung für diese
Videobilder: Warum prügelt dieser Polizist wie von Sinnen auf ihn
ein?
Am 17. Juni 2014 wird der Speditionskaufmann von der Polizei
angehalten. Er ist nicht angeschnallt. Die Verkehrskontrolle
eskaliert. Ercan ist Amateurboxer, setzt sich trotzdem nicht zur
Wehr. Der Beamte attackiert ihn sogar mit Pfefferspray - immer
wieder ins Gesicht.
O-Ton Hüseyin Ercan:
Ich brauchte keine Angst zu haben. Ich habe meine Papiere
ausgehändigt. Ich weiß nicht, wie das dann passieren
konnte. Wegen welcher Sache er sich provoziert gefühlt hat,
ich weiß es nicht. Er hat Gott sei Dank das Pfefferspray
rausgeholt. Er hätte ja auch die Pistole ziehen können. Ich
hatte höllische Angst sogar.
Die Verkehrskontrolle war mit einer solchen Videokamera im
Streifenwagen gefilmt worden. Merkwürdig: Angeklagt werden
nicht der Polizist, sondern Ercan und sein Cousin. Vorwurf:
Körperverletzung und Widerstand gegen die Staatsgewalt.
Als Beweis legte die Polizei der Staatsanwaltschaft nicht etwa das
Video, sondern nur Standbilder vor. Die wurden zunächst falsch
interpretiert. Im Standbild sieht es so aus, als würde dem
Polizisten ein Schlag in die Rippen versetzt. Im Video wird klar:
Ercan schlägt nicht, sondern versucht nur, sich mit dem Arm zu
schützen.
O-Ton Detlev Binder, Rechtsanwalt:
Das Video war das entscheidende Beweismittel. Ohne dieses
Beweismittel wäre es wahrscheinlich nicht möglich gewesen,
die Unschuld des Mandanten zu beweisen. Das ist Vorsatz,
das ist ganz vorsätzlich, dass Beweismaterial unterdrückt
wird, den Entscheidungsträgern nicht zur Verfügung gestellt
wird, bewusst mit dem Ziel: Eine Fehlentscheidung soll
getroffen werden. Ein Unschuldiger soll verurteilt werden.
Gegen die zwei Polizisten, die Hüseyin Ercan angriffen, wurde
inzwischen Anklage wegen Körperverletzung im Amt und
Verfolgung Unschuldiger erhoben.
Heutzutage hat beinahe jeder ein Smartphone mit
Kamerafunktion. Und so können Bürger - viel öfter als früher beweiskräftig dokumentieren, wie auch Polizisten schon mal die
Kontrolle verlieren.
Der Hamburger Professor Rafael Behr bildet Polizisten aus. Er
hält solche Videos für wichtig für die Gleichbehandlung, wenn es
zum Rechtsstreit kommt zwischen Bürgern und Polizisten.
O-Ton Prof. Rafael Behr, Polizeiwissenschaftler, Akademie
der Polizei Hamburg:
Wir können sagen, dass Handy-Videos, also alles was von
Smartphones aufgenommen wird, die bisher vorhandene
Deutungshoheit von Polizisten über einen Fall in starker
Weise erschüttert.
Die Macht der Bilder – Bürger überführen Polizisten.
Beispiel: Oberhausen. Ein angetrunkener Mann randaliert. Zwei
Polizeibeamte überwältigen ihn. Schließlich liegt er wehrlos auf
dem Bauch. Trotzdem schlägt einer der Beamten immer wieder
mit einer Taschenlampe auf den Kopf des Mannes ein. Ein
Anwohner nimmt das Geschehen mit seinem Handy auf, stellt die
Bilder ins Internet. Daraufhin wird auch der Polizist, der
zugeschlagen hat, angeklagt. Gegen Zahlung einer Geldbuße von
2.000 Euro wird das Verfahren eingestellt.
Wenn Polizisten und Bürger aneinandergeraten, dann müssen
sich durchschnittlich im Anzeigefall nur 1,5 Prozent der Polizisten
vor Gericht verantworten. Die betroffenen Bürger werden aber zu
25 Prozent wegen Widerstandshandlungen angeklagt.
O-Ton Martin Rätzke, Opferorganisation VICTIM.VETO:
Wir treffen immer wieder auf Ermittlungsverfahren, die sehr
einseitig geführt wurden, wo alleine die polizeiliche Sicht der
Dinge - oder fast ausschließlich die polizeiliche Sicht der
Dinge - maßgeblich ist für die Staatsanwaltschaft. Der
Betroffene wird überhaupt kaum gehört in diesem Verfahren.
Das Ergebnis ist dann in den allermeisten Fällen eine
Straffreiheit bei möglichem polizeilichen Fehlverhalten.
Der Berliner Strafrechtsprofessor Tobias Singelnstein forscht zum
Thema „Polizei und Gewalt“ und rügt Fehler im System der
Ermittlungen.
O-Ton Prof. Tobias Singelnstein, Strafrechtler, Freie
Universität Berlin:
Polizeibeamte als Zeugen rangieren in der
Glaubwürdigkeitshierarchie der Justiz ganz weit oben.
Polizeibeamte sollen unter Umständen gegen ihren Kollegen
aussagen, hier sind Polizeibeamte gerade nicht die
neutralen, objektiven Beobachter, sondern haben unter
Umständen Eigeninteressen, die von der Justiz und von der
Staatsanwaltschaft im Besonderen nicht immer hinreichend
berücksichtigt werden.
Wenn Polizisten gegen Polizisten ermitteln müssen, besteht die
Gefahr von Interessenskonflikten. Beispiel Gelsenkirchen. Im
Januar 2015 stirbt ein Mann nach einem Faustschlag aus einer
Gruppe von Polizisten. In den ersten beiden Wochen leitet im
Polizeipräsidium der Vater eines der beschuldigten Polizisten die
Ermittlungen. Inzwischen wurde das Verfahren eingestellt.
O-Ton Jens Kamieth, CDU, MdL Nordrhein-Westfalen,
Sprecher Rechtsausschuss:
Wenn es zu Verdachtsmomenten gegen Polizeibeamte
kommt, trete ich dafür ein, dass ortsfremde Behörden
zuständig sind, das heißt, eine andere Polizeibehörde soll die
Ermittlungen führen, unter Anleitung einer anderen
Staatsanwaltschaft, damit ein wirklich objektives und
aussagekräftiges Ermittlungsergebnis dabei rauskommt.
Auch in Bayern gab es massive Übergriffe von Polizisten. Der
Freistaat hat reagiert. Seit 2013 laufen Ermittlungen gegen
Polizisten bei einem eigens gegründeten Sonderdezernat beim
Landeskriminalamt.
O-Ton Manfred Gigl, Kriminaldirektor, Leiter Interne
Ermittlungen, LKA München:
Der Erfolg unserer Dienststelle liegt darin, dass wir
mittlerweile in den Medien, in der Öffentlichkeit, aber auch in
der Politik entsprechend anerkannt sind, als zentrale
Dienststelle, die objektiv, neutral und mit Distanz die
notwendigen Ermittlungen durchführt.
Dieser Bericht des Innenausschusses des bayerischen Landtages
belegt: 281 Verfahren wegen Körperverletzung im Amt wurden
begonnen, davon wurde in 37 Fällen ein rechtswidriges Verhalten
der Polizisten bejaht. Die Anklagequote stieg damit auf 13,5
Prozent, fast zehn Mal so viel wie im Bundesdurchschnitt.
Damit Konflikte zwischen Bürgern und Polizei nicht eskalieren,
könnten auch Body-Cams für Polizisten eingesetzt werden,
Hessen testet das. Auch Bayern beteiligt sich an dem Versuch.
Entscheidend ist die Frage, was mit den Bildern passiert:
O-Ton Prof. Rafael Behr, Polizeiwissenschaftler, Akademie
der Polizei Hamburg:
So lange die Bilder innerhalb der Polizei verbleiben, sind sie
anfällig für Manipulationen, beziehungsweise auch fürs
Verschwinden. Also, zu fordern wäre, dass die Bilder
automatisch auf einen Server aufgenommen werden oder
auflaufen, der nicht von der Polizei kontrolliert wird. Erst
dann hätte die Öffentlichkeit das Gefühl, dass man frei von
Manipulation ist. Eine Polizei, die nichts zu verbergen hat,
dürfte dagegen keine Einwände haben.
San Diego, Kalifornien. Polizeigewalt ist hier ein großes Problem.
Deswegen tragen alle Beamten im Einsatz inzwischen eine BodyCam. Die Aufnahmen werden nach Dienstende automatisch auf
einem Server einer beauftragten Firma gespeichert. Ed Lavalle
war für die Einführung der Body-Cams verantwortlich:
O-Ton Ed Lavalle, Officer, Police San Diego:
Das Video wird aufgenommen und kann nicht manipuliert
werden, nicht von uns und nicht von der Firma. Was auch
immer aufgenommen wird, geht so in das System. Was wir
zwischen Start und Stopp aufnehmen, wird hochgeladen,
genauso wie es aufgenommen wurde.
In San Diego hat die Gewalt durch Polizisten seit Einführung der
Body-Cams um 46,5 Prozent abgenommen. Auch der Einsatz von
Pfefferspray ist um ein Drittel zurückgegangen.
Doch in Deutschland tut man sich schwer mit unabhängiger
Videoüberwachung der Polizei. Der nordrhein-westfälische
Innenminister Ralf Jäger hat dazu ganz eigene Ansichten. Dem
Fachmagazin der Deutschen Polizeigewerkschaft sagt er,
Zitat:
„Wer die Hoheit über die Bilder hat, hat die Hoheit über die
Meinungsbildung.“
Eine erstaunliche Haltung. Schließlich hat das
Bundesverfassungsgericht erst im Sommer nochmals klargestellt:
Auch der Bürger darf die Polizei per Video kontrollieren. In einem
Urteil wird die „grundsätzliche Zulässigkeit des Filmens und
Fotografierens polizeilicher Einsätze“ bestätigt.
Wir wollen wissen, was der Minister von diesem Urteil hält – und
fragen nach:
O-Ton Frontal 21:
Kamera im Polizeieinsatz? Es gab kürzlich ein
Bundesverfassungsgerichtsurteil.
O-Ton Ralf Jäger, SPD, Innenminister Nordrhein-Westfalen:
Da rufen Sie am besten meine Pressestelle an.
Doch auch die antwortet auf unsere Frage nicht.
Behörden reden offenbar nicht gern, wenn Polizisten, wie hier in
Stuttgart, die Nerven verlieren. Doch solche Videobilder zerstören
das Bild vom vorbildlichen Freund und Helfer.
So auch in diesem Fall: Im Mai 2013 fasst die Polizei einen
Ladendieb. Der Täter liegt am Boden, mit Handschellen auf dem
Rücken gefesselt. Trotzdem schlagen und treten Polizisten auf
ihn ein.
Nur durch diese Bilder konnten die Ordnungshüter überführt
werden. Vor Gericht kamen sie trotzdem mit einer Verwarnung
davon.
Experten fordern mehr Zivilcourage innerhalb der Polizei und eine
unabhängige Beschwerdestelle für Hinweisgeber, sogenannte
Whistleblower.
O-Ton Prof. Rafael Behr, Polizeiwissenschaftler, Akademie
der Polizei Hamburg:
Der Whistleblower gilt in der Polizistenkultur als
Kameradenschwein, schlichtweg. Das ist brutal gesagt, aber
genauso ist es. Und hier wäre zu fordern, dass es neutrale
Stellen gibt, die dieses positiv besetzen. Die also
Whistleblowing nicht als Verrat werten, sondern als
Bemühen des Einzelnen das Gute für die Organisation zu
tun.
Damit das Vertrauen in Staat und Polizei nicht schwindet, braucht
es Zivilcourage von Polizisten, unabhängige interne Ermittler und
mutige Bürger.
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