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Langer Atem gegen TTIP
Angst um Leib und Leben
Gegner des Freihandelsabkommens
lassen 2016 nicht locker. Seite 9
Te-Nehisi Coates’ wütender Essay über
rassistische Gewalt in den USA. Seite 15
Apparatschik mit
Siegerlächeln
FIFA-Boss Gianni
Infantino soll
den Weltfußball
erneuern – mit viel
weniger Macht als
seine Vorgänger.
Seite 19
Foto: AFP / Michael B. Thomas
Foto: dpa/Ennio Leanza
Montag, 29. Februar 2016
71. Jahrgang/Nr. 50
Berlinausgabe 1,70 €
www.neues-deutschland.de
*
STANDPUNKT
Die Sprache
der Spaltung
Iran setzt auf Liste »Hoffnung«
Waffenruhe in
Syrien hielt vorerst
Reformer und Gemäßigte um Präsident Ruhani liegen bei Parlamentswahl vorn
Schwerer Anschlag in Bagdad
Damaskus. Die Waffenruhe in Syrien ist seit
ihrem Beginn in der Nacht zu Samstag vorerst weitgehend eingehalten worden, hieß es
in mehreren Berichten. Nach Angaben der
russischen Armee wurde sie in den ersten 24
Stunden nur neun Mal gebrochen. Das wichtigste Oppositionsbündnis beklagte Missachtungen der Feuerpause in 36 Gebieten.
Zuvor hatten sich die Außenminister Russlands und der USA, Sergej Lawrow und John
Kerry, über die Einhaltung der Vereinbarungen erfreut gezeigt. Die Taskforce unter Vorsitz der USA und Russlands zog eine positive
Zwischenbilanz. Die Feuerpause gilt nicht im
ganzen Land. Die Dschihadisten-Truppen des
Islamischen Staates (IS) und der Al-NusraFront dürfen weiter bekämpft werden.
Noch unbestätigt war am Abend die Verantwortung des IS für einen schweren Selbstmordanschlag im Osten der irakischen
Hauptstadt Bagdad. Dabei wurden laut Polizei mindestens 28 Menschen getötet. 62 weitere wurden bei dem Attentat in einem vor allem von Schiiten bewohnten Stadtteil verletzt. Agenturen/nd
Seiten 4 und 7
Wolfgang Hübner über einen
Wahlkampf voller Ressentiments
Je näher die Landtagswahlen in
Baden-Württemberg, RheinlandPfalz und Sachsen-Anhalt rücken
und je gefährlicher die Umfragewerte für die großen Parteien
werden, desto haarsträubender
wird der wahlkampfgetriebene
Unsinn. Sigmar Gabriel, Vorsitzender einer Partei, die sich sozialdemokratisch nennt, macht sich
Sorgen darüber, dass »die eigenen
Bürger« gegenüber Flüchtlingen
zu kurz kommen könnten. Er
warnt vor sozialer Spaltung und
spricht dabei die Sprache eines
Spalters. Denn die Grenze verläuft
nicht zwischen Geflüchteten und
Einheimischen, sondern immer
noch zwischen Arm (egal woher)
und Reich (egal woher).
Aber gesagt ist gesagt, und
selbstverständlich bedienen sich
die Konservativen an Gabriels
Versuch, auf die billige Tour ein
paar Punkte zu machen. Denn
Populismus, das können sie immer noch besser. Ein hoffnungsvolles Talent auf diesem Gebiet
ist Julia Klöckner, die gern in
Mainz regieren möchte. Eine
Frau, die seit Wochen massiv
Front macht gegen Flüchtlinge
und gegen ihre Parteichefin Merkel, empört sich nun ganz ungeniert, Gabriel zündele wie die
AfD. Auf diesem miesen Niveau
ist der Wahlkampf angekommen:
Jeder wirft – nicht einmal zu Unrecht – jedem vor, Petry und Co.
hinterher zu hecheln, jeder hat
Angst vor der Wahlpleite, die
kaum noch zu verhindern ist, und
Scharfmacher wie Klöckner und
Schäuble bekommen Gelegenheit, sich als Mahner und Freunde
der Mäßigung aufzuspielen.
Gabriel macht’s möglich.
UNTEN LINKS
Die Hollywood-Diva Zsa Zsa Gabor wird demnächst 99, und ihr
Mann verspricht »99 Küsse und
eine große Torte«. Die AfD-Politikerin Beatrix von Storch kann sich
nun überlegen, woher sie 99 Küsse bekommen könnte; ihre Torte
indessen hat sie schon, obwohl sie
weder Geburtstag feierte noch Diva ist. Nein, sie saß in Kassel mit
Gesinnungsfreunden beisammen,
um am Programm der Populistenpartei zu basteln, als zwei
Clowns hereinmarschierten,
»Happy Birthday« anstimmten
und ihr die Sahnetorte ins Gesicht
drückten. Ein kalorienreicher
Kommentar zu Storchs kürzlich
geäußerter Forderung, Flüchtlinge
notfalls mit Waffengewalt aufzuhalten. Wer keine Argumente habe, »stört Versammlungen mit
Torten«, diktierte Storch anschließend ins Poesiealbum der
Pazifisten und Streitkulturfanatiker. In Mainz schlug ein AfD-Anhänger eine Gegendemonstrantin
zusammen. Wie, ein AfDler gewalttätig? Hatte er etwa kein Argument? Oder war nur gerade
keine Torte zur Hand? wh
ISSN 0323-4940
Nein für Schweizer
Rechtspopulisten
SVP-Initiative zur Verschärfung des
Ausländerrechts abgelehnt
Abstimmung in der heiligen Stadt Qom
Foto: imago/Xinhua
Damaskus. »Ihr habt mit euren Stimmen die
neue Ära im Land selbst ermöglicht, und ich
verbeuge mich vor euch mit Ehrfurcht«,
schrieb Irans Präsident Hassan Ruhani am
Sonntag auf seiner Twitter-Seite. Bei der Parlamentswahl in Iran hatten die Reformer und
Gemäßigten laut einem Teilergebnis sämtliche Sitze für die Hauptstadt Teheran geholt.
Die Liste »Hoffnung« habe alle 30 zu vergebenden Parlamentssitze für Teheran gewonnen, berichtete das Staatsfernsehen am Sonntag nach der Auszählung von 90 Prozent der
Stimmen. Acht Frauen aus der Hauptstadt
wurden demnach ins Parlament gewählt. In
den anderen Landesteilen, in denen insgesamt 260 Parlamentssitze zu vergeben waren,
haben die Reformer bei der Wahl am Freitag
ebenfalls gut abgeschnitten. Nach noch unbestätigten Medienberichten sind mehr als 65
Prozent der Sitze in ihrer Hand. Die Hardliner
haben sich in einigen Dörfern und Kleinstädten durchgesetzt.
Mit dem Erfolg erhielt Ruhani einen deutlichen Rückhalt für seine Politik der Öffnung. In
den vergangenen Jahren hatte das von den
Konservativen dominierte Parlament Reformen blockiert oder wie in den Atomverhandlungen seine Politik zu hintertreiben versucht.
Gewählt wurde auch der 88-köpfige Expertenrat, der im Falle des Todes des geistlichen Oberhaupts Ayatollah Ali Khamenei dessen Nachfolger wählt. In Teheran dominierte
auch bei der Wahl zum Expertenrat das Lager
der Reformer und Gemäßigten. Unter anderen wurden dort Ruhani und der mit ihm verbündete Ex-Präsident Akbar Haschemi Rafsandschani in das einflussreiche Gremium gewählt. Die Auszählung der Stimmen soll spätestens Montagvormittag beendet sein. 33
Millionen Menschen und damit 60 Prozent der
Wahlberechtigten nahmen an den beiden Abstimmungen teil. Agenturen/nd
Seite 7
Menschenrechte auf dem Basar
Neuer Koalitionsstreit über Mittel für Flüchtlingsintegration / De Maizière verhandelt in Nordafrika
Die SPD hat eine neue Diskussion über die Integration von Sozialschwachen und Flüchtlingen in Gang gebracht. Sie droht
mit einer Blockade des Haushalts für das kommende Jahr.
Berlin. Die Linie zu verfolgen, auf
welcher der SPD-Vorsitzende
läuft, ist nicht immer leicht: Erst
fordert Sigmar Gabriel eine Art
Sozialpaket für Deutsche – weil so
viel Geld für Flüchtlinge ausgegeben werde, und die »eigenen
Bürger« darob nicht vergessen
werden dürften. Nun macht der
Wirtschaftsminister ein Integrationspaket für Asylsuchende zur
Bedingung für eine Zustimmung
seiner Fraktion zum Bundeshaushalt 2017. »Sprachförderung, Schulen und Kitas bauen,
Lehrer und Erzieher einstellen,
Ausbildung und Qualifizierung
fördern: Das alles müssen wir jetzt
anpacken«, so Gabriel gegenüber
der »Bild am Sonntag«. Das Geld
dafür will die SPD in den nun be-
ginnenden
Beratungen
zum
Haushalt 2017 einfordern. »Ohne
Integrationspaket kann die SPD
dem Haushalt gewiss nicht zustimmen.« Gabriel verwies darauf, dass dank der guten Wirtschaftslage das nötige Geld vorhanden sei.
Ähnlich hatte sich auch SPDGeneralsekretärin Katarina Barley
in der »Rheinischen Post« geäußert. »Um die vielen Flüchtlinge
mit Bleibeperspektive in Gesellschaft und Arbeitsmarkt einbinden zu können, brauchen wir
künftig zwischen drei und fünf
Milliarden Euro jährlich«, sagte sie.
Zuvor hatte Gabriel angesichts
der Aufwendungen für Flüchtlinge eine stärkere soziale Förderung der deutschen Bevölkerung
gefordert. Kanzlerin Angela Merkel gab er indirekt Mitschuld am
Aufstieg der AfD. »Wenn der CDU
in dieser Situation der Überschuss an Steuern im Haushalt
wichtiger ist als der gesellschaftliche Zusammenhalt, dann macht
sie sich mitschuldig an der Radikalisierung im Land«, so Gabriel.
»Der Eindruck, wir würden unsere eigenen Bürger vergessen, darf
sich nicht festsetzen.«
Nicht nur Linksfraktionsvize
Jan Korte findet, dass Gabriel mit
Asylbewerber organisieren
sich
Seite 2
Jugendliche allein auf der
Flucht
Seite 3
seiner Tonlage sozial Schwächste
gegeneinander ausspielt. In der
Union war ebenfalls der Zungenschlag des SPD-Vorsitzenden auf
Kritik gestoßen.
Finanzielle Unterstützung von
der EU für die Flüchtlingsintegration wird es wohl nicht geben.
Die EU-Sozialkommissarin Marianne Thyssen hat sich am Wochenende gegen zusätzliche fi-
nanzielle Hilfen für Deutschland
ausgesprochen.
Derweil dringt Bundesinnenminister Thomas de Maizière
(CDU) auf eine schnellere Rücknahme abgelehnter Asylbewerber
durch die Maghreb-Staaten. »Wir
erwarten, dass die Rückübernahmeverfahren
effizienter
und
schneller werden«, sagte er der
Deutschen Presseagentur vor Beginn einer dreitägigen Reise in die
nordafrikanischen Länder Marokko, Algerien und Tunesien am
Sonntag. Haupthindernis bei Abschiebungen in die Maghreb-Länder seien fehlende Reisedokumente, so der Minister.
Die Linkspartei kritisierte de
Maizières Reise scharf. Er opfere in
Nordafrika »die Menschenrechte
auf dem Altar der Flüchtlingsabwehr«, erklärte die Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen. In Marokko seien die Rechte auf freie
Meinungsäußerung sowie die Verbands- wie Versammlungsfreiheit
nicht gewährleistet. Agenturen/nd
Bern. Die Schweizer haben sich in einer
Volksabstimmung gegen die weitere Verschärfung des Ausländerrechts ausgesprochen. Schon vor Auszählung aller Stimmen
scheiterte die »Durchsetzungsinitiative« der
rechtspopulistischen Schweizerischen Volkspartei (SVP) daran, dass eine Mehrheit der
26 Kantone gegen den Vorstoß war.
Dieses sogenannte Ständemehr war für
einen Erfolg dieser Volksabstimmung zwingend. Auch bei den bis zum Nachmittag ausgezählten Stimmen war ein klarer Sieg für
die Gegner der SVP abzusehen. Sie führten
laut Schweizer Fernsehen mit 56,7 zu 43,3
Prozent.
Die SVP wollte mit der Initiative die Umsetzung einer gewonnenen Volksabstimmung aus dem Jahr 2010 und ihre Ausweitung erreichen. Für Ausländer, die eine Straftat begangen haben, sollte die bisher übliche
Einzelfallprüfung durch einen Richter abgeschafft werden. Der Ausweisungs-Katalog
umfasste mehr als 50 auch minder schwere
Delikte. Agenturen/nd
Seiten 4 und 7
Schüsse auf
Asylunterkunft
Anschlag in Sachsen-Anhalt / NRW
zählt 2016 schon mehr als 50 Angriffe
Berlin. In Gräfenhainichen (Sachsen-Anhalt)
ist erneut eine geplante Asylunterkunft angegriffen worden. Unbekannte schossen in
der Nacht zum Samstag auf das Gebäude, berichtet die Polizei. Ein Sprecher sagte laut
»Mitteldeutsche Zeitung«, dies sei »eine neue
Qualität der Gewalt«.
In Nordrhein-Westfalen hat es seit Jahresbeginn mindestens 52 Übergriffe auf
Flüchtlingsunterkünfte gegeben. In 17 dieser
Fälle gehe es um versuchte oder vollendete
Brandstiftung, berichtet der »Kölner StadtAnzeiger« mit Hinweis auf eigene Recherchen. Hinzu kämen drei Körperverletzungen. Bei weiteren mehr als 30 Delikten gehe
es um leichte Sachbeschädigungen oder
Schmierereien mit Hakenkreuzen und rassistischen Parolen bis hin zu direkten Androhungen von Gewalt. »Jeder einzelne
Übergriff ist zutiefst beschämend«, sagte
NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD). »Menschen, die bei uns Schutz vor Krieg und Terror suchen, dürfen nicht mit Nazi-Methoden
verängstigt werden«. Agenturen/nd