Presseinformation März - Österreichisches Filmmuseum

Presseinformation
März | April 2016
Unter dem Übertitel Die zweite Welle präsentiert das Filmmuseum im März 2016 eine DoppelRetrospektive, die dem Kino der Post-Nouvelle-Vague gewidmet ist – von 1968 bis Mitte der
80er Jahre. Diese Ära ökonomischer, kultureller und sozialer Transformationen ist für den aktuellen
Zustand der westeuropäischen Gesellschaften von größter Bedeutung. Die Werke von Guy Debord,
die das Filmmuseum jüngst gezeigt hat, mögen noch als „Nachbild“ ihre Wirkung entfalten, wenn ab
4. März Jean-Luc Godards Schaffen während dieser Zeit vorgestellt wird – im Parallelslalom mit
den Filmen dreier französischer Regisseure, die ebenso gültige Formulierungen für das Leben in
dieser Epoche gefunden haben: Gérard Blain, Jean Eustache und Maurice Pialat.
Jean-Luc Godard
1968–1986
Als formaler Erneuerer und intellektueller Popstar der Nouvelle Vague war Jean-Luc Godard in
den Jahren nach seinem bahnbrechenden Debüt À bout de souffle (1960) zur meistdiskutierten Figur
der Filmwelt aufgestiegen. Gleichwohl verkündete er mit Week-End, fast parallel zum Mai 1968, das
„Ende des Kinos“ und begann in der Folge, sich stetig neu zu erfinden – zunächst mit provokanten
Filmessays und als radikal politisierter Filmemacher im Kollektiv.
Dieser Schub im Godard‘schen Schaffen erbrachte zahlreiche Belege einer fortgesetzten
Sonderstellung: Kaum ein anderer Filmemacher war dermaßen erfindungsreich bei der Auslotung
der Grenzen und Möglichkeiten seiner künstlerischen Mittel. Das Medium Video sollte dabei schon
bald eine zentrale Rolle spielen, etwa beim Schlüsselwerk Numéro deux (1975). Godards
selbsterklärter „zweiter erster Film“ Sauve qui peut (la vie) brachte 1980 wieder eine
Annäherung ans Erzählkino und läutete ein Spätwerk ein, das seither gern unter dem Begriff
„transzendent“ subsumiert wird. Der Begriff trifft die ungewöhnliche Schönheit von Godards
hochkomplexen Bild-Ton-Collagen und suggeriert doch auch eine angemessene Kapitulation vor
ihrer unfassbaren Dichte und Wandlungsfähigkeit.
Nach der Präsentation von Godards kanonischen Nouvelle-Vague-Arbeiten im Vorjahr beginnt
nun also eine Entdeckungsreise durch die unbekannteren Schaffensperioden: Filme, die lange
Zeit kaum sichtbar und dementsprechend vernachlässigt waren, mittlerweile aber stärkere kritische
Aufmerksamkeit erfahren als seine „Klassiker“ der 60er Jahre. Mit Godards Werken der Jahre
1968–1986 wird die abwechslungsreichste Phase dieses Ausnahmeregisseurs vorgestellt – und
zugleich eine individuelle Reaktion auf die Wallungen des „Revolutionsjahrs“ 1968 und dessen
Nachwehen in der Kunst und im Kino.
Godard zog ab 1968 die Konsequenz aus seiner Forderung, „nicht politische Filme, sondern
Filme politisch zu machen“. Insbesondere das reduzierte Kammerspiel Le Gai savoir markierte
eine Abkehr von der verspielten Ästhetik seiner Erfolge – eine „Rückkehr an den Nullpunkt“ aus dem
Geiste der grundsätzlichen Systemkritik. Das Manifest Que faire? (Was tun), dessen Autograph in
der Sammlung des Filmmuseums bewahrt ist und das im Zuge der Retrospektive neu aufgelegt wird,
zeugt davon. „Die Bourgeoisie hat die Welt in ihrem Bild geschaffen. Kameraden, wir müssen dieses
Bild zerstören“, sagt der Erzähler in British Sounds, einem jener Kollektivfilme, die Godard mit
Gleichgesinnten (vor allem Jean-Pierre Gorin) in den nächsten Jahren als „Groupe Dziga Vertov“
drehte. Systematisch untersuchten sie das Kino als (Kultur-)Produkt und als Manipulationsmaschine
– mit einer polemischen Zerstörungswut, die Godards Individualität und Originalität eigentlich zuwider
lief. Die Dekonstruktionsabsicht dieser Arbeiten gebar daher rasch verblüffende neue Optionen der
Rekonstruktion, die unverwechselbar Godards Handschrift tragen. Mit paradoxen Tigersprüngen
expandierte er in weitere Richtungen: Im Essayfilm Letter to Jane (1972) machten er und Gorin ein
Foto von Jane Fonda zum Gegenstand harscher Ideologiekritik – und drehten gleichzeitig mit Fonda
und Yves Montand in den Hauptrollen den Starfilm Tout va bien – ein Höhepunkt des Politkinos aus
dem Geiste von Mao und Jerry Lewis.
Zu dieser Zeit begegnete Godard auch Anne-Marie Miéville, die bis heute seine Partnerin ist. Nach
der Rückkehr in seine Schweizer Heimat gründete er mit ihr die Firma Sonimage und begann, die
Erfahrungen der „Vertov-Gruppe“ und die Leichtigkeit und „Biegsamkeit“ des Video-Mediums so
anzuwenden, dass er neuerlich, wie schon 15 Jahre früher, zum Pionier werden konnte: Pionier einer
autonomen Medienpraxis, in der technische, politische und intellektuelle Reflexion zusammenfallen,
wie etwa in dem Miéville-Godard-Gorin-Meisterwerk Ici et ailleurs (1974/76). Sonimage wurde zum
Modell für zahlreiche ähnliche (postfordistische bzw. postkoloniale) „Werkstätten“ und
Einzelpositionen der 70er und 80er Jahre – von der britischen Film-Workshop-Bewegung bis zum
Œuvre Harun Farockis.
Godards Schritt zurück ins „reguläre“ Kino um 1980 war keine Absage an diese Autonomie, sondern
eine folgerichtige Ergänzung, die – parallel zum Erscheinen wichtiger Bücher über seine Denk- und
Arbeitsweise – „JLG“ zum wichtigen Kürzel für eine nicht-affirmative filmische Postmoderne machten.
Die Spielfilme Sauve qui peut (la vie) (1980), Passion (1982), Prénom Carmen (1983) sowie
Je vous salue, Marie und Détective (beide 1985) zeigen Godard als neugeborenen CollageKünstler: In unverwechselbaren, atemberaubend schönen Natur- und Stadtbildern und schwebenden
Soundtracks webt er ein so kryptisches wie faszinierendes Netz, in dem sich pessimistische
Gesellschaftsanalyse und ungebrochene artistische Begeisterung zusammenziehen – unter Rückgriff
auf die gesamte Geschichte der Künste. Parallel dazu reüssiert er auch in der kurzen Form, mit
skizzenhaften, dabei sehr ausgefeilten Arbeiten wie seinen Scénario-Videos. Sie lösen weitere
Wellen in den „Histoire(s) du cinéma Godard“ aus, die das Filmmuseum im Frühjahr 2017 überrollen
werden.
Die Schau findet mit Unterstützung der Schweizerischen Botschaft in Österreich statt.
4. März bis 6. April 2016
Gérard Blain │ Jean Eustache │ Maurice Pialat
So überschätzt die „Neue Welle“ in mancher Hinsicht immer noch ist, so sehr ist das französische
Post-Nouvelle-Vague-Kino in ihrem Schatten geblieben. Dieser Vernachlässigung hält die Schau
drei herausragende Positionen entgegen. Die Arbeiten von Gérard Blain, Jean Eustache und
Maurice Pialat sind wesentliche Beispiele einer „Zuspitzung“ des europäischen Films in den 1970er
Jahren – einer fast schmerzvollen Sensibilität, die auch im Werk von Chantal Akerman, Philippe
Garrel, Werner Schroeter oder Rainer Werner Fassbinder erkennbar ist: einer Sensibilität für die
Ernüchterungen der Jugend, für das Körperliche und für das Unhaltbare der „schönen“ Gefühle.
Handelt es sich bei Eustache und Pialat um zwei anerkannte Figuren dieses Umbruchs, so ist
der Schauspieler Gérard Blain als Filmemacher eine internationale Entdeckung. Sein Werk
trägt eine ganz eigene Handschrift, pflegt aber subkutan wie kultur- und zeitbedingt ein
Naheverhältnis zum ästhetischen Credo von Eustache und Pialat: Alle haben individuelle Formen
gefunden, um „dokumentarische“ Klarheit mit einer Härte und Tiefe menschlicher Einsicht zu
verbinden, die man auch als instinktive Gegenreaktion zu den stilistischen Spielereien und
dem jugendlichen savoir vivre der Vorgängergeneration verstehen kann. Kritiker wie Jonathan
Rosenbaum haben für Eustaches berühmtesten Film La Maman et la putain (1973) den treffenden
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Begriff „Sargnagel der Nouvelle Vague“ geprägt: Für das Sujet der urbanen, wortreichen
Dreiecksbeziehungsgeschichte geht es da in epischer Form und überwältigender Desillusioniertheit
ans Eingemachte, bis zum kritischen Kollaps.
Gérard Blain (1930–2000) kam nach einer schwierigen Jugend als Straßenkind während der
deutschen Besatzungszeit eher zufällig zum Film. Seine Rollen in Claude Chabrols ersten Werken
lancierten ihn kurzfristig, auch international, als eine Art „französischer James Dean“. Doch der
Nonkonformist eckte zeitlebens an – sein Filmtitel Le Rebelle (1980) ist kein Zufall. Ab 1971
versuchte er sich als Filmemacher zu verwirklichen: Das Debüt Les Amis, eine so
unvoreingenommene wie sacht schillernde Studie der Beziehung eines verheirateten Mannes zu
einem Buben, erntete hymnische Kritiken und Vergleiche mit seinem Idol Robert Bresson, dessen
Vorliebe für Laienschauspieler und entschlackte Erzählungen Blain teilte. François Truffaut schrieb
von einer „Offenbarung“. Doch der Publikumserfolg blieb aus, die Folgefilme wurden trotz
prominenter Festivalteilnahmen (Le Pélican 1974 in Berlin, das autobiografische BesatzungszeitKinderporträt Un enfant dans la foule 1976 in Cannes) kaum wahrgenommen. So harrt Blains
durchwegs bestechendes, gleichermaßen lichtes wie schonungsloses, strenges wie
feinfühliges Regiewerk einer kapitalen Wiederentdeckung.
Jean Eustache (1938–81), wiewohl der jüngste des Trios, war bereits in den 1960ern als NouvelleVague-Zögling mit kürzeren Filmen in Erscheinung getreten.1968 erfolgte eine entscheidende
Neuausrichtung aufs Dokumentarische, und Eustache fand freie, unerwartete Zugänge: La Rosière
de Pessac (1968) schildert „nur“ die jährliche Rosenköniginnenwahl in seiner Heimatstadt, das
materialistische Meisterwerk Le Cochon (1970) die Schlachtung und Verarbeitung eines Schweins
auf einem Provinzbauernhof – aber beide eröffnen ganze Welten. Nach dem globalen Schlager La
Maman et la putain geriet seine wunderbare Jugendstudie Mes petites amoureuses (1974) zum
Kassenflop, woraufhin der grüblerische, depressive Regisseur nur mehr in kleinerem Maßstab
experimentierte. 1981 nahm er sich das Leben. Dabei zeigt auch das Spätwerk Eustache als
genuinen Innovator: in einem Spiegel-Bild von Raum und Zeit (La Rosière de Pessac 79) oder im
hinreißenden Doku/Fiktion-Diptychon Une sale histoire (1977).
Maurice Pialat (1925–2003) kam wie Blain erst spät zur Kinoregie, sein Langfilmdebüt L'Enfance
nue (1968) wurde jedoch sofort als Film des Generationswechsels gefeiert. Das Thema, die Kindheit,
scheint noch ganz einer „Truffaut-Linie“ verhaftet, aber der insistierende Blick und existenzielle
Zugang, das Beharren auf dem Schmerz, verraten bereits das Besondere der Methode Pialat.
Auch er galt als schwierig und „düster“, aber anders als Eustache und Blain glückte ihm mit einer
Serie bemerkenswerter Filme der Bau eines stabilen Fundaments, weit über die 70er Jahre hinaus.
Mit Erfolgen wie Passe ton bac d’abord (1978), Loulou (1980) oder der Großtat A nos amours
(1983) wurde Pialat zum Überlebenden einer tendenziell „verlorenen“ Generation, ohne dabei die
geringsten Kompromisse einzugehen. „Was im Leben möglich ist und was nicht, das ist bei Pialat ein
offenes Geheimnis, offen wie eine Wunde und das Meer.“ (Bert Rebhandl)
Die französische Gesellschaft hingegen schloss die Wunden aus der Post-1968er-Verunsicherung
mit einem Kompromiss nach dem anderen. Die kulturelle Blüte, die der Mitterrand-Ära ab 1981
nachgesagt wird, ähnelt aus heutiger Sicht eher einem neu lackierten, durch Staatsmittel
aufgeputschten Spektakelbetrieb – mit dem „cinéma du look“ (und der bald tonangebenden Pop-undPlopp-Ästhetik eines Luc Besson) als ihrem jugendkulturellen Äquivalent. Der Spalt zwischen
Einzelgängern wie Pialat und dem neuen „Publikumskino“ wurde rasch größer. Die anderthalb
Dekaden vor diesem Stimmungsumschwung, ihr Innenleben und ihre Gefühlswelten, sind in den
Filmen von Blain, Eustache und Pialat auf den Punkt gebracht: Porträt einer Epoche der Unruhe.
4. März bis 4. April 2016
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Kino-Atlas 3
eheA Mary Pickford Production
Wenn von den Stars der Stummfilmära die Rede ist, fallen unweigerlich zuerst die Namen von
Männern: Charles Chaplin, Buster Keaton, Douglas Fairbanks. Weitgehend in Vergessenheit
geraten sind dagegen die vielen Frauen, die das Kino der 1910er und 1920er Jahren geprägt
haben – auf allen Ebenen. Selbst Mary Pickford, einer der größten Stars ihrer Epoche und eine
Hauptfigur in Hollywoods Gründerzeit, muss zumindest in Europa immer wieder neu entdeckt
werden. Der dritte Teil der Filmmuseum-Reihe Kino-Atlas präsentiert fünf lange und zwei kurze
Schlüsselwerke Pickfords.
Die in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsene gebürtige Kanadierin war eine Self-made woman,
die sich bereits früh der untergeordneten Rolle entzog, auf die das entstehende Studiosystem sie
festlegen wollte. Schon bevor sie gemeinsam mit Chaplin, D.W. Griffith und Fairbanks das
Unternehmen United Artists gründete – mit dem Ziel, dem kreativen Personal größere
künstlerische Freiheit zu verschaffen –, agierte Pickford als ihre eigene Produzentin: Die 1916
gegründete Mary Pickford Film Corporation war ganz auf ihren Star zugeschnitten.
In der Folgezeit formte sich um Pickford ein festes Produktionsteam: Die ehemalige
Zeitungsreporterin und Schauspielerin Frances Marion wurde zu ihrer Lieblingsdrehbuchautorin,
Marshall Neilan, ein vergessener Meister der Stummfilmära, zu ihrem Stammregisseur. In dieser
Konstellation entstehen in den Jahren 1917 und 1918 einige der schönsten Pickford-Filme, in denen
das Komische oft unvermittelt neben dem Melodramatischen steht: In Rebecca of Sunnybrook Farm
spielt sie ein Waisenmädchen, in A Little Princess wird sie von bitterer Armut heimgesucht, in
Amarilly of Clothes-Line Alley muss sie dem Ghetto entkommen; in Stella Maris gibt es gleich zwei
Pickfords, eine reiche und eine arme; und im etwas später, bereits für United Artists entstandenen
The Love Light, einer von nur drei Regiearbeiten Frances Marions, bewacht „America’s Sweetheart“
einen Leuchtturm. Ergänzt wird das Programm durch den Griffith-Kurzfilm The New York Hat sowie
die Propagandaarbeit All-Star Production of Patriotic Episodes for the Second Liberty Loan.
Pickfords beste Filme haben ein Nahverhältnis zum Märchen und sind doch stets fest in der
Lebenswelt ihrer Zeit verankert. Stefan Ripplinger schreibt in seiner Studie Mary Pickfords Locken
über die auch heute noch erstaunliche Modernität dieses Kinos: „Obwohl ihre Filme sich an den
Erwartungen und Werten eines plebejischen Publikums orientieren, verharrt Pickford weder innerhalb
der Grenzen der Geschlechts- noch in denen der Klassenrolle. Sie will sich vielmehr hier wie da nicht
abfinden mit ihrem Schicksal, will als Reiche nicht leblos, als Arme nicht chancenlos bleiben, weder
als Mädchen puppenhaft, noch als Junge herzlos sein.“
Die Schau findet in Zusammenarbeit mit der Mary Pickford Foundation,
dem UCLA Film & Television Archive und der Library of Congress statt.
31. März bis 3. April 2016
Weitere Informationen und Fotos finden Sie auf www.filmmuseum.at oder Sie wenden sich direkt an:
Alessandra Thiele, [email protected], T: + 43/1/533 70 54 DW 22
Eszter Kondor, [email protected], T +43/1/533 70 54 DW 12
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