Manuskript Beitrag: Leiharbeit und Werkverträge – Reförmchen statt Reform Sendung vom 23. Februar 2016 von Ingo Dell und Tonja Pölitz Anmoderation: Die Wirtschaft brummt und die Arbeitslosigkeit ist historisch niedrig. Deutschland geht es so gut wie nie, heißt es. Und trotzdem fühlt sich das alles für viel zu viele Menschen überhaupt nicht gut an. Nehmen wir nur die Leiharbeiter und Werkverträgler. Die haben zwar Arbeit, aber auf Abruf - und häufig schlecht bezahlt. Eine Wirtschaft, die den flexibilisierten Arbeitsmarkt zügellos für Lohndumping missbraucht, steigert den Wohlstand eben nur für diejenigen, die eh schon oben sind. Am unteren Ende kommt dagegen kaum was an. Die Bundesregierung wollte die Arbeitgeber deshalb wieder fest an die Kandare nehmen. Wollte! Tonja Pölitz über große Worte und kleine Taten. Text: Industriegebiet Heppenheim. Thomas Hartmann, 59, kommt gerade vom Vorstellungsgespräch. Der Betrieb wird ihn nicht einstellen, das stand schon vorher fest. Man will ihn höchstens ausleihen. Hartmann ist Leihabreiter. Seit fast zehn Jahren wechselt er hin und her zwischen Arbeitslosigkeit und Zeitarbeit. O-Ton Thomas Hartmann, Leiharbeiter: Ein Zeitarbeiter ist ja wie eine Ware, die eingekauft wird, weil wenn er seine Arbeit erledigt hat, kann er ja auch wieder gehen. O-Ton Frontal 21: Ist Ihnen das schon passiert? O-Ton Thomas Hartmann, Leiharbeiter: Ja! Schauen Sie mal in ihre SMS rein, sie sind nächste Woche abgemeldet. Wen die Leihfirma abgemeldet, dem kündigt meist auch gleich die Zeitarbeitsfirma. Die Politik wollte was anderes, den Klebeeffekt – erst Leiharbeit, dann Festanstellung. Doch Hartmann bleibt seit gut zehn Jahren nirgends kleben. O-Ton Frontal 21: Haben Sie Hoffnung? O-Ton Thomas Hartmann, Leiharbeiter: Mein letztes festes Angestelltenverhältnis war in einem Stahlwerk in Bayern, das leider dann Konkurs gegangen ist. Und seitdem ist es eigentlich nur noch in die Zeitarbeitsfirmen gegangen. Hartmann hat früher gut verdient, zeigt uns seinen Lebenslauf. Für eine Bewerbung hat er den jederzeit bei sich. - Zeitarbeit für immer weniger Geld, dabei ist er ein gut ausgebildeter Facharbeiter. O-Ton Thomas Hartmann, Leiharbeiter: Ich bin Radio- und Fernsehtechniker - Meister. Der wohl als Leiharbeiter in Rente geht. O-Ton Thomas Hartmann, Leiharbeiter: Ja, ist so! Wahlkampf 2013. Die Kanzlerin trifft einen Dauerleiharbeiter, der für den halben Lohn arbeitet. O-Ton Christian Graupner, Leiharbeiter, TV-Ausschnitt aus ARD „Wahlarena“ vom 9.9.2013: Ich habe prinzipiell nichts gegen Leiharbeit, in Produktionsspitzen, aber die Produktionsspitze dauert nun mittlerweile schon zehn Jahre an. Seit zehn Jahren montiert der Mann bei BMW und Porsche Achsen, nur ist er nicht dort angestellt. O-Ton Angela Merkel, CDU, Bundeskanzlerin, TV-Ausschnitt aus ARD „Wahlarena“ vom 9.9.2013: Wenn es mehrere Fälle gibt, wo es zehn Jahre ist, dann bin ich gewillt, da mir das anzugucken und was zu ändern. Das kann nicht sein. Ich meld‘ mich noch mal bei Ihnen. Gelobte die Kanzlerin und machte Leiharbeit zur Chefsache. Der Koalitionsvertrag wenig später versprach: Dauerleiharbeit und - wortwörtlich - den „Missbrauch bei Werkverträgen zu verhindern“. Vor Arbeitgebern fand Merkel noch deutlichere Worte: O-Ton Angela Merkel, CDU, Bundeskanzlerin, Arbeitgebertag am 19.11.2013: Es ist in der deutschen Wirtschaft leider auch immer wieder vorgekommen, dass aus jeder Flexibilisierung wieder ein Missbrauch entstanden ist, man kann es sich gar nicht vorstellen. Und je mehr so was vorkommt, umso gefährlicher wird es, dass wieder alles reguliert wird. Nur zwei Jahre später scheint Merkels Zorn verflogen. Chefsache klingt irgendwie anders: O-Ton Angela Merkel, CDU, Bundeskanzlerin, Arbeitgebertag am 24.11.2015: Äh, wir müssen da sehr, äh, schauen, in welche Richtung wir einerseits den Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer entwickeln und gleichzeitig die Flexibilität der Arbeitswelt fortentwickeln. Und insofern sind flexible Instrumente – und jetzt komme ich wieder zurück zu Leiharbeit und Werkverträgen - natürlich von größter Bedeutung. Bei Mindestlohn und Rente mit 63 stand Merkel noch fest hinter den Sozialdemokraten. Bei der Leiharbeit aber stellte sich die Kanzlerin der SPD unerwartet in den Weg. Angeblich war Bundesarbeitsministerin Nahles mit ihrem Reformentwurf übers Ziel hinausgeschossen. Zuvor jedoch hatte sich die Stimmung gedreht - für die Kanzlerin. Schlechtere Umfragewerte als jetzt gab‘s nur beim Anheben der Mehrwertsteuer oder beim Ausbruch der Eurokrise. Jahrelang ungeschlagen Nummer Eins auf der Beliebtheitsskala, hält sich Merkel aktuell gerade mal auf Platz drei. O-Ton Albrecht von Lucke, Jurist und Politologe: Natürlich hat die Kanzlerin einen enormen Autoritätsverlust erlitten in den letzten Monaten. Das ist eklatant. Und natürlich führt das dazu, dass Kräfte im Hintergrund ihre Muskeln spielen lassen und versuchen herauszuholen, was herauszuholen ist. Um die Gunst der Stunde weiß auch die CSU. Max Straubinger sieht sich selbst als Leiharbeiter - schließlich wird nur für vier Jahre in den Bundestag gewählt. Den Koalitionsvertrag hat die CSU mitunterschrieben - wegen der vielen Zuwanderer aber soll die Leiharbeitsreform ganz vom Tisch. O-Ton Max Straubinger, CSU, MdB, Parlamentarischer Geschäftsführer CSU-Landesgruppe: Wir haben eine völlig andere Situation in Deutschland und da muss man wieder nachdenken, wenn wir jetzt so viele Zuwanderungen haben, dass die auch sehr schnell in den Arbeitsprozess integriert werden können. O-Ton Frontal 21: Das heißt also, keine Fakten für heimische Leiharbeiter, weil es stehen ein Haufen ausländischer vor der Tür? O-Ton Max Straubinger, CSU, MdB, Parlamentarischer Geschäftsführer CSU-Landesgruppe: Die Situation hat sich geändert und der Gesetzgeber ist immer aufgefordert, auf Veränderungen auch Antworten zu finden. Und deshalb gibt es auch diese Diskussion. Eigentlich will die CSU ja Zuwanderung begrenzen, bei der Leiharbeit- und Werkvertragsreform aber kommen ihr die Flüchtlinge wie gerufen. O-Ton Albrecht von Lucke, „Blätter für deutsche und internationale Politik“: Genau, ich muss die Verhältnisse der heimischen Arbeiter nicht verbessern, in dem Wissen darum, dass die Reservearmee der zukünftigen Leiharbeiter bereits vor der Tür steht. Chefsache Leiharbeit war einmal. Auch innerhalb Merkels eigener Partei wurde zur Blockade gerufen, angeblich wegen gravierender Mängel im Gesetzentwurf. Man hätte einfach nicht mehr unterscheiden können zwischen Werkvertrag und normaler Beschäftigung. O-Ton Wilfried Oellers, CDU, MdB: Ich mach ein Beispiel, der Chefarzt zum Beispiel, der ganz eindeutig als Arbeitnehmer vorgesehen wird oder angesehen wird, ist als solcher nicht nach dem Kriterienkatalog und nach den Voraussetzungen, die wir da haben, als Arbeitnehmer zu bewerten. O-Ton Frontal 21: Nun zielt das Gesetz ja nicht auf den Chefarzt mit einem tollen Gehalt ab, sondern eher auf die Leute, die wenig verdienen durch Werkverträge - möchte ja das Lohndumping bekämpfen, also, zieht da Ihr Argument noch? O-Ton Wilfried Oellers, CDU, MdB: Das zieht sehr wohl. O-Ton Albrecht von Lucke, Jurist und Politologe: Das ist eine gewisse Form der Dramatisierung einer Situation, die mit der Realität nichts zu tun hat. Wir haben es ja vor allem natürlich mit Leiharbeitsverhältnissen im unteren Segment zu tun. Der Chefarzt ist nun wahrlich nicht der Exponent einer aus dem Ruder gelaufenen Leiharbeiterstruktur. Man hat den Eindruck, dass der Ernst der Lage überhaupt nicht begriffen ist. Beispiel Helios Kliniken. Mittels Werkverträgen reduziert man die Stammbelegschaft. 13 Prozent des Personals ist bereits ausgelagert - um Tariflöhne und Kündigungsschutz zu umgehen, sagt Betriebsrat Pflugmacher. Für ihn würden bei Helios Werkverträge missbraucht. O-Ton Rolf Pflugmacher, stellvertretender Konzernbetriebsrats-Vorsitzender Helios Kliniken: Da sind wir wirklich auf Hilfe des Gesetzgebers angewiesen, dass Werkverträge wirklich auf das Ursprüngliche beschränkt sind, nämlich, wenn man wirklich Verträge nach außen gibt, wie den Klempner, den man holt, um irgendwas zu reparieren, aber nicht die Klinikarbeit, die wirklich täglich gemacht wird. Der Vorwurf: Helios lässt immer mehr Firmen mit eigenen Leuten die Jobs im Krankenhaus erledigen. Ein Betrieb im Betrieb. Nur, dass solche Arbeitskräfte bis zu 40 Prozent weniger verdienen. Helios spricht von Arbeitsteilung, Zitat: „… Arbeitsteilung ist ein tragendes Element unserer Arbeitswelt ... sie führt zu größerer Spezialisierung und … auch zu besserer Patientenversorgung.“ O-Ton Rolf Pflugmacher, stellvertretender Konzernbetriebsrats-Vorsitzender Helios Kliniken: Ich habe hier ganz konkret die Lohnabrechnung einer Kollegin einer Servicegesellschaft liegen. Die verdient bei einer 40-Stunden-Woche noch nicht einmal 1.500 Euro. Im Tarifbereich wären das über 2.000 Euro. Das sind also über 500 Euro brutto weniger. Im Nettobereich ergibt sich grad noch ein Auszahlungsbetrag von etwas über 1.000 Euro – davon kann man nun wirklich nicht mehr leben. Arbeitsmarktexperten sprechen von einer neuen Form der Prekarisierung. Kriterien um missbräuchliche Werkverträge zu entlarven – diese Passage wurde im Gesetzentwurf im Namen der Kanzlerin inzwischen wieder gestrichen. In ganzseitigen Zeitungsanzeigen trauern derweil trotzdem die Arbeitgeber um die deutsche Wettbewerbsfähigkeit: Noch ist die Leiharbeitsreform ja nicht verabschiedet. O-Ton Prof. Gerhard Bosch, Arbeitssoziologe, Universität Duisburg-Essen: Es wird ein wahnsinniger Skandal entfacht mit großen, aufwendigen, teuren Zeitungsanzeigen, der Weltuntergang wird mal wieder beschworen. Was für ein Theater hat denn die Wirtschaft beim Mindestlohn gemacht, der Untergang der deutschen Wirtschaft und was ist passiert, überhaupt nichts. Absender der Zeitungskampagne ist der Lobbyverband „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“. Finanziert von Arbeitgebern der Metallindustrie. Missbrauch bei Leiharbeit und Werkverträgen weist man hier weit von sich. Deshalb bestehe auch für den Gesetzgeber keinerlei Handlungsbedarf. O-Ton Frontal 21: Was ist so schlimm an dem vorgelegten Entwurf? O-Ton Hubertus Pellengahr, Geschäftsführer Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft: Also, es ist schlimm, dass die Politik den Unternehmen vorschreibt und den Beschäftigten vorschreibt, wie sie miteinander in Beziehung treten sollten, das was die Politik hier machen möchte, ist bereits geregelt und es ist besser geregelt, als es die Bürokraten in den Ministerien können. O-Ton Frontal 21: Da muss ich aber mal einhaken, weil sie haben ja gerade bewiesen, dass sie nicht können, weil sonst wäre es ja nicht zu Lohndumping gekommen, da wäre es nicht zu Dauerleiharbeit gekommen. O-Ton Hubertus Pellengahr, Geschäftsführer Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft: Aber es ist gut, dass es diese Beschäftigungsformen gibt. Es gibt drei Prozent der Beschäftigten, die in der Zeitarbeit tätig sind, gerade mal drei Prozent. Gerade mal drei Prozent - soll heißen: kein großes Problem. Das Lieblingsargument der Arbeitgeber: nur eine Million Leiharbeiter. Gezählt werden aber nur die die gerade Arbeit haben. Und jede dritte offen gemeldete Stelle ist inzwischen Zeitarbeit. Bei Werkverträgen wird nur geschätzt: 900.000 Betroffene oder auch deutlich viel mehr. Die Bundesagentur für Arbeit schreibt dazu, Zitat: „… Angaben darüber, wie viele Beschäftigte von Werkverträgen betroffen sind, gibt es nicht.“ Wie viele Menschen derzeit in Deutschland von Leiharbeit und Werkverträgen leben müssen – oder so wie Thomas Hartmann immer mal wieder - darüber gibt keinerlei Statistik Auskunft. Für ihn sind es jetzt zwölf Jahre: Christian Graupner ist noch immer Leiharbeiter. Inzwischen mag er keine Interviews mehr geben. Seine Begegnung mit der Kanzlerin habe zu wenig verändert. O-Ton Thomas Hartmann, Leiharbeiter: Ob die überhaupt noch ein Auge für die Innenpolitik hat – das glaube ich jetzt mal weniger. O-Ton Frontal 21: Also, Sie meinen so für Menschen wie Sie? O-Ton Thomas Hartmann, Leiharbeiter: Da hat sie garantiert kein Auge drauf. Die Reform verschoben auf die erste Hälfte des Jahres, der Gesetzentwurf entschärft - aus der Reform ist schon jetzt ein Reförmchen geworden. Die Chance auf feste Arbeit? Leiharbeiter Hartmann hat besser weiterhin seinen Lebenslauf bei sich. Zur Beachtung: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der vorliegende Abdruck ist nur zum privaten Gebrauch des Empfängers hergestellt. Jede andere Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtgesetzes ist ohne Zustimmung des Urheberberechtigten unzulässig und strafbar. Insbesondere darf er weder vervielfältigt, verarbeitet oder zu öffentlichen Wiedergaben benutzt werden. Die in den Beiträgen dargestellten Sachverhalte entsprechen dem Stand des jeweiligen Sendetermins.
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