Inhalt dieser Ausgabe: - beim Geraer/ Sozialistischen Dialog

Hefte für marxistische Theorie und sozialistische Politik
Bulletin
Ausgabe 43 / Januar 2015
Spendenempfehlung: 1€ + Porto
Inhalt dieser Ausgabe:
Editorial
Seite02
2 Neue Herausforderungen für DIE LIN- Seite 24
KE und die Verantwortung des Ältestenrates
Die Gemeuchelten sind nicht tot
Seite 05
Der Sonderparteitag im Dezember
1989 - zwischen SED und PDS
Geschichte für heute
Seite 07
Gelungener Jahresauftakt für Antikapi- Seite 31
talistInnen
Gegen jede Kriegsbeteiligung
Seite 08
Solidarität mit Syriza -
Seite 33
70 Jahre Ende des II. Weltkriegs, Befreiung und Potsdamer Konferenz
Seite 13
Offenbarungseid der Linkspartei
Seite 34
LINKE auf Deligitimierungskurs
Seite 19
Schuld und Sühne: Der 8. Mai 1945 – Seite 36
Ein der „Tag der Befreiung“?
Die Wahl wird Folgen haben
Seite 23
Amboss oder Hammer - Gespräche
über Kuba
Seite 27
Seite 38
editorial...
Das neue Jahr begann, wie das alte
endete: mit Toten, Hunger und
Elend in den Kriegsgebieten,
schrecklichen Terroranschlägen,
nunmehr sogar in Frankreich und
Belgien, mit beunruhigenden Nachrichten über den Zustand des Euro
und der kapitalistischen Weltwirtschaft, mit der Bekräftigung der aggressiven Politik gegenüber der
Russischen Föderation. Papst Franziskus rief für das neue Jahr zu
mehr Zusammenarbeit für Frieden
Gerechtigkeit und Menschenrechte
auf. In China gilt 2015 als ein Jahr
des (Holz-)Schafes – friedlich,
freundlich, konsensorientiert. Die
Realitäten allerdings signalisieren
Gefahr im Verzuge und Anzeichen
für eine Welt, die aus den Fugen gerät, und eine Politik, die alles noch
schlimmer macht.
Im Gange ist ein Spiel mit dem Feuer eines großen Krieges in Europa.
Die Politik der USA, die Russische
Föderation zu schwächen und als eigenständige, in ihrem Interesse handelnde Großmacht auszuschalten,
trifft sich mit einer offen auf Krieg
setzenden Politik der Regierung Jazeniuk und seinen faschistischnationalistischen Anhang. Dessen
Besuch Anfang Januar in Berlin war
begleitet von Säbelrasseln und
Public Relation für NATO-Waffen
und einen bevorstehenden Waffengang. Man wolle “alles dafür“ machen, so Jazeniuk, „damit die Ukraine mithilfe unserer westlichen Partner vereint wird“. Die Armee soll
unverzüglich um 100.000 Mann aufgestockt werden. Um den Flugplatz
in Donezk toben heftige Kämpfe.
NATO-Generalsekretär Stoltenberg
fordert die drastische Erhörung der
Militärausgaben. Präsident Poroschenko will „jeden Zentimeter“ in
der Ostukraine zurück erobern. Widerspruch aus Berlin kam nicht,
2
auch nicht als Jazeniuk für seine an
Hitlerdeutschland orientierte Sicht
vom Ende des II. Weltkrieges um
„Solidarität“ bei der deutschen Bundesregierung warb: „Wir können
uns alle sehr gut an den sowjetischen Angriff in die Ukraine und
nach Deutschland erinnern.“
che tun, ist es noch lange nicht dasselbe.
Um Wahrheit überhaupt nur hörbar
zu machen, ist Klartext reden, zum
Gebot der Stunde geworden, auch
in Bezug auf andere politische Themen, ebenfalls in Bezug auf Positionen der Führung der LINKEN. Diese
entfernt sich immer offensichtlicher
Nach dem „Ausblick auf das Neue
Jahr“ von Paul Craig Roberts, Publi- von Grundsätzen des Erfurter Prozist und stellvertretender Finanzmi- gramms wie dessen am gesellschaftnister unter Ronald Reagan, hat die lichen Kräfteverhältnis orientierten
„Aggression der NATO gegen Russ- Politikbegriff, der unbedingten Abland“ längst begonnen. 2015 könnte lehnung von Hartz IV, der Abgrenzung gegenüber den neoliberalen
der Konflikt „heftig ausfallen“.
Parteien sowie einer ausgewogenen
Einschätzung der DDR. Sie wackelt
Im Nahen Osten zeichnet sich neben fortschreitendem Chaos vor al- selbst in der Friedensfrage, so hinlem in Libyen eine weitere Eskalati- sichtlich des konsequenten Neins
zu Militäreinsätzen der Bundeswehr
on der militärischen Auseinandersetzungen ab. Unter der Flagge des im Ausland.
Kampfes gegen den grausamen Terror des mittlerweile im Irak und Sy- In Griechenland zeichnet sich mit
rien ein Gebiet von der Größe Groß- den vorgezogenen Neuwahlen des
Parlaments am 25. Januar eine
britanniens kontrollierenden
„Islamischen Staates“ wird die Mili- Mehrheit von Syriza ab. Schon komtärmacht der USA ausgebaut. Assad men Drohungen aus dem Umfeld
der Bundeskanzlerin, einen derartisoll endlich gestürzt werden. Der
gen Wahlsieg mit einem Ausschluss
Iran ist weiter im Fadenkreuz. Die
Bundesrepublik erweitert den Ein- Griechenlands aus der Euro-Zone zu
beantworten. Das Wort der Kanzlesatz mit dem „Patriot-Raketenabwehrsystem“ der Türkei um militä- rin von der „marktkonformen Demokratie“ hat offenbar genau den
rische Ausbilder der Bundeswehr,
Sinn: Demokratie Ja, aber nur, wenn
die sie nach Syrien schickt.
sie die Finanzmärkte nicht durcheiMit dem Terroranschlag auf die Re- nander bringt und die Interessen
daktion von Charlie Hebdo steht in des deutschen Kapitals stärkt.
neuer Schärfe die Frage nach den
Ursachen des islamistischen Terrors Zurück nach Deutschland: Im Jahr
2014 war die Zahl der Asylsuchenaber auch nach der Verurteilung
den, insbesondere aus den Ländern
des Staatsterrors, wie er im Zuge
der vom USA-Imperialismus ausge- des in Flammen stehenden Nahen
Ostens auch in die BRD mit rund
henden Terroraktionen im Namen
200.000 deutlich größer als in den
von Demokratie und Freiheit sich
ausbreitet. Gregor Gysi wies in der vorangegangenen Jahren. Vor allem
die Kommunen müssen die Lasten
Bundestagsdebatte am 15. Januar
tragen. Wieder einmal wächst die
darauf hin, dass es „ohne falschen
Irak-Krieg“ den „Islamischen Staat“ Ausländerfeindlichkeit in breiten
nicht gäbe. Sahra Wagenknecht be- Schichten der Bevölkerung. Dies
und Ängste vor allem in den Mittelzeichnete die Drohnenangriffe der
klassen vor sozialen Abstieg hat mit
USA, mit denen Tausende Menschen getötet wurden, als genau so der PEGIDA in Dresden und ähnlichen Demonstrationen in anderen
„schrecklich“ wie der TerroranStädten eine rechtspopulistische Beschlag in Paris. Die Empörung der
wegung von Unzufriedenen entsteVertreter des politischen Mainhen lassen, die offenbar das Potenzistreams kam sehr kategorisch daal für eine Massenbewegung im Zeiher. „Solch einen Zusammenhang
gibt es nicht.“ Wenn zwei das Glei- chen von Rassismus, Menschen-
marxistische Theorie und sozialistische Politik
Bulletin ● Geraer Sozialistischer Dialog
feindlichkeit und Deutschtümelei
hat. Feindbild ist Islamisierung und
Überfremdung. Parolen gegen die
„Lügenpresse“ und gegen „die Politiker“ signalisieren ein Weltbild, das
von den wirklichen gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen
im Kapitalismus nicht viel weiß
und nichts wissen will.
Aktueller denn je ist, was kluge
Marxisten wie August Thalheimer
und Wolfgang Abendroth aus der
Geschichte der Weimarer Republik
schlussfolgerten: Kern einer erfolgreichen Strategie gegen rechte und
faschistische Massenbewegungen
muss eine linke Politik sein, in deren Ergebnis „die Arbeiterklasse
sich zu einer wirkungsvollen Alternative gegen die monopolkapitalistische Herrschaft entwickelt“ und so
„diejenigen Teile der abhängig Arbeitenden, die in ihrer Verzweiflung
dazu neigen, zu den Faschisten
überzugehen, politisch an die Arbeiterklasse gebunden werden“. (W.
Abendroth, Ein Leben in der Arbeiterbewegung, Frankfurt am Main
1976, S. 135.) Offensichtlich ist diese Grunderkenntnis bei vielen Politikern der LINKEN nicht vorhanden. Sie setzen auf Klassenzusammenarbeit auf der Basis der Leitbilder, der Freund- und Feindbilder
des bürgerlichen Politikbetriebes.
Ergebnis der bisherigen Regierungsbeteiligungen der Partei in Berlin,
Mecklenburg-Vorpommern und
Brandenburg war stets: Diese Landesregierungen wurden ein wenig
besser (ohne dass sie irgendwo eine
politischen Wende gegen Sozialabbau, Reichtumsvermehrung, Prekarisierung und soziale Unsicherheit
herbeiführen konnten). Die Partei
DIE LINKE wurde infolge dieser Beteiligungen überall schlechter. Sie
erreichte viele Unzufriedene nicht
mehr, weil „ihre Alternative“ keine
war. Sie geriet in eine Glaubwürdigkeitskrise, verlor z. T. (wie zuletzt in
Brandenburg) dramatisch an Stimmen. Hinter dieser Entwicklung
steht augenscheinlich eine völlige
Fehleinschätzung der politischen
Kräfteverhältnisse in der BundesreAusgabe 43 Januar 2015
publik. Die gegebene stabile Herrschaftskonstellation zugunsten des
Kapitals bedingt, dass derzeit (im
Unterschied zu Lateinamerika) jede
Regierungsbeteiligung zur Festigung der Kapitalherrschaft führt.
Notwendig ist eine Oppositionspolitik auf der Grundlage eines politischen, an den Interessen der abhängig Arbeitenden orientierten Klassenprojekts, das konsequent die neoliberale Politik bekämpft, die Verteilungsfrage, aber auch zeitgemäß
die Eigentums- und Machtfrage
stellt und grundlegende sozialökonomische Veränderungen fordert.
rung in der Koalitionsvereinbarung.
Die Aufnahme eines öffentlichen
Beschäftigungssektors wurde von
der SPD verworfen. Eine Glaubwürdigkeitskrise der LINKEN auch in
Thüringen ist unvermeidlich und
vorhersehbar.
Schon jetzt ist in einem Punkt die
Bilanz verheerend. Mit der Verurteilung der DDR als Unrechtsstaat in
der Präambel des Koalitionsvertrages hat DIE LINKE in Thüringen eines ihrer wesentlichen Alleinstellungsmerkmale aufgegeben: das einer gerechten und differenzierten
Bewertung der DDR als Sozialismusversuch unter schwierigen BedinIn Thüringen hat nun Anfang Degungen. An die Stelle der Verteidizember 2014 nach einem großen
Wahlerfolg der LINKEN am 14. Sep- gung der DDR ist die Delegitimierung der DDR getreten. Nicht mehr,
tember 2014 ein Regierungsbündnis von DIE LINKE, SPD und Grünen wie bisher, wird die Auflösung der
seine Arbeit aufgenommen. Minis- Stasiunterlagenbehörde gefordert,
terpräsident ist Bodo Ramelow, der sondern Bodo Ramelow will geals solcher die Richtlinien der Lan- meinsam Arm in Arm mit deren
despolitik bestimmt und Thüringen Chef Roland Jahn, gewissermaßen
(...) im Bundesrat vertritt. Alles deu- als Speerspitze dieser Behörde, allenthalben die „Alltagsdiktatur der
tet darauf hin, dass sich in den
DDR aufarbeiten“. Nur acht der 45
nächsten Jahren das gerade skizzierte Schema linker Regierungsbe- Mitglieder des Parteivorstandes der
LINKEN lehnten diese Kapitulation
teiligung auf Landesebene in Thüvor dem Ungeist und dem Vokaburingen wiederholen wird. In drei
lar des Kalten Krieges ab.
Punkten ist die Landespolitik ein
wenig besser geworden: Die Zahl
Es ist die herrschende Politik im
der Lehrerinnen und Lehrer wird
Umgang mit der Geschichte der
definitiv um 500 (statt wie bisher
geplant um 400) jährlich erhöht. Es DDR, die sich Bodo Ramelow und
gibt ein kostfreies Kita-Jahr. Und bis die ihn unterstützende Landes- und
31. März gilt ein Abschiebestopp für Fraktionsvorsitzende der LINKEN
Susanne in Thüringen HennigAsylbewerber. Aber ansonsten ist
alles vage oder verläuft im bisheri- Wellsow zu eigen machen. Zu dieser
gen politischen Rahmen. Die Regie- Politik gehört auch die Aussage der
Bundeskanzlerin in ihrer Neujahrung Ramelow unterwirft sich der
Schuldenbremse, lehnt neue Kredit- resansprache: „Hunderttausende deaufnahmen ab und erkennt faktisch monstrierten 1989 für Demokratie
und Freiheit und gegen eine Diktadamit das Diktat der sogenannten
leeren Kassen an. 123 Aufgaben in tur, die Kinder in Furcht aufwachsen ließ.“ Zu dieser Politik passt
der Koalitionsvereinbarung sind
auch der Umgang mit dem bevor„Prüfungsversprechen“ (z. B. wohstehenden 70. Jahrestag der Befreinortnahe Versorgung mit Gesundheitseinrichtungen oder fahrschein- ung vom Faschismus am 8. Mai
loser öffentlicher Nahverkehr) und 1945. Der Kampf der Völker der
stehen damit unter Finanzierungs- Sowjetunion und ihrer Streitkräfte,
vorbehalt bisher lediglich auf dem die die Hauptlast dieses Krieges zu
tragen hatten, wird geschmälert
Papier. Von Reichtumsbremse ist
keine Rede, nicht einmal die Anglei- und negiert, wo es nur geht. Vorreichung der Gehälter und Rentenent- ter ist dabei der Regierungschef der
geltwerte im Osten steht als Forde- Ukraine in Berlin, dem die Bundes3
kanzlerin selbst bei dessen Parteinahme für Hitlerdeutschland nichts
zu entgegnen hatte. Zu den Feierlichkeiten anlässlich des 70. Jahrestages der Befreiung des faschistischen Vernichtungslagers Auschwitz durch die Rote Armee am 27.
Januar hat die polnische Seite die
Russische Föderation und deren
Präsidenten nicht eingeladen. Protest der Kanzlerin, Nachfrage der
„Leitmedien“ - Fehlanzeige.
In dieser 43. Ausgabe des Bulletins
„Geraer Sozialistischer Dialog“ wollen wir unsere Positionen zu den
anstehenden Problemen und Herausforderungen verdeutlichen. Dabei stimmt nicht jeder Beitrag völlig
mit den Positionen des redaktionellen Beirates überein. Jedoch macht
die Auswahl der Beiträge unsere
Sicht der Dinge deutlich.
Das Jahr begann mit den Ehrungen
für Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. Anton Latzo hat dazu den
Beitrag „Die Gemeuchelten sind
nicht tot“ verfasst. Ebenfalls von
Anton Latzo stammt der Artikel
„Geschichte für heute“, Bezug nehmend auf den 70. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus schreibt er
zur Rolle der Sowjetunion in der
Antihitlerkoalition und zur Politik
der Westmächte in der Nachkriegszeit in Deutschland.
Auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz
der „jungen Welt“ am 10. Januar
2015 hielt Oskar Lafontaine eine
viel beachtete Rede zur internationalen Situation, zur Kriegsgefahr
und zur Verantwortung der LINKEN. Diese Rede war eine Absage
an jene Politik, die Gregor Gysi unlängst wiederum mit Bezug auf das
Jahr 2017 als Forderung nach Regierungsbeteiligung auf Bundesebene
vertrat, ungeachtet dessen, dass
dies nur möglich wäre, wenn DIE
LINKE zu einer Kriegspartei und
Hartz IV-Partei mutiert. Mit freundlicher Genehmigung haben wir diese Rede im vollen Wortlaut übernommen.
4
scheint besonders nach 25 Jahren
und angesichts der Beschwörung
eines angeblichen antistalinistischen Gründungskonsensus der
PDS auf diesem Parteitag wichtig.
Der damalige Parteitag verurteilte
eben nicht pauschal die DDR. Er forderte nicht das Ende, sondern die
Demokratisierung der DDR. Es gab
einen eindringlichen Appell von
Hans Modrow, damals Ministerpräsident der DDR, dass diese Partei
bleiben muss. Sie ist geblieben,
In seinem Beitrag „LINKE auf Deligi- wenn auch mit anderen Namen und
leider zunehmend mit Inhalten, die
timierungskurs „ setzt sich Ekimmer weniger mit den Anforderunkehard Lieberam mit den Problemen der Thüringer Koalitionsregie- gen zu tun haben, die aktuell und
rung auseinander. Dies ist ein The- strategisch im 21. Jahrhundert auf
ma, das uns auch in der nachfolgen- DIE LINKE zukommen.
den Zeit weiter unter dem Gesichtspunkt, Koalitionsregierungen unter Der bundesweite Zusammenschluss
„Antikapitalistische Linke (AKL)“
linker „Verantwortung bzw. Beteilung“ weiter beschäftigen muss. Zu hat am 11. Januar, unmittelbar im
diesem Thema gehört auch der Bei- Anschluss an die Ehrungen für Karl
und Rosa seine Jahresversammlung
trag von Nina Hager, den wir mit
freundlicher Genehmigung der Re- durchgeführt. Wir veröffentlichen
darüber den Bericht und eine Erklädaktion der „UZ“ übernommen haben: „Die Wahl wird Folgen haben. rung.
Nach der Wahl Bodo Ramelows zum
Die Redaktion erreichte ein LeserThüringer Ministerpräsidenten“.
brief von Valentin Prohacek mit der
Der Ältestenrat der Partei DIE LIN- Überschrift „Offenbarungseid der
KE hat am 4. Dezember 2014 ein Po- Linkspartei“, den wir hiermit unkommentiert veröffentlichen.
sitionspapier beschlossen, das wir
im vollen Wortlaut übernommen
Abschließend, wie mittlerweile Trahaben. „Neue Herausforderungen
dition, stellt Andreas Schlegel, Mitfür DIE LINKE und die Verantworglied des SprecherInnen und Koortung des Ältestenrates.“ Der Ältestenrat, er wurde mit Beschluss des dinierungsrates des Geraer Sozialis1.Parteitages der PDS im Jahr 1990 tischer Dialog, das Buch „Die zweite
Schuld oder von der Last Deutscher
als „Rat der Alten“ gegründet,
zu sein“, von Ralph Giordano mit
spricht in diesem Dokument über
seine Verantwortung in Bezug auch einer ausführlichen Besprechung
auf die Politik der Partei und seines vor. Mit Titelseite und einem kurgewählten Vorstandes. Es ist ein Do- zen Text verweisen wir auf die Neuerscheinung des Buches „Amboss
kument, das für die Vorbereitung
des Bielefelder Parteitages der Par- oder Hammer“. Gespräche über Kuba von Volker Hermsdorf mit Hans
tei DIE LINKE am 6./7. Juli 2015
Modrow.
wichtige inhaltliche Impulse gibt.
Gedenken an die Befreiung vom Faschismus und Kampf für die Erhaltung des Friedens sind die politischen Schwerpunkte im Jahr 2015.
Ludwig Elm hat dazu auf dem 21.
Friedensratschlag am 6./7.Dezember
2014 in Kassel unter dem Thema:
„70 Jahre Ende des Zweiten Weltkriegs, Befreiung und Potsdamer
Konferenz“ ein Referat gehalten,
das er uns für diese Ausgabe des
Bulletins zur Verfügung stellte.
Rückblickend auf den Herbst 1989
und seine Ereignisse geben wir Gregor Schirmer mit seinem Artikel,
„Der Sonderparteitag im Dezember
1989 – zwischen SED und PDS“ das
Wort. Ein Blick auf die Tage, in denen aus der SED die PDS entstand,
marxistische Theorie und sozialistische Politik
Anton Latzo
Ekkehard Lieberam
Michael Mäde
Jochen Traut
Bulletin ● Geraer Sozialistischer Dialog
Die Gemeuchelten sind nicht tot
Das schrieb Clara Zetkin im Februar 1919 über Karl Liebknecht und
Rosa Luxemburg. „Ihr Herz schlägt
in der Geschichte fort, und ihr
Geist leuchtet weit über diese düsteren und doch nicht hoffnungslosen Tage hinaus. Das Proletariat
wird das reiche Erbe antreten, das
ihm Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg in Wort und Tat, in Lebenswerk und Beispiel hinterlassen. Die Gemeuchelten leben, sie
werden die Sieger der Zukunft
sein.“ (Clara Zetkin, Ausgewählte
Reden und Schriften , Bd. II, Berlin
1960, S. 92)
lismus zum Sozialismus.
Rosa und Karl zu ehren, bedeutet,
das in ihren Reden, Schriften und
revolutionären Handlungen hinterlassene revolutionäre Erbgut aufzugreifen, es sich anzueignen und für
das konkrete Handeln in unserer
Zeit aufzuarbeiten. Dieses Erbgut
widerspiegelt nicht nur die historischen Voraussetzungen und Begleitumstände ihrer Zeit. Es vermittelt grundlegende Erkenntnisse für
alle Kommunisten, Sozialisten, Marxisten im Prozess und in den verschiedenen Phasen des Klassen-
Und so war man in dem Entscheidungsjahr 1914 an dem Punkt angekommen, an
dem aus der einst revolutionären Sozialdemokratie eine kleinbürgerlichdemokratische Reformpartei
übriggeblieben war.
Die fast hundertjährige Geschichte
der Würdigung dieser Revolutionäre war stets auch Prozess des Erinnerns an ihre Erfahrungen, an ihre
Erfolge und ihre Niederlagen. Jeder, der sich mit diesen Persönlichkeiten, diesen Gewaltigen der marxistischen Erkenntnis und revolutionären Tatkraft, diesen Meistern
des Wortes und der Feder
(Hermann Duncker) beschäftigte
und beschäftigt, muss, ob er will
oder nicht, im Klassenkampf, im
Kampf zwischen marxistischleninistischer und bürgerlicher
Ideologie, Partei ergreifen. Mit seinen Schlussfolgerungen und seiner
Haltung entscheidet er so über
seinen eigenen Platz in den Kämpfen der Zeit, über seine Stellung im
revolutionären Prozess des Kampfes für die Durchsetzung des gesellschaftlichen Fortschritts, in der
Epoche des Übergangs vom Kapita-
Ausgabe 43 Januar 2015
kampfes, so auch in jenen, in denen die Arbeiterklasse noch keine
eigene Revolution konkret in Angriff nehmen kann.
So ergibt sich für die kommunistische, marxistische Partei in dieser
Phase der Entwicklung des kapitalistischen Staates und des Klassenkampfes die Aufgabe, das Recht
auf Revolution zu verteidigen und
sich mit den notwendigen Fähigkeiten für die Revolution zu rüsten,
damit sich die Geschichte nicht
wiederholt. Die Bedingungen für
den Kampf werden dabei nicht
einfacher.
Die Bourgeoisie hat 1918 mit Hilfe
der rechten Führer der Sozialdemokratie dem Volke in feierlichsten
Erklärungen die „Sozialisierung“
versprochen. Als aber das revolutionäre Proletariat gefordert hat, die
Versprechungen einzulösen, wurde
es seiner Führer Karl Liebknecht
und Rosa Luxemburg beraubt und
dann etappenweise niedergeschlagen.
Schon 1848 hatte man in Preußen
das allgemeine, gleiche und geheime Wahlrecht versprochen. Durch
den Staatsstreich vom 5. Dezember
1848 wurde aber dem Volk das
schmachvolle Dreiklassenwahlrecht aufgezwungen. Die Vorkämpfer des Proletariats wurden 1849
unter Anklage des Hochverrats vor
Gericht gestellt. Im Unterschied zu
1918 wurden sie von bürgerlichen
Gerichten noch freigesprochen. Das
änderte sich jedoch mit dem Aufkommen des deutschen Imperialismus. Karl Liebknecht und Rosa
Luxemburg wurden meuchlings
ermordet! Ernst Thälmann musste
das gleiche Schicksal erleiden. Seit
1918 stehen ununterbrochen Kommunisten vor Gericht und werden
niemals freigesprochen. Das war
auch so, als Mitte der 1950er Jahre
die KPD und die Jugendorganisation FDJ auf Betreiben der Bundesregierung verboten wurden und wurde auch nach 1989, nach der Einverleibung der DDR, praktiziert.
Einen wichtigen Beitrag leisteten
Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg im Kampf gegen den sich
ausbreitenden Revisionismus. Das
geschah vor allem im Sinne eines
Rückgreifens auf den unverfälschten Marxismus und auf Auswertung der internationalen Erfahrungen. Das stand am Anfang des Weges zu einer starken kommunistischen Partei!
Es erfolgte zweitens in der theoretischen Erschließung der neuen ökonomischen, politischen und ideologischen Probleme, die die Etappe
des Imperialismus und der ersten
proletarischen Revolution aufwarfen.
Zu Beginn vollzog sich der Kampf
gegen den Reformismus noch im
Schoße der alten Sozialdemokratie.
Man hoffte eben noch, die alte
5
Sozialdemokratische Partei vor
dem reformistischen Ansturm retten zu können. Hinzu kam auch,
dass das ganze Ungeheuer des
künftigen politisch ausgewachsenen Reformismus nicht in der Breite im voraus klar zu erkennen war.
Man empfand die Versuche von
Bernstein & Co eben doch als
„Versuche“ , die Partei umzugestalten, den Marxismus zu revidieren
bzw. auszuschalten. Man übersah
in der Sozialdemokratie auch, dass
die Steigerung der Quantität der
opportunistischen „Entgleisungen“
in revisionistische Qualität umschlagen. Und so war man in dem
Entscheidungsjahr 1914 an dem
Punkt angekommen, an dem aus
der einst revolutionären Sozialdemokratie eine kleinbürgerlichdemokratische Reformpartei übriggeblieben war.
Im Kampf von Karl Liebknecht und
besonders von Rosa Luxemburg
gegen die reformistische Theorie
und Praxis, der zum Ausgangspunkt für die Herausarbeitung der
Grundlagen der Kommunistischen
Partei in Deutschland wurde, ist
besonders Rosa Luxemburgs
„Sozialreform oder Revolution“
herauszuheben. Dieses „Dokument
der Auferstehung des Kommunismus in Deutschland“ (Hermann
Duncker) legt das Wesen des Reformismus bloß und liefert notwendige Argumente für den aktuellen
Kampf gegen ihn und für die organische Verknüpfung des praktischen Tageskampfes mit dem Endziel.
Überschauen wir das Wirken von
Karl und Rosa so ragt als weiterer
Schwerpunkt ihre unbändige Gegnerschaft zum Krieg hervor, die
sich aber niemals auf Pazifismus
beschränken lässt. Angesichts der
in Waffen starrenden Welt und der
sich in imperialistischen Militärpakten zusammenschließenden
europäischen Großmächte war für
Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg der antimilitaristische Kampf
zu einer Aufgabe ersten Ranges
geworden. Sie leiteten diese Aufgabe nicht nur aus dem Zustand der
Gesellschaft und der Politik der
Herrschenden ab, sondern auch
aus dem Zustand in der Partei, in
der sich Revisionismus, Reformismus und Zentrismus immer mehr
ausbreiteten.
Im Militarismus sah Karl Liebknecht dasjenige Instrument der
Gesellschaft, dessen „Zweck und
Wesen die Gewalt ist“, wie er in
seiner Schlussrede im Prozess vom
10. Oktober 1907 erklärte, der gegen ihn wegen seiner Broschüre
„Militarismus und Antimilitarismus“ geführt wurde. Der Militarismus stellt die höchste Konzentration der brutalen Gewalt des Kapitalismus dar. Militarismus ist aber
nicht nur die Armee in ihren verschiedenen Gestalten. Er greift weit
aus in die bürgerliche Welt, unser
ganzes öffentliches Leben umklammernd und bis in seine feinsten
Fasern durchdringend, stellte Karl
Liebknecht fest.
Rosa Luxemburg bezeichnete den
Militarismus als den Todfeind
aller Kultur. Militarismus, Marinismus, die Jagd nach Kolonien und
die Reaktion sind internationale
Erscheinungen und bringen eine
permanente internationale Kriegs-
gefahr mit sich, darum sollte der
Alliance der internationalen Reaktion das Proletariat eine internationale Protestbewegung entgegensetzen. (Internationaler SozialistenKongress zu Paris, 25. bis 27 September 1900 Berlin 1900, S. 27)
Das wesentliche Ziel der antiimperialistischen Propaganda, schlussfolgerte Karl Liebknecht auf der I.
Internationalen Konferenz der sozialistischen Jugendorganisationen
in Stuttgart, 26. Mai 1907, „ist die
Zermürbung und Zersetzung des
militaristischen Geistes zur Beschleunigung der organischen Zersetzung des Militarismus. Aufklärung des Proletariats über das Wesen des Kapitalismus, des Militarismus und seiner besonderen Funktionen innerhalb des Kapitalismus,
das ist die Grundlage, das breite
Fundament eines jeden möglichen
Antimilitarismus, ein Fundament,
an das weder Polizei noch Justiz
ernstlich herankommen“. Daraus
folgt, dass Friedenskundgebungen,
ganz gleich welcher Art, nicht zu
einer Abart der Speakers' Corner
werden dürfen.
In tiefer Erkenntnis der Rolle der
Massen im Kampf um das Recht
der Völker erklärte Karl Liebknecht im Prozess, der 1907 vor
dem Reichsgericht gegen ihn stattfand: „Ich verfolge den Zweck, die
Entscheidung über Krieg und Frieden aus dem Dunkel der Kabinette
und Diplomatenschleichwege herauszuholen und an das Licht der
Öffentlichkeit zu ziehen“. Auch das
ist eine Lehre!
Anton Latzo
„Sie lügen wie
gedruckt wir drucken wie
sie lügen.“
6
marxistische Theorie und sozialistische Politik
Bulletin ● Geraer Sozialistischer Dialog
Geschichte für
heute
Die Jahrestage lassen uns nicht los.
Zwei davon ragen im Jahre 2015
heraus. Das ist der 70. Jahrestag der
Befreiung vom Faschismus sowie
die Vereinbarung des Potsdamer
Abkommens und der 25. Jahrestag
der Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands durch die Einverleibung der DDR in den Machtbereich des deutschen Kapitals.
Die Zerschlagung des Faschismus
durch die Antihitlerkoalition, in
deren Rahmen die Sowjetunion den
entscheidenden militärischen und
politischen Anteil leistete und die
größten menschlichen und materiellen Opfer brachte, führte zur Zerschlagung des Faschismus und Militarismus und schuf tiefgreifende
Veränderungen im internationalen
Kräfteverhältnis. Unter diesen Bedingungen wurde die Tür für die
nachfolgende demokratische und
friedliche Bedingungen in Europa
und in Deutschland geöffnet. Auf
der Grundlage ihrer gestärkten internationalen Stellung wurde die
Sowjetunion zum Anwalt der nationalen Interessen des deutschen
Volkes in der internationalen Arena.
Sie hat entscheidend dafür gewirkt,
dass auf der Potsdamer Konferenz
die Alliierten gegenüber Deutschland eindeutig festgelegt haben:
„Der deutsche Militarismus und
Nazismus werden ausgerottet, und
die Alliierten treffen nach gegenseitiger Vereinbarung in der Gegenwart und in der Zukunft auch andere Maßnahmen, die notwendig sind,
damit Deutschland niemals mehr
seine seine Nachbarn oder die Erhaltung des Friedens in der ganzen
Welt bedrohen.“
Gleichzeitig wurde durch die Alliierten die Zerschlagung der übermäAusgabe 43 Januar 2015
ßigen Konzentration der Wirtschaftskraft, der Monopole, die Entmilitarisierung usw. vereinbart.
Gemeinsam sprachen sie sich für
die Erhaltung der staatlichen Einheit Deutschlands aus.
Die Sowjetunion unterbreitete darüber hinaus der Konferenz einen
Vorschlag über die Bildung einer
zentralen deutschen Regierung,
doch die Westmächte lehnten ihn
ab, weil sie offensichtlich fürchteten, dass die Bildung deutscher
Organe für alle Besatzungszonen
den Einfluss der antifaschistischen
und antiimperialistischen Kräfte in
Deutschland stärken und ihre damals schon vorhandenen antikommunistischen Ziele gefährden könnte.
Ihre Ziele wurden mit der Bildung
der BRD angestrebt und dann 1990
auch erreicht. Nachdem die Westmächte und die deutsche Reaktion,
unterstützt von den rechten Führern der SPD, alles getan hatten, um
eine antifaschistisch-demokratische
Entwicklung in Westdeutschland zu
verhindern, wurde 1949, unter
Bruch des Potsdamer Abkommens
und bei aktiver Beihilfe der Westmächte der westdeutsche Separatstaat geschaffen.
Mit dem Ausbau dieser Grundlage
für monopolkapitalistische Verhältnisse, mit der Schaffung der dazu
gehörigen politischen, staatlichen,
juristischen, militärischen und sicherheitspolitischen Instrumentarien (Remilitarisierung, NATO-Mitgliedschaft, Verbot der KPD, Notstandsgesetze, Berufsverbote usw.)
schufen sie das System, das sie
brauchten, um 1989, im Verbund
mit ihren verbündeten Großmächten in der Lage zu sein, zum großen
antikommunistischen Schlag auszu-
holen, um die Hauptkraft, den Sozialismus, zu beseitigen, der der Verwirklichung ihrer expansiven und
aggressiven Plänen im Wege stand.
Das ist die Linie, die zu solchen
Verhältnissen in Deutschland und
in Europa geführt hat, die den
obersten Repräsentanten des gegenwärtigen
Deutschland erneut sagen lassen,
dass Deutschland „eine Zurückhaltung, die in vergangenen Jahrzehnten geboten war, vielleicht ablegen
sollte zugunsten einer größeren
Wahrnehmung von Verantwortung“. Zur gewünschten aktiveren
Rolle Deutschlands in der Welt gehöre auch, „den Einsatz militärischer Mittel als letztes Mittel nicht
von vornherein zu verwerfen“ usw.
(Tagesspiegel, 14.06.2014)
Die „Vereinigung“ der zwei deutschen Staaten ist Kettenglied dieses
Prozesses. Sie ist keine Vereinigung,
kein freiwilliges Zusammengehen
zweier gleichberechtigter Partner in
Verwirklichung ihrer grundlegenden Interessen, sondern der Anschluss des einen, der DDR, durch
das schlagartige und überfallartige
Überstülpen des wirtschaftlichen,
politischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Systems der alten Bundesrepublik über das Anschlussgebiet. Bis heute wird ein Prozess der
Unterwerfung betrieben. Darin liegen die tatsächlichen Wurzeln für
den Berg von ungelösten Problemen, mit denen wir konfrontiert
sind und die böse Folgen erwarten
lassen.
Die Existenz, der Aufbau und die
Politik der DDR zeigte, dass die
konsequente Verwirklichung der
Lehren des 2. Weltkrieges und der
Festlegungen des Potsdamer Abkommens zu friedlichen inneren
und äußeren Verhältnissen in Europa und in den einzelnen Ländern
führen, Frieden reproduzieren und
gegenseitige Achtung erzeugen
kann.
Anton Latzo
7
Gegen jede Kriegsbeteiligung
Wenn Journalisten und Politiker in
Bataillonsstärke zur aktiven Teilnahme an Militäreinsätzen verpflichtet wären, hätte der Spuk ein
schnelles Ende. Rede auf der XX.
Rosa-Luxemburg-Konferenz am 10.
Januar 2015
Ich habe heute morgen France
Inter gehört und habe dort die Diskussion hinsichtlich der Ereignisse
in Frankreich, der terroristischen
Anschläge und der Ermordeten,
verfolgt. Und dann war jemand
dort, der über das Täterprofil dieser Leute gesprochen hat. Es stellte
sich erwartungsgemäß so dar: jung,
männlich, muslimischen Glaubens,
sozial entweder ausgegrenzt oder
in einer Tarn-Berufsgruppe und so
weiter und so weiter. Ich habe mir
das dann gar nicht länger angehört, denn mir ist es durch den
Kopf gegangen, dass wir Terroristen in aller Welt haben, und dass
das Täterprofil der Terroristen in
aller Welt das gleiche ist – mangelnde Liebe zum Menschen und
mangelnde Liebe zum Leben. Und
wenn wir die Debatte nicht so führen, dass wir die Frage stellen, wo
haben wir denn überall Terrorismus, und wenn wir die Debatte
nicht so führen, dass wir uns die
Frage stellen, ob nicht auch bei uns
im angeblich guten Westen Verantwortung für terroristische Anschläge besteht, wenn wir uns nicht die
Frage stellen, was ist Terrorismus
überhaupt, dann werden wir keine
vernünftige Debatte führen können und auch keine Ergebnisse
haben können.
Ausgrenzung
und Ohnmacht
Ich habe jahrelang im Deutschen
Bundestag die Kanzlerin immer
wieder gefragt, was denn Terrorismus sei. »Sie wollen Terrorismus
bekämpfen«, war meine Aussage,
8
»also bitte sagen Sie uns, was Terrorismus ist, denn sonst kann man
ihn ja nicht bekämpfen.« Es kam
nie eine Antwort, und das hat
Gründe. Irgendein Beamter hat
dann ein sogenanntes Antiterrorgesetz geschrieben, demzufolge –
hört genau zu – Terrorismus die
rechtswidrige Anwendung von
Gewalt zur Durchsetzung politischer Belange ist. Gott sei dank
wird gelacht. Ich habe das im Bundestag vorgetragen und gesagt:
»Wissen Sie, was Sie gerade beschlossen haben? Sie haben gerade
beschlossen«, das war damals noch
nicht so lange nach dem Irak-Krieg,
»dass Bush, Blair und alle anderen,
die den Irak-Krieg unterstützt haben, Terroristen sind.« Ich will es
nur an diesem Beispiel deutlich
machen: Wenn wir nicht lernen,
dass das zumindest in der arabischen Welt so gesehen wird, dass
etwa Bush ein großer Terrorist ist,
weil Hunderttausende ermordet
worden sind aufgrund seiner Fehlentscheidung, dann werden wir im
Westen niemals eine Diskussion
darüber führen können, wie der
Terrorismus in dieser Welt zu bekämpfen ist, niemals.
Und ich habe mir immer die Frage
gestellt und versucht, diese in Diskussionen auch im Bundestag einzubringen: »Wie nehmt ihr eigentlich die Welt wahr? Was glaubt ihr
eigentlich, was bei jungen Leuten,
was in den Herzen von jungen Leuten vorgeht, die dann sehen, dass
ihre ganze Familie ausgelöscht
wird, weil sich eine Drohne in eine
Hochzeitsgesellschaft verirrt hat,
wo dann viele unschuldige Menschen ums Leben kommen? Da
geht ihr zur Tagesordnung über,
aber wenn jetzt hier ein terroristischer Anschlag geschieht, dann ist
die Empörung groß.« So kann man
nicht herangehen. Eine Voraussetzung muss sein, dass wir die Doppelmoral endlich aufgeben, die
marxistische Theorie und sozialistische Politik
Grundlage der großen Irrtümer in
der Welt ist.
Ausgrenzung und Ohnmacht, das
waren zwei Wörter, die ich in vielen Kommentaren gelesen habe. Im
Zentrum der Überlegungen stand,
dass Ausgrenzung und Ohnmacht
Reaktionen provozieren; das ist ein
gesamtgesellschaftliches Phänomen weltweit, das lässt sich nicht
unbedingt lokalisieren. Und überall dort, wo Ausgrenzung und Ohnmacht festgestellt werden, muss
man mit Gewalt rechnen. Das gilt
auch für unsere Gesellschaft. Es
gibt viele Menschen, die fühlen
sich ausgegrenzt, es gibt viele Menschen, die fühlen sich ohnmächtig
– in allen Ländern dieser Welt, in
allen Systemen dieser Welt, und
irgendwann glauben diese Menschen, sie können sich nur mit
Gewalt zu Wehr setzen. Und daraus ist doch nur eine Lehre zu ziehen: Wir müssen Gesellschaftsordnungen aufbauen, die Menschen
nicht ausgrenzen und sie nicht das
Gefühl von Ohnmacht und Ratlosigkeit fühlen und empfinden lassen. Wenn man über Terrorismus
spricht, muss man sagen, was man
unter Terrorismus versteht. Wenn
man beispielsweise Mord verurteilt, dann muss man Mord verurteilen, wo immer er begangen wird
und von wem er auch begangen
wird. Und daran fehlt es im großen
Umfang in der westlichen Gesellschaft.
Diese Ereignisse müssen doch eine
Diskussion über die Außenpolitik
provozieren und lassen nur eine
einzige Schlussfolgerung zu. Die
Interventionskriege, diese terroristischen Kriege, sind die Grundlage
für die Ausbreitung des weltweiten
Terrors. Man kann sicherlich über
dieses und jenes reden, über eines
jedoch nicht: Wenn es denn einmal
dazu kommen sollte – ich muss
den Fall ja sehr hypothetisch hier
diskutieren –, dass die Linke eingeBulletin ● Geraer Sozialistischer Dialog
laden wird, sich an einer Bundesregierung zu beteiligen, dann muss
eines klar sein: Eine solche Regierung darf sich niemals an Interventionskriegen beteiligen, niemals,
das muss die Grundbedingung sein.
Was denken sich diejenigen eigentlich, die solche Kriege beschließen?
Was empfinden sie? Wie kommen
sie überhaupt dazu, andere zu beauftragen, Krieg zu führen? Macht
man sich überhaupt eine Vorstellung davon, was das heißt? Und da
muss man doch heute zu der Antwort kommen: Diejenigen, die den
Auftrag geben, können sich gar
nicht mehr vorstellen, welche Aufträge sie eigentlich vergeben. Und
dass sie noch weniger Phantasie
haben, darüber nachzudenken, was
das eigentlich heißt. Man kann hier
auf den alten Kant verweisen. Ich
tue das gerne, eben weil ich ja Leute erreichen will, die nicht schon
so denken, wie wir denken. Sie
sollen mal darüber nachdenken,
warum der alte Kant in seiner
Schrift zum ewigen Frieden einen
richtigen Gedanken geäußert hatte.
Sinngemäß sagte er: »Wenn diejenigen, die zu beschließen haben,
auch die Drangsale des Krieges zu
erleiden hätten, dann würden sie
diese Beschlüsse nicht fassen«. Und
wenn ich zornig bin, dann sage ich:
Wir bräuchten nur ein Bataillon
von Interventionskriege befürwortenden Journalisten und ein Bataillon von kriegsbefürwortenden Politikern, die sofort eingesetzt werden
können, wenn solche Kriege geführt werden, dann wäre der ganze
Spuk zu Ende. Wir hätten das dann
alles nicht.
gung – kann der Frieden auf der
Welt nur dann erreicht werden,
wenn eine Gesellschaftsordnung
aufgebaut wird, die wirklich demokratisch ist. Das heißt eine Gesellschaftsordnung, in der sich die
Interessen der Mehrheit der Bevölkerung durchsetzen, weil wir davon ausgehen können, dass die
Mehrheit der Bevölkerung, das
sehen wir im Afghanistan-Krieg,
das sehen wir überall, keine Kriege
beschließen würde, weil sie ihre
Kinder, weil sie ihre Männer, weil
sie ihre Frauen nicht in Kriege
schicken würde. Und deshalb brauchen wir demokratische Gesellschaften, die wir derzeit nirgendwo
auf der Welt haben.
Und demokratische Gesellschaften
sind nun untrennbar verbunden
mit einer Wirtschaftsordnung, in
der der Mensch eben im Mittelpunkt steht. In der die Ausbeutung
des Menschen beendet wird. In der
das gemeinsam erarbeitete Vermögen auch denen zukommt, die es
erarbeitet haben. Wir leben in einer Gesellschaftsordnung, in der
eine Minderheit reich wird, weil
sie die große Mehrheit für sich
arbeiten lässt. Wir wollen aber eine
Gesellschaftsordnung, in der das
Vermögen denen bleibt, die es erarbeitet haben – und das ist die große Mehrheit der Bevölkerung.
Denn auch das ist ja kein neuer
Gedanke: Immer dann, wenn durch
diese Art von Einkommens- und
Vermögensverteilung sich Vermögen ballt – dann ist keine Demokratie möglich. Großes Vermögen verträgt sich nicht mit Demokratie,
weil es niemals demokratisch zustande gekommen ist.
Wie wenig das gelernt wurde – bis
zum heutigen Tag –, sieht man ja
Kein Vermögen ohne
daran, dass Herr Chodorkowski in
Verbrechen
So, nun will ich zum Thema dieser den westlichen Gesellschaften als
Konferenz kommen – »Frieden statt großer Freiheitskämpfer empfanNATO«. Daraus ergibt sich die Fra- gen wird. Da fasst man sich nur
ge: Wofür stehen wir, welche Über- noch an den Kopf. Man muss kein
zeugung haben wir, wie kann man Marxist sein, man muss nur Balzac
dazu beitragen, dass Frieden über- gelesen haben, um zu wissen, dass
haupt entsteht? Nach meiner tiefen hinter jedem großen Vermögen ein
großes Verbrechen steht. Wir sollÜberzeugung – ich darf wohl sagen: nach unserer tiefen Überzeu- ten endlich aufhören, Verbrecher
Ausgabe 43 Januar 2015
zu bejubeln und sie zu empfangen.
Wenn SPD und Grüne doch nur
begreifen würden, was da in der
Ukraine geschehen ist. Als hätte
das irgend etwas mit Demokratie
zu tun, dass man ein Oligarchensystem durch ein anderes abgelöst
hat – und das noch in Form eines
Putsches. Wenn wirklich um Demokratie gekämpft würde, dann wären wir ja dabei. Aber wir wollen
keine Oligarchenwirtschaft, die
nach wie vor das Volk brutal ausbeutet.
Im Gegensatz zu dem Pfarrer, der
zum Bundespräsidenten gewählt
wurde und zur Pfarrerstochter, die
Kanzlerin ist, hat der Papst in Rom
die Bibel gelesen und weiß daher,
was darin steht. Da steht nicht, »Du
sollst Kriege führen«. Die Kernbotschaft des Bibeltextes lautet vielmehr, »Du sollst den anderen lieben wie dich selbst«. Und das verträgt sich nun mal nicht mit Kriegen und Ausbeutung. Das ist die
Kernbotschaft, und deshalb ist es
gut, dass dieser Papst sagt, »Wir
leben im dritten Weltkrieg, und es
gibt Wirtschaftssysteme, die können ohne Krieg nicht sein. Und
deshalb werden Waffen produziert
und verkauft«. Das ist doch die
Wahrheit, die jemand endlich mal
ausspricht. Ich begrüße das sehr,
dass der Papst diese Botschaft mittlerweile in aller Welt verbreitet.
Wir, die Linke, können aber nicht
sagen: »Warten wir, bis eine bessere, eine andere Wirtschaftsordnung
da ist.« Damit würden wir uns für
den Rest der Zeit aus der Politik
verabschieden. Wir müssen schon
versuchen, die minimalen Spielräume, die wir haben, zu nutzen. Und
ich scheue mich dann auch nicht
zu sagen: »Ja, man kann darüber
nachdenken, ob eventuell eine
Regierungsbeteiligung möglich ist.
Aber dann muss man wirklich wissen, was man will. Dann darf man
nicht einknicken, und ich habe ja
eine Grundbedingung vorhin genannt. Diese Grundbedingung ist
aber noch viel umfassender. Eine
solche Regierungsbeteiligung ist
überhaupt nur vorstellbar, wenn
9
die Außenpolitik eine grundsätzliche Neuorientierung erfährt. Und
das heißt: Wir brauchen die Auflösung der NATO, und wir brauchen
den Aufbau einer neuen Sicherheitsarchitektur in Europa unter
Einschluss Russlands. Etwas anderes ist überhaupt nicht möglich.
Und das heißt auch gute Nachbarschaft. Das heißt Entspannung. Das
heißt, auf den anderen eingehen.
Das heißt, dessen Ängste und Sorgen ernst zu nehmen. Wie verkommen die Diskussion ist, zeigt sich ja
schon an dem Wort »Putinversteher«. Man muss im Grunde, wenn
man Außenpolitik machen will,
versuchen, den anderen zu verstehen. Man muss auch versuchen,
Putin zu verstehen, sonst kann
man mit ihm keinen Frieden erreichen. Wir müssen zu »Russlandverstehern« werden, wir müssen einander verstehen, sonst schaffen
wir keinen Frieden, liebe Freundinnen und Freunde.
NATO
auflösen
Der erste Generalsekretär der
NATO, Lord Ismay, sagte kurz nach
Kriegsende: »Die NATO ist geschaffen worden, um die Russen
draußen, die Amerikaner drinnen
und die Deutschen unten zu halten.« Und deswegen fragt euch mal,
was sich eigentlich heute geändert
hat. Es ist wirklich nicht mehr
nachvollziehbar, dass all das, was
in den Jahren der Brandtschen
Ostpolitik an Entspannung und
Verständigung erreicht werden
konnte, dass all das verspielt worden ist. Ich sage, wir können aus
unserer Geschichte lernen:
Deutschland braucht gute nachbarschaftliche Beziehungen zu Russland. Das ist in unserem ureigensten Interesse. Damals hieß es, wir
können den Frieden nur miteinander erreichen, nicht gegeneinander. Und das gilt heute nach wie
vor. Dieses ganze Kriegsgerede,
diese ganzen Sanktionen – das ist
alles spannungsverschärfend. Wir
brauchen eine Politik der Entspan10
nung und der guten Nachbarschaft
anstelle der Merkelschen Russlandpolitik.
Und das heißt, eine Regierung, an
der wir mitwirken können, müsste
in jedem Fall nein sagen zu jeder
weiteren NATO-Osterweiterung.
Der ständige Versuch, Russland
einzukreisen, ist doch eine Ursache
der Spannungen. Es war ein Versprechen, dass man die NATO
nicht ausdehnen und an die Grenzen Russlands heranschieben würde. Dieses Versprechen ist gebrochen worden. Jeder Konflikt hat
eine Vorgeschichte, und mit dem
Bruch dieses Versprechens beginnt
der Ukrainekonflikt. Man schob die
NATO immer weiter nach vorn und
sagte schließlich, auch die Ukraine
brauchen wir. Die Ukraine müsse
in die EU, sie müsse in die NATO.
Das ist gegen Russland gerichtet.
Das war eine völlig falsche Politik,
die abgelöst werden muss durch
eine Politik der Verständigung mit
Russland, sonst werden wir den
Frieden niemals erreichen.
Es geht also nicht nur darum, dass
wir keine Osterweiterung in irgendeiner Form mittragen können,
es geht auch aktuell darum, dass
keine Truppen an der Grenze zu
Russland stationiert werden dürfen. Die spinnen doch langsam.
Welche Gründe haben wir, Truppen an der Grenze zu Russland zu
stationieren? Es werden die alten
Märchen des Kalten Krieges erneut
aufgetischt, indem man sagt, Russland bedrohe uns.
Man muss sich das mal vorstellen.
Die NATO gibt tausend Milliarden
für die Rüstung aus. Russland gibt
– das sind die Zahlen von 2013 –
88 Milliarden aus. Die sind doch
nicht mehr ganz richtig im Kopf,
dass sie sagen, »von einem Land,
das 88 Milliarden ausgibt, fühlen
wir uns, die wir tausend Milliarden
ausgeben, bedroht. Wir müssen
weiter aufrüsten«. Wie lange glaubt
man eigentlich, der Bevölkerung
einen solchen Schwachsinn noch
auftischen zu können?!
Und deshalb ist in diesem Kontext
ein weiterer Punkt anzusprechen:
marxistische Theorie und sozialistische Politik
Die Sanktionen müssen sofort gestoppt werden! Es ist doch wirklich
nicht allzu schwer zu begreifen,
dass dann, wenn ein Land destabilisiert wird, wenn die Wirtschaft
eines Landes in immer größere
Turbulenzen gerät, wenn dieses
Land immer stärker gefährdet
wird, dass dann kein Mehr an Sicherheit gewonnen wird, sondern
dass dann die Situation immer weiter eskaliert. Und wir müssen wissen, dass heute zur Kriegsführung
nicht nur Truppen und technisches
Gerät gehören, sondern auch ökonomische Mittel. Man muss wissen,
dass der IWF nichts anderes ist als
ein verlängerter Arm der USPolitik. Genauso wie die NATO.
Und deshalb müssen beide völlig
reformiert und völlig anders gestaltet werden. Und das heißt, der IWF
muss zu einer demokratischen
Organisation umgewandelt werden. Und seine ganze Politik muss
sich ändern. Es darf doch nicht
sein, dass der IWF eingesetzt wird,
um ökonomische Interessen Amerikas durchzusetzen bei gleichzeitiger Destabilisierung der betroffenen Länder. Aber das ist doch das,
was vorgeht, liebe Freundinnen
und Freunde.
BRD
kein souveränes Land
Es geht heute nicht mehr nur um
die Eroberung von Territorien, sondern es geht vielmehr um die Eroberung von Märkten. Man muss
sich nur anschauen, welche Konzerne in der Ukraine mittlerweile
Verträge abgeschlossen haben.
Noch immer gilt das alte Verdikt:
Außenpolitik ist nichts anderes als
der ständige Kampf um Rohstoffe
und Absatzmärkte. Das brauchen
wir nicht – weder mit kriegerischen Mitteln noch durch sogenannte internationale Finanzinvestitionen. Man kann auch fairen
freien Handel treiben, ohne den
anderen in die Knie zwingen zu
wollen.
Eine große Rolle hat über viele
Jahre hinweg die NATOBulletin ● Geraer Sozialistischer Dialog
Infrastruktur gespielt. Die Forderung: »Ausscheiden aus der NATOInfrastruktur« ist ein Synonym für
all das, was ich bisher gesagt habe.
Denn sie war bisher das Instrument, um die von mir genannte
Politik – die Amerikaner drinnen,
die Russen draußen und die Deutschen unten zu halten – zu verwirklichen. Mit Brzeziński, dem
ehemaligen Sicherheitsberater der
US-Regierung, gesprochen: Durch
dieses Instrument sind die Staaten
Westeuropas und Mitteleuropas
mehr und mehr Vasallen oder Tributpflichtige.
Und natürlich muss man wissen,
was Ziel der US-Außenpolitik bis
zum heutigen Tag ist – man kann
es bei Leuten wie Brzezeński nachlesen. Ihr Ziel ist die Aufrechterhaltung ihrer Weltmachtstellung. Niemand soll diese gefährden. Von
wegen demokratische Weltordnung, an der im Sinne des Westfälischen Friedens alle Staaten gleichberechtigt mitwirken! Nein, sie
schreiben wörtlich »Wir wollen die
Vormachtstellung Amerikas in
aller Welt mit allen Mitteln verteidigen«. Aber natürlich wird da immer wieder auch in der öffentlichen Diskussion hierzulande mit
der Erzählung gearbeitet, die nichts
mit der Wirklichkeit zu tun hat, es
gehe um den Ausbau der Demokratie, es gehe um Frauenrechte, es
gehe um Menschenrechte. Nein, es
geht um die erwähnte Machtpolitik. Wirkliche Demokratien dage-
Ausgabe 43 Januar 2015
gen würden die damit verbundenen Opfer, die man der eigenen
Bevölkerung zumutet, aber auch
den anderen zumuten will, gar
nicht mittragen. Und das ist richtig.
Hier hat man wiederum Anlass zu
sagen, man braucht, um eine friedliche Welt einmal erreichen zu
können, den systematischen Aufbau demokratischer Gesellschaften.
Die NATO-Infrastruktur ist eben,
wenn man so will, der Stein des
Anstoßes, wenn darüber diskutiert
wird, was sich hier verändern soll,
damit dieses Vasallentum und diese Tributpflicht abgeschafft werden. Bei allen Kriegen wurde diskutiert, ob wir uns beteiligen. Die
Bundesrepublik Deutschland war
praktisch an jedem Krieg beteiligt,
den die Vereinigten Staaten von
Amerika geführt haben, weil alle
Kriege, die sie geführt haben, auf
US-Einrichtungen in Mitteleuropa
zurückgegriffen haben. Wir waren
niemals unbeteiligt. Und solange
das so ist, sind wir kein souveränes
Land.
Ich hatte vor kurzen die Ehre, mit
einer Politikerin der Grünen, mit
Frau Göring-Eckardt, im Fernsehen
zu diskutieren. Ich habe ihr die
Frage gestellt, wie sie denn zu den
Drohnenkriegen stehe, die auch
vom Boden der Bundesrepublik
Deutschland aus geführt werden.
Dieser Frage wich sie permanent
aus. Wie wollen wir denn über
deutsche Außenpolitik diskutieren,
wenn wir diese Frage ausklammern? Wie wollen wir uns denn
über Terrorismus empören, wenn
wir einfach ausklammern, dass
ohne Rechtsgrundlage Tausende
Menschen mit Drohnen ermordet
werden, auch von deutschem Boden aus? Wie wollen wir das überhaupt moralisch rechtfertigen? Ehe
wir mit dem Finger auf andere
zeigen, müssen wir bei uns anfangen und müssen aufhören, unser
Terrain zur Verfügung zu stellen,
damit Drohnenmorde in aller Welt
durchgeführt werden.
Wer dazu schweigt, der soll sich in
die jetzige Diskussion am besten
überhaupt nicht einmischen, weil
er erkennbar mit zweierlei Maß
misst. Deswegen war ich so dankbar, dass Willy Wimmer kürzlich in
der jungen Welt dazu eine Bemerkung gemacht hat. Man müsse sich
vorstellen, führte er aus, wie es
denen geht, die durch diese Drohnenmorde ihre ganze Familie verlieren, ihre ganze Verwandtschaft.
Das ist nichts als blanker Terrorismus. Wir können ihn weltweit nur
dann bekämpfen, wenn wir damit
beginnen, unseren eigenen Terrorismus zu bekämpfen.
Ein Hinweis zur Abhörtechnik.
Dass eine Regierung, die vom
Grundgesetz her verpflichtet ist,
die Freiheit ihrer Bürgerinnen und
Bürger zu schützen, dass eine solche Regierung noch nicht mal
mehr in der Lage ist, einem Verbündeten zu sagen, »es geht nicht,
11
dass unsere ganze Bevölkerung
abgehört und ausspioniert wird« –
das ist doch wirklich ein Zeichen
dafür, dass Vasallentum und Tributpflicht womöglich noch zu
harmlose Vokabeln sind. Wo bleibt
denn überhaupt ein Begriff von
Freiheit, wenn man den totalen
Verlust der Privatheit durch eine
verbündete Macht akzeptiert und
praktisch nichts dagegen unternimmt?
Die Waffenexportpolitik müssen
wir sofort ändern. Ein erster Schritt
müsste sein, dass unverzüglich
Waffenlieferungen in Spannungsgebiete sofort und unwiderruflich
eingestellt werden. Unsere Bundeskanzlerin hat im vergangenen Jahr
wörtlich gesagt, ich habe das zweimal gelesen, Saudi-Arabien sei ein
wichtiger Partner im Kampf gegen
den Terrorismus. Dann aber regen
sie sich über die Verbrechen des IS
auf! Es ist richtig, dass man sich
darüber aufregt, aber Enthauptungen, Steinigungen usw. werden
doch in Saudi-Arabien ebenfalls
durchgeführt, das ist eine reaktionäre autoritäre Diktatur, die auch
die eigene Bevölkerung mit Terror
überzieht. Und deshalb kann man
doch diesen Staat nicht zum wichtigen Verbündeten im Kampf gegen
den Terrorismus erklären. Das ist
die Doppelmoral, die dazu führt,
dass die Welt immer unfriedlicher
wird.
Pervertiertes Gebot
Und bei allem Bemühen, die Bundesrepublik Deutschland immer
stärker in diese Politik zu integrieren, wird immer versucht, mit vorgeschobenen humanen Argumenten eine Notwendigkeit dieser Politik zu begründen. Immer wenn
irgendwo, das bisher letzte Mal
war es beim Konflikt zwischen
dem IS und den Kurden, immer
wenn irgendwo Verbrechen begangen werden, dann wird irgendwann ein Konflikt herausgegriffen,
dann wird gesagt, hier müssen wir
uns jetzt militärisch engagieren,
das gebietet die Menschlichkeit. Es
12
gibt immer wieder Leute, auch bei
den Linken, auch bei den Gewerkschaften, bei den Kirchen usw., die
auf dieses Argument hereinfallen.
Der evangelische Bischof Wolfgang
Huber hat in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einen Beitrag verfasst, in dem er schreibt, dass das
christliche Gebot »Du sollst nicht
töten« auch heiße, »Du sollst nicht
töten lassen«. Mit anderen Worten:
»Du musst militärisch intervenieren, wenn irgendwo Konflikte bestehen.« Diese Argumentationslogik findet sich immer wieder, und
viele fallen darauf hinein. Es gibt
ein simples Gegenargument. Wenn
ich auf der einen Seite die Wahl
habe, bei den ungezählten Konflikten dieser Welt tausend Menschenleben zu retten, ohne jemanden
töten zu müssen und auf der ande-
Begriffen. Die werden, mit Ausnahme der jungen Welt, nirgendwo
hinterfragt. Da wird beispielsweise
vom US-amerikanischen Verteidigungsminister, vom US-amerikanischen Verteidigungsetat und so
weiter gesprochen. Als würden
sich die Vereinigten Staaten gegen
irgend jemand verteidigen, das ist
doch eine einzige Lüge! Die ganze
Außenpolitik ist ein Lügengebäude,
und wir haben die Aufgabe, diese
Lügen zu durchbrechen, wenn wir
wirklich zu einer friedlichen Außenpolitik kommen wollen, liebe
Freundinnen und Freunde.
Ich kann es in einem Satz zusammenfassen: Auch wir haben unsere
Geschichte und wir müssen aus
dieser Geschichte unsere Lehren
ziehen, aus den Weltkriegen, aus
dem Faschismus. Und aus dieser
Geschichte muss doch ein moralischer Impuls erwachsen, der da
»Von deutschem Boden heißt, wir müssen alle Anstrengungen unternehmen, um die Welt
darf niemals wieder
friedlicher zu machen, nach allem,
Krieg ausgehen!«
was war. Es gab einen Satz nach
dem Krieg, und an dem sollten wir
ren Seite die Wahl, in einem Krieg uns immer orientieren – ich sage
tausend Menschenleben zu retten, das gegen alle Zweifler, ich werde
aber dabei leider eben auch Hunkeine andere Politik mittragen
derte töten muss, dann dürfte doch können –, dieser Satz lautet: »Von
die Entscheidung nicht allzu
deutschem Boden darf niemals
schwer fallen, wo ich in erster Liwieder Krieg ausgehen!«
nie versuche werde, meine Hilfe zu
leisten. Das Schlimme ist jedoch,
Eine Beilage mit den Hauptreferadass die Humanität dieser Menten der Rosa-Luxemburg-Konferenz
schen immer nur erwacht, wenn
2015 erscheint am 28. Januar, Mitsie zu den Waffen rufen können,
te März eine Broschüre, die die
aber niemals, wenn sie helfen kön- Beiträge der gesamten Konferenz
nen, ohne töten zu können. Das
sowie vorbereitende Artikel entmacht die Brutalität dieser Diskus- hält. Link zur Videoaufzeichnung
sion aus. Woran unsere Gesellder Lafontaine-Rede: kurzlink.de/
schaft krankt, lässt sich daran zei- lafontaine
gen, dass eine geringere Summe
dafür zur Verfügung gestellt wird,
Flüchtlinge zu ernähren als für
Waffenlieferungen.
Oskar Lafontaine
Ich fasse zusammen: Winston
Churchill, der ein Zyniker war, hat Erstveröffentlichung in der Ausgaeinmal gesagt, im Krieg ist die
be der Tageszeitung „junge Welt“
Wahrheit so kostbar, dass sie stets vom 14. Januar 2015
von einer Leibgarde von Lügen
Die Veröffentlichung erscheint mit
umstellt sein muss. Dieser Zynisfreundlicher Genehmigung der
mus charakterisiert die gesamte
Redaktion „junge Welt“
Außenpolitik. Es beginnt ja mit den
marxistische Theorie und sozialistische Politik
Bulletin ● Geraer Sozialistischer Dialog
70 Jahre Ende des Zweiten Weltkriegs,
Befreiung und Potsdamer Konferenz
Referat im Plenum und Einführung
in Workshop „Deutsche Erinnerungskultur“ auf dem 21. Friedenspolitischen Ratschlag, Kassel, 6./7.
Dezember 2014:
Politik für den Frieden –
statt permanenten Krieg.
Die Folgen von Militärinterventionen: Chaos und
Gewalt - Deutscher Imperialismus reloaded? Kriege
um Ressourcen1
Hundert Jahre nach 1914: Die europäische Krise und der Ausbruch des Ersten Weltkrieges im Sommer 1914 beherrschten die Geschichtsdebatten des
zu Ende gehenden Jahres; fortgesetzt
anlässlich des 75. Jahrestages des Beginns des Zweiten Weltkriegs sowie
schließlich nach 25 Jahren erinnernd
an den Mauerfall und die 1989/90 in
Europa und darüber hinaus vollzogenen oder eingeleiteten Umbrüche.
Jahrestage und Jubiläen sind Anlässe
für Forschungen, Debatten, Feiern und
Erinnern; verstärkt im diesjährigem
Fall durch den inneren historischpolitischen Zusammenhang der Entwicklungen und Ereignisse, der Wege
der Akteure und aller Beteiligten von
1914 über 1918/19, 1933, 1938/39,
1945 bis 1989/90 und heute – in
Deutschland, Europa und global.
Nunmehr befinden wir uns vor dem 70.
Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges und der Befreiung vom Faschismus. Es stellen sich Fragen: Wie einordnen und wie bewerten? Welche Ergebnisse und Impulse wirken bis in unsere
Zeit? Gibt es Erfahrungen und Lehren,
die hilfreich sind, heutige und absehbare Probleme zu bewältigen? Welcher
Rang kommt der Zäsur von 1945 im
letzten Jahrhundert zu? Wie gehen die
herrschende Geschichtsschreibung,
Politik und Medien damit um? Gibt es
wesentliche Streitfragen? Nicht zufällig
kommt es immer wieder zu intensivem
Streit um Kriege von gestern und heute, über die Anlässe, Ursachen und
Triebkräfte, Verantwortung und
Schuld, Zwangsläufiges und VermeidAusgabe 43 Januar 2015
rungen in der Erinnerungs- und Gedenkkultur zu. Das Europäische Parlament erklärte am 23. September 2008
den 23. August zum „Europäischen
Gedenktag an die Opfer von Stalinismus und Nazismus“. Es nahm am 2.
April 2009 die Entschließung „Europas
Gewissen und der Totalitarismus“ an
und bestätigte darin den 23. August als
2014 kam es wiederum zu Debatten
„europaweiten Gedenktag an die Opfer
um den deutschen Schuldanteil 1914
aller totalitären und autoritären Reund den anderer Mächte. Dabei trat
gime“. Die Stiftung SED-Diktatur präerneut – geradezu als unvermeidlich
sentiert seit Herbst 2013 im In- und
erscheinend – das Bemühen auf, das
Ausland ihre Ausstellung „Diktatur
deutsche Kaiserreich, lies: die herrund Demokratie im Zeitalter der Extreschenden Oberschichten sowie die
politische und militärische Führung, zu me. Streiflichter auf die Geschichte
Europas im 20. Jahrhundert“. Darin
entlasten. Wie steht es jedoch um die
Ursachen, den Ausbruch und die Ver- heißt es zu jenem Pakt: „Die Annäheantwortung 1939? Also damit des Zwei- rung der Diktatoren ebnete den Weg in
den Krieg.“
ten Weltkrieges, dessen Beginns
soeben gedacht wurde und an dessen
Verlauf, Ergebnisse und Auswirkungen Der Bundestag führte am 10. Septemin den nächsten Monaten nachdrückber 2014 eine Gedenkstunde aus Anlich erinnert werden sollte. 1939 erlass des 75. Jahrestages des Beginns
scheint die Alleinschuld Nazideutschdes Zweiten Weltkriegs durch, in der
lands eindeutig. Sie ist kaum zu beBundestagspräsident N. Lammert äustreiten; trotzdem gibt es längst Bemü- ßerte: „Dem deutschen Überfall war
hen, sie vor allem indirekt zu relativie- ein diplomatisches Schurkenstück
ren – innerhalb eines insgesamt antivorausgegangen: Der deutsch-sowjetkommunistischen Geschichtskonzepts. ische Nichtangriffspakt“, ein „AngriffsNunmehr verbindet sich dies mit der
pakt zweier ideologischer Antipoden“,
Europäisierung des Geschichtsdiskurdie sich „darauf verständigt hatten,
ses. Das ist besonders auffällig bei der Mittelosteuropa mit imperialistischer
Mobilisierung der antisowjetischen
Brutalität in Einflusssphären untereiTraditionen und Potentiale in baltinander aufzuteilen“. 2 Übrigens illustschen Ländern sowie Ost- und Südost- rieren auch seine Bemerkungen zum
Widerstand die unverändert ideoloeuropas, die nicht zu trennen ist von
gisch verengte Perspektive der deutder Rehabilitierung der jeweiligen
nationalkonservativen, antisemitischen schen Konservativen: Nach dem Warschauer Ghetto-Aufstand 1943 und
und faschistischen Erbschaften, wie
dem umstrittenen Warschauer Aufjüngere Erfahrungen in der Ukraine,
baltischen Ländern, Polen und anders- stand der polnischen Heimatarmee
1944 folgen nur „die Frauen und Mänwo zeigen.
ner der Weißen Rose und des 20. Juli“.
Ohne die Leistungen und Opfer der
Roten Armee bei der Befreiung Polens
Gedenktag „23. August“
in seiner Rede auch nur mit einem
Der Abschluss des deutschWort zu erwähnen, resümierte Lamsowjetischen Nichtangriffspaktes mert, dass die deutsche Kapitulation
„Hitler-Stalin-Pakt“ - am 23. August
1945 „für die Polen zunächst keine
1939 ist ein bevorzugter Einstieg für
Freiheit“ brachte. Aus Letzterem
Geschichtsrevisionismus. Er sei hier
exemplarisch als ein aktuelles Muster spricht eine unsägliche deutsche Arroganz gegenüber jenen, die nach eigener
für den Umgang mit Schuldfragen
beim Kriegsausbruch am 1. September Verfolgung, Leid und Demütigung un1939 erörtert. Längst kommt ihm eine ter der deutschen Okkupation nach
Schlüsselrolle unter den Stereotypen in 1945 das verwüstete Land wieder aufbauten sowie beiden deutschen StaaGeschichtsbildern sowie Desorientiebares, um Opfer, Sühne und Lehren.
Das sind Kontroversen, die die Friedenskräfte unmittelbar und intensiv
angehen, da Geschichtsdeutungen
jeweils auch wieder für Feindbilder
und aggressive Strategien aktualisiert
werden können.
13
absichtlich und prinzipiell verfälscht
wird sowie mit der des deutschen Verbrecherstaates und Aggressors mehr
oder weniger gleichgesetzt werden soll.
Die Rede des Bundespräsidenten bei
der Gedenkfeier am 1. September 2014 Letzterer wird damit entlastet und
auf der Westerplatte wies die gleichen schließlich auch der entscheidende
Beitrag der UdSSR zur Befreiung EuroDefizite und Fehlurteile auf. Der jahrpas ins Zwielicht gerückt.
zehntelangen, tendenziell pronazistischen Version vom „Zusammenbruch
1945“ folgt inzwischen die antikommu- 2013 erschien in Prag – laut Untertitel
nistische Version vom Ausbleiben der - „Ein Lesebuch für Schüler höherer
Klassen überall in Europa“ unter dem
Freiheit in SBZ/DDR, Polen u. a. LänHaupttitel „Damit wir nicht vergessen.
dern – bis 1989/90. Die Beendigung
eines europaweiten Okkupationsnetzes Erinnerung an den Totalitarismus in
und massenmörderischen Herrschafts- Europa“. Es wurde finanziell vom „Prosystems im Mai 1945 wird zum neben- gramm für Bürgerinnen und Bürger“
der Europäischen Union unterstützt.
sächlichen Geschehen, das für das
Die Einführung schrieb der französiGesamturteil ziemlich belanglos ersche Historiker Stéphane Courtois, der
scheint.
Ende der neunziger Jahre als maßgebliDer Gastredner Präsident Komorowski cher, militanter Autor des „Schwarzbuch des Kommunismus“ international
wurde am 10. September den Erwartungen der Mehrheit des Bundestages bekannt wurde. In der Einführung
gerecht, als er in einem Atemzug sagte: schrieb er damals: „Der Vertrag vom
23. August, der Deutschland der Ge„Wir gedenken des 1. September und
vergessen dabei nie den 17. September, fahr eines Zweifrontenkrieges enthob,
löste den Zweiten Weltkrieg aus.“4 Der
als sowjetische Streitkräfte, die VerSammelband von 2013 enthält Beiträge
bündete Hilerdeutschlands waren,
nach Polen einmarschierten.“3 Tatsäch- aus 16 europäischen Ländern, in denen
lich waren jedoch der Überfall auf
individuelle Schicksale der Verfolgung
Polen und seine Unterwerfung in der
und des Widerstandes sowohl unter NS
faschistischen Führung längst entschie- -Besatzung als auch im Staatssozialisden und ohne sie hätte es keinen sow- mus geschildert werden. Das Leitmotiv
jetischen Einmarsch in die ostpolniist wiederum, beide politische Systeme
zu parallelisieren und in den Bewerschen, ehemals zu Russland gehörenden, weißrussischen und ukrainischen, tungen zu nivellieren, um insgesamt
Gebiete gegeben. Die Rote Armee war das antikommunistische geschichtsideologische Hauptanliegen umzusetzen.
kein „Verbündeter Hitlerdeutschlands“, so wenig die polnischen Streitkräfte Verbündete der Wehrmacht
Zur objektiveren Charakteristik des
waren, als sich Polen bei der Zerschla- „Hitler-Stalin-Paktes“ sei in unserem
gung der CSR das Gebiet Teschen
Rahmen auf einen Unverdächtigen
nahm. Komorowski erwähnte weder
verwiesen, der sowohl prominenter
den polnisch-deutschen Nichtangriffs- Zeitzeuge als auch Autor war: Der Antipakt von 1934 noch die destruktive
kommunist Winston S. Churchill, neRolle Polens gegenüber einem rechtzei- ben Roosevelt und Stalin einer der
tig und ausreichend gegen die deutGroßen Drei der Antihitler-Koalition,
sche Bedrohung gerichteten Pakt mit
britischer Premierminister von Mai
Frankreich und England unter Ein1940 bis Juli 1945 (und nochmals 1951schluss der UdSSR. Neben seinem eige- 1955). Er kommt hier mit seinem Werk
nen Geschichtsbild war es wohl auch
„Der Zweite Weltkrieg“ zu Wort, für das
ein - moralisch fragwürdiges - Zeichen er den Nobelpreis für Literatur 1953
gegenüber den Berliner Gastgebern,
erhielt. Das Kapitel zum September
dass er ebenfalls den späteren kriegs1938 lautet: „Die Tragödie von Münentscheidenden Beitrag der UdSSR
chen“. Churchill leitet es mit einem
überging.
langen Zitat aus der „warnenden Erklärung“ des sowjetischen AußenminisUm Missverständnisse auszuschließen: ters Litwinow vor dem Völkerbund am
Es gibt genügend Aspekte, Stalin, Stali- 21. September 1938 ein, in der die
nismus und sowjetische Politik zwiBereitschaft der UdSSR zum Beistand
schen August 1939 und Juni 1941 zu
für die bedrohte Tschechoslowakei
kritisieren. Hier geht es jedoch gegen
bekräftigt wurde. Mit Blick auf das
die Gleichsetzungen, mit denen die
wenige Tage später geschlossene
Rolle der Sowjetunion in jenen Jahren „Münchner Abkommen“ fügt er an:
ten trotz allem versöhnungsbereit gegenübertraten.
14
marxistische Theorie und sozialistische Politik
„Diese öffentliche und unbedingte
Erklärung einer der größten an der
Frage beteiligten Mächte spielte keine
Rolle in Chamberlains Verhandlungen
oder in Frankreichs Verhalten. Das
Angebot Russlands wurde einfach
übergangen. Man warf die Macht der
Sowjets nicht in die Waagschale gegen
Hitler und behandelte die Russen mit
einer Gleichgültigkeit – um nicht zu
sagen Verachtung - , die in Stalins Einstellung ihre Spuren zurückließ. Die
Ereignisse nahmen ihren Lauf, als ob
Russland nicht existierte. Dafür mussten wir später teuer bezahlen.“5
Nach dem offenen Bruch des Münchner Abkommens durch Nazideutschland im März 1939 zeichnete sich nach
Österreich und der CSR die akute Bedrohung Polens ab. „Wenn man bedenkt,“ schrieb Churchill im Kapitel
„Am Rande des Abgrunds“, „wie die
Sowjetregierung bisher behandelt worden war, konnte jetzt nicht viel von ihr
erwartet werden. Am 16. April machte
sie dennoch ein formelles Angebot,
dessen Text nicht veröffentlicht wurde,
für die Schaffung einer gemeinsamen
Front zu gegenseitiger Hilfeleistung
zwischen Großbritannien, Frankreich
und der UdSSR. Die drei Mächte, wenn
möglich mit Teilnahme Polens, sollten
außerdem die Grenzen derjenigen Staaten in Mittel- und Osteuropa garantieren, die von der deutschen Aggression
bedroht waren.“6 Churchill äußerte,
dass dass das Bündnis von England,
Frankreich und Russland im Jahre
1939 Deutschland beunruhigt hätte
und niemand könne beweisen, dass
der Krieg sich nicht noch hätte verhüten lassen. Mit überlegener Macht
hätten die Alliierten den nächsten
Schritt unternehmen können. Statt
britischer (und französischer) Zustimmung seien jedoch langes Schweigen
und Halbheiten gefolgt.
„Durch München und vieles andere
war die Sowjetregierung davon überzeugt, dass England und Frankreich
nicht kämpfen wollten, bevor man sie
angriff, und dass sie auch dann nicht
viel taugen würden. Der aufziehende
Sturm war im Begriff loszubrechen.
Russland musste für seine Sicherheit
sorgen.“7 Der Abschluss des deutschsowjetischen Paktes am 23. August
1939 stellte, Churchill zufolge, „den
Höhepunkt der diplomatischen Misserfolge dar, welche die britische und
französische Außenpolitik seit mehreren Jahren verzeichnet hatten.“ Die
Bulletin ● Geraer Sozialistischer Dialog
territorialen Entscheidungen der Sowjetunion nannte er für sie „lebenswichtig“ und „kaltblütig“, „jedenfalls
damals auch im höchsten Maße realistisch.“8 Ergänzend sei auf eine kompetente französische Stimme verwiesen,
die Churchills Analyse und Urteil bestätigt: Robert Coulondre, von 1936 bis
1938 französischer Botschafter in Moskau sowie 1938/39 in Berlin. Er stand
in engster Beziehung zur politischen,
diplomatischen und militärischen Führung Frankreichs und zeichnete in
seinen 1950 erschienenen Erinnerungen kritisch die Fehleinschätzungen
und das Versagen in Paris (und London) in jener schicksalhaften Zeit
nach.9
In diesem Rahmen soll es bei der vorläufigen Feststellung bleiben, dass die
bundesdeutschen und europäischen
geschichtsideologischen Anstrengungen, den Vertrag vom 23. August 1939
vorrangig antisowjetisch auszulegen
sowie ihn in diesem Sinne für eine
rechtsgerichtete, kontinentale Gedenkpolitik zu stilisieren und zu instrumentalisieren, auf groben Entstellungen
der tatsächlichen Vorgänge von
1938/39 in Europa beruhen. Das gilt
vorrangig für die Politik der UdSSR,
aber auch dafür, dass die Rolle Großbritanniens, Frankreichs und Polens
bei der Nichteinmischungspolitik gegenüber dem spanischen Bürgerkrieg,
der Hinnahme der nazistischen Einverleibung Österreichs, der Preisgabe der
Tschechoslowakei und beim Scheitern
eines gegen Hitlerdeutschland gerichteten politisch-militärischen Bündnisses unter Einbeziehung der Sowjetunion äußerst lückenhaft und weithin
wahrheitswidrig dargestellt wird.
2015 an herausragende Ereignisse von 1945 erinnern
ihren friedenspolitischen
und antifaschistischen Gehalt neu erschließen
nichtungslagers Auschwitz durch die
Rote Armee bildet den Beginn der
Befreiung aller KZ, ihrer unzähligen
Außenlager und der nazistischen Sklaverei, die Beendigung der Todesmärsche sowie zahlreicher, schwerster
Endphasenverbrechen in Städten, Dörfern und Lagern.
4. bis 11. Februar 1945 – Nach Teheran (28. November bis 1. Dezember
1943), findet in Jalta der zweite Gipfel
mit Churchill, Roosevelt und Stalin
statt, der als Krim-Konferenz in die
Geschichte einging. Es wurde mitgeteilt, dass die militärischen Pläne für
„die endgültige Niederwerfung des
gemeinsamen Feindes“ festgelegt worden sind und erklärt: „Es ist unser
unbeugsamer Wille, den deutschen
Militarismus und Nationalsozialismus
zu zerstören und dafür Sorge zu tragen,
dass Deutschland nie wieder imstande
ist, den Weltfrieden zu stören.“
8. Mai - Bedingungslose Kapitulation
der Wehrmacht in der Kommandantur
der Sowjetarmee in Berlin-Karlshorst:
Ende des Krieges in Europa und Befreiung vom Faschismus. Am 23. Mai werden in Flensburg der Hitler-Nachfolger
Karl Dönitz und seine „Geschäftsführende Reichsregierung“ verhaftet.
Am 2. September besiegelt die Kapitulation Japans das globale Ende des 2.
Weltkrieges.
Der 8. Mai ist in der DDR für einige
Jahre und später bei runden Jubiläen
Feiertag. In der Bundesrepublik wird
er von weiten Kreisen zunächst als Tag
des „Zusammenbruchs“ beklagt, ignoriert oder als zwiespältig hingenommen. Nach mehr als vierzig Jahren
setzte sich gegen andauernde Vorbehalte und Widerstände die Würdigung
als Befreiungstag durch. Bis heute wird
das Leitmotiv auf Kriegsende reduziert,
um die faschistische Diktatur höchstens beiläufig zu erwähnen. Runde
Jahrestage werden mit Rücksicht auf
ihre internationale Würdigung (UNO,
Westeuropa, USA, Israel u. a.) sowie
der Erwartungen der Opferverbände
öffentlich stärker beachtet und zelebriert.
bruch einer Kontinuität seit 1871, 1914
und 1933. Die anstehenden Verfügungen und Maßnahmen werden konkret
genannt, beispielsweise nach Art. 11
die Festnahme der „hauptsächlichen
Naziführer“ und aller Personen, die im
Verdacht stehen, Kriegs- oder ähnliche
Verbrechen begangen, befohlen oder
ihnen Vorschub geleistet zu haben.
26. Juni 1945 – San Francisco: Verabschiedung der Charta der Vereinten
Nationen mit der Unterzeichnung
durch fünfzig Gründungsmitglieder.
Sie beginnt mit den Worten: „Wir, die
Völker der Vereinten Nationen, entschlossen, die künftigen Generationen
vor der Geißel des Krieges zu bewahren, der zweimal zu unseren Lebzeiten
unsagbares Leid über die Menschheit
gebracht hat“. Weltfrieden, gemeinsame internationale Sicherheit und friedliche Konfliktlösung, Menschenrechte
und Toleranz bildeten Leitmotive der
Gründung der UNO; sie bestimmten
deren Weltoffenheit, Wirkungsfelder
sowie ihre Strukturen und Arbeitsweise.
17. Juli bis 2. August 1945 - Die Potsdamer Konferenz der Großen Drei;
Präsident H. Truman (USA) nimmt als
Nachfolger des im April verstorbenen
Roosevelt teil. Nach einer mit Rücksicht auf die britische Unterhauswahl
erfolgten zweitägigen Unterbrechung
(26./27. Juli) wurde die Konferenz mit
dem Wahlsieger Premierminister Clement R. Attlee (Labour Party) als Vertreter Großbritanniens fortgesetzt und
beendet. Die Bedeutung der Mitteilung
über die Dreimächtekonferenz von
Berlin - bekannt als Potsdamer Abkommen - vom 2. August 1945 besteht
darin, dass es von Teilnehmerkreis,
Zeitpunkt und Ort sowie im Hauptinhalt die grundlegende gemeinsame
Willensbekundung der Alliierten im
Ergebnis des Krieges in ihren historisch-politischen Feststellungen, Einschätzungen und Schlussfolgerungen
ist.
Im Abschnitt III Deutschland, A. PolitiGrundsätze, werden unter den
Dieses Anliegen soll hier knapp an„Zielen der Besetzung“ an erster Stelle
hand einiger hauptsächlicher Daten
skizziert werden, um es zu veranschau- 5. Juni - Erklärung zur Übernahme der genannt: „(I) Völlige Abrüstung und
Entmilitarisierung Deutschlands“, belichen und anzuregen, wertvolle Doku- obersten Regierungsgewalt durch die
mente und Aktivitäten des Umbruchs Regierungen der vier Mächte; der alli- sonders durch Ausschaltung und Überierte Kontrollrat nimmt in Berlin seine wachung der Kriegsproduktion. Weiteund Neubeginns angesichts heutiger
re Maßnahmen wie Verbote, AuflöHerausforderungen zu vergegenwärti- Tätigkeit auf. Damit erfolgt ein entschiedener, aber bloß vorläufiger und sung, Vernichtung aller militärischen
gen.
nicht an die Wurzeln greifender Abund nazistischen Institutionen, Organi27. Januar – Die Befreiung des VerAusgabe 43 Januar 2015
sche
15
sationen etc. erfolgen, „um damit für
immer der Wiedergeburt oder Wiederaufrichtung des deutschen Militarismus und Nazismus“ vorzubeugen.
Sämtliche NS-Organisationen sind aufzulösen; „es sind Sicherheiten dafür zu
schaffen, dass sie in keiner Form wieder auferstehen können; jeder nazistischen oder militaristischen Betätigung
und Propaganda ist vorzubeugen.“
Unter den Wirtschaftlichen Grundsätzen wird die Produktion von Kriegsmaterial verboten sowie gefordert: „In
praktisch kürzester Frist ist das deutsche Wirtschaftsleben zu dezentralisieren mit dem Ziel der Vernichtung der
bestehenden übermäßigen Konzentration der Wirtschaftskraft, dargestellt
insbesondere durch Kartelle, Syndikate, Trusts und andere Monopolvereinigungen.“
Durchgängig und ausdrücklich werden
in den Verlautbarungen der Alliierten
Militarismus und Nazismus zusammenhängend benannt und bewertet. Das
entspricht der historisch-politischen
Genesis der deutschen Rechten, insbesondere hinsichtlich ihres inneren
wechselseitigen sozioökonomischen,
machtpolitisch-funktionalen und ideologischen Zusammenhangs in der deutschen Geschichte: Vom feudalaristokratischen Autoritarismus und Antidemokratismus bis zur nazistischen Volksund Menschenverachtung, von preussischem Militarismus, groß- und finanzkapitalistischer Machtkonzentration
und weltweitem Expansionsdrang bis
zu missionarischen Deutschtumsideologien mit mörderischen rassistischen –
insbesondere antisemitischen – Ambitionen; schließlich militanter Antisozialismus. Alles hatte sich seit 1871 zu
einem breiten nationalkonservativvölkischen Strom geformt, der sich ab
August 1914 in mehrjährigem Völkermord entlud, nach 1919 sowie beschleunigt ab 1929 radikalisierte und
1933 in die faschistische Diktatur mündete. Diese Quellen und ihre terroristisch-rassistische Umsetzung im NS
prägten den Verbrecherstaat – im Sinne seiner treffenden Bestimmung
durch Karl Jaspers.
(a) Verbrechen gegen den Frieden; (b)
Kriegsverbrechen; (c) Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
militärischen Blockbildung. Alle einschlägigen Analysen haben die Gründungs- und Frühperiode der Bundesrepublik in den Mittelpunkt zu rücken,
20. November 1945 – Mit dem Proda sie den Schlüssel zum Verständnis
zess gegen die Hauptkriegsverbrecher ihrer Erbschaften, Grundlagen und
beginnt die Folge von Nürnberger Pro- Wesenszüge, damit auch ihrer gesamzessen; das Urteil wird am 1. Oktober
ten folgenden Geschichte bis heute
1946 verkündet. Es kommt anschliebilden. Dieser postfaschistische deutßend zu zwölf Nachfolgeprozessen,
sche Staat konstituierte sich in soziodarunter gegen die IG-Farben-, den
ökonomischen, gesellschaftspolitischen
Flick- und den Krupp-Konzern, OKW,
und weithin ideologischen KontinuitäSS, Diplomaten, Ärzte, Juristen und
ten seit 1871, 1918/19 und 1933. Er
Militärs. Es sollte auch an die umfasformierte sich in offener oder verdecksenden Ermittlungen gegen die Deutter Gegnerschaft nicht nur zum Versche und die Dresdner Bank erinnert
mächtnis des deutschen Widerstandes
werden. Beispielsweise wurden bereits und der Emigration, sondern in hohem
1947 zur Deutschen Bank in eigenen
Maße auch zu den ursprünglichen
Kapiteln Arisierung und Zwangsarbeit alliierten Grundpositionen, darunter zu
thematisiert und und - wie kriminelle
Potsdamer Abkommen und Nürnberger
Aktivitäten in besetzten Ländern – mit Prozessen.
dem damaligen Kenntnisstand dokumentiert. Die Empfehlungen des USFür eine grundsätzliche Einschätzung
Teams lauteten:
ist es notwendig, den Wesenszusam„Es wird empfohlen, dass: 1. die Deutmenhang von Restauration und Versche Bank liquidiert wird, 2. die verant- gangenheitsverdrängung zu benennen.
wortlichen Mitarbeiter der Deutschen Es konnte in Deutschland nach der
Bank angeklagt und als KriegsverbreVorgeschichte seit 1871, 1914 und
cher vor Gericht gestellt werden, 3. die 1933 keine Bewahrung oder Wiederleitenden Mitarbeiter der Deutschen
herstellung kapitalistischer EigentumsBank von der Übernahme wichtiger
verhältnisse, bürgerlich-aristokratischoder verantwortlicher Positionen im
er und klerikaler Hierarchien sowie
wirtschaftlichen Leben Deutschlands
entsprechender Ideenwelten geben
ausgeschlossen bleiben.“ 10
ohne die jüngste Geschichte grob zu
entstellen und zu verdrängen. Nach
Die belastenden Ermittlungsergebnisse Zustand und Entwicklung der bürgerliund die darauf gründenden Empfehlun- chen Gesellschaft bis 1933 und 1945
gen versandeten ab 1947/48 ergebnis- bedingten sich beide Grundprozesse
los und wurden für Jahrzehnte vergegenseitig. Die bürgerlichen Nachfoldrängt, obwohl – oder weil? - sie den
geparteien – CDU, CSU, FDP, DP u. a. Forderungen im Potsdamer Abkommen besaßen keine nennenswert antifaentsprachen. Chefbanker Hermann
schistische und antimilitaristische HerJosef Abs kam nicht in den Knast, son- kunft und Tradition; sie öffneten sich
dern wurde Finanzberater von Bundes- weit und unkritisch den nazistischen
kanzler Adenauer.
Gefolgschaften und Tätern. Sie hatten
nicht zuletzt in Führungsschichten eine
mehrheitlich belastete Mitglied- , WähRestauration bedingte Verdrängung ler- und Anhängerschaft. Die im Sepvon Schuld und Sühne
tember 1949 in Bonn formierte MitteMit der restaurativen Wende ab
Rechts-Koalition unter Kanzler K. Ade1947/48 kommt es in einem komplenauer nahm wesentlich deren Interesxen und widersprüchlich verlaufensen wahr. Folgerichtig erwiesen sich
den, innerlich jedoch zusammenhänerklärter Antifaschismus und Antimiligenden Prozess zu Abbruch und Umtarismus sowie Bestrebungen zur gekehr. Die Gründung der Bundesrepub- sellschaftlichen Grunderneuerung als
8. August 1945 – Abkommen der vier lik erwuchs aus diesem restaurativen
Störfaktoren für die Restauration, die
Mächte „über die Verfolgung und BeWandel, verfestigte ihn mit der SpalWestbindung und die Wiederaufrüsstrafung der Hauptkriegsverbrecher
tung Deutschlands 1948/49 und mach- tung und wurden nicht hingenommen.
der Europäischen Achse“ sowie Verein- te ihn damit unumkehrbar, von außen Bereits ab 1950 werden kommunistibarung über das Statut für den Interna- begünstigt durch die Entfremdung und sche, linkssozialistische und pazifistitionalen Militärgerichtshof.
zunehmende Konfrontation innerhalb sche Strömungen, Organisationen und
Es benennt die Verbrechenskategorien der Antihitler-Koalition sowie den
Gruppen sowie weitere Kritiker der
der Anklage:
Übergang in den Kalten Krieg und zur Politik Adenauers offen verfolgt und
16
marxistische Theorie und sozialistische Politik
Bulletin ● Geraer Sozialistischer Dialog
unterdrückt.
Der restaurative - lies: bürgerliche Führungsanspruch gegenüber den Arbeiterparteien, Gewerkschaften, pazifistischen, linksliberalen und radikaldemokratischen Richtungen und Gruppen war durch die Geschehnisse und
Verläufe spätestens seit Beginn des 20.
Jahrhunderts sowie ihre Resultate
nicht legitimiert. Die ideell-politische
Logik der Restauration eliminierte
weitgehend die frühen, eher zutreffenden Urteile und Folgerungen. Seither
werden diejenigen marginalisiert und
denunziert, die solche damals gültigen
Analysen gegen das erdrückende Übergewicht der herrschenden Ideologie
weiterhin vertreten.
voller Kontinuität und Äußerung des
historisch-politischen Selbstverständnisses von Bundeswehr und Parteien
sowie eines Netzes von Traditionsverbänden, Vereinen, Verlagen, Periodika,
Gedenkorten u. ä. Das erfolgte und
offenbarte sich bis in neunziger Jahre
recht unverhohlen; bis heute wirkt es
in vielen Tendenzen manifest oder
verdeckt fort. Der Wehrmachtskult
reichte von den regierenden Unionsparteien und der FDP und weiteren
rechtskonservativen Gruppierungen
bis ins alt- und neonazistische Lager.
Erst seit den neunziger Jahren erzwangen die Kontroversen um die Rehabilitierung der Deserteure, die Wehrmachts-Ausstellung, die Traditionspflege der Gebirgsjäger in Mittenwald und
weitere Anlässe einen überfälligen
Wandel.
In vier Hauptpunkten sollen Wesenszüge der restaurativen Weichenstellung
umrissen werden:
Die Bundesrepublik ist – im Gegensatz
zur DDR - der UNO-Konvention zur
Erstens erfolgte eine Abkehr von we- Nichtverjährung der NS- und Kriegssentlichen Prinzipien des Potsdamer
verbrechen nie beigetreten. Nach der
Abkommens und der Nürnberger Pro- Verjährung von Totschlag 1960 war
zesse, bei Letzteren besonders hinsicht- die von der Erhard-Regierung (der
lich der Urteile gegen Banken und
mehrere Minister der CDU, CSU und
Konzerne sowie gegen Gruppen der
FDP mit NS-Vergangenheit angehörten)
bürgerlichen Elite in Justiz, Diplomatie, seit Herbst 1964 vorbereitete GeMedizin, Wissenschaft u. a. Nach der
samtverjährung der NS-Verbrechen
Gründung der Bundesrepublik münde- zum 9. Mai 1965 nicht mehr durchsetzte dies in eine offene Frontstellung und bar. Nach einem Aufschub wurde 1969
die Delegitimierung von Potsdam und die Verjährung von Mord generell
Nürnberg. Die extremsten Äußerungen aufgehoben.
waren die Einstellung von Ermittlungen zu NS-Verbrechen und der Verfol- Ein Beispiel für die substantielle Geggung von Tätern sowie ein schonender nerschaft zu erklärten Positionen der
bis schützender Umgang mit Letzteren. Alliierten sei genannt: W. Churchill
Gnadenerlasse der Alliierten, Straffrei- hatte in einer Botschaft an Stalin am
heit und Amnestien, die Gesetzgebung 13. Oktober 1943 auf Art und Ausmaß
zu Artikel 131 GG, Verjährungen und der NS-Verbrechen in den okkupierten
Kalte Amnestie begünstigten auf Dauer Ländern verwiesen und eine Erklärung
unzählige Täter von NSDAP, SS, SD, SA und Warnung der USA, Großbritanniund Gestapo. Selbst Akteuren und
ens und der UdSSR „im Namen der 32
Vordenkern aus der Himmlerschen
vereinigten Nationen“ vorgeschlagen,
Mordzentrale Reichssicherheitshaupt- denen zufolge werden mit Kriegsende
amt (RSHA), Blutrichtern einschließlich „diejenigen deutschen Offiziere und
Militärrichtern, Soldaten, Offizieren
Soldaten sowie Mitglieder der Naziparund Generälen der Wehrmacht, aber
tei, die für die obenerwähnten Grauauch Schreibtischtätern und Mordgesamkeiten, Massaker und Exekutionen
hilfen aus Bildungs-, Sozial- und Geverantwortlich sind oder freiwillig
sundheitswesen sowie Wissenschaft – daran teilgenommen haben, in jene
vor allem Juristen und Mediziner –
Länder zurückgeschickt, in denen sie
blieben weithin Verfolgung und Straihre abscheulichen Verbrechen beganfen, zumindest verhältnismäßige Urtei- gen haben, damit sie nach den Gesetle erspart.
zen dieser befreiten Länder und der in
ihnen eingesetzten freien Regierungen
Die Wehrmachtstradition bildete in der gerichtet und bestraft werden. Listen
Geschichte der Bundesrepublik über
werden mit allen nur möglichen EinzelJahrzehnte ein besonders aufschlussheiten von diesen Ländern aufgestellt,
reiches Feld fortwirkender, verhängnis- insbesondere für die besetzten Teile
Ausgabe 43 Januar 2015
Russlands, für Polen und die Tschechoslowakei, Jugoslawien und Griechenland einschließlich Kretas und anderer
Inseln, Norwegen, Dänemark, die Niederlande, Belgien, Luxemburg, Frankreich und Italien.“11 Alle beteiligten
Deutschen sollen wissen, dass sie „an
den Schauplatz ihrer Verbrechen zurückgebracht und an Ort und Stelle
von den Völkern, denen sie Gewalt
angetan haben, gerichtet werden.“ Die
sowjetische Seite stimmte mit kleinen
Abänderungen zu und diese alliierte
Position wurde als „Moskauer Erklärung“ veröffentlicht. Die alliierten Besatzungsmächte handelten nach 1945
entsprechend dieser Orientierung. Die
Bundesrepublik ging mit ihrer Konstituierung ab Mai 1949 den entgegengesetzten Weg: Die Verfasser des Grundgesetzes nahmen im Mai 1949 auf:
„Kein Deutscher darf an das Ausland
ausgeliefert werden.“ (Art. 16 GG, Abs.
2) Der damit geleistete Beistand auch
für im Ausland verurteilte NS-Täter
kann in der Folgezeit bis heute besichtigt werden.
In den folgenden Jahrzehnten mündete
das in die weitgehende Missachtung
der aus anderen Ländern zugestellten
Ermittlungsergebnisse sowie Anträgen
auf Strafverfolgung von NS-Tätern.
Beispielsweise schrieb die tschechische Historikerin Lenka Sindelárová
über das Wirken der 1965 eingesetzten
Tschechoslowakischen Regierungskommission zur Verfolgung von NSKriegsverbrechern. Ausgelöst wurde
der Schritt durch die westdeutschen
Vorbereitungen für die MordVerjährung ab 9. Mai 1965. Bis 1980
bearbeitete die Kommission 180 Verfahren gegen 662 Personen, die als
verantwortlich für den Tod von 14.056
Menschen angesehen wurden. Bis 1983
gingen 89 Denkschriften an die Bundesrepublik, darunter die Leiter der
Gestapo von Prag und Brünn betreffend. Davon galten 79 als erledigt:
„Sämtliche dieser Verfahren waren
ohne Anklageerhebung und somit
ohne einen ordentlichen Prozess vor
Gericht eingestellt worden.“12 Die Autorin weist exemplarisch nach, mit welch
umfassender Materialbasis die Einzelfälle belegt waren. Es kam jedoch „in
der Bundesrepublik zu keiner einzigen
rechtskräftigen Verurteilung als Folge
der aus der Tschechoslowakei zur Verfügung gestellten Unterlagen“. 13
Zweitens wurden die Bewegungen für
17
radikale Umgestaltung und Sozialisierung, Erneuerung der Gesellschaft wie
Vergesellschaftung wirtschaftlicher
Schlüsselbereiche, Zerschlagung der
Monopole bei Banken und Unternehmen, Bodenreform, weitreichende Mitbestimmung, Brechung des Bildungsprivilegs der Oberschichten u. a. sozialistische und radikaldemokratische
Forderungen und Ziele ausgehöhlt und
marginalisiert, bald auch offen unterdrückt. Das betraf Forderungen aus der
Emigration, von SPD und KPD, das
Ahlener Programm der CDU der britischen Zone von 1947 u. ä., die sich im
weitgehenden Einklang mit dem Potsdamer Abkommen sowie Verlautbarungen des Kontrollrates und der Besatzungsmächte in den Zonen befanden.
Die sozioökonomische, personelle und
weithin ideell-moralische Kontinuität
in den Führungskreisen aller gesellschaftlichen Bereiche wird zum spezifischen und gravierenden Markenzeichen der Bundesrepublik, auch und
vor allem im Vergleich zur DDR
serteure, Emigranten und durch Arisierung Enteignete; darüber hinaus bis
heute bei Opfern der Kriegsgefangenschaft sowie von Massakern und Exzessen in Osteuropa, Griechenland, Italien
u. a. Ländern.
zugehen? Sind nicht unverzüglich alle
erreichbaren Unterlagen darüber zu
ermitteln und zu veröffentlichen? Die
Dringlichkeit dafür wäre allerdings
wesentlich größer und die Argumente
ungleich stärker gewesen als sie es
1990 oder 2014 waren oder sind. Die
Viertens schaffen die schrittweise,
Charakteristik der Mitte-Rechts-Regieraber zielstrebige Spaltung Deutschung, ihrer Programmatik und Tätiglands und die Westbindung die äuße- keit, beantwortet, warum Geschichtsren Bedingungen der Restauration. Die vergessenheit konstitutives Gebot und
BRD beteiligt sich mit der Bereitschaft Erfolgsbedingung war.
zur Wiederaufrüstung an der politischmilitärischen Blockbildung und trägt
Seit 1999 lebt der Primat des Antikommaßgeblich dazu bei, die Elemente des munismus im Bundeskonzept der Eringlobalen Kalten Krieges zu etablieren
nerungs- und Gedenkstättenpolitik
und zu verhärten. Sie findet ihren exparteienübergreifend – außer PDS/DIE
ponierten Platz in den Spannungen,
LINKE – mit der Formel fort, dass im
Krisen und Entscheidungen. Insbeson- Mittelpunkt die Erinnerung an „beide
dere verschärft und vertieft die Bundeutsche Diktaturen und ihre Opfer“
desregierung friedensfeindliche Strate- stehen müsse. Sie signalisiert die gegien u. a. mit ihrer Alleinvertretungsschichtspolitische Strategie und ideoloanmaßung gegenüber der DDR, der
gische Ambition, einerseits die DDR
Ablehnung der Oder-Neiße-Grenze und definitiv zu delegitimieren und ächten,
von Abrüstungsinitiativen. Der Altandererseits die faschistische Barbarei
und Neofaschismus und entspannungs- zu historisieren und zu relativieren.
feindlicher Revanchismus nehmen
Beide Momente dienen dazu, die geDrittens wurden die Hauptkräfte der
einschließlich ihrer nationalistischen
schichtliche Legitimation der bürgerliArbeiterbewegung, des Antifaschismus und rassistisch-antisemitischen Kompo- chen Eigentums- und Herrschaftsverund des Pazifismus fortschreitend
nenten seit der Gründung der Bundes- hältnisse sowie ihrer politischen Akausgegrenzt, herabgesetzt und eines
republik einen legalen und geschützteure und Repräsentanten dauerhaft
nennenswerten Einflusses beraubt,
ten, teils auch protegierten Platz im
aufzuwerten und deren apologetische –
schließlich aus den Schlüsselpositiopolitischen System ein.
auch historische - Selbstdarstellung zu
nen der Macht verdrängt sowie von
befördern. Der Primat des Antikommuentscheidenden Weichenstellungen
Eine Anmerkung aus aktuellem Anlass nismus wurde gewahrt sowie damit die
ausgeschlossen; die Rückkehr der
im Herbst 2014: Es wäre ein wirklichChance, ihn ab 1990 in Gestalt eines
Emigranten unterblieb weitgehend, da keits- und geschichtsfremdes Hirngerechtsgerichteten Totalitarismuskonnicht gewollt; sie wird hintertrieben
spinst, sich vorzustellen, es hätte im
zepts für die dauerhafte und fortschreioder ihnen werden Chancen und die
Spätsommer 1949 als Voraussetzung
tende Relativierung des VerbrecherErfüllung begründeter Erwartungen – einer Koalitionsbildung eine Verständi- staates, die Ächtung der DDR und die
mit Ausnahmen - verweigert. Es
gung über den Charakter des vorange- geschichtsfälschende Legitimation der
kommt zu jahrzehntelangen Defiziten
gangenen Staatswesens geben können. großbürgerlich-aristokratischen Oberder Rehabilitierung und Wiedergutma- Beispielsweise zu Fragen wie: Was war schichten, ihres Anhangs sowie ihrer
chung gegenüber NS-Opfern und Verdas Dritte Reich und wie sieht seine
wohldotierten Parteien und Politiker
folgten, darunter Sinti und Roma, Euvollständige Verbrechensbilanz aus,
zu mobilisieren.
thanasie-Opfer und Homosexuelle,
wer waren seine Träger und VerantLudwig Elm
Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene, Dewortlichen und wie ist mit Schuld um1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
18
Für die Veröffentlichung redigierte, vollständige Fassung des auf der Tagung gekürzt vorgetragenen Beitrags
Zit. nach: Das Parlament, Nr. 38-39, 15. September 2014. Dokumentation, S. 1
Ebenda, S. 2
Stéphane Courtois, Nicolas Werth u. a. : Das Schwarzbuch des Kommunismus. Unterddrückung, Verbrechen und Terror, München – Zürich 1998,
S. 17
Winston S. Churchill: Der Zweite Weltkrieg. Mit einem Epilog über die Nachkriegsjahre, Bern – München – Wien (1948), Sonderausgabe 1995, S.
156f.
Ebenda, S. 176f.
Ebenda, S. 178
Ebenda, S. 187
Robert Coulondre: Von Moskau nach Berlin 1936 – 1939. Erinnerungen des französischen Botschafters, Bonn 1950
O. M. G. U. S. Office of Military Government for Germany, United States. Finance Division – Financial Investigation Section: Ermittlungen gegen
die Deutsche Bank -1946/1947 - , Nördlingen 1985, S. 11
Briefwechsel Stalins mit Churchill, Attlee, Roosevelt und Truman 1941-1945, Berlin 1961, S. 219 (Kommission für die Herausgabe diplomatischer
Dokumente beim Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR. A. A. Gromyko, Vorsitzender der Kommission u. a. )
Lenka Sindelárová: Denkschriften an die Bundesrepublik. Die Arbeit der Tschechoslowakischen Regierungskommission zur Verfolgung von NSKriegsverbrechern (1965-1990), in: Martin Cüppers/Jürgen Matthäus/Andrej Angrick (Hrsg.): Naziverbrechen. Täter, Taten, Bewältigungsversuche,
Darmstadt 2013, S. 285
Ebenda, S. 286. Vgl. auch Lenka Sindelárová: Finale der Vernichtung. Die Einsatzgruppe H in der Slowakei 1944/45, Darmstadt 2013
marxistische Theorie und sozialistische Politik
Bulletin ● Geraer Sozialistischer Dialog
LINKE
auf Deligitimierungskurs
tiert oder empört über die Bereitschaft, ein wichtiges Alleinstellungsmerkmal im Interesse von
Regierungstauglichkeit zu entsorgen.
Am 23. September 2014, im 2. Sondierungsgespräch nach der Landtagswahl am 14. September, stimmten vier Vertreter (Bodo Ramelow,
Susanne Hennig-Wellsow, Steffen
Dittes und Birgit Keller) der Bezeichnung der DDR als „Unrechtsstaat“ und weiteren herabsetzenden
Sprüchen zu. Bereits bei Sondierungsgesprächen im Jahre 2009
hatte es ein ähnliches Papier gegeben, einschließlich einer Passage,
nicht mit Organisationen zusammen zu arbeiten, „die das DDR Unrecht relativieren wollen“. 1 Am 20.
November 2014, im „Koalitionsvertrag zwischen den Parteien DIE
LINKE, SPD BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN für die 6. Wahlperiode des
Thüringer Landtages“, finden wir
fast all das wieder: Der DDR fehlte
„durch unfreie Wahlen bereits die
strukturelle demokratische Legitimation staatlichen Handelns“ Weil
„jedes Recht und jede Gerechtigkeit
in der DDR ihr Ende haben konnte,
wenn einer der kleinen und großen
Von Verteidigung zur Kriminali- Mächtigen es so wollte, weil jedes
sierung
Recht und jede Gerechtigkeit für
diejenigen verloren waren, die sich
Der Konflikt zwischen Politikern
nicht systemkonform verhielten,
der LINKEN, die nun zum großen
war die DDR in der Konsequenz ein
Angriff auf die Rechtmäßigkeit der Unrechtsstaat.“ Es gehe nun „um
DDR aufrufen und einer Anhänger- eine konsequente und schonungsloschaft, die in ihrer großen Mehrheit se Aufarbeitung der Alltagsdiktadie LINKEN bisher als Verteidiger tur“, um die „uner-trägliche Einder Rechtmäßigkeit der DDR ansa- flussnahme in alle Bereiche des
hen und schätzten, hat das Potenti- Lebens in der DDR durch den von
al für eine anhaltende Parteikrise. der SED geführten Staat“. InquisitiDie Politiker signalisieren Anpasonstribunale als „Bildung zur Demosung und damit Regierungstaugkratie“? Die für den Bereich Aufarlichkeit. Wähler und Mitglieder
beitung der DDR in der Erfurter
sind in ihrer großen Mehrheit irriDie alte Erkenntnis, dass Regierungsbeteiligungen linker Parteien
in Ländern mit einer stabilen
Machtkonstellation zu Gunsten des
Kapitals die zu bildende Regierung
oft ein wenig besser, die betreffende Partei aber auf jeden Fall
schlechter macht, bestätigt sich
derzeit im Freistaat Thüringen auf
besondere und auf erschreckende
Weise. Die Inthronisierung einer
neuen Landesregierung unter Bodo
Ramelow kann, wenn sie denn heute im Landtag gelingt (und wenn
die ökonomisch und politisch
Mächtigen in diesem Lande sie
nicht alsbald kippen), einige wichtige soziale und politische Verbesserungen erreichen. Sie wird aber
gewiss die seit Ende September
deutlich gewordene Kluft zwischen
führenden Politikern sowie Mitgliedern und Anhängern in Sachen
DDR vor allem im Osten verschärfen. Nicht unbeachtet bleiben darf
allerdings, dass bei der Mitgliederabstimmung der LINKEN in Thüringen sich nur 7 Prozent gegen die
Koalitionsvereinbarung mit SPD
und Grünen aussprachen.
Ausgabe 43 Januar 2015
Staatskanzlei zuständigen Grünen
(!) werden das sicher versuchen.
Katja Kipping war mit der Charakterisierung der DDR als Unrechtsstaat nach wenigen Tagen sehr
einverstanden. Wolfgang Gehrcke
sagte „Nein“. Bernd Riexinger stellte sich erst einen Monat später
„voll und ganz“ hinter diese
„Formulierung“. Gregor Gysi nahm
sie mit Vorbehalt hin. Dietmar Bartsch und Roland Claus verloren in
der Bundestagsdebatte zum „Tag
der Deutschen Einheit“ am 8. November kein Wort darüber. Der
Parteivorstand bekundete in seiner
Sitzung vom 18./19. November Verständnis für die „unterschied-lichen
Bewertungen“. Katja Kipping,
Bernd Riexinger und Gregor Gysi
setzten dann mit einer gemeinsamen Erklärung noch einen drauf.
Am 8. November entschuldigten sie
sich nicht nur für „begangenes Unrecht“ in der DDR, sondern für die
DDR selbst. Dem Staat DDR und
„dessen Handeln (fehle) durch die
Abwesenheit freier Wahlen die
demokratische Legitimation“. Die
„politische Willkür“ konnte
„jederzeit Recht und Gerechtigkeit
ersetzen“. Sahra Wagenknecht fiel
dazu und „nach den „Pöbeleien von
Biermann im Bundestag und dem
begeisterten Applaus, den ihm einige Linke-Abgeordnete gespendet
haben“, nur das „schöne Zitat“ von
Erich Kästner ein: „Nie dürft ihr so
tief sinken, von dem Kakao, durch
den man euch zieht, auch noch zu
trinken.“
DDR-Geschichte als Sozialismusversuch
In der Endphase der DDR und nach
der Vereinigung gab es jeweils eine
19
Im Zusammenhang mit der Ausarbeitung des PDS-Parteiprogramms
vom Januar 1993 übernahm UweJens Heuer, rechtspolitischer Sprecher der Bundestagsgruppe PDS/
Linke Liste, die Aufgabe, den Entwurf zum Abschnitt RealsozialisZunächst sahen Exponenten der
mus für das Programm auszuarbei„sich reformierenden“ SED noch
eine Chance für eine demokratisch- ten. In der entsprechen Arbeitssozialistische Erneuerung der DDR. gruppe arbeitete ich mit. Weil sie
auf die pauschale Abwertung der
Gefordert wurde die Beseitigung
autoritärer und diktatorischer poli- DDR abzielten, verwarf Heuer von
vornherein die Kampfbegriffe des
tischer Strukturen. Stalinismus
Unrechtsstaates und der totalitären
lautete der verquere Begriff im
Referat von Michael Schumann auf Diktatur. Den innerhalb der PDS
dem Dezember-Parteitag 1989, auf zirkulierenden Begriff des Stalinisdem sich die SED in SED-PDS umbe- mus lehnte er aus dem gleichen
nannte. Irreal angesichts der politi- Grund ab. Er legte fünf Thesen in
schen Kräfteverhältnisse hatte die- Frageform vor. Die ersten drei lauses Konzept nur ein kurzes Leben. teten:
In der DDR nahmen westdeutsche
Politiker, Banken und Konzerne das „Das Scheitern des Sozialismusversuchs und seine Konsequenzen
Heft in die Hand. Sie ging nach
einem Dreiviertel Jahr als Staat
1. Problemkomplex
unter, mutierte zum „BeitrittsWaren die realsozialistischen Gegebiet“ und erhielt in § 17 Einisellschaften ein Sozialismusversuch
gungsvertrag das Etikett „SED-Unrechtsregime“. Justizminister Klaus oder nicht?
Kinkel bezeichnete sie kurz zuvor
auf dem 41. Richtertag im Septem- 2. Problemkomplex
Ist das Scheitern dieses Versuchs
ber 1991 „als in weiten Teilen genauso unmenschlich und schreck- eine Niederlage, ein Sieg des histolich…wie das faschistische Deutsch- rischen Fortschritts in Gestalt einer
land“ und verlangte von der Justiz, nachholenden Revolution o. ä. m.?
„das SED-System zu delegitimieren“.
Alsbald war die Rede von der DDR 3. Problemkomplex
als Unrechtsstaat und als totalitäre Was waren die inneren und äußeren Ursachen für dieses Scheitern?
Diktatur. Die mit beiden Begriffen
Welche dieser Ursachen waren
einher gehende Kriminalisierung
der DDR hatte besonders die Funk- letztlich entscheidend?“2
tion, den Ostdeutschen den aufrechten Gang zu nehmen und fortan
Antworten waren: Es war kein Sieg,
alles zu rechtfertigen, was an Verei- sondern eine Niederlage, eine weltnigungsunrecht über die Ostdeuthistorische Niederlage im Kampf
schen kam: die Verscherbelung des um eine sozialistische GesellVolkseigentums, die Massenentlas- schaftsordnung. Es war ein Sozialissungen im öffentlichen Dienst, das musversuch und nicht Stalinismus.
Rentenunrecht für „Staatsnahme“, Dieser Versuch war legitim. Er fand
die strafrechtliche Verfolgung von unter schwierigen geschichtlichen
DDR-Politikern, das Prinzip
Umständen statt. Er war nicht von
„Rückübertragung vor Entschädivornherein chancenlos. Mit dem
gung“ bei Grundstücken.
Begriff des Sozialismusversuchs
treten wir im Rahmen unserer AufDie PDS stand vor der Situation,
arbeitung der DDR-Geschichte als
entweder mitzumachen oder dage- Sozialisten für eine differenzierte
gen zu halten. Mitmachen wäre ihr und gerechte Bewertung der DDR
Untergang als „Ostpartei“ gewesen. ein.
Der 2. Abschnitt „Das Scheitern des
sozialistischen Versuchs“ im Programm von 1993 bekräftigte diese
Positionen: „Zum Sozialismusversuch in der DDR gehören wertvolle
Ergebnisse und Erfahrungen im
Kampf um soziale Gerechtigkeit,
um die Bestimmung der Ziele der
Produktion im Interesse des werktätigen Volkes, um ein solidarisches
Gemeinwesen auf deutschem Boden. Es gab jedoch auch Fehler,
Irrtümer, Versäumnisse und selbst
Verbrechen. … Die DDR war einer
Bedrohungs- und Konfrontationspolitik ausgesetzt … Der Sozialismus
in Osteuropa war nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt. … Für
die Geschichte, Gegenwart und
Zukunft Deutschlands wie auch für
die Politik demokratischer Sozialistinnen und Sozialisten in diesem
Land ist es ebenso wichtig, sich mit
den Defiziten der DDR-Gesellschaft
auseinanderzusetzen, wie die Berechtigung und Rechtmäßigkeit
einer über den Kapitalismus hinausgehenden Entwicklung auf deutschem Boden zu verteidigen.“
20
Bulletin ● Geraer Sozialistischer Dialog
intensive Diskussion in der SED,
dann in der PDS um die Bewertung
der DDR. Die Akzente und Leitbegriffe dieser Diskussion waren verschieden und änderten sich.
marxistische Theorie und sozialistische Politik
Im geltenden Erfurter Programm
der LINKEN von 2011 wird der
Begriff Sozialismusversuch beibehalten. Es wird auf positive und
negative Erfahrungen der Menschen mit diesem Versuch im Osten
Deutschlands hingewiesen. Das
Programm bleibt bei dem Prinzip
der abgewogenen Einschätzung der
DDR. Gesprochen wird auch vom
„Bruch mit dem Stalinismus“. Die
Geschichte der DDR und der SED
jedoch auf Stalinismus zu verkürzen, sei „unhistorisch und unwahr“.
Diskussionen mit Politikern auf
Anpassungskurs können zu keinem
Konsens führen. „Was in einem
Programm nicht verboten ist, ist
erlaubt“, sagte kürzlich Susanne
Hennig-Wellsow in Erfurt auf meine
Feststellung, dass das Konstrukt
vom Unrechtsstaat dem geltenden
Grundsatzprogramm von Erfurt
widerspreche. Der Begriff Unrechtsstaat und die Entschuldigung für
die DDR als „erlaubte“ Ergänzung
ror vor einer „neuen DDR“ lähmt
des Programms? Offensichtlich
nicht, aber was nützt das, wenn die das bloße Nachdenken über eine
sozialistische Alternative.
Deutungshoheit nicht bei denen
liegt, die Anpassung verweigern.
Er gibt keinerlei Raum für eine
historische Einschätzung der DDR,
für die Analyse ihrer WidersprüchUnrechtsstaatsbegriff:
lichkeit, „ihres individuellen, geselleine Mehrzweckwaffe
schaftlichen und politischen Daseins“ (Karl-Heinz Schöneburg), für
Begriffe machen häufig eine komdie Beachtung der objektiven und
plizierte Karriere durch. Der
Rechtswissenschaftler Gustav Rad- subjektiven Umstände ihrer Gebruch sah im Begriff des Unrechts- schichte.
staates 1946 einen richtigen Ansatz
Der Begriff Unrechtsstaat verallgezur Kennzeichnung der Menschmeinert das von antikommunistiheits- und Kriegsverbrechen des
schen Vorbehalten geprägte AllNazifaschismus. Gegenüber dem
tagsdenken einer großen Mehrheit
sperrigen Begriff der totalitären
der Westdeutschen über die DDR
Diktatur hat es nun dieser Begriff
und er richtet sich gegen das Allbei der offiziösen Bewertung der
tagsdenken einer Mehrheit der
DDR nach ganz vorne geschafft,
nicht zuletzt als Formel zur Gleich- Ostdeutschen. Er ist ein Schimpfsetzung von Nazistaat und DDR. Er wort. Er sanktioniert die absurdesten Lügen über die DDR. Er umist der Geßlerhut, um eine Metapher von Günter Gaus zu nehmen, rahmt, wie die verschiedenen Paden jeder zu „grüßen“ hat, der über piere aus Thüringen zeigen, ein
Horrorbild von Halb- und Unwahrdie DDR spricht. Wer aber Unheiten über die DDR jenseits von
rechtsstaat sagt und die Sprüche
aus Thüringen akzeptiert, denkt an Gerechtigkeit und Rechtssicherheit.
der wirklichen Geschichte der DDR
Siege in den geschichtlichen Auseivorbei.
nandersetzungen sind immer nur
dann komplett, wenn sich die BeIn der Linken hat dieser Begriff
besonders die Aufgabe, mit Vorstel- siegten den politisch-ideologischen
Leit- und Feindbildern der Sieger
lungen Schluss zu machen, dass
unterwerfen. Eine Mehrheit der
die DDR und ihre Geschichte ein
Objekt sozialistischer Gesellschafts- Ostdeutschen tut das bis heute
nicht. Die Linke in Thüringen
gestaltung ist. Sie soll von nun an
schafft Abhilfe. Wieder einmal spiedurch die Brille antikommunistilen sich Politiker als Historiker auf.
scher Totalkritik betrachtet werDarüber, dass kein einziger promiden.
nenter Historiker aus den Reihen
Der Begriff Unrechtsstaat hat eine der LINKEN ihnen zur Seite tritt
vielgestaltige Bedeutung. Er ist eine und angesehene Historiker wie
Mehrzweckwaffe, mit deren Hilfe
Günter Benser vehement widersprechen, wird kaum berichtet. Ein
verschiedene politische Ziele verherrschaftsfreier Dialog war in der
folgt werden.
Partei Die Linke vorgestern.
Er verlangt geradezu eine Kriminalisierung der DDR. Er ist eine poli- Bezeichnend ist, dass die Papiere
tisch-ideologische Keule. Er richtete aus Thüringen Formulierungen entund richtet sich gegen widerständi- halten, die ähnlich wie die Beschulges Denken und Handeln: einst im digungen im Verbotsverfahren gegen die KPD Anfang der fünfziger
Zusammenhang mit dem VereiniJahre lauten und bei der Strafvergungsunrecht, heute beim Kampf
folgung bzw. bei Berufsverboten
gegen das Unrecht des Kapitalismus und dessen Klassenrecht. Hor- gegen Kommunisten und Verfech-
Ausgabe 43 Januar 2015
ter eines Dialogs mit der DDR eine
Rolle spielten. Das wurde damals
mit dem Argument gerechtfertigt,
die Betreffenden wollten ja eine
„Gewalt- und Willkürherrschaft“ (§
88 StGB) wie in der DDR errichten.
Die Kehrseite der Akzeptanz des
Begriffes Unrechtstaat DDR ist die
Verbeugung vor dem Rechtsstaat
BRD. An die Stelle einer richtigen
Position des Kampfes um den
Rechtsstaat im Interesse der abhängig Arbeitenden und Benachteiligten gegen dessen permanente Verletzung (Hartz IV trotz Sozialstaatsgebot des Art. 20, Vereinigung entgegen Art. 146, Kriegsvorbereitung
und Kriegsführung gegen Art. 26
GG) tritt die Verklärung des Klassenstaates BRD als Rechtsstaat an
und für sich.
DDR: Rechtstaatlichkeit und
Rechtsordnung
Rechtsstaat ist im Gegensatz zum
politischen Propagandabegriff des
Unrechtsstaates ein Begriff der
Rechtswissenschaft. Die DDR hat
ihn bis 1988 abgelehnt, vor allem
weil sie die gerichtliche Überprüfbarkeit aller staatlichen Handlungen ablehnte. Einzelne Rechtswissenschaftler wie Karl Bönninger
aus Leipzig und Roland Meister aus
Jena haben sich als Verfechter eines sozialistischen Rechtsstaates
verstanden. Im Marxschen Konzept
der politischen Form nach dem
Vorbild der Pariser Kommune war
kein Platz für das Prinzip der Gewaltenteilung. Diktatorische Formen der Machtausübung in der
DDR fanden ihre Rechtfertigung in
der Bedrohung durch den politischen Gegner. Autoritäre Strukturen, so die Ablehnung von Verfassungs- und Verwaltungsgerichten,
dienten auch bürokratischen Interessen. Die Abkopplung vom
rechtsstaatlichen Erbe negierte den
Umstand, dass staatliche Machtapparate im sich entwickelnden Sozialismus der DDR in ihrer Bedeutung
noch zunahmen und eine entschiedene Kontrolle nötig war. Unbe-
21
rungsfristen wurden aufgehoben.
Herausgekommen ist bei 105.000
Ermittlungsverfahren die Verurteilung von 48 Personen zu Freiheitsstrafen, darunter viele Urteile (wie
die gegen Egon Krenz und Heinz
Kessler), obwohl Gesetze der DDR
Es ist eine Lüge in der Anlage 1, die überhaupt nicht verletzt worden
waren. Immer wieder ist von
DDR zu beschuldigen, in ihr wäre
Willkür üblich gewesen, in ihr hät- furchtbaren Verbrechen der Stasi
die Rede, auch in der Linken. Allerte jeder Mächtige, Recht und Gerechtigkeit außer Kraft setzen und dings konnten nur 143 Mitarbeiter
andere drangsalieren können. Wer des MfS überhaupt angeklagt werso etwas zu Papier bringt, hat keine den. „Acht wurden zu Freiheitsstrafen verurteilt, die in sieben Fällen
Ahnung vom Leben in der DDR,
zur Bewährung ausgesetzt wurvon dem bürgernahen Recht in
den.“ (Friedrich Wolff)
zahlreichen Rechtsbereichen, von
den zum Teil sogar weitaus besseren Möglichkeiten, Mächtigen (dem Angst vor DDR-Erinnerung
Der wohl wichtigste Schwachpunkt
Betriebsdirektor, dem Chef des
Kreisbauamtes, dem Bürgermeister der Unrechtsstaatsdebatte bleibt
aus gutem Grund draußen vor: Die
usw.) Paroli zu bieten: vor allem
Diffamierung der DDR findet im
mittels des Arbeitsrechts und des
Eingabenrechts. In der DDR gab es Alltagsdenken der Ostdeutschen
kaum Zustimmung. Jeder kann sich
jährlich etwa eine Million Beschwerden bzw. Eingaben. Es galten an Hand der Meinungsumfragen
strenge Regeln der Bearbeitung. 80 zur DDR seit 25 Jahren3 über die
bis 90 Prozent wurden zu Gunsten sich wandelnde politische Erinneder Bürgerinnen und Bürger entrung an die DDR, zu Unrecht und
schieden. Insofern existierten naUnrechtsstaat, zu Recht, Rechtstürlich subjektive Rechte des Bür- staat und Gerechtigkeit informiegers gegen den Staat und gegen die ren. Eine Erinnerung, bestimmt von
„Mächtigen“. Mitbestimmungsrech- Drangsalierung, Repression und
te der Werktätigen in den BetrieUngerechtigkeiten ist das nicht.
ben, Einrichtungen und in der
(Wobei nur noch etwa 60 Prozent
Rechtspflege waren sogar weitaus
der Ostdeutschen tatsächlich Erfahumfassender als in der BRD. Und
rungen mit dem politischen Leben
Kriminalität war rückläufig. In eiin der DDR haben). Die DDRnem Halbjahr werden heute allein Bevölkerung hat ihr gesellschaftliin Brandenburg etwa so viele Straf- ches und politisches Leben sehr
taten verübt wie einst in der gesam- wohl ständig mit dem der BRD verten DDR in einem Jahr.
glichen, nicht mit dem Nazistaat.
Dem Begriff des Unrechtsstaates
Natürlich gab es in der DDR vielfäl- stimmen nach der jüngsten Umfratiges Unrecht. Aber nunmehr über ge von Emnid (veröffentlicht am 5.
22 Jahre lang konnten Rechtsverlet- Oktober 2014) 72 Prozent der Westzungen angezeigt und strafrechtlich deutschen zu, aber nur 30 Prozent
verfolgt werden. Sogar alle Verjäh- der Ostdeutschen.
streitbar ist jedoch, dass es in der
DDR wichtige rechtsstaatliche
Grundsätze und eine Rechtsordnung gab, die bei zukünftigen Sozialismusversuchen Beachtung verdienen.
Noch Ende 1989/Anfang 1990 als
die DDR von einer tiefen politischen Krise erfasst war, sprachen
sich bei Umfragen zwischen 55 und
83 Prozent für die Bewahrung der
DDR als souveränen Staat aus. Im
Januar 1990 waren lediglich 23
Prozent für einen kapitalistischen
Weg. Nach einer Untersuchung der
Adenauer-Stiftung hielten 1991 33
Prozent der Ostdeutschen die Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik für ungerecht; 2005 waren
es 68 Prozent. Eine Emnid-Umfrage
von 2009 zum Thema „Die DDR –
ein Unrechtsstaat“ ergab, dass von
den Ostdeutschen 49 Prozent an
der DDR mehr gute als schlechte
Seiten und acht Prozent nur gute
Seiten sahen.
Die Angst vor der DDR muss bei
den Regierenden in diesem Lande
sehr groß sein, wenn sie noch 25
Jahre nach Ende des Kalten Krieges, nunmehr gemeinsam mit LINKEN-Politikern, die DDR-Debatte so
führen wollen, als ob wir auf dem
Höhepunkt des Kalten Krieges sind.
Ekkehard Lieberam
1. Die zitierten Passagen ohne besondere Quellenangabe, sind in
der Dokumentation „Der Kniefall von Thüringen“ nachzulesen.
2. Quelle: persönliches Archiv.
3. Vgl. Der Kniefall von Thüringen,
S. 64 ff.
www.sozialistischer-dialog.de
22
marxistische Theorie und sozialistische Politik
Bulletin ● Geraer Sozialistischer Dialog
Die Wahl wird Folgen haben
Nach der Wahl Bodo Ramelows zum Thüringer Ministerpräsidenten
Als am vergangenen Freitag im
Thüringer Landtag in Erfurt Bodo
Ramelow bereits im zweiten Wahlgang zum neuen Ministerpräsidenten gewählt wurde, war der Jubel
groß. Gregor Gysi war so stolz über
den Erfolg, dass er gegenüber dem
Mitteldeutschen Rundfunk (MDR)
gar erklärte: „Heute ist einfach ein
großer, ein schöner Tag auch in
meinem Leben, das muss ich sagen. Dass ich das noch erlebe.“
Zuvor war nicht sicher, ob Ramelow bereits im zweiten Wahlgang
alle Stimmen aus den Fraktionen
der Linkspartei, der SPD und der
Grünen erhalten würde. Nicht nur
wegen der „Unrechtsstaat“-Debatte, die in Teilen der Partei „Die
Linke“ und in ihrem Umfeld für
große Empörung sorgte und zu
Parteiaustritten führte. Auch weil
andererseits im Vorfeld der Wahl
massiv Stimmung gegen die Kandidatur Ramelows und die Koalition
aus Linkspartei, SPD und Grünen
gemacht und Druck ausgeübt wurde. So wandten sich beispielsweise
in einer Anzeige „SED-Staat in der
Mitte Deutschlands?“ Träger des
Thüringer Verdienstordens, unter
ihnen Schriftsteller wie Reiner
Kunze und Universitätsprofessoren, an die Abgeordneten des Thüringer Landtages. Sie behaupteten:
„Jetzt soll ganz legal stattfinden,
was die Kommunisten die Konterrevolution nannten: Die Befreiung
durch die Revolution von 1989 soll
in Thüringen revidiert werden.
Und die Revolutionäre von damals
sollen ihnen dabei behilflich sein!
Verkehrte Welt!“
Kundgebungen wurden organisiert, auf denen auch Mitglieder
der SPD ihren Unmut bekundeten.
Wochenlang wurden zudem mehrere Abgeordnete der Partei „Die
Linke“ massiv bedroht, Autos beschädigt und Parteibüros angegriffen.
Ausgabe 43 Januar 2015
Dass die CDU in der Opposition
und womöglich teilweise Hand in
Hand mit der AfD der neuen Regierung, der vier Minister der Partei
„Die Linke“, drei der SPD und zwei
der Grünen angehören, das Leben
schwer machen will, haben deren
Vertreter bereits angekündigt und
kommt nicht unerwartet. Sie
hoffen darauf, dass die neue Regierung vorzeitig scheitert. Doch in
den vergangenen Tagen gingen
auch die Angriffe auf Parteibüros
der Partei „Die Linke“ weiter.
Ramelow selbst versuchte noch
am Wahltag die rechten Gemüter
zu beruhigen. Bereits in seiner
ersten Rede entschuldigte er sich
bei SED-Opfern und kündigte an,
er wolle „versöhnen statt spalten“.
Einen Tag später erklärte er – entgegen vieler Stimmen in der eigenen Partei – gegenüber der
„Thüringischen Landeszeitung“, er
wolle die „Aufarbeitung der SEDDiktatur zu Chefsache“ machen.
Ein deutliches Signal an die Opposition im Landtag und darüber
hinaus...
Die Wahl wird Folgen haben. Vor
allem für die eigene Partei. Gregor
Gysi, Fraktionsvorsitzender der
Linkspartei im Bundestag, erklärte
bereits, die Wahl Ramelows werde
die Linkspartei verändern. „Aber
auch die anderen. Es ist ein Durchbruch, was das politische Klima
betrifft…“ Gegenüber der Mitteldeutschen Zeitung sprach er von
„größerer Verantwortung“. Seine
Partei müsse sich „in bestimmter
Hinsicht etwas disziplinieren. Die
gewachsene Verantwortung wird
sich auswirken. Alle müssen sich
den Realitäten beugen.“ Welcher
Realitäten?
Den realen Erfordernissen sozialer und politischer Kämpfe, der
Organisation von Widerstand gegen Sozial- und Demokratieabbau,
gegen Kriegspolitik? Oder der rea-
len Situation, dass man erstmals
eine Landesregierung anführt und
sich einbinden lässt in die herrschende Politik mit Blick auf ein
mögliches Mitregieren im Bund?
Vielleicht gehört dann dazu, dass
man dabei auch die eigene Geschichte entsorgen will und sich
dem Mainstream anpasst? Was das
aber heißt, lehrt uns die Geschichte, auch die der Sozialdemokratie.
Noch wird – wie es im Referat
von Ellen Brombacher auf der Bundeskonferenz der Kommunistischen Plattform am vergangenen
Sonntag hieß – in Thüringen der
Regierungswechsel mit der Hoffnung auf einen Politikwechsel im
Land verbunden. „Das Leben wird
zeigen, wie realistisch diese Hoffnung ist“. Doch die breite Zustimmung zum Koalitionsvertrag durch
94 Prozent der Mitglieder der Partei „Die Linke“ (bei einer Beteiligung von 79 Prozent) sei „keine Defacto-Zustimmung zum unsäglichen Umgang mit unserer Geschichte, wie zuvörderst Bodo Ramelow sie jüngst betrieb. Niemand
sollte hier etwas verwechseln. Die
Empörung über die erlittenen Demütigungen ist bei vielen Genossinnen und Genossen, nicht nur in
Thüringen, groß“.
Nina Hager
Erstveröffentlichung: UZ „unsere
zeit“ Sozialistische Wochenzeitung
der DKP. 12. Dezember 2014. Nr.
50. 46. Jahrgang. Seite 1.
Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und der
Autorin
23
Neue Herausforderungen für DIE LINKE und die
Verantwortung des Ältestenrates
Der Ältestenrat hat in seinem Bericht an die 2. Tagung des 4. Parteitages im Mai 2014 sein 2007 erteiltes Mandat zurückgegeben und
dem neu gewählten Parteivorstand
entsprechend § 20, Abs. 7 der Bundessatzung empfohlen, einen Ältestenrat neu zu berufen. Der Bundesausschuss hat diese Empfehlung
ausdrücklich unterstützt. Der Parteivorstand ist damit herausgefordert, seine Entscheidung zu treffen.
Die erstmalige Berufung eines Ältestenrates an der Jahreswende
1989/90 verfolgte das Ziel, in den
Prozess der Erneuerung der Partei
Erfahrungen aus den Kämpfen der
Arbeiterbewegung und des nationalen und internationalen Widerstands gegen den Faschismus,
überhaupt Erfahrungen aus dem
geschichtlichen Gewordensein der
Partei einzubringen. Der Ältestenrat sah sich in der Verantwortung
für das Miteinander der Generationen in der Partei. Gegenseitige
Achtung der Erfahrungen unterschiedlicher Generationen und sich
gemeinsam der Verantwortung aus
der Geschichte zu stellen, das sind
wichtige Quellen für die Entwicklung einer konsequent linken Partei und für ihren Platz in der Gesellschaft. All das gilt auch heute
und hat Konsequenzen für die Stellung und das Wirken des Ältestenrates in der Partei DIE LINKE.
Entstanden ist der Ältestenrat mit
der Gründung der PDS. Im Prozess
der Verschmelzung von PDS und
WASG erfolgte die Neugründung
der Partei DIE LINKE und mit ihr
2007 die Berufung eines neuen
Ältestenrates. Die Mitgliedschaft
der Partei hat sich inzwischen weitgehend verändert und neue Füh-
24
rungsgenerationen haben die Verantwortung übernommen. Da die
in der Satzung festgelegten Grundsätze für das Wirken des Ältestenrates in den vergangenen Jahren im
Führungsprozess durch den Parteivorstand kaum Beachtung fanden,
sollte geprüft werden, ob bei den
Veränderungen in der Zusammensetzung der Mitgliedschaft und der
neuen Führungselite ein Ältestenrat mit den Erfahrungen seiner
Mitglieder für die Politik der Partei
angesichts neuer Herausforderungen noch einen zu beachtenden
Beitrag leisten kann. Die jüngste
Praxis - auch nach dem Berliner
Parteitag - setzt eher Zeichen, dass
ein solcher Rat kaum gebraucht
wird.
Arbeit entwickelt sich in einer nie
gekannten Breite, Tiefe und in verschiedenen Ausdrucksformen.
Offensichtlich ist der Kapitalismus
außerstande, für die grundlegenden Fragen der Entwicklung der
Menschheit, für die zentralen Fragen zukünftiger Gesellschaftsentwicklung Lösungen zu finden. Wird
dem nicht Einhalt geboten, führt
das zum Untergang der Menschheit. In diese Prozesse ordnen sich
der wachsende Anspruch des deutschen Kapitals und die Rolle des
deutschen Staates nach einer Führungsrolle in Europa ein. An der
Seite der USA sind die führenden
Kräfte mit Frau Merkel und Herrn
Gauck an der Spitze auf dem Weg,
aus dem imperialistischen Deutschland eine Führungsmacht in der
Allerdings muss die Partei die ver- Welt zu machen, die einen entspreänderten gesellschaftlichen, politi- chenden Platz für die Durchsetschen und ökonomischen Rahmen- zung ihrer Interessen im Wandel
bedingungen in Deutschland, in
der gegenwärtigen KräfteverhältEuropa und in der Welt gründlich nisse einfordert.
analysieren, um strategische
Schlussfolgerungen für ihr Wirken Mit seinem Wirken in der Ukraineim parlamentarischen Kampf und Krise trägt Deutschland nicht zur
als politische Kraft zu ziehen, die
Lösung dieses Konfliktherdes bei,
zum herrschenden kapitalistischen sondern handelt aktiv als Teil der
System in Deutschland in grundle- Kräfte in Europa und in der Welt,
gender Opposition steht – und das die Russland isolieren und zum
auch, wenn sie in dem einen oder „Bösewicht“ der Welt stempeln
anderen Bundesland an der Regie- wollen. Russland ist, wie die anderung beteiligt ist.
ren Länder in dieser Krise auch,
eine kapitalistische Macht, die ihre
In den letzten Jahren vollzieht sich Interessen vertritt. Die Geschichte
in Europa, vor allem in Deutschzeigt jedoch: Ohne oder gar gegen
land eine weitgehende Zäsur. Die
Russland wird es in Europa keinen
Gesellschaft ist durch tiefe, dem
Frieden geben. Wo nur von
Kapitalismus eigene Widersprüche „Verantwortung“ die Rede ist und
gekennzeichnet. Unsere Welt ist
Misstrauen geschaffen wird, wererneut mit der Gefahr des Versuden Wege zur Krisenlösung verches konfrontiert, den Ausweg aus baut. DIE LINKE sollte alle ihre
der Krise in einem globalen bewaff- Kräfte auf Vertrauensbildung richneten Konflikt zu suchen. Der Witen; nur so kann ein Weg aus der
derspruch zwischen Kapital und
Krise entstehen. Der 70. Jahrestag
marxistische Theorie und sozialistische Politik
Bulletin ● Geraer Sozialistischer Dialog
des Endes des 2. Weltkrieges mit
dem Sieg der Alliierten und der
Befreiung der Völker Europas vom
faschistischen Joch sollte ein Anlass dafür sein. Die besondere Verantwortung Deutschlands und vor
allem der deutschen Linken besteht im aktiven Engagement für
den Frieden, für friedliche Beziehungen der Völker und Länder
untereinander und im nichtnachlassenden Kampf gegen Neofaschismus und Rechtsextremismus.
D
as alles sind neue Herausforderungen für die
linke Opposition in
Deutschland, für die
Partei DIE LINKE. Es steht die Frage, ob die Partei auf diese Herausforderungen genügend vorbereitet,
ob sie ihnen in ihrer gegenwärtigen
Verfasstheit gewachsen ist.
Die Debatten um die Wahlergebnisse der letzten Landtagswahlen,
insbesondere um das unbefriedigende Ergebnis der LINKEN mit 8
Prozent Stimmenverlust in Brandenburg, haben deutlich gemacht,
dass die selbstkritische Sicht auf
Ursachen der Wahlergebnisse
nicht ausreicht. Eine wirkliche
komplexe Analyse der gesellschaftlichen Situation im Land, der Situation in der Wirtschaft, im Bildungswesen, in der Verwaltung, auf dem
Arbeitsmarkt, auf dem Gebiet von
Wissenschaft und Kultur, eine
wirkliche Analyse der Stimmungen
in der Bevölkerung und in der potentiellen Wählerschaft fehlt. Das
gilt auch für die Entwicklung und
die aktuelle Situation, für das politische Profil und die Aktionsfähigkeit der Partei selber. Ohne eine
solide und kontinuierlich zu leistende analytische Arbeit wird es
kaum möglich sein, ein linkes Konzept für die Arbeit der Partei generell und insbesondere unter den
Bedingungen der Mitverantwortung in einer Landesregierung zu
entwickeln, das die Gestaltung
linker Politik im Alltag sichert und
das sozialistische Profil der Partei
DIE LINKE als grundlegende Oppositionskraft in Deutschland deut-
Ausgabe 43 Januar 2015
lich sichtbar und für Bürgerinnen
und Bürger auch spürbar und zustimmungsfähig macht.
Das ist mit Sicherheit kein Problem
nur für Brandenburg, sondern gilt
für alle Bundesländer und nicht
zuletzt für das Wirken als gemeinsame Bundespartei in ganz
Deutschland.
Die Koalitionsverhandlungen in
Brandenburg und Thüringen und
deren Ergebnisse machen ein weiteres Problem der Arbeit und der
Entwicklung der Partei deutlich:
Zweifellos ist es den Vertretern
unserer Partei gelungen, eine Vielzahl guter und richtiger Vorschläge
und Forderungen zu Fragen der
Gestaltung von Wirtschaft, Bildung
und Kultur, öffentlichem Nahverkehr, Daseinsvorsorge und generell
zur Verbesserung der Arbeits- und
Lebensbedingungen der Menschen
in die Vereinbarungen einzubringen. Das muss in den kommenden
Jahren realisiert und über die Medien in der Öffentlichkeit kommuniziert werden. Offen ist aber, wie
sich die Partei im Rahmen der Koalition mit SPD und Bündnis 90/Die
Grünen sowohl im Parlament als
auch vor allem im außerparlamentarischen Rahmen als linke sozialistische Partei, die das gesellschaftliche System in Deutschland nicht
nur kritisch sieht, sondern sich mit
Alternativen im Sinne eines demokratischen Sozialismus profiliert.
Nur wenn sie in den kommenden
Jahren als linke sozialistische Partei kenntlich ist, kann sie begründet bei den nächsten Wahlen für
sich werben und auf Zustimmung
hoffen. Beachtet werden muss jedenfalls die Gefahr - das ist eine
Lehre aus den vergangenen 5 Jahren Mitregierung in Brandenburg,
dass die Partei sich faktisch ausschließlich an der Koalitionsvereinbarung misst. Eine Koalitionsvereinbarung mit ihrem Kompromiss
darf die im Parteiprogramm formulierten Ziele nicht unkenntlich werden lassen. Der letzte Maßstab und
grundlegende Orientierung für das
Wirken der Partei DIE LINKE muss
das Erfurter Programm sein und
bleiben.
Die Partei DIE LINKE kann die neuen gesellschaftlichen Herausforderungen nur erfolgreich bewältigen,
wenn sie sich auf Grundlage des in
Erfurt beschlossenen Parteiprogramms als konsequent linke sozialistische Partei weiterentwickelt.
Das ist nicht nur ein Problem der
Altersstruktur im Osten, der Strukturschwäche in nicht wenigen Landesteilen bzw. des ungenügenden
Zustroms junger Kräfte in die Partei. Der Schwung, der mit der Vereinigung von PDS und WASG 2007
die Entwicklung der Partei vorangebracht hat, ist offensichtlich aufgebraucht und hat dem politischen
Alltag, darunter nicht zuletzt den
Wahlkämpfen und den Kämpfen
um parlamentarische Mandate
bzw. Mehrheiten Platz gemacht.
Hinzu kommen Debatten um politische Orientierungen und unterschiedliche Interpretationen bestimmter Aussagen des Parteiprogramms, z. B. um ein Streben nach
linker Mitte im parlamentarischen
Raum oder das Suchen nach Bündnissen bzw. Zusammenwirken mit
anderen linken Kräften im Land.
Aktuelle Geschehnisse wie die von
den Thüringer Koalitionsverhandlungen ausgelösten Debatten um
das DDR-Bild unserer Partei, Diskussionen um Israel-Kritik und
Antisemitismus an Stelle notwendiger Bestrebungen für eine konsequente Zwei-Staaten-Lösung im
Sinne der UN oder um Positionsbestimmungen in der Ukraine-Krise
verdeutlichen, wie schnell politische Unsicherheiten die Partei von
ihrer grundlegenden Orientierung
ablenken und ihre politische Handlungsfähigkeit einschränken können. Offensichtlich geht zurzeit ein
Riss durch die Mitgliedschaft der
Partei. Nicht zu übersehen ist, dass
sich die Partei an einem kritischen
Punkt ihrer Entwicklung befindet.
Nach unserer Meinung brauchen
wir ein grundlegendes, auf solide
Analysen beruhendes Konzept der
Entwicklung der Partei als linke
sozialistische Kraft in Deutschland,
das ein weiterentwickeltes Ver-
25
ständnis von linkem Pluralismus
einschließt und überzeugend charakterisiert, wie sich die Partei
ihrer politischen Verantwortung
im Land, in den Bundesländern
und darüber hinaus in Europa
stellt. Der geplante Zukunftskongress im April 2015 könnte einen
Beitrag in dieser Richtung leisten.
Erforderlich ist dazu aber ein weiterentwickeltes Konzept, das ohne
Wenn und Aber das Erfurter Programm zum Ausgangspunkt nimmt
und auf seine Verwirklichung gerichtet ist.
richten will, muss sie einem gesamtdeutschen Anspruch gerecht
werden. Wie kann es eine
„innerdeutsche Grenze“ geben,
wenn beide als souveräne Staaten
1973 in die Vereinten Nationen
aufgenommen wurden. Die Führungskräfte der Partei DIE LINKE
sollten ihre Aussagen genauer,
kenntnisreicher und geschichtsbewusster abwägen. Juristen wissen,
dass es den Begriff „Unrechtsstaat“
nicht gibt. Wenn DIE LINKE sich
auf diesen Begriff einlässt, lässt sie
sich im Wesen auf die von der
herrschenden Elite vorgegebene
Es ist nicht zufällig, dass
bestimmte historische Ereignisse, insbesondere
solche, die mit der Entwicklung der Arbeiterbewegung und den Kämpfen
gegen Krieg, Reaktion und
Faschismus zusammenhängen, Diskussionen in der
Partei auslösen. Das belegt,
dass bei aller Orientierung
auf praktische Politik von
heute das Verhältnis zur
Geschichte für viele Parteimitglieder ein zentrales, ihr Verhältnis zur Partei wesentlich mitbestimmendes Thema ist. Und es ist
nicht nur ein Thema der älteren
Parteimitglieder, sondern auch der
Jungen, die sich für das Gewordensein der Partei interessieren
und damit ein Bindeglied der Generationen in der Partei.
der DDR orientiert. Darüber hinaus
belegt jeder Jahresbericht zur Deutschen Einheit im Bundestag die
noch immer bestehende reale Ungleichheit.
Ein kritischer Umgang mit deutscher Nachkriegsgeschichte ist nur
glaubhaft und tragfähig, wenn er
die beiden deutschen Staaten erfasst. Einer Erinnerungskultur, die
Züge einer Unkultur enthält, darf
sich DIE LINKE nicht anpassen. DIE
LINKE ist herausgefordert, ihren
Beitrag zu leisten.
Spätestens auf dem Juni-Parteitag
Seit dem Beitritt der DDR zur BRD mit
einem Einigungsvertrag und dem Zweiplus-Vier-Vertrag der vier Siegermächte
sind 25 Jahre vergangen.
Geschichtsklitterung ein. Wie weit
dann auch die Kultur der Sprache
verloren geht, zeigen vielfältige
Bemerkungen zur Regierungsbildung in Thüringen. Die Geschichte
beider deutscher Staaten und die
Geschichte des vereinten Deutschlands stehen nach 25 Jahren auf
der Tagesordnung. Die Bundesrepublik hat sich 1949 mit dem VerSeit dem Beitritt der DDR zur BRD ständnis gegründet, das Deutsche
mit einem Einigungsvertrag und
Reich ohne wirklichen Bruch mit
dem Zwei-plus-Vier-Vertrag der
dem Faschismus fortzusetzen. Die
vier Siegermächte sind 25 Jahre
DDR sah ihre Gründung als Teil
vergangen. Beide deutsche Staaten der Entstehung einer antifaschissind Ergebnis deutscher Nachtisch-demokratischen Ordnung.
kriegszeit und haben ihre eigene
Vereinigt haben sich die beiden
Geschichte. Aber noch immer gedeutschen Staaten 1990 im Verben Parlamente und Regierung
ständnis der Völkergemeinschaft
eine Erinnerungskultur vor, die
und der vier Siegermächte als
nur den einen Staat, die DDR, begleichberechtigte deutsche Staaten.
trifft und zwar negativ. Jedes Erin- Bei dieser Ausrichtung sollte der
nern an Leben unter sozialistischen Politikwechsel in Deutschland heuBedingungen, an sozialistisches
te ansetzen, da sich in den 25 JahGedankengut, soll diskreditiert
ren einer vereinten Bundesrepubwerden. Wenn DIE LINKE ihr Wir- lik Deutschland Staatspolitik noch
ken auf einen Politikwechsel ausimmer an der „Delegitimierung“
2015 hat DIE LINKE ganz in der
Tradition von Karl Liebknecht ihr
kategorisches „NEIN“ zu Krieg,
Rüstungsexport und Auslandseinsätzen klar auszusprechen und
immer wieder zu bekräftigen.
Die Führungsverantwortung für
eine konsequente Opposition im
Deutschen Bundestag gegen die
immer weiter wirkende konservativ geprägte Politik der Regierung,
der jetzigen Großen Koalition, sollte Maßstab für 2017 sein. Welche
Farben Landesregierungen auch
immer tragen, auch hier wird DIE
LINKE nur glaubhaft sein, wenn
Opposition im Bund und Mitregieren im Land sich nicht im Gegensatz befinden. Auch solche Überlegungen gehören auf den nächsten
Parteitag.
26
Bulletin ● Geraer Sozialistischer Dialog
marxistische Theorie und sozialistische Politik
04. Dezember 2014
Ältestenrat
Der Sonderparteitag im Dezember
1989 - zwischen SED und PDS
Der turnusgemäße XII. Parteitag
der SED hätte im April 1991 sein
sollen. Erich Honecker ließ den
Termin um ein Jahr auf den 15. bis
18. Mai 1990 vorverlegen. Berichterstatter: Erich Honecker und Willi
Stoph. Nur Optimisten konnten
glauben, die Vorverlegung sei der
späten Einsicht der Partei-Oberen
zu verdanken, dass eine baldige
politische Reform nötig ist. Realisten sahen darin die Absicht, unter
der Losung „Kontinuität und Erneuerung“ und „Sozialismus in den
Farben der DDR“ die Fortsetzung
der „bewährten“ Politik unter der
alten Führung abzusichern. Es war
ein deutliches Zeichen aufbegehrenden Missfallens für Gorbatschows Perestroika und Glasnost, dass der Parteitag der SED
terminlich vor den der KPdSU gelegt wurde, der für den Juli 1990
festgesetzt war. Die SED-Führung
wollte von der Sowjetunion nicht
mehr siegen lernen.
Der Weg zum Sonderparteitag verlief äußerst turbulent. Die nachHoneckersche SED-Führung unter
Egon Krenz hat sich zunächst beharrlich geweigert, den Forderungen aus der Parteibasis nachzugeben, fünf Monate vor dem regulären Parteitag noch einen außerordentlichen Parteitag durchzuführen. Es war schon ein Zugeständnis, dass das ZK stattdessen für den
15. Dezember 1989 eine Parteikonferenz einberief. Dagegen erhob
sich ein massiver Protest in Grund-,
Kreis- und Bezirksorganisationen
der Partei, die einen Parteitag wollten, da nur dieser, nicht aber eine
Parteikonferenz eine neue Führung
wählen konnte. Unter diesem
Druck blieb dem ZK nichts anderes
übrig, als einen außerordentlichen
Parteitag zum 15. bis 17. Dezember
einzuberufen. Auf der Tagesordnung sollte stehen: Referat des
Ausgabe 43 Januar 2015
Generalsekretärs Egon Krenz über
die aktuelle Lage und die Aufgaben
der Partei, Wahl des Zentralkomitees.
Es kam anders. Unter dem Eindruck ständig neuer „Enthüllungen“ in den Medien über Machtmissbrauch und Korruption führender Partei- und Staatsfunktionäre
wurden Forderungen nach Rücktritt des neuen Generalsekretärs
und seines Politbüros immer lauter
und entschiedener. Auf den
Kreisdelegiertenkonferenzen, auf
denen die Parteitagsdelegierten
gewählt wurden, waren diese Forderungen unüberhörbar. Egon
Krenz berief zum 3. Dezember eine
Sondersitzung des ZK ein, um Auswege aus der entstandenen Lage zu
beraten. Auf der vor der Sitzung
stattgehabten Beratung des Politbüros mit den neu gewählten 1. Bezirkssekretären verlangten diese
ultimativ den geschlossenen Rücktritt nicht nur des Generalsekretärs
und des Politbüros, sondern auch
des ganzen ZK. Das ZK schloss
schnell noch Genossen der alten
Führung aus dem ZK und aus der
Partei aus, darunter Erich Honecker, Willi Stoph, Horst Sindermann und Erich Mielke (Günter
Mittag und Joachim Hermann waren schon ausgeschlossen). Dann
trat das ZK zurück ohne dass sich
aus seinen Reihen eine Stimme
dagegen erhoben hätte. Egon Krenz
nannte das später ein würdeloses
Auseinanderlaufen. Die Regie für
die Vorbereitung des Außerordentlichen Parteitags übernahm
ein zeitweiliger Arbeitsausschuss
unter Leitung des neuen 1. Sekretärs der SED-Bezirksleitung Erfurt
Herbert Kroker. Der erste Beschluss des Arbeitsausschusses
war die Einsetzung einer Kommission unter Leitung von Gregor Gysi
zur Untersuchung von Verstößen
gegen das Parteistatut und gegen
die Gesetzlichkeit durch ehemalige
und jetzige Funktionäre der SED.
Diese Kommission übernahm das
Regiment im Hause des ehemaligen ZK. Der Arbeitsausschuss beschloss, „angesichts der bedrohlichen Lage im Lande“ den Beginn
des Außerordentlichen Parteitags
um eine Woche vorzuverlegen. Am
Abend des 8. Dezember 1989 trafen sich über 2.700 Delegierte in
der Berliner Dynamo-Sporthalle zur
ersten Runde des Außerordentlichen Parteitags.
Auflösung oder
Erneuerung der Partei?
Gegen Forderungen, die Partei aufzulösen, hatte Hans Modrow schon
in seiner Eröffnungsrede die Delegierten beschworen: „Lasst uns
diese Partei, die sich auf Karl Marx
und Friedrich Engels, Wilhelm
Liebknecht und August Bebel, Rosa
Luxemburg und Karl Liebknecht,
Ernst Thälmann und Rudolf Breitscheid, Wilhelm Pieck und Otto
Grotewohl beruft, lasst diese Partei
nicht zerbrechen, nicht untergehen, sondern macht sie sauber und
stark.“ Auch Gregor Gysi hatte
schon in seiner ersten Parteitagsrede vor einer Auflösung der Partei
als „im hohen Maße verantwortungslos“ gewarnt. Nichtsdestotrotz
kam gegen Mitternacht der Eklat.
Ein Delegierter forderte im Auftrag
seiner Genossen die Auflösung der
Partei und eine Abstimmung darüber „ob die Partei bestehen bleibt
oder nicht“. Die Tagung wurde unterbrochen und nachts um ein Uhr
in geschlossener Sitzung fortgesetzt. Hans Modrow hielt eine dramatische Rede, die mit dem beschwörenden Satz endete: „Ich
muss hier in aller Verantwortung
sagen: Wenn bei der Schärfe des
Angriffes auf unser Land dieses
27
Land nicht mehr regierungsfähig
bleibt, weil mir, dem Ministerpräsidenten der Deutschen Demokratischen Republik, keine Partei zur
Seite steht, dann tragen wir alle die
Verantwortung dafür, wenn dieses
Land untergeht!“
Heinz Vietze, damals 1. Bezirkssekretär der SED Potsdam, schlug
nach Abstimmung mit den anderen
1. Bezirkssekretären das weitere
Procedere vor: Wahl des Parteivorsitzenden und des Parteivorstands,
Fortsetzung des Parteitags in einer
Woche und damit Erhalt der Partei.
Tagungsleiter Wolfgang Pohl fragte: „Wer dafür ist, dass wir unsere
Partei auflösen, den bitte ich um
das Kartenzeichen.“ Es wurde keine einzige Karte erhoben. Die
Auflösung der Partei war vom
Tisch. Sie hätte das Land vollends
ins Chaos gestürzt. Die Entscheidung für den Fortbestand der Partei in der Nacht vom 8. zum 9. Dezember 1989 war aus meiner Sicht
die historisch bedeutsamste Tat
des Außerordentlichen Parteitags.
Ohne sie gäbe es heute keine Partei DIE LINKE.
Nach einem nervenaufreibenden
und nicht immer fairen 14stündigen Marathon ging die erste
Runde des Parteitags mit der Wahl
zu Ende: Vorsitzender Gregor Gysi,
Stellvertreter Hans Modrow, Wolfgang Berghofer, der sechs Wochen
später mit seiner Dresdener Entorage die Partei verließ, Wolfgang
Pohl, plus 97 weitere Mitglieder
des Vorstands, darunter nur 19
Frauen. Die zweite Runde war am
16. Und 17. Dezember.
Die Tage vor und bis zum Ende des
Parteitags waren voller Dramatik.
Am 28. November hatte Bundeskanzler Helmut Kohl sein ZehnPunkte-Programm verkündet, in
dem er in Punkt 5 die „Schaffung
konföderativer Strukturen“ für „sogar denkbar“ erklärte. Voraussetzung sei „allerdings eine vom Volk
legitimierte und demokratisch gewählte Regierung der DDR“. In
Punkt 10 wurde die alte Formel
von einem „Zustand des Friedens
in Europa“ wiederholt, „in dem das
28
deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt“. Das Signal auf baldige
„Wiedervereinigung“ unter kapitalistischem Vorzeichen war gesetzt.
Die Protestdemonstrationen hielten
an, waren aber noch nicht in die
Einheits-Euphorie umgeschlagen.
Am 29. November war der Vorstand des FDGB zurückgetreten.
Die größte Massenorganisation der
DDR hatte sich selbst enthauptet.
Am 1. Dezember hatte die Volkskammer auf Antrag aller Fraktionen, auch der SED, den Passus von
der „Führung der Arbeiterklasse
und ihrer marxistischleninistischen Partei“ ohne Debatte
aus dem Artikel 1 der Verfassung
der DDR gestrichen, nachdem die
führende Rolle der SED bereits
praktisch verspielt war. Der Passus, wonach die DDR „ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern“ ist, den die CDU-Fraktion weg
haben wollte, blieb erhalten. Der
„Demokratische Block“ der Parteien und Massenorganisationen und
die Nationale Front waren in Auflösung begriffen. Am 2. und am 7.
Dezember wurden Haftbefehle des
Generalstaatsanwalts der DDR gegen acht Mitglieder des Politbüros
erlassen und bis auf die gegen
Erich Honecker, der krank war und
Hermann Axen, der zur Krankenhausbehandlung in Moskau weilte,
vollzogen. Am 6. Dezember trat
Egon Krenz von seinen Funktionen
als Vorsitzender des Staatsrats und
des Nationalen Verteidigungsrats
zurück. Am 7. Dezember, einen Tag
vor Eröffnung des Parteitags, war
der Zentrale Runde Tisch unter der
Regie von Kirchenfunktionären
zum ersten Mal zusammengetreten.
Die SED war dort nur noch eine
von vielen Teilnehmern. Außer den
anderen Volkskammer-Parteien,
die ihr Block-Dasein schnell hinter
sich gelassen hatten, waren die im
September/Oktober gegründeten
oppositionellen Vereinigungen Neu
-es Forum, Demokratie jetzt, Demokratischer Aufbruch, Initiative
Frieden und Menschenrechte, Sozialdemokratische Partei in der DDR
marxistische Theorie und sozialistische Politik
am Runden Tisch präsent. Das waren allenthalben Frauen und Männer, die - jedenfalls damals und so
wie sie das kundtaten – die DDR
positiv verändern, aber nicht abschaffen wollten. Die ModrowRegierung war die einzige Institution, die relativ stabil war und die
DDR vor dem Versinken im Chaos
bewahren konnte.
Die Akteure
Der Sonderparteitag war von ganz
anderer Art als die sterilen und
einem vorher festgelegten Drehbuch unterworfenen Parteitage der
SED. Es ging überaus lebendig zu.
Etwa 300 Mal nahmen Delegierte
in Diskussionsbeiträgen, zu Anträgen und mit Bemerkungen das
Wort. Ein Glanzpunkt demokratischer Kultur war das jedoch nicht.
Streckenweise verlief das Unternehmen chaotisch und in emotional aufgeheizter Atmosphäre. Natürlich zogen Funktionäre vor und
hinter den Kulissen Fäden und
übten maßgeblichen Einfluss auf
die Parteitagsmeinung aus. Nach
meiner Wahrnehmung waren das
mit Abstand vor allen anderen
Gregor Gysi, seine drei Stellvertreter Wolfgang Berghofer, damals
noch Oberbürgermeister von Dresden, Hans Modrow und Wolfgang
Pohl, dann die Referenten Michael
Schumann, Philosophie-Professor
an der Akademie für Staats- und
Rechtswissenschaften PotsdamBabelsberg und Dieter Klein, Politökonomie-Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin, auch
die neuen Bezirksvorsitzenden der
SED-PDS, darunter Roland Claus,
Halle und Heinz Vietze, Potsdam
und nicht zuletzt Lothar Bisky,
Rektor der Hochschule für Film
und Fernsehen Potsdam als Vorsitzender der Redaktionskommission
des Parteitags, für SED-Verhältnisse junge Leute, der Älteste der
Genannten 61, der Jüngste 34.
Mitglieder der alten Parteiführung
– ob aus Honeckers Zeiten oder aus
den Krenz-Wochen – hatten keine
Chance, sich zu äußern. Die Tatsache, dass Egon Krenz und kein anderer die Ablösung Honeckers geBulletin ● Geraer Sozialistischer Dialog
wagt hatte, dass unter seiner Leitung erste, wenn auch noch inkonsequente Schritte einer Erneuerung
in Partei und Gesellschaft gegangen wurden, dass er den Befehl
gegeben hatte, keine Waffengewalt
anzuwenden, hat der Parteitag
nicht honoriert. Im Gegenteil.
Krenz musste als Sündenbock herhalten. Gegen demokratische Spielregeln wurde beschlossen, „nieman
-den von der alten Führung hier
reden“ zu lassen. Kommentar des
Tagungsleiters Berghofer: „Das war
eine wichtige Entscheidung.“ Wahrscheinlich hatte er recht. Die Stimmung auf dem Parteitag gegen alles, was nach Honecker`scher Abkunft roch, war so aufgeheizt, zuweilen hasserfüllt, dass jeder Angehörige der ehemaligen Führung
erbarmungslos ausgepfiffen worden wäre, was immer er gesagt
hätte. Delegierte aus dem Bezirk
Dresden hatten beantragt, dass
ehemalige Politbüromitglieder das
Tagungsgebäude verlassen sollten.
Das war dem Tagungsleiter denn
doch zu viel. Der von einigen Mitgliedern des zurückgetretenen ZK
vorgelegte selbstkritische Bericht
„Zu Ursachen der Krise der SED
und der Gesellschaft“ und Berichte
der Zentralen Parteikontrollkommission und der Zentralen Revisionskommission der SED wurden
ohne große Diskussion als nicht
den Erwartungen entsprechend zur
Kenntnis genommen. Das Aktionsprogramm, das die 10. Tagung des
ZK beschlossen hatte, war vergessen, obwohl Eckpunkte daraus in
Beschlüssen und Reden auf dem
Parteitag auftauchten.
Ausländische Gäste waren zum
Parteitag nicht eingeladen. Außergewöhnlich: Ein Parteitag der Noch
-SED ohne eine Delegation der
KPdSU! Michail Gorbatschow hat
erst der 2. Runde des Parteitags ein
Grußschreiben zukommen lassen,
in dem es hieß, die DDR erwerbe
„als Staat und als Gesellschaft eine
neue Qualität“, ein klares Wort zur
Fortexistenz der DDR als souveräner Staat aber fehlte. In der Woche
zwischen den zwei ParteitagsrunAusgabe 43 Januar 2015
den hatte es zwei Telefonate zwischen Gorbatschow und Gysi sowie
ein Treffen Gysis mit dem Mitglied
des Politbüros der KPdSU Jakowlew gegeben. Die Niederschriften
lassen aufscheinen, dass in Moskau
Pläne zum Aufgeben der DDR zugunsten der BRD weit gediehen
waren. Bindende Zusicherungen
für die DDR wurden nicht gegeben.
Gorbatschow hatte schon auf dem
Gipfeltreffen des Warschauer Vertrags am 4. Dezember darüber philosophiert, dass „allmählich eine
Verantwortungsgemeinschaft“ der
zwei deutschen Staaten entstehe.
A
uch die Möglichkeit einer Konföderation bedeute nicht die Abschaffung
der Existenz der beiden
Staaten. Das sei ein „sehr flexibler
Gedanke“. Im Telefonat am 10.
Dezember fand er in den Reden
von Modrow und Gysi besonders
den „Kampf um Erhalt der Eigenständigkeit der DDR für beachtenswert, „obwohl man in der Sowjetunion sehe, dass neue Bedingungen entstanden seien, die in nächster Zeit zu beachten seien“. Im Telefonat vom 14. Dezember beruhigte
er Gysi, dass er Kohl und anderen
westlichen Politikern die sowjetischen Positionen bezüglich „Wiedervereinigungsforderungen sehr
deutlich dargelegt habe. Der Hauptgedanke der sowjetischen Position
bestehe darin, dass alles nur ein
Ergebnis des gesamteuropäischen
Prozesses sein dürfe.“ Die Nachtigall trapste hörbar!
Was für eine Partei?
Die Beschlüsse des Parteitags gingen mit Selbstverständlichkeit davon aus, dass die erneuerte Partei
eine marxistische sein würde. Niemand sah im Bekenntnis zum Marxismus einen Widerspruch zu dem
anderen Diktum: „Wir brechen
unwiderruflich mit dem System
des Stalinismus“ über das Michael
Schumann eindringlich und ausgewogen referiert hat. Dass dieser
Bruch notwendig und endgültig
ist, war die einhellige Position des
Parteitags. Die scharfe Kritik am
Stalinismus mündete bei Schumann keineswegs in ein allgemeines Verdammungsurteil der DDR.
Das Referat von Michael Schumann wurde einstimmig als Arbeitsgrundlage bestätigt.
Im Dokument „Für die DDR – für
demokratischen Sozialismus“ und
im Beschluss „Zu den nächsten
Aufgaben der SED/PDS“ hieß es,
die Partei „führt das Werk von
Marx, Engels und Lenin fort“. Dieter Klein, der über das Herangehen
an die Ausarbeitung eines neuen
Parteiprogramms referierte, hielt
die Marxsche Theorie „als dialektisch-materialistische und historische Denkweise glänzend für vorurteilslose Analysen und entwicklungsoffene Wissenschaft geeignet“. „Ewige Wahrheiten in Form
eines fertigen Systems des Marxismus-Leninismus, die gibt es nicht,
aber es gibt ein Weiterdenken mit
der Denkstruktur von Marx, Engels
und Lenin über ihre Zeit hinaus,
und das ist unser Denken.“
Das neue Statut begann mit dem
Satz: „Die Partei ist eine marxistische sozialistische Partei.“ Die
nächsten Sätze lauteten: „Die Partei
stützt sich auf die Traditionen und
das theoretische Erbe der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung. Ihre Hauptwuzeln
liegen in der kommunistischen und
sozialdemokratischen Arbeiterbewegung sowie auch in sozialistischen, antifaschistischen, pazifistischen und internationalen linken
Traditionen, besonders denen
Lenins. Theoretische Grundlage der
Partei ist der Marxismus. Sie verarbeitet schöpferisch alle theoretischen und konzeptionellen Impulse
anderer theoretischen und konzeptionellen Impulse anderer geistiger
und politischer Strömungen, die
der Entfaltung der Persönlichkeit
in der sozialistischen Gesellschaft
und der Sicherung des Überlebens
der Menschheit dienen. Sie stützt
sich in ihrer Politik auf moderne
Gesellschaftswissenschaften. Die
Partei tritt für eine Gesellschaft
ein, in der die freie Entwicklung
29
eines jeden die Bedingung für die
Freiheit aller ist.“ Im Statut war die
organisatorische Verankerung der
Partei in Betrieben, Genossenschaften und Einrichtungen noch nicht
aufgegeben. „Einheitliches Handeln
der Mitglieder für die Verwirklichung mehrheitlich gefasster Beschlüsse“ war gefordert.
Das an sich konfliktträchtige Thema des Namens der erneuerten
Partei ging in geschlossener Sitzung dank Gysis diplomatischen
Geschicks problemlos über die
Bühne. Angesichts dessen, dass es
um existentielle Fragen, „auch
wirklich um Fragen der Erhaltung
des Friedens“ geht, dürfen wir uns
„an der Frage des Namens nicht
spalten. Dazu haben wir nicht das
Recht.“ Aber viele Genossen würden meinen, „zu einem wirklichen
Neuanfang gehört auch ein neuer
Name“. Der salomonische Kompromissvorschlag Gysis, wir nennen
uns vorläufig SED-PDS, wurde ohne
Diskussion mit 2.434 gegen 172
Stimmen bei 39 Enthaltungen angenommen. Schon am 4. Februar
1990 beschloss der Parteivorstand,
den Namensteil „Sozialistische Einheitspartei Deutschlands“ zu streichen.
30
Unser Land
Für die Delegierten des Parteitags
war die Vereinigung der zwei deutschen Staaten – auf welchem Weg
auch immer – kein Thema. Hans
Modrow meinte in seiner Eröffnungsrede, eine Vereinigung von
DDR und BRD sei keine Frage der
aktuellen Politik und plädierte für
eine Vertragsgemeinschaft zwischen beiden souveränen deutschen Staaten. „Unsere erste Aufgabe wird darin bestehen, dieses
Land zu bewahren“. Der Parteitag
ging auch davon aus, dass der Sozialismus nicht abgeschafft, sondern
erneuert werden würde und könnte. Das war auf dem Parteitag bei
allem sonstigen Streit selbstverständlicher Konsens. Die Grundsatzrede von Gregor Gysi am letzten Beratungstag war geradezu
„staatstragend“ im Sinne eines allseitigen Vorschlags von Schritten
für die Neugestaltung sozialistischer Staats-, Rechts-, Wirtschaftsund Gesellschaftsverhältnisse in
fortbestehender Eigenständigkeit
und Eigenstaatlichkeit der DDR.
Die Rede wurde mit sehr viel Zwischenbeifall bedacht und ohne
Diskussion als Arbeitsgrundlage
angenommen. Man mag das – zu-
marxistische Theorie und sozialistische Politik
mal nach der Öffnung der Grenze
vier Wochen vorher und dem erkennbaren Fallengelassen-Werden
durch den „Großen Bruder“– für
eklatanten Realitätsverlust halten.
Nicht dass die tödliche Gefahr des
Aufgefressen-Werdens der DDR
durch die BRD nicht erkannt worden wäre. Aber es herrschte die
Entschlossenheit vor, für die Fortexistenz unseres Landes zu kämpfen. Dass das eine Illusion war,
mindert in meinen Augen nicht im
Mindesten die historische Berechtigung des damaligen Ringens um
Erhalt und Erneuerung einer sozialistischen DDR. Mit dem so schnellen Ende der DDR hatte im Übrigen im Dezember 1989 kaum jemand in Ost und West gerechnet.
Sechs Wochen später hatte sich
das Thema „Gestaltung des demokratischen Sozialismus in der DDR“
erledigt.
Gregor Schirmer
Mit freundlicher Genehmigung des
Autors und der Redaktion „Neues
Deutschland“
Bulletin ● Geraer Sozialistischer Dialog
Gelungener Jahresauftakt für AntikapitalistInnen
Bericht von der AKL-Bundesmit- zung von möglichen fortschrittli- nächst Michael Aggelidis vom
gliederversammlung am 11. Januar chen Maßnahmen rot-grüner Regie- NRW-Landesvorstand. Er plädierte
rungen anbieten könne. Das gelte ausdrücklich dafür, positiv an dem
in Berlin
Mit 130 Mitgliedern und sieben
Gästen war die Bundesversammlung der Antikapitalistischen Linken (AKL) zum Jahresauftakt deutlich besser als erwartet besucht.
Wer zu spät von der Luxemburg/
Liebknecht- Gedenkdemonstration
in die benachbarte „Kiezspinne“ in
Berlin- Lichtenberg kam, fand keine freien Stühle mehr.
Göttingen Die AKL hat sich durch
sehr konstruktive Diskussionen
über die umstrittene Regierungsfrage, über Antworten auf ausländerfeindliche Aufmärsche und den
Wahlkampf in Griechenland für
die politischen Herausforderungen
in der LINKEN gut aufgestellt.
Regierungsfrage
Viele TeilnehmerInnen hatten zuvor an der Gedenkdemonstration
und am Vortag an der „junge-Welt“Konferenz für Rosa Luxemburg
und Karl Liebknecht teilgenommen, um die marxistischen Ideen
dieser Vorkämpfer der deutschen
Arbeiterbewegung wach zu halten.
Die Kritik von Rosa Luxemburg am
Eintritt von SozialistInnen in bürgerliche Regierungen stand auch
im Hintergrund der Debatten über
die Frage, ob und unter welchen
Bedingungen sich DIE LINKE an
solchen Regierungen beteiligen
kann.
Sascha Stanicic eröffnete diesen
Tagesordnungspunkt, für den ein
umfangreicher Reader und ein
neuer Diskussionsbeitrag von Ekkehard Lieberam vorlagen, mit
einem von drei kurzen Referaten,
in dem er sich grundsätzlich gegen
Koalitionen der LINKEN mit Kriegsund Kürzungsparteien aussprach,
auch wenn sie bei der Präsentation
dieser Haltung auf Illusionen in
der Bevölkerung Rücksicht nehmen und eine EinzelfallunterstütAusgabe 43 Januar 2015
auch für Thüringen: Wenn DIE
LINKE mit einem sozialistischen
Regierungsprogramm angetreten
wäre und Forderungen wie ein
Nein zur Schuldenbremse, Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnund Personalausgleich für die Landesbeschäftigten, öffentliche Investitionsprogramme und die Auflösung des Verfassungsschutzes u.ä.
aufgestellt hätte, wären SPD und
Grüne sicher nicht einmal zu Sondierungsgesprächen erschienen.
Thies Gleiss referierte eine Mittelposition in der AKL: Zwar gäbe es
kein „linkes Lager“; und mit SPD
und Grünen seien antikapitalistische Forderungen objektiv nicht
durchsetzbar. Dies habe sich auch
in Brandenburg und Thüringen
schon wieder bestätigt. Trotzdem
dürfe DIE LINKE solche Bündnisse
nicht prinzipiell ausschließen, sondern müsse das jeweils neu am
konkreten Beispiel untermauern.
Es sei jedenfalls gut, dass Ramelow
die Chance genutzt habe. Alle Mitglieder der LINKEN seien sich immerhin darin einig, dass wir keine
neue SPD bräuchten.
Auch Christian Leye aus Bochum
erklärte in seinem Input für den
erkrankten Wolfgang Zimmermann, dass zwar alle AKLMitglieder im Grundsatz eine Koalition mit SPD und Grünen ablehnen
würden, dass aber diese Position in
der Partei nicht mehrheitsfähig sei
und deshalb nur durch die Verteidigung der roten Haltelinien vermittelt werden könne. Die AKL
solle eine Regierungszusammenarbeit deshalb von schärfer formulierten Bedingungen (zum Beispiel
ein Nein zur Schuldenbremse) abhängig machen und sie damit indirekt blockieren, anstatt sie offen
abzulehnen.
Ähnlich äußerte sich dann in der
kontrovers, aber sehr solidarisch
geführten Plenumsdebatte zu-
jüngsten Vorschlag vom Fraktionsvorsitzenden der LINKEN im Bundestag, Gregor Gysi, anzuknüpfen,
der Führung von SPD und Grünen
jetzt Gespräche über eine rot-rotgrüne Bundesregierung anzubieten.
AKL-VertreterInnen sollten sich
daran beteiligen, um konkret zu
beweisen, dass mit ihnen kein wirk
-licher Politikwechsel (zum Beispiel
in der Umweltpolitik) möglich sei.
Karin Binder, Bundestagsabgeordnete aus Ba.-Württemberg meinte,
dass man die Regierung von Ramelow in Thüringen zunächst unterstützen müsse, um den angekündigten Politikwechsel nicht ausgerechnet an der LINKEN scheitern
zu lassen.
Andere RednerInnen entgegneten,
dass ein Politikwechsel mit Hartzund Kürzungsparteien und auf der
Grundlage der Schuldenbremse gar
nicht möglich sei und dass die roten Haltelinien des Erfurter Programms in den Koalitionsvereinbarungen auch keine Rolle gespielt
hätten. Die gebrochenen Versprechungen hätten der LINKEN insbesondere in den außerparlamentarischen Bewegungen geschadet und
sie gerade unter den wahlmüden
Opfern des Systems unglaubwürdig
gemacht.
Landesregierungen unter Beteiligung der LINKEN seien deshalb
kein „Exportschlager“, wie das von
der Parteivorsitzenden Katja Kipping bezeichnet wurde, sondern im
Gegenteil eine Belastung für den
Aufbau der LINKEN als Systemalternative. DIE LINKE könne sich
nur gemeinsam mit anderen systemkritischen Parteien an Regierungen beteiligen, wenn sie sich
dabei – wie aktuell in Griechenland - auf eine breite Mobilisierung
der Bevölkerung stützen könne.
Wenn das die Überzeugung der
AKL sei, dann müssten solche
Wahrheiten auch dann offen ausge31
sprochen werden, wenn sie noch
unbequem und erklärungsbedürftig bleiben. Immer wieder wurde in
der Diskussion geäußert, dass die
roten Haltelinien nicht ausreichen
würden.
Alle RednerInnen und die Bundesversammlung insgesamt bestätigten in der Debatte die gemeinsame
Positionierung des AKL-Gründungsaufrufs, demzufolge die „Veränderung der gesellschaftlichen Machtund Eigentumsverhältnisse nicht
über Regierungskoalitionen mit
bürgerlichen Parteien (…) erzeugt
werden kann“, auch wenn es weiterhin unterschiedliche Akzente in
der öffentlichen Präsentation dieser Haltung gibt.
AKL-Strategie und PEGIDA-Aufmärsche Den zweiten Tagesordnungspunkt zu den aktuellen Aufgaben
der AKL leitete Jürgen Aust (vom
Landesverband NRW) auf der
Grundlage seines Papiers „AKL
2015“ ein. Darin befürwortet er
eine Konferenz zum „Friedenswinter“. Unter anderem begründete er das damit, dass das Forum
Demokratischer Sozialismus (FDS)
rechtslastige Wortführer von sogenannten „Mahnwachen“ zur Diskreditierung friedenspolitischer Grund
-sätze und Kampagnen der Partei
zu benutzen versuche.
Außerdem solle sich die AKL an
der Kampagne gegen prekäre Arbeitsverhältnisse, an der Vorbereitung des „Zukunftskongresses“ und
am Kampf gegen das Gesetz zur
Tarifeinheit beteiligen. Anschließend berichtete Heidrun Dittrich
über den Tarifkampf bei den Beschäftigten im Sozial- und Erziehungsdienst.
In diesem Zusammenhang stellte
Lucy Redler, die gemeinsam mit
Sylvia Gabelmann die Tagungsleitung übernommen hatte, eine Resolution zu den PEGIDA-Aufmärschen
vor, die im Plenum für sehr engagierte Debatten sorgte. Darin soll
die Mobilisierung zu Gegendemonstrationen und Blockaden mit
dem Kampf gegen die sozialen Ursachen und wirklichen Verantwortlichen für Fremden- und Islam32
feindlichkeit verbunden werden.
Zudem soll die Heuchelei der
„Kritik“ seitens der Regierungsparteien an den Organisatoren dieser
Aufmärsche und an der AfD aufgezeigt werden. Anders als von der
Parteiführung befürwortet, sollen
bürgerliche Parteien nicht als
Bündnispartner bei Gegendemonstrationen betrachtet werden.
Anträge auf Streichung dieser
Passagen der Resolution wurden
damit begründet, dass Gegendemonstrationen durch möglichst
breite Bündnisse einschließlich der
bürgerlichen Parteien getragen
werden sollten, während andere
Mitglieder betonten, dass Sozialabbau und Rassismus von oben den
jüngsten Entwicklungen erst den
Boden bereitet hätten. Diese Position erhielt in Tendenzabstimmungen eine knappe Mehrheit, nachdem die Bundestagsabgeordnete
Inge Höger ihre Streichungsanträge
zum Teil zurückgezogen hatte und
Lucy Redler mit einer Überarbeitung der Resolution durch den
BundessprecherInnenrat
einverstanden war.
Die Bundesversammlung bekräftigte in der Diskussion die Stellungnahmen von BundessprecherInnenrat und Länderrat zur FDSKampagne gegen den vermeintlichen Antisemitismus sowie gegen
angebliche Querfrontbestrebungen
im linken Parteiflügel. Auch wenn
diese Fragen nicht im Mittelpunkt
des öffentlichen Eingreifens stehen
werden, soll eine Arbeitsgruppe
um Jürgen Aust eine Konferenz zur
Debatte über den „Friedenswinter“
vorbereiten.
Griechenland
Immer wieder in der Debatte wurde auf die anstehenden Wahlen in
Griechenland und die Chance für
Syriza, die Regierung zu übernehmen, Bezug genommen, unter anderem von dem Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko und Michael
Aggelidis. Andrej berichtete, dass
die Absage von Syriza an Regierungskoalitionen mit der sozialdemokratischen PASOK erst deren
marxistische Theorie und sozialistische Politik
Aufschwung zur stärksten Partei in
Griechenland ermöglicht habe,
während die Abspaltung Dimar
aufgrund ihres Eintritts in die von
der konservativen ND geführte
Regierungskoalition 2012 mittlerweise bedeutungslos geworden sei.
Syriza müsse gegen die Erpressungskampagnen insbesondere der
deutschen Regierung unterstützt
werden, weil ein Syriza-Erfolg der
Austeritätspolitik in ganz Europa
einen schweren Schlag versetzen
und massive Reaktionen des Kapitals und der Europäischen Union
hervorrufen würde.
Zudem wurde ein Resolutionvorschlag von Inge Höger zur Solidarität mit Syriza im griechischen
Wahlkampf behandelt. Torsten
Sting aus Rostock schlug vor, die
Aufgabe einer Syriza-Regierung,
mit den Eigentumsverhältnissen zu
brechen, in die Resolution aufzunehmen, die vom BundessprecherInnenrat überarbeitet werden soll.
Die Resolution wurde einstimmig
verabschiedet.
Fazit
Die Mitgliederversammlung konnte
nach vier Stunden sehr diszipliniert und in freundschaftlicher
Atmosphäre geführter Debatten
trotz der umfangreichen Tagesordnung, der Behandlung von Anträgen und vielen Plenumsbeiträgen
pünktlich um 17 Uhr von der Tagungsleitung beendet werden. Die
Antikapitalistische Linke hat gezeigt, dass inhaltliche Kontroversen und gemeinsames, zielorientiertes Handeln kein Widerspruch sein
müssen. Die AKL stand im letzten
Jahr stark unter Beschuss. Mit ihrem Jahresauftakt in Berlin können
AntikapitalistInnen in der LINKEN
zusammen mit anderen Mitgliedern des linken Parteiflügels nun
eine Gegenoffensive einleiten.
Heino Berg
Bulletin ● Geraer Sozialistischer Dialog
Solidarität mit Syriza - Für ein Ende der Austeritätspolitik
in Griechenland und Europa
Die Wahlen in Griechenland sind
eine Chance für einen Kurswechsel
im Land, weg von der Umsetzung der
Troikapolitik. Die griechische
Bevölkerung hat nun die Möglichkeit, dem neoliberalen Austeritätsspuk ein Ende zu machen. Die Austeritätspolitik von Merkel und Co.
hat das Land verwüstet und zu massiver Armut und Ausgrenzung eines
großen Teils der Bevölkerung geführt. Nun kann in einem der von
der Krise am stärksten betroffenen
Länder eine Regierung gewählt werden, die Alternativen zu den aufgezwungenen Einsparprogrammen der
Troika durchsetzen will. Es gibt Alternativen zu der angeblich alternativlosen Politik der EU und nicht diese
Alternativen destabilisieren sondern
die Politik zur Rettung von Banken
und Konzernen.
Die Linkspartei Syriza hat ein Wahlprogramm beschlossen, in dem der
„Logik der unrealistischen primären
Haushaltsüberschüsse“ eine Absage
erteilt wird. Das Programm sieht eine
„Übereinkunft auf Werkzeuge für ein
Wirtschaftswachstum“ vor, von dem
alle Bürgerinnen profitieren sollen.
In Verhandlungen innerhalb der
europäischen Union und der europäischen Institutionen soll über die Bedienung der griechischen Schulden
neu entschieden werden. Dabei
strebt Syriza die Streichung des größten Teils der Schulden und die Rückzahlung des Restes abhängig vom
Wirtschaftswachstum des Lan-des an.
Ein möglicher Sieg von SYRIZA bei
den kommenden Wahlen in Griechenland gibt Hoffnung auf einen
möglichen Richtungswechsel der
Politik in Europa. Ein anderes soziales, friedliches, ökologisches und
demokratisches Europa erscheint
möglich. Auch wenn die Schwierigkeiten der Umsetzung des Wahlprogrammes erst nach der Wahl beginnen werden. Schon jetzt werden Drohungen und Druck von Seiten der
Staats- und Regierungschefs der EU,
der Troika und der Finanzinstitutionen ausgeübt, um die Wahl der grie-
Ausgabe 43 Januar 2015
chischen Bevölkerung zu beeinflusDie eigentliche Aufgabe liegt aber
sen. Das ist inakzeptabel.
vor Syriza, sollte die Partei nach den
Glaubt man den Erklärungen aus den Wahlen die stärkste Partei werden.
Reihen der Athener Regierungskoali- Dann geht es darum, das
tion, dann „drohe Griechenland das Wahlprogramm umzusetzen. Schritte,
Chaos“, sollte Syriza als Siegerin aus wie kostenlose Energie- und Gesundden Parlamentswahlen hervorgehen. heitsversorgung für bedürftige FamiVor einer „irreparablen Schädigung lien, ein Wohnraumprogramm und
der griechischen Wirtschaft“ auf- die Erhöhung des Mindestlohnes
kratzen noch nicht an den kapitalistigrund der
entstandenen „politischen Instabili- schen Eigentumsverhältnissen. Aber
tät“, warnte Yiannis Stournaras, Prä- Syriza wird es mit der versammelten
sident der griechischen Zentralbank Wirtschaftsmacht im Euroraum zu
und bis Mai 2014 Finanzminister in tun bekommen, die keine Änderung
der Regierung Samaras. Unterstützt der bestehenden Verhältnisse wolwird die Angstkampagne vor einem len.
möglichen Regierungswechsel durch
ranghohe EU-Funktionäre, wie den Die griechische Bevölkerung brau-cht
Präsidenten der Europäischen Kom- bei der Wahrnehmung ihrer demomission, Jean-Claude Juncker. In kratischen Rechte keine ungebeteBrüssel sehe man lieber „vertraute nen Ratschläge von außen, vor allem
Gesichter“ in einer zukünftigen grie- keine Drohungen durch die wirtschaftlich Mächtigen und durch Rechischen Regierung.
Auch führende deutsche Regierungs- gierungsvertreter aus anderen europolitiker und die Mehrzahl der Medi- päischen Staaten.
en beteiligen sich, wie schon während des Wahlkampfes im Frühsom- Wir lehnen die Vorstellung der Bunmer 2012, an dieser Kampagne. Ihre deskanzlerin Merkel von einer
Botschaft an die griechischen Wäh- „marktkonformen Demokratie“ ab,
ler*innen lautet: Ihr werdet einen nach der ganz Europa funktionieren
hohen Preis für eine Wahlentschei- soll. Dem Recht des Stärkeren und
dung zu Gunsten der Linken zu zah- der Märkte setzen wir die Solidarität
len haben. Die Märkte und das übri- der „Schwachen“, der arbeitenden
ge Europa – darunter verstehen sie und erwerbslosen Bevölkerungen in
deren Regierungen – werden euch Europa entgegen.
das Vertrauen entziehen und Griechenland in eine noch größere wirt- Wir werden der Hetze durch Medien
schaftliche Depression stürzen. Die und Politiker in Deutschland entgeDrohkulisse ist aufgebaut; ob sie die gentreten, die das Ziel verfolgen,
beabsichtigte Wirkung bei den Wäh- diese Zustände aufrecht zu erhalten
und werden der griechischen Bevöllern hervorruft, bleibt offen.
Denn die letzten zweieinhalb Jahre kerung solidarisch zur Seite stehen!
der bedingungslosen Umsetzung der
Spardiktate durch die Athener Regie- Wir unterstützen überall in Europa
rung haben eine wirtschaftlich, sozial diejenigen, die für eine Veränderung
und humanitär zerrüttete Gesell- der politischen Kräfteverhältnisse,
schaft hinterlassen. Demokratische für einen wirklichen Politikwechsel
Verfahrensweisen und Regeln sind dämpfen, die gemeinsam mit der
diesem Prozess zum Opfer gefallen. griechischen Bevölkerung ein soziaDie Bevölkerung hat bei Neuwahlen les, ökologisches, friedliches und
die Chance, die für diese Entwick- demokratisches Europa aufbauen
lung mit verantwortlichen Politiker wollen!
und Parteien in Griechenland abzuAKL-Erklärung (Inge Höger)
wählen.
33
Leserzuschrift für das Bulletin des „Geraer Sozialistischer Dialog“
Offenbarungseid der Linkspartei
Thüringens SPD-Führung hatte von
Anfang an klargestellt, dass sie zu
inhaltlichen Gesprächen über eine
gemeinsame Regierung unter einem Ministerpräsidenten der
Linkspartei erst dann bereit sei,
wenn diese die DDR als ein Unrechtsregime von Beginn an erkläre. Thüringens Linkspartei hat diese sozialdemokratische Vorbedingung akzeptiert. Ein erstes Geschenk, um den Status des Anwärters für die Aufnahme in den erlauchten Kreis der staatstragenden
Parteien zu erreichen?
Politiker einer sozialistischen Partei – eine solche zu sein wird von
ihr durchaus behauptet - haben
sich also hinter einen in den politischen Wissenschaften sehr umstrittenen antikommunistischen Kampf
-begriff des gesamten rechten und
konservativen Spektrums zu Eigen
gemacht. Obwohl zwischen den
Sachverhalten, die hier von der
SPD zusammengebunden worden
waren – DDR ein Unrechtsstaat
und eine Landesregierung unter
einem Ministerpräsidenten der
Linkspartei – kein plausibler Zusammenhang besteht. Diese Vorbedingung der SPD war eindeutig auf
Demütigung der gesamten Linkspartei angelegt.
Wird dies von den Parteimitgliedern der östlichen Bundesländer
anders gesehen? Hätten die gesagt,
unterschreibt das mal, das geht
schon in Ordnung? Für eine Partei
des Demokratischen Sozialismus
ist eine für diese Entscheidung
verbindliche Mitgliederbefragung
eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Doch auch hier unterscheidet
sich diese Partei nicht von den
bürgerlichen Parteien. Die Angst
vor der Basis ist auch bei der Linken zu Hause. Was sollten Parteien, bei der die Führungen keine
eigenen Interessen verfolgen, davon abhalten, wichtige, grundlegende Fragen den Mitgliedern vorzulegen? Gewiss, falsche Entschei34
dungen können auch die Mitglieder treffen. Aber es ist ein großer
Unterschied, ob Mitglieder oder
Vorstände sich irren. Der Irrtum
einer Mehrheit ist etwas anderes
als der einer Minderheit; weil bei
einer falschen Minderheitsentscheidung offen ist, ob es sich überhaupt um einen Irrtum – d. h. eine
Entscheidung nach bestem Wissen
und Gewissen – handelt oder ob
von vornherein subjektive Interessen im Spiel waren.
Mich interessiert, was Menschen,
die Mitglieder einer Partei des Demokratischen Sozialismus sind und
die damit immerhin als Sozialisten,
wenn auch nicht als Kommunisten
anzusehen sind, veranlasst, so zu
handeln. Können Sozialisten gleichzeitig Antikommunisten sein? Doch
wohl nicht! Sozialisten können
wohl Nicht-Kommunisten sein,
aber keine Antikommunisten! Der
Unterschied zwischen einem NichtKommunisten und einem Antikommunisten ist ein gewaltiger. Nichtkommunistische Sozialisten haben
klar benannte Vorbehalte gegen
Kommunismus, die sie nicht beliebig handhaben und deshalb die
Distanz zu Sozialdemokratismus,
Faschismus und Kapitalismus prinzipiell unüberwindbar macht, nicht
aber die zum Kommunismus.
Ich verstehe mich als Kommunist!
Damit mochte ich meine größtmögliche Distanz zu den herrschenden
Verhältnissen zum Ausdruck bringen. Die Herstellung dieser Distanz
sehen die Herren und Damen um
Herrn Ramelow nach ihrem Sozialismusverständnis wohl nicht als
notwendig an. Bei ihnen scheint
eher das gegenteilige Bedürfnis zu
bestehen.
Das Unrechtsstaats-Ansinnen der
SPD hätte als eine Steilvorlage zu
einem Gegenangriff genutzt werden können. Da freuen wir uns
aber, dass ihr in die Koalitionsverhandlungen etwas einbringt, was
mit dem Koalitionsprojekt nichts
marxistische Theorie und sozialistische Politik
zu tun hat, hätte ich erwidert. Wir
haben nämlich auch ein ähnliches
historisches Anliegen.
Die SPD hat in der Novemberrevolution 1918/19 im Bündnis mit den
reaktionärsten Kräften des Kaiserreiches, den Freicorps, die zu den
ersten Protagonisten des Nationalsozialismus gehörten, die Revolution blutig niedergeschlagen, und
damit verhindert, die feudalen und
kapitalistischen Eliten zu entmachten. Das Dritte Reich und vielleicht
auch der II. Weltkrieg wäre der
Welt damit erspart geblieben. Tausende von Arbeitern und Arbeiterinnen, davon auch viele Mitglieder eurer Partei sind auf den Straße und Häusern Berlins regelrecht
hingerichtet worden. Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht wurden
mit Wissen und wohlwollender
Duldung der Herren Ebert, Scheidemann und Noske von einer
Freicorps-Einheit ermordet. Dazu
hat die Partei sich bis heute nicht
bekannt, obwohl die Geschichtswissenschaft dies seit langem
nachgewiesen hat. Das könnt ihr in
diesem Zusammenhang nachholen
und Euer Bedauern zum Ausdruck
bringen.
Das wäre auch deshalb wichtig
gewesen, weil in diesem Zusammenhang auch hätte deutlich gemacht werden können, dass der
Sozialdemokratismus der Novemberrevolution eine historische Konstante ist. Bei den Reichspräsidentenwahlen 1932 hat die SPD keinen eigenen Kandidaten aufgestellt, sondern ihren Wählern, um
Hitler zu verhindern, empfohlen,
Hindenburg zu wählen. Die KPD
hatte Thälmann aufgestellt und die
Parole formuliert „Wer Hindenburg
wählt, wählt Hitler. Und wer Hitler
wählt, wählt den Krieg!“ Sie haben
Hindenburg gewählt und haben
Hitler bekommen und mit ihm
auch den Krieg. Wieder nur ein
verzeihlicher Irrtum? Nach dem
Krieg kein Eingeständnis ihren
Bulletin ● Geraer Sozialistischer Dialog
„Irrtums“, sondern purer Antikommunismus. Kein Antifaschismus!
Der sich darin hätte ausdrücken
müssen, dass die SPD alles hätte
tun müssen, um zu verhindern, die
Kommunisten schon Anfang der
fünfziger Jahren vor Gerichten wieder den in ihren Ämtern verbliebenen oder zurückgekehrten Richtern und Staatsanwälten der Nazizeit gegenüber saßen, dass GestapoLeute die Geheimdienste, Nazigeneräle die Bundeswehr der jungen
Bundesrepublik aufbauten. Bis
heute ist die sozialdemokratische
Präsenz bei antifaschistischen Demonstrationen nicht wahrnehmbar.
Ist es übertrieben zu sagen, durch
die sozialdemokratische Übernahme des nationalsozialistischen Antikommunismus steht diese Partei
dem Nationalsozialismus näher als
dem Sozialismus?
Müsste es nicht ein primäres Anliegen der Partei DIE LINKE sein, den
notorisch reaktionären Charakter
sozialdemokratischer Politik offen
zu legen, statt sich deren ebensolche Ansinnen - ich nenne nur die
Stichwörter Mauerbau, Zwangsver-
einigung und Unrechtsstaat – zu
beugen? Meine Antwort ist: Was
auch immer in der DDR falsch gemacht worden ist und Unrecht war
und was auch immer wir zu bedauern haben, bei euch haben wir uns
für nichts zu entschuldigen! Basta!
Valentin Prohacek
Mitglied
werden/werben:
Hiermit erkläre ich als Mitglied der Partei DIE LINKE meine Zugehörigkeit zum bundesweiten
Zusammenschluss Geraer Sozialistischer Dialog.
Sollte ich zu irgendeinem Zeitpunkt die Partei DIE LINKE verlassen, so werde ich den SprecherInnenrat des
Geraer Sozialistischer Dialog darüber in Kenntnis setzen.
Name:
Vorname:
Wohnanschrift:
Geburtsdatum:
Bundesland:
Datum:
Unterschrift:
Bitte an die folgende Kontaktadresse senden:
Jochen Traut, Robert-Koch-Straße 25, 98527 Suhl
per E-Mail an [email protected]
per Fax an (03681) 35 11 76
Ausgabe 43 Januar 2015
35
Schuld und Sühne:
Der 8. Mai 1945 –
Ein der „Tag der Befreiung“?
Ralph Giordanos Buch „Die zweite
Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein“ im Kontext der bevorstehenden Gedenkaktivitäten
zum 70. Jahrestag der Kapitulation
Deutschlands und der Befreiung
vom Faschismus mit dem Ende des
Zweiten Weltkrieges in Europa.
Zunächst gilt es festzustellen, dass die Länder, die das
faschistische deutsche Hitlerregime mit seiner Kriegsmaschinerie und seinen
menschenverachtende Übergriffen brutal unterworfen
hatte, mit der Kapitulation
Deutschlands am 8. Mai
1945 von diesem expansiven Herrschaftsanspruch befreit wurden. Befreit war
dann auch das europäische
Judentum, soweit es die an
ihm industriell und systematisch betriebene Vernichtung durch den deutschen
NS-Staat hatte überleben
können, vom Vernichtungswillen der faschistischen
Herrenrasse. Befreit waren
sicher auch die wenigen
Überlebenden in den zahlreichen Zwangsarbeiter- und
Gefangenenlagern, in den Konzentrationslagern und Todesfabriken
und die politischen Häftlinge in
den Zuchthäusern, unter ihnen
KommunistInnen, SozialdemokratInnen, SchriftstellerInnen, KünstlerInnen und andere Regimekritiker. Mit dem Blick auf die Geschichte politischer Systeme, lässt
sich der 8. Mai 1945 – objektiv
betrachtet – auch als Tag der Befreiung für die deutsche Gesellschaft kennzeichnen, denn sie war
36
von ihrem faschistischen und rassistischen Staatswesen befreit.
Denkt man allerdings an die Realität der Subjekte, an die im Dritten
Reich lebenden und handelnden
Deutschen in ihrer Mehrheit, dann
verschleiert der Begriff „Befreiung“
die historische Realität. Er verdeckt unangenehme Wahrheiten
und Wirklichkeiten und wirkt somit auf fragwürdige Weise wie
eine Selbstentlastung. Durch sie
aber werden bis in die Gegenwart
hinein Legenden am Leben erhalten und zelebriert, die quasi bereits
unmittelbar mit dem Kriegsende
1945 quer durch die deutsche Gesellschaft beliebt waren. Etwa die
von der „kleine Clique von Politkriminellen“, die sich ab 1933 „das
marxistische Theorie und sozialistische Politik
deutsche Volk unterworfen“ hätten
und „im deutschen Namen“ Unheil
über die Welt und dann über
Deutschland selbst gebracht habe.
Gewiss ist die Geschichtsverfälschung des Dritten Reiches und
des Zweiten Weltkrieges inzwischen durch historische Forschungen und Dokumentationen vielfach
widerlegt. Dennoch hält sich dieses
Geschichtsbewusstsein wie ein
zäher Kaugummi und wird dabei
zudem auch medial durch zahlreiche TV-Dokumentationen und
Buchveröffentlichungen
unterstützt, wenn fokussiert von den
„deutschen Opfern, Bombardierten
und Vertriebenen“ berichtet und
erzählt wird. Es gibt in der
aktuellen deutschen Gesellschaft ja nicht nur eine neonazistische Version eines
solchen Bewusstseins, sondern auch eine, die als verfassungskonform gilt, in der
das „deutsche Schicksal“
von 1933 bis 1945 als Werk
von „Gewalthabern und Verführern“ gedeutet wird –
eine Lesart die mit dem neuen deutschen Imperialismus
und Patriotismus gut vereinbar ist.
Wirft man wiederum auf der
anderen Seite einen Blick
auf die Koalition der „Befreier“, so empfiehlt sich
auch hier eine realistische
Sicht auf die Geschichte. Die
Allianz der Westmächte und
der Sowjetunion führte den
Krieg gegen Hitler Deutschland nicht etwa zur Befreiung
Deutschlands, sondern vielmehr
um dessen Aggression ein für allemal zu beenden.
Zudem wurden auch die imperialen Ziele im Konflikt der Westmächte und der Sowjetunion wirksam. Es war ein Zweckbündnis auf
Zeit, es betraf nicht primär den
Umgang mit dem deutschen Faschismus nach dem Sieg. Aus diesem Grunde konnten sich insbesondere in Westdeutschland nach
Bulletin ● Geraer Sozialistischer Dialog
Kriegsende sowohl ideologische
Fragmente wie auch handelnde
Personen aus Industrie, Banken,
Wehrmacht und Verwaltungsapparat des faschistischen Deutschland
wieder etablieren, so dass sich viele Linien der Kontinuität zwischen
den gesellschaftlichen Strukturen
im Deutschen Reich vor 1945 und
in Westdeutschland nach 1945, mit
Folgen bis in die Gegenwart ergeben.
Mentalitätsgeschichtlich und in der
gesellschaftlichen Realität muss
daher – auch heute 70 Jahre seiner
Niederschlagung – immer noch
eine Befreiung vom faschistischen
Erbe nachgeholt werden. Und nach
wie vor ist die Anfälligkeit für faschistische Denkweisen und Praktiken akut und auch kein deutsches
Spezifikum, wie der europaweit
zunehmende
Rechtspopulismus
oder die offene faschistische Agitation in der Ukraine belegen. Was
allerdings bleibt und mit uns und
unserer Geschichte verbunden ist,
das ist rassistische Ausrichtung
und das Ausmaß der Staatsverbrechen im deutschen Faschismus.
Gerade mit der Aufarbeitung des
Faschismus und seiner Verbrechen
im Namen Deutschlands hat sich
der kürzlich im Alter von 90 Jahren verstorbene jüdische Schriftsteller und Publizist Ralph Giordano sehr kritisch auseinandergesetzt
und bereits 1987 ein Buch darüber
veröffentlicht. Es trägt den Titel
„Die zweite Schuld oder Von der
Ausgabe 43 Januar 2015
Last Deutscher zu sein“.
In einer Neufassung aus dem Jahr
2000 hat Giordano bedingt durch
das Ende der DDR und seiner Folgen zusätzlich noch Erweiterung
und Änderungen hinzugefügt. Von
seiner Aktualität hat der Band aber
nichts eingebüßt. Im Gegenteil,
angesichts der nicht abreißenden
Welle von rechtsextremer Propaganda und Agitation ist Ralph Giordanos von Zorn und Trauer getragene Kritik an der zweiten Schuld
der Deutschen, also der Verdrängung und Verleugnung der ersten
unter Hitler, aktueller denn je. Er
vertritt nicht die These einer Kollektivschuld der Nachgeborenen.
Sein Buch ist den „schuldlos beladenen Söhnen, Töchtern, Enkelinnen und Enkeln“ gewidmet. Wohl
aber weist er überzeugend nach,
dass die Unterscheidung zwischen
den bösen Nationalsozialisten und
den übrigen Deutschen, die alle
„nichts gewusst“ haben wollen,
völlig verfehlt ist. Vielmehr sei der
nationalsozialistische Repressionsapparat seit 1936 überbesetzt gewesen, denn die politische Gesinnung der Bevölkerungsmehrheit
machte ihn seiner Ansicht nach
jedenfalls nicht notwendig. Angesichts der tief verankerten Zustimmung zum Nationalsozialismus
verwundert die Verdrängung und
Verleugnung des Nazi-Unwesens in
der Bundesrepublik kaum noch.
Eine Art von „kalter Amnestie“
führte dazu, dass viele Funktionsträger des Nazi-Reichs, von Wirtschaftsführern über Diplomaten
und Militärs bis hin zu Blutrichtern
und Staatsanwälten bis 1958 wieder in die Gesellschaft eingegliedert waren. Die Folgen dieser moralischen Katastrophe des Verdrängens haben die politische Kultur
der Bundesrepublik lange geprägt
und sind bis heute zu spüren. Giordano versucht mit seinem Buch
zu ergründen, wie es zum Verlust
der humanen Orientierung kam –
ein Topos, der sich durch das ganze
Buch zieht. Er will der Verdrängung entgegenwirken, weil die
Lebenslüge der für das Dritte Reich
verantwortlichen Generation bis
heute in unserer Gesellschaft nachwirkt. Wie sehr, macht die im Anhang abgedruckte Auswahl an teils
erschreckenden Briefen deutlich,
die der Autor nach der Erstveröffentlichung erhalten hat. Ralph
Giordano gelingt eine gnadenlose
Abrechnung mit einer langen politischen Mängelliste bundesdeutscher Wirklichkeit. Es wurde geschrieben, damit sich nicht wiederholt, was schon einmal in Verfolgung und Krieg mündete!
Andreas Schlegel
Das Buch:
Ralph Giordano: Die zweite Schuld
oder Von der Last Deutscher zu
sein. Verlag Kiepenheuer & Witsch
Köln, 2000, ISBN 978-3-462-029437, 374 Seiten für 9,95 Euro
37
„Natürlich gibt das vorliegende Buch Erlebnisse und
Eindrücke meiner bisher
neun Reisen nach Kuba wieder. Aber mein Anliegen soll
ein anderes sein. Es erscheint
2015. Die DDR, die anderen
Länder des Realsozialismus
und die Sowjetunion sind
Vergangenheit. Sprechen wir
von revolutionären Prozessen, dann vollziehen sie sich
weiterhin in Kuba und – nach
einem Ausspruch von Hugo
Chávez über >Sozialismus
im 21. Jahrhundert< – in einer Gruppe von Ländern Lateinamerikas“.
Hans Modrow
In eigener Sache:
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SprecherInnen- und Koordinierungsrat des Geraer Sozialistischer Dialog in der Partei DIE LINKE
Redaktioneller Beirat: Anton Latzo, Ekkehard Lieberam,
Michael Mäde, Renato Lorenz
Satz:
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98527 Suhl Tel.: 03681/707402
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Redaktionsschluss: 19. Januar 2015
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marxistische Theorie und sozialistische Politik
Bulletin ● Geraer Sozialistischer Dialog