Der letzte Überlebende

60 Sonntag/Montag,
3./4. Mai 2015
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70 JAHRE KRIEGSENDE
Der letzte Überlebende
Er war der jüngste
Gerettete, als das
Flüchtlingsschiff
„Wilhelm Gustloff“
1945 unterging.
Das Wasser hat Peter
Weise als Seemann
nie losgelassen.
Günter Grass
beschrieb
Weises Rettung.
Von Thorsten Czarkowski
ofort war er mit seinem
schrottreifen Kahn ausgelaufen und hatte ein Leichenfeld
vorgefunden. Dennoch ließ er immer wieder mit dem Bordscheinwerfer die See ableuchten, bis der
Lichtkegel ein wie unbemannt treibendes Rettungsboot einfing. Der
Obermaat Fick wechselte über
und fand neben den erstarrten Leichen einer Frau und eines halbwüchsigen Mädchens ein hartgefrorenes Wolldeckenbündel, das,
an Bord der ,VP 1703’ gebracht,
von der obersten Eisschicht befreit, dann aufgerollt wurde, worauf jener Säugling ans Licht kam,
der gerne ich gewesen wäre: ein elternloses Findelkind, der letzte
Überlebende der ,Wilhelm Gustloff’.“
Das schrieb Günter Grass. In seiner Novelle „Im Krebsgang“
(2002) hatte er das Schicksal des
Flüchtlingsschiffs „Wilhelm Gustloff“ thematisiert, das am 30. Januar 1945 in der Ostsee untergegangen war. Jener Säugling, von dem
die Rede ist, heißt Peter Weise. Er
war ein Kleinkind, als er in den
Morgenstunden des 31. Januar
1945 vom Vorpostenboot aufgefischt wurde. Offenbar der Letzte,
der nach dem Untergang gerettet
wurde. Bei den tiefen Temperaturen unvorstellbares Glück.
S
„Ich hatte immer mit dem
Wasser zu tun“
Weise lebt heute in Rostock. „Ich
hatte immer mit dem Wasser zu
tun“, sagt der 71-Jährige lapidar.
Was dahingesagt ist, hat einen
ganz anderen Klang, wenn man
die Vorgeschichte kennt. Aber: Eigentlich kann sich Peter Weise
nicht an seine Rettung erinnern. Es
war nur ein Moment, in dem das
Glück auf seiner Seite war. Weise
bekam damals eine Identität: Da
sein Geburtsdatum nicht feststellbar war, wurde es auf den 31. Januar 1944 festgelegt, Geburtsort: Gotenhafen.
Der 71-jährige Peter Weise lebt heute in Rostock. Er hat das Schreiben zu seinem Lebensinhalt gemacht.
Das Schicksal verschlug Peter
Weise nach Rostock. Sein Retter
Werner Fick, jener Obermaat auf
dem Vorpostenboot, brachte ihn
mit in die mecklenburgische Heimat. Die Familie adoptierte ihn.
Weise wuchs in Rostock-Gehlsdorf
auf, in behüteten Verhältnissen.
Viel Dankbarkeit schwingt mit,
wenn er heute sagt: „Es war eine
glückliche Kindheit.“
Das Element, das ihn beinahe
verschlungen hätte, übt Faszination auf ihn aus. „Ich habe mit fünf
Jahren schwimmen gelernt“, sagt
Weise. Er hat eine ruhige Art, über
sein Leben zu sprechen. Bei der
Deutschen Seereederei (DSR) fing
Weise 1960 als Lehrling an. Er wurde Vollmatrose der Handelsschifffahrt, fuhr auf dem Fracht- und
Lehrschiff „Heinrich Heine“. Später studierte er und wurde 1974 Kapitän. „Ich wollte mit vier Ärmelstreifen auf der Brücke stehen“,
sagt Peter Weise über seine Pläne.
Dass er sie erfüllte, machte ihn
stolz. Es folgten Fahrten auf
DSR-Schiffen um die ganze Welt,
unter anderem auf der „Zwickau“
und auch auf dem FDGB-Urlauberschiff „Völkerfreundschaft“.
Die Karriere als Kapitän endete
jedoch abrupt im Jahr 1982. „Ich
war ideologisch nicht mehr tragbar“, sagt Peter Weise heute
knapp. Ihm ist die Enttäuschung
immer noch anzusehen. Er hatte damals die ökonomischen Verhältnisse der DDR nüchtern analysiert
und dies auch ausgesprochen – dafür wurde er abgestraft. Doch der
Kapitän blieb dem Seegeschäft
auch an Land treu, arbeitete weiter
im Hafen. Nach der Wende wurde
Peter Weise rehabilitiert, er hätte
nun wieder zur See fahren können.
Aber nach 1990 kam die Marktwirtschaft, dafür musste auch der Hafen fit gemacht werden. Weise war
dabei, er rückte in den Vorstand
der Seehafen AG auf. 2004 schied
er aus dem Berufsleben aus, engagierte sich aber weiter ehrenamtlich. Sein Wissen brachte er in den
Speditionsverband
Mecklenburg-Vorpommern ein.
Sein Leben hat Peter Weise erst
2006 literarisch verarbeitet, in einem Erinnerungsband, den er
„Hürdenlauf“ nannte. Anlass war
„Im Krebsgang“ von Grass. Peter
Weise begab sich auf Spurensuche. In seinem Buch kann man viel
über den recht bewegten Lebensweg erfahren. Da geht’s rund um
die Welt, allein die Seereisen boten
reichlich Stoff für Erinnerungen
und Reflexionen; im Kapitel „Neuzeit“ beschreibt der Autor die Wende 1989/90. Nach dem Erscheinen
seines Buches schickte er Günter
Grass das Werk und erhielt es mit
einer dankenden Widmung des berühmten Schriftstellers zurück.
Bei Peter Weise liest sich die Geschichte seiner Rettung so: „Mit zitternden Händen, unendlich vorsichtig, als wäre es ein frisch geschlüpftes Küken, befreiten die
Männer unter Deck das Kind aus
gefrorenen Decken und Kleidungsstücken . . . Warme Decken, eine
Kampferspritze und eine Tasse mit
heißer Milch, die mit unendlicher
Geduld, zuerst tropfenweise, dann
Schluck für Schluck eingeflößt wurde, brachten dem Jungen seine Lebensgeister zurück.“
Aber wie kann ein Mensch ohne
gesichert dokumentierte Vergangenheit leben? Weise hat eine pragmatische Art, damit umzugehen.
Die unklaren familiären Wurzeln
sind bei ihm kein Thema, er hat
sein eigenes Leben aufgebaut. Sei-
Foto: Dietmar Lilienthal
ne Herkunft liegt vermutlich im
Ostpreußischen. Kurios: Er beherrscht den alten ostpreußischen
Dialekt, ohne ihn je gelernt zu haben. Mit der Geschichte einer wundersamen Rettung ist Peter Weise
ein gefragter Zeitzeuge. So war es
auch im Vorfeld der ZDF-Verfilmung „Die Gustloff“ (2008) von Joseph Vilsmeier; es war die zweite
große filmische Aufarbeitung des
Themas nach „Nacht fiel über Gotenhafen“ aus dem Jahr 1959.
Peter Weise hat das Schreiben
zu seinem Lebensinhalt gemacht.
Nach der Autobiografie folgten
Kurz- und Tiergeschichten. Weise
ist ein bedächtiger Mann, der sorgsam mit Worten umgeht. Von seinem Wohnzimmer aus hat man einen freien Blick über die Unterwarnow auf Rostock. Nein, das Wasser
lässt ihn nicht los.
e Peter Weise:
„Hürdenlauf –
Erinnerungen
eines Findlings“,
BS Verlag
2006, 258 Seiten,
16,20 Euro
„Unternehmen Hannibal“ – Flucht über die Ostsee
Für die Evakuierung der deutschen Zivilbevölkerung aus Ost- und Westpreußen wurden Anfang 1945 zahlreiche Schiffe mobilisiert.
Als sich die Rote Armee in den letzten Kriegsmonaten Deutschland
näherte, brach in Ost- und Westpreußen die Flüchtlingswelle los.
Zunächst über den Landweg, später über die Ostsee. Mit einer Vielzahl von Schiffen wurde versucht,
den Flüchtlingsstrom nach Westen
zu leiten: Anfang 1945 leitete die
deutsche Kriegsmarine das „Unternehmen Hannibal“ ein, eine Evakuierungsaktion, mit der Soldaten
und Zivilisten gerettet werden sollten. In Ost- und Westpreußen waren rund fünf Millionen Deutsche
auf der Flucht. Natürlich diente
das „Unternehmen Hannibal“vorrangig militärischen Zwecken:
Man holte Soldaten, Verwundete
und Kriegsgerät zurück, aber auch
Zivilisten. Als Ostpreußen von sowjetischen Truppen eingeschlossen
worden war, gab es keinen ande-
ren Fluchtweg mehr. Die Menschen mussten übers Wasser,
wenn sie der Ostfront entfliehen
wollten. Zu der mobilisierten Flotte
gehörten auch umfunktionierte
Die „Wilhelm Gustloff“ war zunächst als Kreuzfahrtschiff der NS-Organisation „Kraft durch Freude“ unterwegs, im Krieg u.a. Lazarettschiff.
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Kreuzfahrtschiffe, wie die „Steuben“, die „Wilhelm Gustloff“ oder
der Frachter „Goya“. Die drei Schiffe wurden 1945 versenkt – eines
der größten menschlichen Dramen
zu Kriegsende. Die „Steuben“ und
„Goya“ rissen Tausende in den
Tod, mit 9000 Toten wurde der Untergang der „Wilhelm Gustloff“
die größte Schiffskatastrophe aller
Zeiten. Die „Gustloff“, 1937 als
Kreuzfahrtschiff für die NS-Organisation „Kraft durch Freude“ gebaut, war seit 1939 Lazarett- und
Wohnschiff, also mit militärischer
Nutzung. Ende Januar 1945 lag
das Schiff in Gotenhafen (heute
Gdynia, Polen). Eigentlich hatte es
nur für rund 2000 Passagiere und
Besatzung Platz. In dieser Situation drängten Tausende Flüchtlinge
an Bord. Die Kapazitätsgrenze wurde weit überschritten. Geschätzt
waren 10 300 Menschen an Bord,
davon 8800 Zivilisten.
Am Nachmittag des 30. Januar
1945 legte die „Gustloff“ ab, am
Abend wurde das Schiff vom sowjetischen U-Boot S-13 beschossen.
Drei Torpedos trafen ihr Ziel. Die
„Gustloff“ sank gegen 22.15 Uhr,
auf dem Wasser spielte sich ein
menschliches Drama ab. Während
die Opferzahlen schwankten, steht
die Zahl der Überlebenden fest:
1252.
Thorsten Czarkowski
3. April, 9 Uhr. In der Münchener Ausgabe des Völkischen Beobachters erscheinen
Tipps einer Hausfrau, wie man mit Wildgemüse den Tisch decken kann.
Die „Cap Arcona“
7000
KZ-Häftlinge
aus dem KZ
Neuengamme
waren an Bord der „Cap Arcona“.
Das Schiff wurde am 3. Mai 1945
von der britischen Luftwaffe in der
Lübecker Bucht versenkt (siehe
nächste Seite). Rund 6400 der Passagiere auf der „Cap Arcona“ und der
sie begleitenden „Thielbek“ verbrannten, ertranken oder wurden
erschossen.
Zum Gedenken an die Opfer finden mehrere Veranstaltungen statt:
Neustadt: Heute beginnt um
10 Uhr ein Ökumenischer Gottesdienst in der Stadtkirche. Um
12.30 Uhr schließen sich eine Gedenkveranstaltung am Ehrenfriedhof
sowie eine Kranzniederlegung auf
dem jüdischen Friedhof an. Um
18 Uhr singt der „Konzertchor Norddeutschland“ in der Stadtkirche. In
der Kulturwerkstatt gestaltet der
Schauspieler Andreas Hutzel um
20 Uhr eine szenische Lesung aus
dem Theaterstück „Die Ermittlung“
von Peter Weiss.
Grömitz: Heute um 10 Uhr findet
ein Gedenkgottesdienst in der St.-Nicolai-Kirche statt und um 11 Uhr eine Kranzniederlegung am Cap-Arcona-Ehrenmal.
Timmendorfer Strand: Heute um
11.30 Uhr Kranzniederlegung auf
dem Waldfriedhof.
Niendorf: Die Petri-Kirche lädt heute um 14 Uhr zur Andacht auf dem
Friedhof ein.
Klütz: Am 7. Mai wird um 19.30 Uhr
im Literaturhaus, Im Thurow, der
DDR-Film „Der Mann von der Cap Arcona“ mit dem Schauspieler Erwin
Geschonneck gezeigt, der tatsächlich zu den wenigen Überlebenden
der Katastrophe gehörte.