Vortrag Zinsmeister - Deutscher Verein für öffentliche

Eltern mit Unterstützungsbedarf –
Zielgruppe der Eingliederungshilfe?
Prof. Dr. Julia Zinsmeister
Fachhochschule Köln
Vortrag vom 11. Mai 2015 auf der Fachtagung
„Aktuelle Entwicklungen in der Eingliederungshilfe“
des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e.V.
NH-Hotel Berlin - Alexanderplatz
Unterstützte Elternschaft
Übersicht:
• Prävalenz
• Schutz der Familie - Schutz des Kindeswohls
• Wann sind Sorgerechtsbeschränkungen und
Fremdunterbringungen der Kinder rechtmäßig?
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Vorrang öffentlicher Hilfe
• Übersicht öffentliche Hilfen für Eltern m.B. und deren Kinder
• Eingliederungshilfe (SGB XII/SGB VIII)
• andere Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII)
• Abgrenzung der Zuständigkeiten
• verbleibender gesetzlicher Regelungsbedarf
FH Köln Institut für Soziales Recht Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften
UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen
Artikel 23
Achtung der Wohnung und der Familie
(1) Die Vertragsstaaten treffen wirksame und geeignete Maßnahmen zur
Beseitigung der Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen (...)
in allen Fragen, die Ehe, Familie, Elternschaft und Partnerschaften
betreffen (...)
(2) Die Vertragsstaaten unterstützen Menschen mit Behinderungen
in angemessener Weise bei der Wahrnehmung ihrer elterlichen
Verantwortung.
(...)
Art.23 BRK (Forts.)
(3) (...)
(4) Die Vertragsstaaten gewährleisten, dass ein Kind nicht gegen den
Willen seiner Eltern von diesen getrennt wird, es sei denn, dass die
zuständigen Behörden in einer gerichtlich nachprüfbaren
Entscheidung nach den anzuwendenden Rechtsvorschriften und
Verfahren bestimmen, dass diese Trennung zum Wohl des Kindes
notwendig ist. In keinem Fall darf das Kind aufgrund einer
Behinderung entweder des Kindes oder eines oder beider
Elternteile von den Eltern getrennt werden.
(5) (...)
Art. 6 Grundgesetz
(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der
staatlichen Ordnung.
(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der
Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre
Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.
(3) Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur
auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden,
wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder
aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.
(4) Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der
Gemeinschaft.
(..)
Kindeswohlgefährdung § 1666 BGB
Konkrete und gegenwärtige Gefahr, dass bei
ungehinderter Weiterentwicklung der Dinge mit
ziemlicher Sicherheit eine erhebliche Schädigung
des geistigen, seelischen oder körperlichen Wohls
des Kindes eintreten wird.
Std. Rspr BGH, vgl. nur FamRZ 2005, 344, 345 m.w.N.
BVerfG Beschl. v. 17.2.1982 -1 BvR 188/80
„Zwar stellt das Kindeswohl in der Beziehung zum
Kind die oberste Richtschnur der elterlichen Pflege
und Erziehung dar. Das bedeutet aber nicht, daß es
zur Ausübung des Wächteramtes des Staates nach
Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG gehörte, gegen den Willen
der Eltern für eine den Fähigkeiten des Kindes
bestmögliche Förderung zu sorgen.“
BVerfG Beschl. v. 17.2.1982 -1 BvR 188/80
„Die eingeschränkte Fähigkeit der Beschwerdeführerin, ihren Haushalt selbständig zu versorgen,
andere familiäre Obliegenheiten ohne fremde Hilfe
wahrzunehmen und vorausschauend zu planen,
kann es allein nicht rechtfertigen, das Kind den
Eltern wegzunehmen.
Auch das passive Verhalten des Beschwerdeführers
erfüllt nicht die Voraussetzungen, die von
Verfassungs wegen für den Entzug der elterlichen
Sorge gefordert werden.“
§§ 8a SGB VIII, 1666 BGB
Risikofaktor
≠
gewichtiger Anhaltspunkt
Armut/ Überschuldung,
Bildungsferne
Verletzungsspuren
Wohnungslosigkeit
Berichte von Misshandlung,
Vernachlässigung, Missbrauch
Trennung/Scheidung
Soziale Isolation
Hunger u.a. Anzeichen
von Unterversorgung
Erkrankung/Behinderung
der Eltern
Verhaltensänderungen und –
sonstige Auffälligkeiten
etc
etc
Erforderlichkeit staatlicher Eingriffe?
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
und Vorrang öffentlicher Hilfen
Begrenzung auf das erforderliche Maß (= „mildestes Mittel“)
Unter mehreren geeigneten Schutzmaßnahmen ist stets diejenige zu
wählen, die am wenigsten in die Rechte der Eltern eingreift!
§ 1666a Abs.1 BGB: Trennung von Eltern und Kindern nur, wenn der
Gefahr nicht, auch nicht durch öffentliche Hilfen begegnet werden
kann
§ 1666a Abs.2 BGB: Sorgerechtsentzug nach Möglichkeit nur
teilweise/stufenweise.
„Öffentliche Hilfen“
o behinderte Eltern und ihre Kinder haben Anspruch auf
die gleichen Leistungen wie nichtbehinderte Eltern und
ihre Kinder.
 Erfordernis des inklusiven Sozialraums
o behinderte Eltern haben ggf. andere oder zusätzliche
Bedarfe bei der Erfüllung ihres Erziehungsauftrages.
 Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII)
 Leistungen zur Rehabilitation und Teilhabe behinderter
Menschen am Leben in der Gesellschaft (SGB IX)
 Vereinbarkeit bzw. Verzahnung dieser Leistungen mit akutmed.
Versorgung der Eltern (z.B. während Psychiatrieaufenthalt),
medizinischer Reha und beruflicher Förderung/Erwerbstätigkeit
•Fachhochschule Köln, Institut für Soziales Recht, Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften
Mögliche zusätzliche Unterstützungsbedarfe
der Eltern und ihrer Kinder
„Elternassistenz“
von Eltern angeleitete Unterstützung bei oder Übernahme von
Verrichtungen zur Pflege, Betreuung der Kinder, die Eltern
aufgrund von Barrieren nicht( alleine) vornehmen können.
•Fachhochschule Köln, Institut für Soziales Recht,
Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften
Mögliche zusätzliche Unterstützungsbedarfe
der Eltern und ihrer Kinder
„Begleitete Elternschaft“
Vermittlung von Kenntnissen und Kompetenzen, die Eltern
benötigen, um ihren Alltag mit Kind möglichst selbständig und
selbstbestimmt zu organisieren, Grundbedürfnisse ihres Kindes
zu erkennen und zu befriedigen, ihm eine möglichst verlässliche
und zugewandte Bezugsperson zu sein, es in seiner
Entwicklung zu fördern und dabei seinem wachsenden
Bedürfnis nach Selbständigkeit angemessen Rechnung zu
tragen
Übernahme von Aufgaben, die Eltern (noch) nicht bewältigen
können.
Mögliche zusätzliche Unterstützungsbedarfe
der Eltern und ihrer Kinder
Hilfen für psychisch kranke Eltern und ihre Kinder
Episodischer Krankheitsverlauf
Flexible, kurzfristige Anpassung der Hilfe
Möglichst feste Ansprechpersonen (Bindungsstabilität für
Kinder)
komplexe Hilfebedarfe erfordern Abstimmung der Einzelhilfen
aus SGB II, V, VIII, IX und XII, diese müssen so verzahnt und
koordiniert werden, dass sie für die gesamte Familie zielführend
sind. Dabei kommt der Schnittstellengestaltung zwischen eine
besondere Bedeutung zu.
•Fachhochschule Köln, Institut für Soziales Recht, Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften
Mögliche zusätzliche Unterstützungsbedarfe
der Eltern und ihrer Kinder
Forderung von AFET, BAG Kinder psych. kranker Eltern
u.a. (2014):
•Kompatibilitätsprüfung des Bundeskinderschutzgesetzes, des SGB V,
VIII, IX, XII und des geplanten Präventionsgesetzes und
Teilhabegesetzes mit dem Ziel einer
•rechtlich verbindlichen Konkretisierungen expliziter
Kooperationsangebote (insbesondere zwischen SGB V, VIII, IX, XII),
•rechtliche Klarstellung der Vergütungen für die Netzwerkarbeit
•bundesrechtliche Regelungen zur Mischfinanzierung von komplexen
Hilfebedarfen in Familien mit psychisch kranken Eltern.
•Fachhochschule Köln, Institut für Soziales Recht, Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften
Wer leistet diese Unterstützung
für Eltern und Kinder?
Gesetzliche Krankenkassen
•Leistungen während und nach der Schwangerschaft
•Spezifische Hilfsmittel zur Familienarbeit
•Therapie
•Haushaltshilfe (nur bis zu 12.Geburtstag des jüngsten Kindes)
Familienhebammen
Kein Anspruch auf Mehrleistung der Pflegekassen
Versorgung der Kinder ist keine pflegerechtlich relevante Verrichtung
Träger der Rehabilitation und Teilhabe § 55 SGB IX
(Eingliederungshilfe)
Kinder- und Jugendhilfe
•Fachhochschule Köln, Institut für Soziales Recht,
Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften
Leistungen zur Rehabilitation und Teilhabe
behinderter Eltern (SGB IX)
Familiengerechte Ausführung
der zu gewährenden Leistungen
(§ 9 SGB IX)
Zusätzliche Leistungen zur
Förderung der Teilhabe als
Eltern(teil),
insbesondere nach
§ 55 SGB IX, § 53 SGB XII,
§ 35a SGB VIII
Unterstützte Elternschaft als Leistung der
Eingliederungshilfe
„Da die Eltern-Kind Bindung existentiell und eine soziale Bildung von
herausragender Bedeutung ist, bildet die Verantwortungsübernahme der
Eltern (mit Behinderung) für ihr Kind eine zentrale Frage der Teilhabe am
Leben in der Gemeinschaft.“ (BVerwG Urt. v. 22.10.2009 Az.5 C 19.08)
„Vom Ziel, dem behinderten Menschen ein Leben in der Gemeinschaft zu
ermöglichen, ist es auch umfasst, ihm die Fähigkeiten zu vermitteln und die
Hilfen zu gewähren, welche zur sachgerechten Wahrnehmung der
Elternverantwortung notwendig sind.“
(LSG NRW Urt.v.26.07.2010 Az. L 20 S= 38/09 ZVW)
Ein behinderter Elternteil, der körperlich nicht in der Lage ist, sein Kind im
erforderlichen Umfang ohne fremde Hilfe zu versorgen, hat (...) Anspruch auf
eine Hilfsperson im Haushalt (....).“
(LSG NRW Urt.v.23.02.2012 Az. L 9 SO 26/11)
•Fachhochschule Köln, Institut für Soziales Recht,
Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften
Unterstützte Elternschaft als Leistung nach
SGB VIII (Auswahl)
• § 19 SGB VIII Hilfen für alleinerziehende Mütter und
Väter
• § 20 SGB VIII Hilfe in Notsituationen (z.B. in
psychischen Krisensituationen)
• §§ 27 ff SGB VIII (Hilfen zur Erziehung)
• § 35a SGB VIII Eingliederungshilfe für seelisch
behinderte Kinder und Jugendliche
§ 19 SGB VIII
Gemeinsame Wohnformen für Mütter/Väter und Kinder
Voraussetzung:
• Alleinerziehende Mutter/Vater
• mind. ein Kind unter 6 Jahren
• Elternteil benötigt aufgrund der Persönlichkeitsentwicklung noch Unterstützung bei
Pflege und Erziehung des Kindes
• Befristete Versorgung in betreuter Wohnform geeignet und erforderlich
Rechtsfolge:
•
Betreuung in einer geeigneten Wohnform (ambulant, (teil-)stationär) bis zur Vollendung
des 6.Lebensjahres des jüngsten Kindes
•
notwendiger Unterhalt und Krankenhilfe
•
Elternteil soll Zeit nach Möglichkeit für schulische und berufliche Ausbildung nutzen
können.
§ 27 ff SGB VIII
Hilfen zur Erziehung (HzE)
Voraussetzung:
•
eine dem Wohl des Kindes oder Jugendlichen entsprechende Erziehung
ist nicht gewährleistet
•
Hilfe zur Erziehung ist für seine Entwicklung geeignet und erforderlich
•
Sorgeberechtige/r (Anspruchsinhaber) stimmt Hilfe zu.
Rechtsfolge:
•
Art und Umfang der Hilfe richten sich nach erzieherischem Bedarf im
Einzelfall (§ 27 Abs.2), HzE wird „insbesondere“ nach Maßgabe der
§§ 28-35 gewährt..., umfasst also auch begleitete Elternschaft
Sozialhilfe oder Kinder- und Jugendhilfe?
§ 10 Abs.4 SGB VIII Verhältnis zu Leistungen und Verpflichtungen
der Sozialhilfe
Grundsatz: Vorrang KJH vor Sozialhilfe (§ 10 Abs.4 S.1 SGB VIII)
Ausnahme: Eingliederungshilfe für junge Menschen (unter 27
Jahren), die körperlich oder geistig behindert oder von solcher
Behinderung bedroht sind, gehen Leistungen des SGB VIII vor
(§ 10 Abs.4 S.1 SGB VIII)
Leistungskonkurrenz SGB VIII - SGB XII
Eine Leistungskonkurrenz i.S.d. § 10 SGB VIII liegt nur vor, wenn eine
doppelte Leistungspflicht besteht
(BVerwGE 109,325 ff = Buchholz 436.511 § 41 KJHG/SGB VIII Nr 1).
Eine doppelte Leistungspflicht entsteht nur, wenn Leistungen
•
gleich
•
gleichartig
•
einander entsprechend
•
kongruent
•
einander überschneidend oder
•
deckungsgleich sind
(BSG Urt. v. 24.03.09; BVerwG aaO; vgl auch Dillmann/Dannat, ZfF 2009, 25, 26).
Gleichartigkeit der
Leistungen?
Vergleichskriterien:
• Wer ist Adressat der Leistung?
• Welcher Bedarf wird gedeckt?
• Wie wird der Bedarf gedeckt?
Aufgaben und Ziele im Vergleich
Kinder- und Jugendhilfe
•
Förderung Minderjähriger und
ihrer Erziehung durch die Eltern
•
Förderung junger Erwachsener
•
Schutz des Kindeswohls vor
Gefahren
•
Förderung der gesellschaftlichen
Teilhabe junger Menschen und
ihrer Familien
Fokus:
Schutz und Förderung der
Entwicklung des Kindes
Rehabilitation und Teilhabe
•
Förderung der gleichberechtigten
gesellschaftlichen Teilhabe und
Selbstbestimmung behinderter Eltern
•
Prävention, Milderung oder Ausgleich
ihrer behinderungsbedingten Nachteile
Fokus:
Teilhabe des
behinderten Elternteils
Empfehlung Deutscher Verein (2014)
•Fachhochschule Köln, Institut für Soziales Recht,
Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften
Rechtsgutachten Dr. Julia Zinsmeister
„Staatliche Unterstützung behinderter Mütter und Väter bei der
Erfüllung ihres Erziehungsauftrages“ im Auftrag des Netzwerks
behinderter Frauen Berlin (2006):
-
in den meisten Einzelfällen bereitet rechtliche Klärung der
Zuständigkeit keine Probleme (entweder/oder)
-
An den Schnittstellen sollte eine Komplexleistung und die
Unterstützung der Familien durch beide Hilfesysteme gemeinsam
erbracht werden.
Betreuung geistig behinderter Elternteile und ihrer
Kinder in Betreuten Wohnformen § 19 SGB VIII?
BVerwG (Urt.v. 22.10.2009)
(BSG schloss sich 2012 dieser Auffassung an , Terminbericht
18/12)
„Im Verhältnis zwischen der Eingliederungshilfe für die behinderte
Mutter und einer Jugendhilfeleistung nach § 19 SGB VIII, die
Leistungen für die behinderte Mutter und ihr Kind umfasst, liegt
zumindest eine teilweise, in Bezug auf die (...) Mutter
vollständige Kongruenz der Leistungen vor.
Dies genügt für die Anwendung der Konkurrenzregel in § 10
Abs.4 SGB VIII...“.
Betreuung geistig behinderter Elternteile und ihrer
Kinder in Betreuten Wohnformen § 19 SGB VIII?
BVerwG (Urt.v. 22.10.2009) (BSG schloss sich 2012 dieser
Auffassung an , Terminbericht 18/12)
Folge:
Elternteil unter 27 Jahre erhält Eingliederungshilfe,
weitere erforderliche Leistungen (für Elternteil und Kind)
trägt Jugendhilfeträger.
Elternteil über 27 erhält für sich und Kind Leistungen des
Jugendhilfeträgers.
•Fachhochschule Köln, Institut für Soziales Recht,
Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften
Lösungsvorschläge
1. Gesamtplan (§§ 10 SGB IX, 58 SGB XII)
2. Vernetzung der Hilfen durch regionale Arbeitsgemeinschaften
3. Beachtung des § 14 SGB IX
4. Komplexleistungen?
Vielen Dank für Ihre
Aufmerksamkeit.