POLITIK Mautsysteme Das Toll Collect Free-Flow System benötigt zur Maut-Erhebung keine straßenseitige Infrastruktur. Foto: Toll Collect Nutzerfinanzierung – Moderne Instrumente für einen nachhaltig fließenden Verkehr Mauterhebung, Infrastrukturfinanzierung, Güterverkehr, Verkehrsinfrastruktur, Geschäftsmodelle Zwölf Jahre nach Deutschland verabschiedet sich im kommenden Jahr mit Belgien ein weiteres TransitLand aus dem Eurovignettensystem für LKW. Längst stellen Mautsysteme komplexe Steuerungs- und Anreizsysteme dar, die neben der Sicherung von Einnahmen eine ökologische Lenkungswirkung entfalten und zu einer intelligenteren Verkehrssteuerung beitragen können. Neben der Differenzierung von Tarifmodellen nach Schadstoffklassen, Luftverschmutzung und Achsklassen werden zunehmend neue Nutzergruppen in die Mauterhebung integriert und mautpflichtige Strecken sukzessive auf nachgelagertes Netz ausgeweitet. Der Autor: Michael C. Blum N eben Deutschland haben bereits Österreich, Polen, die Schweiz, die Slowakei, Tschechien und Ungarn den Übergang von der LKW-Vignettenpflicht zum entfernungsabhängigen Mautsystem vollzogen. Weitere Länder wie Belgien, Bulgarien und Slowenien planen derzeit einen Wechsel. Dabei werden zunehmend technologisch hochentwickelte Erhebungsverfahren verwendet. So ermöglicht die Nutzung der GNSS1Technologie eine entfernungsabhängige Mauterhebung ohne straßenseitige Erhebungsinfrastruktur.2 Sie behindert somit 18 Internationales Verkehrswesen (67) 2 | 2015 nicht den freien Fluss des Güterverkehrs, erlaubt vor allem aber eine schnellere Implementierung von zusätzlichen Netzteilen. Auf langwierige Infrastrukturprojekte zur Errichtung von Erhebungsbrücken oder Mautstationen kann verzichtet werden. Mautsysteme müssen Erweiterungen flexibel umsetzen Ein wichtiger Meilenstein in der Entwicklung von Mautsystemen war die 2005 abgeschlossene Einführung des weltweit ersten und größten satellitengestützten Mautsystems in Deutschland. Mittlerweile wurde dieses Systemkonzept in der Slowakei übernommen und ist auch für den geplanten Start der elektronischen Maut in Belgien ab 2016 vorgesehen. Das mautpflichtige Streckennetz in Belgien wird anfangs wenige tausend Kilometer umfassen und kann durch die drei Regionen um weitere wichtige Straßen ergänzt werden. Das Netz-Modell in der Slowakei3 wurde 2014 von rund 2500 km auf ungefähr 17 800 km erweitert. Das deutsche Mautsystem beweist seine systemisch vorgesehene Flexibilität dieses Jahr erneut durch vier strukturelle Anpassungen: Mautsysteme POLITIK Eine erste Anpassung betraf die Internalisierung externer Kosten, die Deutschland als erstes Land in der Europäischen Union seit dem 1. Januar 2015 für Luftverschmutzung anlastet.4 Seit 2005 werden Mauttarife außerdem nach Schadstoffklassen differenziert, um Anreize für Investitionen in schadstoffärmere LKW zu begünstigen. Dies hat dazu beigetragen, dass im Jahre 2015 über 90 % der Fahrleistung durch LKW der umweltfreundlicheren Klassen 5–7 erfahren werden. Durch eine weitere Anpassung soll das mautpflichtige Netz zum 1. Juli 2015 um ca. 1100 km Bundesstraßen erweitert werden. Während 2005 nur rund 12 800 km Bundesautobahnen der Mautpflicht unterlagen, kamen zwei Jahre später knapp 100 km Bundesstraßen hinzu, die bereits 2012 um 1135 km autobahnähnliche Bundesstraßen ergänzt wurden. Schaut man in den Koali tionsvertrag der Bundesregierung für die 18. Legislaturperiode, so zeigt sich, dass der Einbezug aller Bundesstraßen in die Mautpflicht (rund 38 000 zusätzliche km) Teil des politischen Arbeitsauftrags ist.5 Auch beim Tarifierungsmerkmal Achsklasse wird es Veränderungen geben: Während derzeit zwischen zwei Achsklassen – bis drei Achsen und vier und mehr Achsen – differenziert wird, soll es zum 1. Oktober 2015 vier unterschiedliche Achsklassen mit jeweils eigenen Tarifen geben. Diese Anpassung soll Anforderungen der Gebührengerechtigkeit umsetzen und stellt damit spe zielle Anforderungen an Erhebungs- und Kontrolltechnologie, die Verstöße präzise erkennen muss. Schließlich sollen ebenfalls ab dem 1. Oktober 2015 LKW bereits ab einem zulässigen Gesamtgewicht (zGG) von 7,5 t – anstatt wie bislang ab 12t – in die Mautpflicht einbezogen werden. Dadurch steigt die Anzahl von Fahrzeugen mit verbautem Fahrzeuggerät um ca. 85 0006 von zwischenzeitlich rund 830 000 auf dann über 900 000. Von einer weiteren Absenkung der Tonnage auf 3,5t zGG7, wie sie einige Verkehrsexperten8 anregen, sieht man in Deutschland bislang ab. Der Gesetzentwurf zur Absenkung der Tonnagegrenze sieht jedoch einen Prüfauftrag9 vor. Mauterweiterungen sichern Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur Als vorrangiges Ziel von Mautsystemen gilt zumeist die Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur. Daher sind verlässliche Mauteinnahmen – im Jahr 2014 waren es knapp 4,5 Mrd. EUR – unabdingbar für den Erhalt und Betrieb von Bundesfernstraßen.10 Maßgeblich für deren Höhe sind die Fahrleistung der LKW sowie die dazugehörigen Mauttarife. Diese werden in Deutschland vom Deutschen Bundestag auf Grundlage des Wegekostengutachtens festgelegt. Das aktuelle Gutachten11 ermittelt allerdings – vor allem aufgrund gesunkener Infrastrukturkosten infolge eines niedrigeren Zinsansatzes – deutlich niedrigere Mauttarife im Vergleich zum vorherigen Gutachten12. Den drohenden Einnahmenausfall in Höhe von 2 Mrd. EUR für die laufende Legislaturperiode plant Bundesminister Alexander Dobrindt durch die oben angesprochene Internalisierung externer Kosten sowie die Ausdehnung der Mautpflicht auf zusätzliche ca. 1100 km Bundesstraßen und auf Fahrzeuge ab einem zGG von 7,5 t bis unter 12 t zu kompensieren (vgl. Tabelle 1). Dieser Schritt war – basierend auf den Ergebnissen des Gutachtens – erforderlich, um das Einnahmenniveau stabil zu halten. Mehreinnahmen für die Finanzierung der teilweise maroden Verkehrsinfrastruktur werden aber voraussichtlich nicht erzielt. Veränderte politische Rahmen bedingungen modifizieren Geschäftsmodelle Abhängig von politischen Rahmenbedingungen unterliegen auch die Geschäftsmodelle von Mautbetreibern einem Wandel. Beispielsweise wurde in Österreich der staatlichen Autobahnen- und Schnellstraßen-Finanzierungs-Aktiengesellschaft, kurz ASFINAG, seit 1997 die Einhebung der Mautgebühren übertragen, nachdem sie bereits seit 1982 für die Finanzierung, den Ausbau, die Erhaltung und den Betrieb des Autobahnen- und Schnellstraßennetzes zuständig ist. In Deutschland betreibt Toll Collect das Mautsystem und ist darüber hinaus auch für weitere Aufgaben in der Kontrolle beliehen. Die Europäische Kommission sieht neben nationalen Mauterhebern eine künftige Rollenverteilung zwischen 2015 Externe „Toll Charger“ (Eigentümer der Infrastruktur) und „EETS-Anbieter“ (Schnittstelle zum Kunden) vor.13 Erklärtes Ziel ist es, Nutzern den Zugang zum mautpflichtigen europäischen Straßennetz mit nur einem Vertrag und nur einem Bordgerät zu ermöglichen.14 Wie diese Rollenverteilung zukünftige Geschäftsmodelle beeinflussen wird, ist derzeit noch unklar. So stellt beispielsweise die Anforderung der Anbindung aller Mautgebiete innerhalb von 24 Monaten weiterhin eine große Einstiegshürde dar. Regionale Ansätze erscheinen hier praktikabler. So ermöglicht Toll Collect bereits seit dem Jahr 2012 ihren Nutzern die Interoperabilität mit dem österreichischen Mautsystem. Notwendige Aufgaben der o.g. Rolle „EETS-Anbieter“ liegen in den Bereichen Zahlungsverkehr, Nutzerbetreuung und der Distribution. Prozesse sowie Technologien, die nur einmal für alle EETS-Anbieter geleistet werden müssten und welche für die Erhebungsqualität in GNSS-Systemen ausschlaggebend sind, sollten beim nationalen Mautbetreiber angesiedelt sein. Dabei muss die Sicherstellung und Haftung für höchste Qualitätsstandards in der Erhebung und Kontrollfähigkeit auch für EETS gelten. Neben Flexibilität ist Kosten effizienz der entscheidende Faktor Um den oben aufgezeigten Anforderungen gerecht zu werden, bedarf es einer flexiblen Systemarchitektur, die zeit- und kosteneffiziente Umsetzungen erlaubt. Ein schierer Vergleich von Systemen aufgrund der Kosten/Umsatz-Relationen greift zu kurz, da die Unterschiedlichkeit der Leistungsbestandteile unberücksichtigt bleibt. Differenziertere und umfänglichere Analysen15 zeigen die Vorteilhaftigkeit des deutschen Mautsystems (vgl. Tabelle 2). Und das, obwohl zwei volllastfähige Systeme – ein auto2016 2017 2015–2017 Kosten1 459 356 264 1079 1.100 km Bundesstraßen2 40 80 80 200 LKW ab 7,5t zGG11 75 300 300 675 Gesamt 574 736 644 1954 Tabelle 1: Einnahmeprognose der Bundesregierung für unterschiedliche Mauterweiterungen (in Mio. EUR) Quelle: In Anlehnung an Deutscher Bundestag. Schweiz Deutschland Slowakei Polen Gesamtinvestitionen/ Fahrleistung p.a. in EUR / km 0,21 0,04 0,28 0,12 Systemkosten/ Fahrleistung p.a. in EUR / km 0,03 0,02 0,09 0,03 4,8 10,0 46,2–58,2 40,9–48,5 Systemkosten/ Mauteinnahmen p.a. in % Tabelle 2: Gegenüberstellung von Kostenzahlen ausgewählter LKW-Mautsysteme (Bezugsjahr: 2011) Quelle: Hegner/Klaas-Wissing/Stölzle 2013 Internationales Verkehrswesen (67) 2 | 2015 19 POLITIK Mautsysteme matisches und ein manuelles Verfahren – von Toll Collect betrieben werden. Fazit: Zwei übergeordnete Anforderungen muss ein modernes Mautsystem erfüllen Erstens müssen Mautsysteme flexibel veränderbar sein, um zusätzliche Strecken, Nutzer und Tarifmodelle kosteneffizient zu integrieren. Nach Vorstellung einiger Mitgliedsstaaten sollen Tarifmodelle nicht nur nach Netzteilen, sondern z. B. auch nach CO2-Ausstoß, der Relation von Gewicht und Achsanzahl, teilweise sogar nach Fahrtrichtung, Ort und Uhrzeit differenziert werden. In Deutschland könnten in Zukunft möglicherweise externe Kosten für Lärm angelastet werden. Berechnungen, welche die Lärmkosten von LKW quantifizieren und verursachergerecht den einzelnen Schadstoff- und Achsklassen zurechnen, werden derzeit erstellt. Zweitens müssen moderne Mautsysteme auf ein sich änderndes Nutzerverhalten reagieren können. Eine hohe Usability mit zusätzlichen Kommunika tionskanälen und Zahlmitteln steht hierbei im Vordergrund. Vor allem EinbuchungsMöglichkeiten auf mobilen Endgeräten erfreuen sich zunehmender Beliebtheit beim Nutzer und werden daher in Zukunft abzubilden sein. Auf diese Weise kann die Nut- 20 Internationales Verkehrswesen (67) 2 | 2015 zerfreundlichkeit gesteigert werden, welche maßgeblich zur Akzeptanz des Mautsystems beiträgt. ■ 1 2 3 4 5 6 7 8 9 GNSS: Global Navigation Satellite System Die rund 300 auf Bundesautobahnen stehenden Kontrollbrücken der Toll Collect dienen ausschließlich der Mautkontrolle. Vgl. Bobošík, Miroslav: GNSS-Based Road Charging in Slovakia, Skytoll-Präsentation auf der Road User Charging Conference am 6. März 2014 in Brüssel. Seit 2011 erlaubt die Europäische Union ausdrücklich die Anlastung eines Anteils der anfallenden externen Kosten für Luftverschmutzung und Lärmbelästigung, vgl. 2011/76/ EU. Deutschlands Zukunft gestalten, Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 18. Legislaturperiode, S. 29. Vgl. Deutscher Bundestag: Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung der Bundesfernstraßenmautgesetzes (Drucksache 18/3923), S.11. Neben einzelnen Mitgliedstaaten war die Europäische Union durch den Erlass der Wegekostenrichtlinie ein wesentlicher Treiber der Mautpflicht für LKW ab 3,5t zGG. Vgl. 1993/89/EWG sowie 1999/62/EU, mittlerweile geändert durch 2006/38/EU und 2011/76/EU. Siehe auch: Hartwig, Karl-Hans / Baumgarten, Patrick / Huld, Tobias: Mautsysteme für Fernstraßen in Europa. Hintergründe – Anwendungen – Erfahrungen, WWU Münster April 2013. Beispielsweise Eisenkkopf, Alexander: Staatsversagen in der Verkehrsinfrastrukturpolitik? In: Wirtschaftsdienst 2013, S. 674-677; Rothengatter, Werner: Fonds für die Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur, in: Wirtschaftsdienst 2013, S. 666-669. Vgl. Deutscher Bundestag: Stenografischer Bericht, 62. Sitzung (18/62), Berlin, 5.11.2014, S. 5732 (D). 10 11 12 13 14 15 Dieses Ziel gewinnt nach jahrzehntelanger Unterfinanzierung und einem daraus entstandenen Finanzierungsbedarf von jährlich mindestens 7,2 Mrd. Euro (Nachholbedarf berechnet auf 15 Jahre) sowie beschlossener Schuldenbremsen für Bund und Länder mehr Bedeutung denn je. Vgl. Bericht der Kommission: Zukunft der Verkehrsinfrastrukturfinanzierung („Daehre-Kommission“), Dezember 2012; Bericht der Kommission „Nachhaltige Verkehrsinfrastrukturfinanzierung“ („Bodewig-Kommission“), September 2013. Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur: Berechnung der Wegekosten für das Bundesfernstraßennetz sowie der externen Kosten nach Maßgabe der Richtlinie 1999/62/EG für die Jahre 2013 bis 2017, März 2014. Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Aktualisierung der Wegekosten für die Bundesfernstraßen in Deutschland, November 2007. Vgl. Der elektronische europäische Mautdienst (EETS): Leitfaden für die Anwendung der Richtlinie 2004/52/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und der Entscheidung 2009/750/EG der Kommission. Deutscher Bundestag: Entwurf eines Gesetzes zur Änderung mautrechtlicher Vorschriften hinsichtlich der Einführung des europäischen elektronischen Mautdienstes (Drucksache 18/2656). Hegner, Roy / Klaas-Wissing, Thorsten / Stölzle, Wolfgang 2013: St. Galler Mautstudie. Eine kennzahlengestützte Gegenüberstellung der LKW-Mautsysteme in der Schweiz, Deutschland, der Slowakei und Polen. Michael C. Blum, Dr. Bereichsleiter Strategie & Unternehmensentwicklung, Toll Collect, Berlin [email protected]
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