Celina Kress | Georg Wagner-Kyora Der Streitfall Alt-Berlin im Städtebau und die Mentalität der Metropole seit 1840 Berlin fasziniert durch eine atemberaubende Wandlungsfähigkeit, die ihren sichtbaren Ausdruck schon immer im schnellen Austausch von Bauwerken und Architekturensembles und damit in der rasanten Veränderung zentraler Raumstrukturen gefunden hat. Teilweise schon im 15. Jahrhundert und später mit der wachsenden Bevölkerung im 17. Jahrhundert wurden die einfachen mittelalterlichen Wohnhäuser aus Holz in großem Umfang durch anspruchsvollere Steinbauten ersetzt.1 Im Modernisierungsschub der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ging der überwiegende Teil der Barock- und Renaissancearchitektur verloren, vor allem viele bedeutende bürgerliche Wohnbauten und Palais des Barock, die den Charakter der Stadt geprägt hatten. Durch Straßenverbreiterungen, neue Straßendurchbrüche und das Zusammenlegen mittelalterlicher Grundstücksparzellen zu Großblöcken veränderte sich das räumliche Gefüge der Berliner Altstadt entscheidend.2 Blieben die umfassenden Umbaupläne der 1920er- und 1930er-Jahre für Teilgebiete der Altstadt im Wesentlichen unausgeführt, vollzog der sozialistische Städtebau im Geist der radikalen Nachkriegsmoderne bis in die 1970er-Jahre die vollständige baulich-räumliche Transformation der Stadtmitte. Seit den 1980er-Jahren haben sich die Vorzeichen städtebaulicher Leitbildkonstruktion erneut fundamental gewandelt. Gegenwärtige Planungsprozesse zielen auf die Rückgewinnung historischer Ankerpunkte und die partielle Wiedereinführung kompakter Raumstrukturen. Brisant wird dabei die Frage nach dem Umgang mit dem baulichen Erbe der DDR- und der Nachkriegsmoderne. Alle bisherigen Phasen und Teilbereiche des radikalen Umbaus der Berliner Altstadt waren einerseits das Ergebnis komplizierter Verhandlungsprozesse, andererseits der Auslöser für neue Konflikte. Neue Leitbilder und konkrete Projekte des Stadtumbaus wurden seit 1840 auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen unter sich wandelnden Machtkonstellationen erstritten. An diesen Kontroversen waren Magistratsangehörige und Staatsbeamte beteiligt sowie in früheren Jahrhunderten Bürger der Altstadt Berlin/Cölln, fallweise sogar der König oder Kaiser. Welchen Verlauf nahmen die Auseinandersetzungen? Welche institutionellen Positionen setzten sich durch? Welchen Anteil hatten zivilgesellschaftliche Positionen und wie organisierten sie sich? Welche Möglichkeiten des Protestes wurden genutzt? Auf welche Weise wurde Konsens erzielt? Antworten auf diese Fragen eröffnen Einblicke in die Baugeschichte des Altstadtbereichs Berlins und in die Mentalität der Berliner in einer schnell wachsenden Metropole. Umstrittene Altstadt Bisher sind nur wenige Streitfälle in der Geschichte des Berliner Stadtumbaus dokumentiert und in ihrer Bedeutung für die räumliche und gesellschaftliche Entwicklung Berlins und darüber hinaus auch für Preußen und Deutschland analysiert worden. Das wohl prominenteste historische Beispiel für einen solchen Streitfall ist das Berliner Rathaus mit dem Abriss seines Vorgängerbaus und dem Neubau seit den 1840er-Jahren. Als der Kaiser am 1. Mai 1896 die Berliner Gewerbeausstellung in Treptow feierlich eröffnete, waren das alte Berliner Rathaus – nicht zu verwechseln mit dem bis 1870 neu gebauten Rathaus – und die Gerichtslaube, die sich beide auf dem heutigen Standort des Roten Rathauses befanden, bereits seit einem Vierteljahrhundert aus der Mitte Berlins verschwunden. Im vorderen Teil der Ausstellung präsentierte sich das moderne Berlin: Ein den Großbauprojekten in der Innenstadt verwandter Riesenpavillon feierte Innovationsfreude, Industriegeist und Wirtschaftskraft der aufstrebenden Metropole. Am anderen Ende des Ausstellungsgeländes befand sich das ideelle Gegenstück dazu: die Sonderschau „Alt-Berlin“. Hier wandelte der Ausstellungsbesucher wie in einem Sommernachtstraum durch das Berlin der Zeit um 1650 – und begegnete an zentraler Stelle auch der Berliner Gerichtslaube wieder, allerdings in einer eigens für diese Ausstellung errichteten, nicht ganz getreuen Kopie. Gegenwart und Geschichte traten dabei räumlich nebeneinander und gingen zur Freude der Berliner für einige Wochen eine illusionistische Verbindung ein. Fast schien es so, als ob die Geschichte der Altstadt in ihren baulichen Rekonstruktionen aus früheren Jahrhunderten unmittelbar erfahren werden könnte. In der Realität war das freilich nicht möglich, denn jedes neue Bauprojekt in der Berliner Altstadt bedeutete den Abriss und damit den Verlust von Vorgängerbauten. Das ging – auch im Fall von Rathaus und Gerichtslaube – nicht ohne Streit vonstatten. Eine besondere Rolle spielte dabei die sich um diese Zeit entwickelnde Idee des Denkmalschutzes.3 Seit Mitte des 19. Jahrhunderts bestand Einigkeit unter den Vertretern der Berliner Bürgerschaft über die Notwendigkeit eines Rathausneubaus. Die erforderliche Renovierung und eine Erweiterung des alten, baufällig gewordenen Rathauses auf das inzwischen notwendige Maß erschienen nicht mehr sinnvoll und realisierbar. Ein Neubau sollte den gesamten städtischen Baublock zwischen Spandauer Straße, Rathausstraße (ehemals: Königstraße), Jüdenstraße und Gustav-Böß-Straße (ehemals: Nagelgasse) einnehmen. An der Westecke des Großblocks befand sich das mit der Gerichtslaube baulich verbundene historische Rathaus.4 Nach Plänen des Architekten Hermann Friedrich Waesemann wurde der kolossale Rathausneubau von 1861 bis 1870 in zwei Bauabschnitten realisiert. Ein zähes Ringen um den Erhalt der Berliner Gerichtslaube, die in die Spandauer Straße hineinragte, begleitete die fast zehnjährige Planungs- und Bauzeit. Bereits vor der öffentlichen Auslegung der Neubaupläne schaltete sich der königlich preußische Landeskonservator Ferdinand von Quast ein. Mit Verweis auf die Seltenheit und besondere Bedeutung des gotischen Gebäudekerns, der unter der barocken Fassade verborgen war, formulierte der Konservator drei Forderungen, die über den Kultusminister an die kommunalen Entscheidungsgremien weitergeleitet wurden: Erhaltung der Gerichtslaube mit dem charakteristischen Mittelpfeiler, Erhalt und Aufbewahrung wertvoller Details des Rathauses sowie umfassende bauarchäologische Erfassung des gesamten Bauensembles.5 Diese frühen Forderungen staatlicher Denkmalpflege lösten geteilte Reaktionen aus: Die Dokumentation und Aufbewahrung bzw. ein Einbau der architektonischen Details des mittelalterlichen Rathausensembles an anderer Stelle fanden breite Zustimmung und Unterstützung bei kommunalen Entscheidungsträgern und Verwaltungsbeamten, die überwiegend dem Berliner Bildungsbürgertum angehörten.6 Die Forderung nach dem Erhalt der Gerichtslaube am historischen Ort stieß dagegen bei breiten Teilen der Bevölkerung auf Verständnislosigkeit und rief massiven Widerspruch hervor. Über mehrere Jahre führte diese Forderung darüber hinaus in der Kommunalverwaltung zu einer Spaltung zwischen Stadtverordnetenversammlung und Magistrat. Während sich die Angehörigen des Stadtparlaments – ähnlich wie der größte Teil der Stadtbevölkerung – überwiegend für den Abriss der Gerichtslaube aussprachen, setzte sich der um 1865 von erklärten Geschichtsfreunden dominierte Magistrat7 für ihren Erhalt ein. Ebenso intervenierten mehrere Minister (Staatsbeamte, die mehrheitlich dem Adel angehörten) von Anfang an entschieden zugunsten des historischen Bauwerks.8 Als im Jahr 1865 schließlich der größte Teil des alten Rathauses abgetragen wurde, erwirkte eine kleine, einflussreiche Gruppe der Berliner Kulturelite durch zivilgesellschaftliches Engagement zumindest einen erneuten Aufschub.9 Diejenigen, die den Abriss der Gerichtslaube verhindern wollten, waren mehrheitlich politisch konservativ gesinnte Mitglieder des ebenfalls 1865 gegründeten Vereins für die Geschichte Berlins. Darin traten Angehörige des Bildungsbürgertums und des Adels gemeinsam für die Bewahrung des kulturhistorischen Erbes der Stadt ein. Der dreijährige Konflikt zwischen Magistrat und Stadtverordnetenversammlung über den Abriss der Gerichtslaube zeigt daher auch einen politischen Richtungsstreit zwischen den beiden kommunalen Entscheidungsgremien auf. Die Auseinandersetzung um das zentral gelegene Gebäude spielte sich im Spannungsfeld kommunaler, stadtbürgerlicher und staatlicher Einflusssphären ab, wobei schließlich der historisch-kulturelle Wert des Baudenkmals in den Hintergrund trat. Immer mehr entwickelte sich das Thema zur Machtprobe zwischen den städtischen Selbstverwaltungsorganen und dem preußischen Staat, der durch den Landeskonservator, den Kultus- und Bauminister sowie den preußischen König Wilhelm I., den späteren Kaiser, vertreten war. An einem sensiblen Punkt der Konfrontation zwischen den beiden städtischen Gremien verwiesen Angehörige des Magistrats auf die endgültige staatliche Entscheidungshoheit in Denkmalfragen.10 Dieser Hinweis markiert den entscheidenden Wendepunkt in der Auseinandersetzung. Als Minister und König nämlich auf dieser gesetzlichen Grundlage versuchten, der Stadt den Erhalt des kleinen mittelalterlichen Bauwerks aufzuzwingen, führte dieses Vorgehen zu gemeinsamer Abwehr und forciertem Widerstand der beiden städtischen Selbstverwaltungsorgane, der Stadtverordnetenversammlung und des Magistrats. Im Frühjahr 1871 zeichnete sich ab, dass das staatliche Einspruchsrecht nicht ausreichen würde, um die städtischen Entscheidungsträger zur Bewahrung der Gerichtslaube am historischen Standort zu bewegen und damit das wichtigste baulich-historische Zeugnis stadtbürgerlicher Unabhängigkeit der Berliner im Mittelalter zu erhalten. Daraufhin entschied sich der spätere Kaiser Wilhelm I. noch während des Frankreichkrieges, das Bauwerk selbst zu erwerben und seine Mauern durch einen rekonstruktiven Wiederaufbau in den Schlosspark nach Babelsberg zu verlegen. Die Stadt begrüßte diesen Vorstoß und veranlasste umgehend die Abbrucharbeiten. Die originalen Bauteile behandelte man jedoch nicht sehr achtsam, so dass der überwiegende Teil dabei verloren ging11 – und dies geschah, obwohl der Regent so eindringlich um Sorgfalt beim Abbau gebeten hatte.12 Bereits wenige Tage später, am 17. März 1871, feierte Berlin beim triumphalen Einzug des Kaisers mit dem reich geschmückten Rathausneubau seinen eigenen Sieg über die Staatsmacht. Berliner Altstadtgeschichte und die Historische Urbanistik Auch die Kämpfe um den Erhalt der Fassade des Ephraim-Palais am Mühlendamm 1935/36 und des Ermelerhauses in der Breiten Straße13 in den späten 1960er-Jahren spielten sich im Spannungsfeld kommunaler, kulturbürgerlicher sowie staatlicher Interessen und Entscheidungen ab.14 Wiederholt wurde dabei das Abtragen, Aufbewahren und später der rekonstruktive Wiederaufbau initiiert. Manchmal, wie beim Ephraim-Palais, konnten allerdings nur noch wenige Gebäudeteile erneut verwendet werden. Immer zielte die Translozierung historischer Bauten darauf ab, Gebäudeschützer zu beschwichtigen und das städtische Geschichtsbild zu pflegen. Bislang wissen wir noch viel zu wenig über die Akteure und den Verlauf nicht so prominenter Streitfälle, die mit den vielfältigen Modernisierungs- und Umbauprojekten der Berliner Innenstadt im 19. und 20. Jahrhundert verbunden waren. Über verstreute Einzeldarstellungen hinaus fehlt uns vor allem der Überblick, durch den erst Kontinuitätslinien sowie ein Wandel zentraler Positionen gegenüber Erhalt oder Umbau der Altstadt in der Berliner Stadtbürgerschaft sichtbar gemacht werden können. Einen ersten Schritt in diese Richtung unternimmt der in Zusammenarbeit mit Studierenden des Masterstudienganges Historische Urbanistik am Center for Metropolitan Studies der Technischen Universität Berlin15 entwickelte zweite Erzählstrang in der Ausstellung. Anhand von Quellenfunden aus dem Landesarchiv Berlin und den umfangreichen ergänzenden Archivbeständen des Stadtmuseums Berlin konnte die Geschichte der „Menschen im Stadtumbau“ gezielt erforscht werden. Jene Berlinerinnen und Berliner lebten in der Altstadt und begleiteten die städtebaulichen Veränderungen dort sehr engagiert und teilweise auch kritisch. Originaldokumente enthüllen z.B. Zustimmung, Protest oder Melancholie beim Abriss historischer Einzelbauwerke und Ensembles, etwa des Meyerbeerschen Hauses in der Königstraße (1884) oder ganzer Häuserreihen wie in der Parochialstraße (1930), aber auch in jüngster Vergangenheit beim Protest gegen den Abriss des „Ahornblatts“ im Jahr 2000 sowie 2008 gegen den Abriss des Palastes der Republik. Zeitgenössische Schriftstücke werfen Licht auf Streitigkeiten im zeitlichen Umfeld der „Arisierung“, also der räuberischen Aneignung der großen Warenhauskomplexe Wertheim an der östlichen Königstraße (Grunerstraße/Alexanderplatz) und des traditionsreicheren Altstadt-Kaufhauses Nathan Israel an der Königstraße/Spandauer Straße, vis-à-vis des Roten Rathauses. Das konkurrierende Warenhaus Hertzog im Straßenkarree Breite Straße/Brüderstraße spielte dabei im Laufe des Jahres 1938 als prospektiver Nutznießer eine recht unrühmliche Rolle. Ein technischer Innovationsraum Archivalien verdeutlichen ebenfalls, wer mit welchen Argumenten im 19. Jahrhundert gegen die Einführung des neuen Berliner Abwasserprojekts kämpfte, das in einem groß angelegten Programm die gesamte Entsorgungstechnik modernisieren sollte. Es zeigt sich, dass die Stadttechnik und die Verkehrsinfrastruktur der Altstädte Berlin und Cölln die rasante Umwandlung des Stadtgebietes seit den 1860er-Jahren maßgeblich beeinflusst haben. Am Beginn steht die Entwässerung auf Rieselfeldern. Das war ein umfassendes Hygieneprojekt, welches für die Entwicklung des modernen Berlins eine bedeutende Rolle spielte.16 Erst zwischen 1856 und 1859 konnte sich das Londoner System der Kanalentwässerung aller privaten Haushalte als neue Entwässerungstechnologie für Berlin durchsetzen.17 Im Verlauf dieses jahrzehntelangen Entscheidungsprozesses gewannen die städtischen Deputationen erheblich an eigenem Handlungsspielraum hinzu, weil sie ihre zukunftsweisenden Konzepte gegenüber der Staatsaufsicht propagierten und schließlich triumphierten.18 Aufgrund der drei preußischen Kriege zwischen 1864 und 1871 litt der Staat unter arger Finanznot, weshalb der Kanalausbau erst ab 1873 in großem Maßstab in der Innenstadt realisiert werden konnte. Im Altstadtbereich war er bereits 1876 abgeschlossen und sorgte für einen fundamentalen Wandel des Erscheinungsbildes. Durch die Abwasserhygiene verschwand nicht nur die penetrante Geruchsbelästigung durch Fließabwässer, sondern es entfielen auch die alltäglichen Transporte aus Sickergruben. Infolgedessen verbesserte sich die Gesundheit der dort verbliebenen Bevölkerung erheblich, und die sehr hohe Sterblichkeit im Altstadtgebiet, insbesondere die katastrophale Kindersterblichkeitsrate, ging abrupt zurück. Gleichzeitig verschönerte die neue Technik die Stadt. Alle Innenstadtstraßen waren aufgerissen und einheitlich neu gepflastert worden.19 Davon profitierte der gesamte innerstädtische Verkehr. Die Modernisierung von Stadttechnik veränderte außerdem die Wahrnehmung der alten Stadt. Ein aufgrund vielfältiger Umweltbelastungen unerträglicher und baulich vernachlässigter Ort mit außergewöhnlich hoher Sterblichkeit verwandelte sich durch die geschaffenen Verkehrswege in ein attraktives Zentrum für Handel und Konsum, das immer beliebter wurde. Es regte zum Weiterbauen an, auch von großen Warenhäusern nach Londoner und Pariser Vorbild. In der Bevölkerung verstärkte sich damit der Eindruck, mittels technischer Innovationen eine nachhaltige Verbesserung der eigenen Lebensverhältnisse erreichen zu können.20 Mit der Durchsetzung ihrer wirtschaftlichen, hygienischen und technologischen Interessen in ihrem Altstadtquartier entwickelte sich bei den Berlinern das Bewusstsein, einer identitäts- stiftenden lokalen Gemeinschaft anzugehören, die den Wandel von Technik und Infrastrukturen im modernen Städtebau meisterte und sogar in der Lage war, den Staat in der Hygienepolitik erfolgreich herauszufordern. So dehnte der Kampf um die Verbesserung der Gesundheitsverhältnisse den Radius der Berliner Kommunalpolitik weiter aus: Was zuvor der Staat geregelt hatte, nahmen jetzt städtische Beamte, Deputierte, Stadtverordnete und die Magistrate in die eigenen Hände. Viele Eigeninitiativen dieser Jahrzehnte bewiesen das erheblich gewachsene Selbstbewusstsein eines erstarkten Stadtbürgertums. So bewirkte zwischen 1864 und 1883 eine Bürgerinitiative von 15 Anwohnern des Molkenmarkt-Viertels die Verbreiterung des Mühlendamms. Am historischen Übergang von Berlin nach Cölln war bei den Anliegern eine gemeinsame Haltung zugunsten von Verkehrssicherheit und Durchgangsverkehr entstanden – heute würde man sagen: zugunsten der Modernisierung des Straßenraums –, gerade weil sich der Magistrat aus finanziellen Gründen dagegen sperrte. Dabei trat die große Bedeutung technischer Innovation in der expandierenden gewerblichen Industrie für den Wachstumsprozess und damit für die Berliner Stadtentwicklung hervor. Die Metropole wurde für die Berliner zu einem Ort kontinuierlich erfahrbarer technischer Neuerungen. Sie bewirkte den rasanten Wandel von Leitbildern des Städtischen und damit auch eine veränderte Vorstellung von Urbanität für die zeitgenössische Wahrnehmung AltBerlins.21 Daraus entwickelte sich eine für Berlin typische, optimistische Mentalität und ein positives Bild des technologischen Wandels. Blickt man weit genug zurück, stellt man fest, dass die Beherrschung von Technik das Zusammenwachsen beider Teilstädte in ihrer Gründungsphase überhaupt erst ermöglicht hat. So kann die Aufschüttung des Mühlendamms um 1220 als eine außergewöhnliche technische Gemeinschaftsleistung der spätmittelalterlichen Bürgerschaft Berlins betrachtet werden. Dahinter stand der Wunsch, die Chancen im internationalen Fernhandel durch eine dauerhafte „moderne“ Verkehrspassage zu nutzen.22 Gewerblicher Erfolg wurde damit in Berlin auf Dauer von technischer Innovation abhängig, und die gewerbliche Innovationskraft der Stadt konnte mit der Industrialisierung ungebrochen fortgeführt werden. Von der Verkehrspassage des Mühlendamms aus erhielt das Gewerbe in der Doppelstadt die entscheidenden Impulse, zumal die Spree an dieser Stelle nicht nur als Wasserstraße, sondern auch als Antriebsspender der großen Mühlenbetriebe genutzt wurde. Alt-Berlin steht in diesem Sinne auch für die erfolgreiche Industriegeschichte einzelner Erfinder vor Ort, die Berlin zur größten Industriegroßstadt des Deutschen Reiches und zum europäischen Zentrum der Patentanmeldungen machten. Viele Einzelfälle zeigen diesen Zusammenhang von Innovation und Industrie. So befand sich in der Poststraße Nr. 14, dem Nachbargrundstück des Ephraim-Palais, spätestens seit 1855 eine Färberei. Dort wurden innovative industrielle Produktionsverfahren entwickelt, indem die Antriebsenergie in neuen Kesselhäusern wesentlich besser ausgenutzt werden konnte. Diese Energie wurde durch das Fließwasser der Spree erzeugt. Schon 1883 wurde im wasserseitigen Teil des lang gestreckten Grundstücks an der Poststraße ein weiterer moderner Dampfkessel aufgestellt. Diese kostspieligen Innovationen für aufwändige technische Aufbauten mussten in bürokratischen Verfahren immer wieder beim Magistrat beantragt werden. Nach genauen Vorschriften wurden die Anlagen installiert und anschließend prüftechnisch abgenommen. Es ist der hohen Ausbildungsqualität der wenigen dafür zuständigen Magistrats- und Regierungsbeamten sowie der Aufgeschlossenheit der Berliner gegenüber der neuen Technik zu verdanken, dass daraus keine Streitfälle erwuchsen, welche die industrielle Entwicklung der Stadt nachhaltig behindert hätten. Auch schräg gegenüber, im Eckhaus Poststraße/Molkenmarkt/Molkenstraße, bewährten sich der innovationsorientierte Gewerbefleiß und das daraus resultierende wachsende Selbstbewusstsein der Bürger AltBerlins. In einer langjährigen brieflichen Auseinandersetzung mit dem Magistrat verzögerte der Inhaber des Textilgeschäftes Riethmüller zwischen 1909 und 1924 die längst fällige Anhebung des Bürgersteigniveaus und damit die kostenintensive Neupflasterung auf private Kosten. Wenn man hinter die ostentative Knauserigkeit des Geschäftsmannes blickt, beurteilt man seinen lang anhaltenden Widerstand differenzierter. Riethmüller wollte sich als Bürger von den Norm setzenden Magistratsentscheidungen nicht bevormunden lassen. Im Licht dieses zunehmenden zivilgesellschaftlichen Selbstbewusstseins können wir in solchen Streitfällen ein gestiegenes politisches Verantwortungsgefühl für die Belange der Stadtentwicklung erkennen. Zudem ist es ein Beleg für eine in Jahrhunderten gewachsene sturköpfige Selbstbehauptung gegenüber der Obrigkeit oder eben für die Berliner Schnauze. Beschleunigung des Wandels Die Zeitgenossen erlebten den in den 1880er-Jahren wesentlich beschleunigten Wandel ihres Altstadtquartiers als eine kontinuierliche Abfolge von Abrissen und Neubauten. Der Umbau der vorindustriellen Stadt in ein Großstadtzentrum ging jedoch von den neuen Repräsentationsbauten des Staates und der Berliner Selbstverwaltung aus. Eine Besonderheit bestand darin, dass vor allem in der Berliner Altstadt der vertraute öffentliche Raum aus Straßenfluchten und Sichtachsen permanent umgestaltet wurde. Neue Großbauten spielten dabei eine entscheidende Rolle. Nach und nach verdrängten sie vollständig die ältere Bebauung, auch wenn in den Nebenstraßen viele Häuser aus früheren Epochen bis zum Zweiten Weltkrieg erhalten blieben. Obwohl sich damit die Quartiersstruktur der Altstadt immer wieder radikal veränderte, war diese schleichende Flächensanierung in Form einer Altstadtnutzung durch Gewerbe und noch öfter durch unterschiedliche Bürobauten23 – inklusive technischer Repräsentationsbauten wie des Berliner Fernsehturms – weitaus weniger umstritten, als wir heute meinen.24 Die Eigentümer verkauften nämlich ihren Besitz zu einem guten Preis und zogen aus Berlin fort. Die Suche nach der angemessen modernisierten Stadt wurde kontinuierlich fortgesetzt. Sie prägte sowohl die Praktiken der Akteure als auch die Selbstwahrnehmung jener, die über den Städtebau in Alt-Berlin entschieden. Jüngst wurde darauf hingewiesen, dass diese Auffassungen zu einer eigenständigen diskursiven Realität geworden sind. Sie gewannen stark an Bedeutung und wirkten ihrerseits identifikationsstiftend auf die Bevölkerung zurück. Aus solchen Sinndeutungen erwuchs eine typische Berlinische Mentalität, Bürger einer Metropole zu sein, die im permanenten Umbau begriffen war.25 Sie entsprach nicht so sehr dem glänzenden Hauptstadt-Image anderer europäischer Städte, sondern metropolitan zu sein wurde hier viel stärker als ein Element von Bewegung und Veränderung verstanden. Geschäftig zu sein und gleichzeitig technikverliebt, chaotisch zu erscheinen, wenn wieder einmal alle gleichzeitig etwas zu sagen haben, das waren typische Berliner Selbstwahrnehmungen. Nach außen hin gab man sich ignorant oder auch sehr tolerant, wenn Innovationen auf ihre Standfestigkeit geprüft wurden. Man schien an der besten Lösung interessiert und war weniger auf den Stellenwert der eigenen Geschichte aus als auf gängige und populäre Symbole einer Metropole, einer Stadt des Geldmachens und des Vergnügens, die als internationales Tourismusziel zunehmend an Bedeutung gewann. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schien sich das industrielle Potenzial, das Innovationen von Rang bewirkte, mehr und mehr zu erschöpfen. Aus den erwarteten Veränderungen in der Stadt wurde eine hohe Attraktivität für die „kreative Klasse“ abgeleitet, für Künstler, Werbefachleute, Mode- und Designspezialisten, die ihre Position in der Standortkonkurrenz europäischer Metropolennetzwerke dadurch stärkten, dass sie von Berlin aus wirkten.26 Alle diese Wahrnehmungsweisen wirkten früher oder später auf die kritische Wahrnehmung der Berliner Baugeschichte zurück und damit auch auf die Lokalpolitik. Große Bauausstellungen und eine avancierte Architektenschaft vermittelten trotz aller Einschränkungen immer wieder den Eindruck, dass die Berliner eher dynamisch und zukunftsorientiert handelten, als auf die Relikte der Vergangenheit ausgerichtet zu sein. Das hat allerdings die Rettung der im ökonomischen und politischen Wandel der vergangenen zwei Jahrhunderte stark unter Veränderungsdruck stehenden Bauwerke erschwert, wenn nicht sogar tendenziell unmöglich gemacht. Stadtkern und die Funktion der Mitte Dass Berlin auch im Altstadtzentrum immer auch von der Hauptstadtfunktion geprägt blieb, zeigen die Diskussionen um das Stadtschloss, den Palast der Republik und das „Ahornblatt“, die seit den späten 1990er-Jahren zeitweise die öffentliche Diskussion über den Stadtkern dominierten.27 In diesen Debatten wurde das Berliner Stadtzentrum als ein politischer Repräsentationsraum entdeckt, der durch spektakuläre Abrisse und Neubauten immer wieder neu geprägt wurde, aber auch eine Zukunft mit hohem Aufmerksamkeitswert haben sollte. So ist es in der Altstadt Berlins zu einer sehr widersprüchlichen Überlagerung unterschiedlicher Bautraditionen des späten 19., des 20. und 21. Jahrhunderts gekommen. Trotz des massiven Wandels an diesem Ort lässt sich daraus nicht ableiten, dem Abriss stärker zugeneigt zu sein als dem behutsamen Umgang mit der Tradition. Auch die hartnäckigen, 1955 aber schließlich vergeblichen Versuche des Eigentümers, sein historisches Bürgerhaus mit gotischen Gewölben im Hohen Steinweg 15 in der Altstadt vor dem Abrissbagger zu retten, zeigen den unbedingten Wunsch, zu erhalten, was baukulturell besonders wertvoll war. Dieses Bestreben begleitete die Berliner Altstadtdiskussionen permanent, bis hin zu massiven Protesten. Die Berliner hätten auch ihr Schloss niemals hergegeben, wenn man sie 1950 gefragt hätte. Die Hauptstadt-Politisierung war demnach nicht immer ein Segen für die Altstadt. Sie hat vielmehr zu einer Verankerung von Staatskonflikten im Stadtgrundriss geführt, zu vielfältigen Projektionsflächen unterschiedlicher Geschichtsbilder und Wahrnehmungsweisen, die der Mitte Berlins aufgedrängt wurden und zu immer neuen Abrissentscheidungen geführt haben. Diese ambivalente Konfliktsituation, die in den gesamten 40 Jahren DDR übermäßig präsent war, prägt auch die neue Berliner Republik.28 Im Dauerstreit um das Schicksal des Palastes der Republik zeigten sich vergleichbare Ausblendungen, die Abwehr von Traditionsbezügen einer DDR-Geschichtlichkeit, welche als eine Teil-Mentalität des Berlinischen auch an Gebäude wie dieses geknüpft wurden, die ihrerseits auf den Trümmern wesentlich älterer Identifikationsbauwerke entstanden waren. Schließlich folgte der Streit über das Erscheinungsbild des zu restaurierenden Stadtschlosses, das wiederum an seine Stelle treten soll. Zukünftige Debatten um das Schlossareal lassen erneute Konfrontationen darüber erwarten, was mit dem Stadtbau in Alt-Berlin künftig geschehen soll.29 Weitere umkämpfte Räume liegen südlich dieses Bereichs. Große Teile noch erhaltener kleinteiliger Bebauung auf der Fischerinsel wurden erst Ende der 1960er-Jahre Opfer einer Totalsanierung durch den staatlich initiierten Flächenabriss. Ähnlich wie im gesamten Zentrumsumbau nach 1950 orientierte sich die Stadt damit an den herrschaftlichen Repräsentationsbedürfnissen des Staates statt am Alltag seiner Bewohner und schon gar nicht an der in Alt-Berlin und in Alt-Cölln gewachsenen Viertelstruktur. Der Stadtplaner Harald Bodenschatz hat kurz und bündig darauf verwiesen, dass die DDR damit „der Tradition der absolutistischen Stadt [folgte], nicht aber [jener] der bürgerlichen Geschäftswelt.“30 Neben Stadtplanungsgeschichte und sich in den 1980er-Jahren unüberhörbar zu Wort meldender Denkmalpflegewissenschaft hatte es die Geschichtswissenschaft in den vergangenen 200 Jahren vergleichsweise schwer, in diesem rasanten Kräftefeld Fuß zu fassen. Geschichte fragt nach den langen Linien stadtbaupolitischer Grundsatzentscheidungen31, aber auch nach den Umbrüchen und abrupten Verkehrungen, die diesen Stadtraum Alt-Berlin in der Berliner Mitte so unverwechselhaft kennzeichneten. Die noch immer sichtbaren Denkmale und Relikte, Ruinen, Grundrisse und überbauten Keller aus seiner jahrhundertealten Baugeschichte tun dies ebenfalls.32 In Zukunft gilt es für den gesamten Bereich des Berliner Stadtkerns zu klären, wie sich die von der städtebaulichen Moderne geprägte bauliche Realität mit dem Wunsch verbinden lässt, auch die „historische Stadt“ wieder erfahrbar zu machen. Umfassendes Wissen über die Zusammenhänge in der Stadtgeschichte ist dafür eine wichtige Voraussetzung, wie auch das Wissen über das Alltagsleben in der Stadt. Dies führt zu der Frage, ob aus den Handlungsund Denkweisen der Bewohner dieser Stadt eine Identifikation mit der Altstadt Berlin entstehen kann und ob daraus neue Konzepte für einen alten, nicht vertrauten Stadtraum erwachsen können. Altstadt Berlin: Verkehr, Innovationen, Neubauten und Konflikte – Quellen zur Stadt Projekt mit Studierenden am Center for Metropolitan Studies der TU Berlin33 Stadthygiene ruchlos: Bürger protestieren gegen die Kanalentwässerung 250 Berliner Bürger (keine Namen angegeben), Bürgerprotest gegen den Beschluss zum Bau der Kanalisation, 24.10.1872: „Deutlich ist damit gezeigt, daß man dem allgemeinen Willen der Bürgerschaft, welcher sich vernünftigerweise in großer Mehrheit gegen die Canalisation richtet, keine Rechnung tragen will [...] – und Herr ‚Baumeister Hobrecht’ von Seiten des Magistrats mit einer Bauausführung betraut werden soll, deren Gesamtkosten der Stadt eine Schuldenlast von circa 30 Millionen Thaler aufbürden wird. Und was erwirbt die Stadt Berlin durch diese, ihren Wohlstand erschütternde Schuldenlast? – Ein Canalsystem, das die Straßen zerreißen und durch seine Einrichtung den Verkehr jahrelang empfindlich stören wird; – Canäle, welche die bösartigsten Auswurfstoffe in sich aufnehmen und durch ihre Verbindungs-Rohre die daraus aussteigenden, tödlichen Dünste verderbenbringend direct ins Innere der Häuser, in den Kreis unsrer Familien führen, so daß die Öffnung jeden Spülsteines, jedes Wasserabflusses und Closets zur pesthauchenden Mörderin wird.“34 250 Bürger Berlins riefen am 24. Oktober 1872 die gesamte Berliner Einwohnerschaft dazu auf, gegen den geplanten Kanalisationsbau zu protestieren. Ihrer Meinung nach wurde der Bau voreilig beschlossen und über vermeintlich bessere Alternativen, wie ein Abfuhrsystem, nicht ausreichend nachgedacht. Besonders betonten sie die drohende Verschlechterung der hygienischen Verhältnisse. Gestank und todbringende Dungstoffe würden sich in den Rohren ablagern und die Gesundheit der darüber lebenden Menschen gefährden. Die Stadtverordnetenversammlung resümierte 1882, dass über keine andere technische Innovation in Berlin unter Beteilung der Presse und des allgemeinen „Publikums“ so lange und so heftig gestritten worden sei. Die Wortführer der Kanalentwässerung, wie der Stadtplaner James Hobrecht und der Sozialmediziner Rudolf Virchow, setzten sich am Ende zu Recht durch. Die Hygiene-Vorteile des neuen Rohrsystems, die die Kritiker ignorierten, verbesserten nämlich fundamental den Komfort und die Gesundheit der gesamten Innenstadtbevölkerung. Berlin setzte damit Maßstäbe für alle anderen deutschen und kontinentaleuropäischen Städte. Marcela Arrieta | Hendrik Schulz | Hannah Wolter Technologischer Fortschritt 1855 und 1883: Die wassergestützte Seidenfärberei an der Spreeseite von Alt-Berlin Der Stadt-Bau-Inspector, Beschreibung einer Dampfkessel-Anlage der Maschinenfabrik Cyclop/ Berlin zum Betrieb für Herrn Tobias in Berlin, Poststraße No. 14, 16./21.5.1883: „[...] § 1. Der Kessel ist von schmiedeeisernen Blechen bester Qualität gefertigt, und sind die Verbindungen derselben mittelst Nietung und Verschraubung hergestellt. Die verwendeten Blechstärken betragen: im Hauptkessel 11 mm. Die Längsnähte doppelt genietet, in den 2 Feuerrohren 10 mm, jedes durch 1 Ring versteift. In dem Dom 10 mm. In den Stirnwänden 14 mm. § 2. Die Feuerung geschieht mit Steinkohlen und ist der Rost 930 mm lang und 2 mal 600 mm breit; er liegt vorne in den Feuerrohren. Die Verbrennungsprodukte durchstreichen in der Richtung der eingezeichneten Pfeile den Kessel und die Kanäle, sie werden endlich durch den Fuchs in den massiven Schornstein von ca 20000 mm Höhe abgeführt. Der niedrigste Wasserstand liegt 100 mm über der Oberkante der Feuerkanäle und 150 mm über den Feuerrohren. [...]“35 In Preußen wurde die hohe Professionalität der Baupolizei und der Magistratsbeamten durch technische Ausbildung gefördert. Die Bauakademie von Karl Friedrich Schinkel spielte als Vorläuferin der Technischen Hochschule Charlottenburg von 1879 hier eine ents
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