als pdf - Museum für Gegenwartskunst Siegen

Kunstwerk des Monats Mai 2015
Lucian Freud, „Naked Man on Bed”, 1989
Sammlung Lambrecht-Schadeberg / Rubenspreisträger der Stadt Siegen als Dauerleihgabe im Museum für
Gegenwartskunst Siegen. © The Lucian Freud Archive, Estate of Lucian Freud/Bridgeman Images
Man betritt den Raum und ist geschockt, peinlich berührt oder zumindest überrascht. Es
ist kein Bild, an dem man einfach so vorbei geht, irgendeine Reaktion löst das Gemälde
„Naked Man on Bed“ (1989) von Lucian Freud immer aus. Es ist kein posierender Akt
mit wohlplatzierten Gliedmaßen oder Accessoires, sondern ein breitbeinig liegender
Mann, dessen entblößter Anus und Geschlechtsteile die Bildmitte einnehmen. In einer
schrägen Untersicht schauen wir auf den Liegenden, von dem wir ansonsten nur wenig
erkennen. Die Hand hat er vor dem Gesicht, so dass wir ihn nicht identifizieren können.
An seinem linken Fuß befindet sich eine halb ausgezogene schwarze Socke.
Diese Socke ist das einzige Kleidungsstück, wie im Abstreifen begriffen, oder – sollte
man ihr lebendige Züge vermitteln wollen – wie eine Schlange im Davonschlängeln
ertappt. Die Analogie zum Penis ist offensichtlich, wie eine Bewegung gegensätzlicher
Elemente befinden sich das helle Fleisch und die dunkle Socke in einer Kreisbewegung.
Das Eigentümliche an der Socke ist, dass sie – obwohl ein Kleidungsstück – den nackten
Mann noch nackter erscheinen lässt.
Hier zeigt sich eine Untersicht des menschlichen (männlichen) Körpers, die man so selten
zu sehen bekommt – und wenn, dann eher in einer intimen Situation. Hat dies
Auswirkungen auf unsere Reaktion, da wir einen nackten Unterleib nur zuhause, meist in
trauter Zweisamkeit, sehen oder dem anderen zeigen? Eine derartige Offenlegung ist für
viele eine Überschreitung einer Grenze, selten würde man sich in dieser Haltung einem
Fremden präsentieren. Das Bett wiederum ist eigentlich kein ungewöhnlicher Ort für eine
nackte, liegende Person. Dennoch handelt es sich hier um eine Ateliersituation; der
schonungslose Blick des Malers überträgt den Körper des Modells auf die Leinwand und
damit in unsere Wahrnehmung.
Es stellt sich die Frage nach der Scham; viele sind beschämt, wenn sie Bilder von nackten
Personen sehen. Natürlich ist hier immer der Kontext wichtig, und Scham (und die damit
verbundene Schande) kann auch anders ausgelöst werden als durch nackte Haut oder Sexualität.
Dennoch ist Nacktheit (gerade weil entblößte Körperteile Sexualität implizieren), lange Zeit die
Hauptursache für Scham und Schande gewesen. Dem gegenüber steht die Schaulust, die Freude
beim Ansehen nackter Körper – die interessanterweise dennoch Scham beim Betrachter oder
Betrachteten auslösen kann.1
Bei Freud geht es nicht um die Schaulust, das Bloßstellen oder das Beschämen, sondern um das
Freilegen und das Einfangen einer bestimmten Situation, Person und Persönlichkeit. Freud hat
Männer und Frauen verschiedenster Art gemalt, stets in seinem kompromisslosen Malstil. Sie sind
nackt und authentisch, bisweilen schlaff und schläfrig vom stundenlangen Modell sitzen. Am
liebsten war es ihm, wenn seine Modelle sich entspannt wie Tiere gaben, also ohne jede Scham
waren.2
Die Darstellung von Genitalien hat in der Kunstgeschichte eine lange und oft kontroverse
Tradition. Bei Freud fängt die Auseinandersetzung bereits in den 1940er Jahren an. Die
Zeichnung „Boy on a Bed“ (1943) – der Künstler ist 21 Jahre alt – zeigt eine männliche
Person in ähnlicher Untersicht wie „Naked Man on Bed“, allerdings mit ausgestreckten
Beinen, die Hände hinter dem Kopf verschränkt und mit selbstbewusstem Blick zum
Betrachter. Auf demselben Blatt befindet sich am unteren Bildrand eine Detailansicht der
Region zwischen den Beinen mit einer Hand, die die den Penis umfasst. Die Zeichnung
reflektiert eine Auseinandersetzung mit dem menschlichen (und wohl auch dem eigenen
Körper), sowohl persönlich als auch künstlerisch. Ähnliches spiegelt auch die Zeichnung
„Man looking up his Behind“ (1940) wider, in der – dem Titel getreu – ein Mann in
geradezu akrobatischer Verrenkung versucht, sein unteren Körperregionen zu betrachten.
Später sitzen für Freud vor allem Frauen nackt Modell. Assoziationen werden
hervorgerufen zu Gustave Courbets „L’Origine du Monde“ („Der Ursprung der Welt“,
1866, Musée d’Orsay Paris), wo der für seinen Realismus bekannte Maler eine weibliche
Scham (man beachte die Doppeldeutigkeit des Wortes im Deutschen) „porträtiert“. Freud
war fasziniert von Courbets „Schamlosigkeit“3 und seine Nacktporträts zeigen mitunter
ganz ähnliche Blickwinkel von Frauen, etwa „Portrait Fragment“ (1971), „Two
Fragments“ (1977) „Rose“ (1978/79) oder „Naked Portrait II“ (1980/81), um nur ein
einige wenige Beispiele zu nennen. Aber auch Männer posieren breitbeinig für Freud,
wovon unter anderem mehrere Radierungen seit den 1980er Jahren zeugen, wie z.B.
„Man Posing“ (1985).
Die Ablehnung der Darstellung von Nacktheit begründet sich zum einen in kulturellen und
religiösen Kontexten; die Ablehnung von Freuds Nacktporträts liegt aber auch an der
ungeschönten und drastischen Darstellung. Wir wollen uns nicht mit dem Modell identifizieren.
Geschönte Darstellung von Nacktheit erfreut uns und erscheint uns weniger anstößig – sie
erscheint weniger real und konfrontiert uns somit nicht mit einem echten, nackten Menschen.
Zudem gibt es in der Beziehung des Schauenden und des Angeschauten eine Hierarchie –
insbesondere wenn der Angeschaute nackt ist. „Der Beschämte ist, meist schutz- und wehrlos, den
Blicken aller preisgegeben.“ Identifizieren wir uns – bewusst oder unbewusst – mit dem Modell,
so projizieren wir unsere Scham auf die dargestellte Person; Scham ist oft ansteckend, „wir
schämen uns also für den, der einer Gruppe angehört, der auch wir uns zugehörig fühlen und die
damit blamiert wird.“ Oft reicht es, dass wir derselben Spezies angehören oder demselben
Geschlecht.4
Man kann in die Haltung des Mannes im Gemälde von Lucian Freud Scham hineinlesen, hat er
doch die Hand schützend über die Augen und das Gesicht gelegt, wie um seine Identität zu
verbergen. Andererseits kann auch der Umstand der langen Sitzungen und des intensiven Lichtes
im Atelier zu einer ermüdeten Pose geführt haben. So wird auch der „Naked Man on Bed“ zur
Leinwand für unsere Projektionen.
Zur Scham im Allgemeinen besonders anschaulich: Dr. Med. Till Bastian, „Scham und Schaulust, Macht und Ohnmacht…“, Vortrag vom 18.April 2007
im Rahmen der 57. Lindauer Psychotherapiewochen 2007, Download unter http://lptw.de/archiv/vortrag/2007/bastian_till.pdf
2
Gayford, Martin: Mann mit blauem Schal. Ich saß für Lucian Freud. Ein Tagebuch; Bern 2011, S. 210.
3
Hoban, Phoebe: Lucian Freud. Eyes wide open, Seattle 2014, S.83.
4
Siehe Anmerkung 1.
1