Jan Hus - Reformierte Kirche Kanton Zürich

Religion &
Gesellschaft
RGOW 3 / 2015
43. Jahrgang
in
Ost
Jan Hus
Jan Hus – Theologe, Kirchenreformer,
Märtyrer
7
„Wir sind alle Hussiten“ –
Jan Hus und die Reformation
18
Transformationen der tschechischen
Erinnerungskultur an Jan Hus
23
und
West
2
EDITORIAL
Nr. 3 2015
RGOW
I N H A LT
3 G E L E I T WO R T
4 RU N DS C H AU
Liebe Leserin
Lieber Leser
JA N H US
„Gegen Verbrechen des Klerus habe ich gepredigt und werde hoffentlich
7
Thomas Krzenck
Jan Hus – Theologe, Kirchenreformer,
Märtyrer
Thomas A. Fudge
Die hussitische Bewegung
im spätmittelalterlichen Böhmen
Kirche zum Konzil versammelt hatte. Es kam bekanntlich anders: Jan Hus
11
15
Barbara Hallensleben
Wie durch Feuer – Jan Hus
und die Aufgabe der Kirchenreform
auch auf dem Konzil predigen“, schrieb Jan Hus kurz vor seiner Abreise
von Böhmen nach Konstanz, wo sich die spätmittelalterliche lateinische
konnte seine Ideen zu einer Kirchenreform auf dem Konzil am Bodensee,
das sich selbst als Reformkonzil verstand, nicht zur Diskussion stellen,
sondern wurde stattdessen in einem Ketzerprozess 1415 zum Tode verurteilt. Die versammelten Kleriker konnten zwar das abendländische
Papstschisma überwinden, trugen jedoch mit der Hinrichtung von Jan
Hus zu einer neuen Kirchenspaltung bei: in Böhmen entstand mit dem
18
Erich Bryner
„Wir sind alle Hussiten“ –
Jan Hus und die Reformation
21
Jan-Andrea Bernhard
Die Beziehungen zwischen
den Böhmischen Brüdern und Zürich
Lehren sich die Auseinandersetzungen entzündeten? Anlässlich seiner
23
Jaroslav Šebek
Transformationen der tschechischen
Erinnerungskultur an Jan Hus
in den Blick. Dabei geht es auch um das Verhältnis zwischen Jan Hus und
Eine biographische Einführung zu Jan Hus liefert der Beitrag von Thomas
26
Gerhard Frey-Reininghaus
Gedenken der evangelischen Kirchen
im heutigen Tschechien an Jan Hus
Hussitismus eine neue religiöse Bewegung.
Wie kam es zu dieser verhängnisvollen Konstellation auf dem Konstanzer
Konzil? Und wer war eigentlich der Magister, an dessen Auftreten und
Hinrichtung vor 600 Jahren nehmen wir im aktuellen Heft Jan Hus, die
hussitische Bewegung und das Gedenken an den böhmischen Reformer
den Reformatoren ein Jahrhundert später, die sich bei ihren Reformideen ebenfalls immer wieder auf den Magister aus Prag beriefen.
Krzenck, der das Wirken von Jan Hus in einer spätmittelalterlichen Welt
voller Widersprüche und Gegensätze verortet. Mit einer der zu dieser Zeit aufbrechenden Fragen, die von nun an die weitere Kirchen-
P ROJ E K T B E R I C H T
28
Gyula Pásztor
Unterstützung von Studierenden
aus der Karpato-Ukraine
geschichte begleiten sollte, beschäftigt sich der Beitrag von Barbara
Hallensleben – nämlich: Wo ist die wahre Kirche? Für die Hussiten war
klar, dass dies nicht die lateinische Kirche war, weshalb sie eine religiöse
und soziale Revolution auslösten, wie Thomas A. Fudge zeigt. Mit der
Bezugnahme von Luther, Zwingli und Bullinger auf Jan Hus und den
Kontakten zwischen Zürich und den Böhmischen Brüdern beschäftigen
B U C H B ES P R EC H U N G E N
30
Pavel Soukup
Jan Hus
Franz Machilek (Hg.)
Die hussitische Revolution
31
Volker Leppin, Dorothea Sattler (Hg.)
Reformation 1517–2017
Christoph Schmidt
Pilger, Popen und Propheten
sich die beiden Beiträge von Erich Bryner und Jan-Andrea Bernhard.
Eine zweite Karriere erlebte Jan Hus im 19. Jahrhundert, als er mit dem
Aufkommen der tschechischen Nationalbewegung geradezu zum Nationalpatron der Tschechen im Kampf für einen eigenständigen Staat
avancierte – mit den Irrungen und Wirrungen der tschechischen Erinnerungskultur an Jan Hus setzt sich Jaroslav Šebek auseinander. Der Beitrag
von Gerhard Frey-Reininghaus erinnert schließlich daran, dass sich die
Frage nach der Reform und Reformbedürftigkeit der Kirche immer wieder neu stellt – auch in unserer Zeit.
Der Evangelisch-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich danken
wir für die großzügige finanzielle Unterstützung zu diesem Heft.
Die Zeitschrift RGOW wird vom Institut G2W,
Ökumenisches Forum für Glauben, Religion
und Gesellschaft herausgegeben, das vom
gleichnamigen Verein getragen wird.
© Nachdruck von Texten und Übernahme von
Bildern nur mit Genehmigung der Redaktion.
Stefan Kube, Chefredakteur
Nr. 3 2015
RGOW
G E L E I T WO R T
WAS HAT JAN HUS MIT ZÜRICH ZU TUN?
Hätte die Reformation nicht schon hundert Jahre früher starten
können? Die Frage drängt sich auf, wenn man auf das Leben
und Wirken von Jan Hus blickt, dessen Todestag sich heuer zum
600. Mal jährt. Die Mängelliste an der römischen Kurie, die
Reformpläne für die abendländische Kirche und der Aufruf zur
Rückbesinnung auf die Bibel hatte der böhmische Gelehrte schon
im frühen 15. Jahrhundert formuliert. Sie weisen verblüffende
Übereinstimmungen zu den Thesen auf, die in Wittenberg, Zürich
oder Genf ein Jahrhundert später gegen alle Widerstände durchgesetzt wurden. Die späteren Reformatoren, auch die Schweizerischen, bezogen sich durchwegs positiv auf die Ideen von Jan Hus.
Die historische Konstellation zu Jan Hus’ Zeiten war allerdings eine gänzlich andere, als sie sie Luther und Zwingli vorfinden sollten. Jan Hus bezahlte seine Pläne einer erneuerten
Kirche unvollendet mit dem Leben. Am 15. Juli 1415 wurde er
in Konstanz von dem dort tagenden Konzil als Ketzer verurteilt
und auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Die Reformen, die er für
die ganze Kirche anstoßen wollte, einschließlich der Forderung
nach dem Abendmahl in beiderlei Gestalt für alle, verhallten
hierzulande. In seiner Heimat wurden sie gnadenlos bekämpft.
Wenn die Evangelisch-reformierte Landeskirche des Kantons
Zürich auch erst ab 2017 mit voller Kraft in die Feierlichkeiten
zum 500-Jahr-Jubiläum der Reformation einstimmt, so ist ihr
das Gedenken an die Geschichte jenes frühen Wegbereiters der
Reformation dennoch ein Anliegen. Es ist vor allem die Kirchgemeinde Zürich Unterstrass, die in diesem Frühling mit einer
großen Ausstellung und einer Reihe von Veranstaltungen (siehe
unten) den Lead übernimmt, die Erinnerung an Jan Hus auf
dem Platz Zürich wachzuhalten. Sie tut dies auch, weil sie an
gute Beziehungen zu Tschechien anknüpfen kann. Dort gehört
Jan Hus zu den bedeutendsten Persönlichkeiten der nationalen
Geschichte überhaupt.
Hier in Zürich die Erinnerung an Leben und Botschaft des
böhmischen Kirchenreformers wachzurufen, heißt, seine Bedeutung auch für die Reformation in der Schweiz zu würdigen. Das
vorliegende Heft leistet dazu einen wichtigen Beitrag. Gleichzeitig kann der Rückblick auf Hus Impulse zum Nachdenken über
die Reformbedürftigkeit von heutiger Kirche und Gesellschaft
geben. Und er fordert heraus, sechshundert Jahre danach und
doch aktueller denn je, einzustehen für Glaubens- und Gewissenfreiheit heute.
1. bis 31. März
Ausstellung: Jan Hus im Jahr 1415 und 600 Jahre danach
Wanderausstellung zum 600. Gedenktag der Verurteilung
und Verbrennung von Jan Hus durch das Konstanzer Konzil
Kirche Zürich Unterstrass, Turnerstrasse 47, 8006 Zürich
Dienstag bis Samstag, 11 bis 18 Uhr
Sonntag, 1. März, 11 Uhr
Familiengottesdienst zur Eröffnung der Ausstellung
Kirche Zürich Unterstrass
Sonntag, 1. März, 13 Uhr
Vernissage der Ausstellung
Mit Karel Borůvka, Botschafter der Tschechischen Republik
und Mgr. Jakub Smrčka, ThD., Direktor des Hussitenmuseum
Kirche Zürich Unterstrass
Donnerstag, 5. März, 19.30 Uhr
Vortrag: Drei Päpste, ein Konzil und zwei tote Reformer
Dr. Emidio Campi, emeritierter Professor
für Kirchen­geschichte
Kirche Zürich Unterstrass
Donnerstag 19. März, 19.30 Uhr
Vortrag: Die Katholische Kirche und die Verbrennung
des Jan Hus
Dr. Mariano Delgado, Professor für Kirchengeschichte
an der Universität Freiburg.
Kirche Zürich Unterstrass
Freitag und Samstag 13./14. März, 20./21. März, 19.30 Uhr
Schauspiel: Jan Hus – Der Wahrheit Willen
Ein Stück von Dagmar Dornbierer-Šašková.
Regie und Inszenierung: Bernhard Gertsch
Aufführungen: 19.30 Uhr
Einführung ins Thema: 18.45 Uhr
Kirche Zürich Unterstrass
29. März bis 12. April, 10 bis 16 Uhr
Ausstellung „Přemysl Pitter – ein europäischer Humanist“
Ausstellung über das Lebenswerk des tschechischen Theologen,
Pazifisten und Gründer der Jan Hus Gemeinde in Zürich
(1895–1976)
Gottesdienste zur Eröffnung am 29. März
und zum Abschluss am 12. April (10 Uhr)
Kirche St. Peter, St.-Peter-Hofstatt, 8001 Zürich
Täglich offen 10 bis 16 Uhr
Sonntag, 29. März, 18 Uhr
Begegnung mit der Jan Hus Gemeinde
Dokumentarfilm über Přemysl Pitter („Liebet eure Feinde“)
und gemütliches Beisammensein
Lavaterhaus, St.-Peter-Hofstatt 6, 8001 Zürich
1. bis 4. April
Oratorium „Johann Hus“ von Carl Loewe
Seraina Perrenoud, Sopran; Mirjam Blessing, Alt;
Simon Witzig, Tenor; Richard Helm, Bass
Aargauer Kantorei, Collegium Vocale Grossmünster,
La Chapelle Ancienne, Orchester mit historischen Instrumenten
Musikalische Leitung: Kantor Daniel Schmid
1. April, 19.30 Uhr: Zofingen, Ref. Stadtkirche
2. April, 19.30 Uhr: Aarau, Ref. Stadtkirche
3. April, 15 Uhr: Zürich, Grossmünster
4. April,19.30 Uhr: Brugg, Ref. Stadtkirche
Mittwoch, 8. April, 19 Uhr
Vortrag und Diskussion: Zwischen Burka und Pegida –
Bedrohte Religionsfreiheit heute?
Mit dem Theologen und Philosophen Prof. Heiner
Bielefeldt, Uno-Sonderberichterstatter über Religions- und
Weltanschauungsfreiheit. Moderation: Philippe Dätwyler
Kirche St. Peter, St.-Peter-Hofstatt, 8001 Zürich
Christian Schenk, Redaktor,
Ev.-ref. Landeskirche des Kantons Zürich
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ARMENIEN
Enzyklika zum 100-Jahr-Gedenken an den Völkermord
Zum 100-Jahr-Gedenken an den Beginn
des Völkermords an den Armeniern im
Osmanischen Reich hat sich das Oberhaupt der Armenischen Apostolischen
Kirche, Katholikos-Patriarch Karekin II.,
in einer Enzyklika an die Armenier in
aller Welt gewandt. Darin betonte er,
das Gedenkjahr solle im Zeichen des
kraftvollen Rufs nach Wahrheit und
Gerechtigkeit begangen werden, der
nicht zum Schweigen zu bringen sei.
Wörtlich heißt es: „Vor 100 Jahren, als
die Überbleibsel der ihres Erbes beraub-
ten armenischen Nation in aller Welt
verstreut waren und das östliche Armenien einen Überlebenskampf auf Leben
und Tod gegen die türkischen Invasoren
auszufechten hatte, war es schwierig, an
eine Zukunft des armenischen Volkes zu
glauben. Trotzdem kam ein neuer Morgen. Durch die Gnade Gottes ist unser
Volk vom Tod auferstanden.“ In einem
kleinen geretteten Teil des Vaterlandes
habe das armenische Volk seine Staatlichkeit wiederhergestellt und „aus Ruinen und Überresten ein Land erstehen
lassen und eine Heimat des Lichtes und
der Hoffnung, der Wissenschaft, der Bildung und Kultur aufgebaut.“
Am 23. April sollen laut dem Katholikos die Märtyrerinnen und Märtyrer des
Genozids bei der Göttlichen Liturgie in
Etschmiadzin in Anwesenheit des armenischen Episkopats aus aller Welt heiliggesprochen werden. Der 24. April werde
zum Gedenktag der Märtyrerinnen und
Märtyrer bestimmt.
KNA-ÖKI, 19. Januar 2015.
RUSSLAND
Interreligiöser Rat für Einschränkung der Meinungsfreiheit
Der Interreligiöse Rat Russlands hat sich
für eine Einschränkung der Redefreiheit
ausgesprochen, um die Gefühle der Gläubigen besser zu schützen und interreligiöse Konflikte zu vermeiden. Im Interreligiösen Rat sind alle „traditionellen“
Glaubensgemeinschaften des Landes
vertreten.
Wörtlich heißt es: „Unsere religiösen
Traditionen haben Freiheit und Menschenrechte stets als Ausdruck des Respekts vor
dem großen Wert einer jeden Person verstanden. Mit der zunehmenden Säkularisierung sind jedoch die grundlegenden
Prinzipien der unveräußerlichen Menschenrechte aus dem Blickfeld der sakralen Dimension des Lebens verschwunden,
und der Schutz der Freiheit der Person hat
sich in den Schutz der Eigenmächtigkeit
verkehrt und so Amoralität, Libertinismus, Anarchie und Tyrannei Tür und Tor
geöffnet. Wir lehnen die liberal-säkulare,
relativistische Interpretation des Freiheitsbegriffs ab, wonach absolute Werte und
Kriterien inexistent sind und Wohlstand
das Einzige ist, wonach es sich zu streben
lohnt. Eine Freiheit, die die ethischen
Orientierungen verliert, […] und sich
nur auf die Befriedigung der eigenen
Bedürfnisse konzentriert […], ist mit der
echten Würde und Größe des Menschen
unvereinbar. […] Freiheit braucht Einschränkung, andernfalls kehrt sie sich als
physische oder mündliche Gewalt gegen
andere um […]. Meinungsäußerungsfreiheit darf die Rechte anderer Menschen
nicht beschneiden, Ehre und Würde von
Gläubigen weder demütigen noch das
degradieren, was ihnen am heiligsten
und kostbarsten ist. Individuelle Freiheit
hat sich den Prinzipien der Gerechtigkeit,
Menschlichkeit und dem Allgemeinwohl
unterzuordnen.
Freiheit ist untrennbar mit Verantwortung verbunden. Der Zustand der modernen globalisierten Welt, die durch einen
hohen Grad an Kontakten und wechselseitiger Abhängigkeit einzelner politischer,
wirtschaftlicher und kultureller Kräfte
gekennzeichnet ist […], stellt die Frage
nach der Verantwortung der Medien in
aller Schärfe. Grobe Äußerungen und
frevlerische Karikaturen, die die Gefühle
von Gläubigen verspotten, provozieren
zwangsläufig interreligiöse und internationale Konflikte. Daher sollten alle Publizisten in einem solch delikaten Bereich
wie der Religion mit größter Sensibilität
vorgehen und sich der möglichen Folgen
ihres Handelns klar bewusst sein.
Das moderne Massenbewusstsein setzt
den Begriff ‚Säkularität’ fälschlicherweise
oft mit dem des ‚Säkularismus‘ gleich. Das
Prinzip der Säkularität, das die Trennung
der religiösen Organisationen vom Staat
meint, ist nicht gleichbedeutend mit ‚areligiös‘ oder ‚atheistisch‘. […] Der säkulare
Staat muss daher nicht nur Rücksicht auf
moralische Wurzeln nehmen, sondern sich
auch auf sie stützen, während die traditionellen Religionen eine gerechte Politik
fördern können, indem sie der Gesellschaft klare Vorstellungen über zentrale
und grundlegende Werte vermitteln. […]“
www.interreligions.ru;
www.patiarchia.ru,
26. Januar 2015 – O. S.
Erzpriester Gleb Jakunin verstorben
Der bekannte Bürgerrechtler und Erzpriester Gleb Jakunin ist im Alter von 80 Jahren
am 25. Dezember 2014 in Moskau gestorben. Jakunin hatte immer wieder auf die
Repressionen der Sowjetmacht gegen die
Russische Orthodoxe Kirche und andere
Glaubensgemeinschaften hingewiesen
und die Kollaboration von Bischöfen und
Priestern mit der Staatsmacht kritisiert.
Nach dem Zusammenbruch des Sowjetsystems forderte er, dass die Kirche für ihre
Kollaboration mit dem Regime Buße tun
müsse, und kompromittierte Personen
ihres Amtes enthoben werden müssten.
G2W hat Erzpriester Jakunin in den Jahren
der Verfolgung ideell und materiell unterstützt und einen Teil seiner Schriften und
Aufrufe veröffentlicht.
Jakunin wurde 1962 zum Priester
geweiht. Bereits 1966 wurde er von der
damaligen Kirchenleitung suspendiert,
da er 1965 gemeinsam mit einem anderen
Priester in einem offenen Brief an Patriarch Alexij I. gegen die repressiven, kirchenfeindlichen Maßnahmen des Staates
protestiert hatte. In dem Schreiben, das
im Samizdat veröffentlich wurde, bezichtigen die Priester zudem die Kirchenleitung, sich durch Schweigen an der Knechtung der Kirche mitschuldig gemacht zu
haben. Das Schreiben wurde im Westen
umgehend bekannt und sorgte für großes
Aufsehen.
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Call for Papers
Konferenz: „Politics and Religion in Orthodox Countries“
Ort und Zeit: Otto-von-Guericke Zentrum, Magdeburg; 07. und 08. Oktober 2015
Organisator: Zentrum für Transformationsforschung (ZTF) der Otto-von-Guericke Universität
www.ztf.ovgu.de
Der Fokus der Konferenz liegt auf den Wechselwirkungen zwischen der orthodoxen Religion und dem Bereich
der Politik in den Ländern Ost- und Südosteuropas. Empirische und theoretische Beiträge aus verschiedenen sozialund geisteswissenschaftlichen Disziplinen sind willkommen!
Weitere Informationen finden Sie auf: http://www.ztf.ovgu.de/home/Aktuelles.html
Die Interessenten sind eingeladen, bis zum 31. März 2015 eine Ideenskizze einzureichen (max. 500 Wörter).
Bis zum 30. April 2015 wird das Programm finalisiert und die Gäste eingeladen. Die Reise- und Übernachtungskosten
für eingeladene Gäste werden von den Organisatoren erstattet.
Kontakt: Dr. Tobias Köllner ([email protected]) / +49 / 151 22 08 73 23
Jakunin war seit der ersten Stunde Mitglied der Moskauer Helsinki-Gruppe und
gründete 1976 das Christliche Komitee
zum Schutz der Gläubigen, das in zahlreichen Schriften die Unterdrückung der
Gläubigen in der UdSSR anprangerte.
1979 wurde er verhaftet und 1980 wegen
„antisowjetischer Agitation und Propaganda“ zu zehn Jahren Haft verurteilt.
Bis 1985 saß er im berüchtigten Lager
„Perm-37“ für politische Gefangene,
wurde dann nach Jakutien verbannt und
1987 während der Perestrojka begnadigt.
Er durfte nach Moskau zurückkehren und
dort als Gemeindepriester wirken; 1991
wurde er rehabilitiert.
1990 zog Jakunin ein erstes Mal als
Abgeordneter der Partei Demokratisches
Russland, deren Co-Vorsitzender er war,
in den Kongress der Volksdeputierten
ein. Er war einer der Mitautoren des Religionsgesetzes von 1990 und engagierte
sich für die Wiedereröffnung von Kirchen
und Klöstern. Aufgrund seines Zugangs
zu den KGB-Archiven veröffentlichte er
im März 1992 eine Reihe von Dokumenten, die die informelle Zusammenarbeit
der ranghöchsten russisch-orthodoxen
Hierarchen mit dem KGB belegten und
forderte deren Rücktritt. Daraufhin suspendierte ihn die Russische Orthodoxe
Kirche 1993 und belegte ihn mit dem
Kirchenbann. Jakunin wurde zunächst
Priester der Ukrainischen Autonomen
Orthodoxen Kirche, später gründete er
mit Gleichgesinnten die – unkanonische –
Apostolische Orthodoxe Kirche. 1995 rief
er das Gesellschaftliche Komitee zum
Schutz der Gewissensfreiheit ins Leben
und zog zum zweiten Mal als Abgeordneter ins Parlament ein.
Er zp rie s ter Jakunin w urd e am
27. Dezember im Moskauer SacharovZentrum aufgebahrt, wo namhafte Bürgerrechtler, Kirchenvertreter sowie Personen des öffentlichen Lebens an einer
Gedenkfeier Abschied von ihm nahmen.
Beigesetzt wurde er auf dem PjatnizkijFriedhof neben seinen Eltern.
www.portal-credo.ru,
25.–27. Dezember;
www.pravmir.ru,
26. Dezember 2014. – O. S.
SERBIEN
Bischof ehrt mutmaßlichen Kriegsverbrecher
Serbische Menschenrechtsgruppen haben
scharfe Kritik an der Verleihung eines
Kirchenordens an den mutmaßlichen
Kriegsverbrecher Vojislav Šešelj geübt.
Der orthodoxe Bischof von Mileševa im
Südwesten des Landes, Filaret (Mičović),
hatte den mutmaßlichen Kriegsverbrecher am 27. Januar mit dem eparchialen
Orden „Weißer Engel“ ausgezeichnet.
Drei Menschenrechtsgruppen, darunter
das serbische Helsinki-Komitee, riefen
den serbisch-orthodoxen Patriarchen Iri-
nej in einem gemeinsamen offenen Brief
dazu auf, sich von dem Bischof zu distanzieren. Eine Person wie Šešelj, die für
einen Genozid verantwortlich sei, dürfe
nicht als Vorbild verehrt werden.
Der an Krebs erkrankte Šešelj war nach
fast zwölfjähriger Untersuchungshaft
in den Niederlanden im November 2014
vom Internationalen Strafgerichtshof für
Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien vorläufig freigelassen worden. Die
Richter wollten ihm ermöglichen, sich in
seinem Heimatland behandeln zu lassen.
Ein Urteil des Gerichts steht trotz der langen Prozessdauer bis heute aus.
Bischof Filaret ist schon länger sehr
umstritten. Während der jugoslawischen
Zerfallskriege posierte er 1991 vor Fotografen mit Maschinengewehr vor einem
Panzer. Mehrfach betonte er zudem seine
Sympathie und Solidarität mit serbischen
Angeklagten in Den Haag.
KNA-ÖKI, 2. Februar 2015.
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RGOW
UKRAINE
Kirchen verurteilen Angriff auf Mariupol
Einhellig haben die Kirchen in der Ukraine einen Raketenangriff prorussischer
Rebellen auf die ostukrainische Hafenstadt Mariupol verurteilt. Dabei waren
am 24. Januar in einem Wohngebiet der
450 000-Einwohner-Stadt 30 Zivilisten
getötet und etwa 100 verletzt worden.
Aus abgehörten Gesprächen der Separatisten ist zu entnehmen, dass diese
offenbar auf einen Stützpunkt der ukrainischen Regierungstruppen zielten und
stattdessen versehentlich ein Wohnviertel trafen.
Die römisch-katholischen Bischöfe des
Landes bezeichneten den Angriff in einer
Erklärung als „barbarischen Akt“. Kein
politisches Ziel rechtfertige das „Töten
unschuldiger Menschen“. Das Oberhaupt
der Ukrainischen Griechisch-Katholischen
Kirche, Großerzbischof Svjatoslav Schev­
tschuk, sprach den Angehörigen sein
Beileid aus. Er bat die internationale
Staatengemeinschaft um Hilfe, Frieden
in der Ukraine zu schaffen. Internationale
Hilfsorganisationen sollten die Opfer so
schnell wie möglich unterstützen.
Die Ukrainische Orthodoxe Kirche–
Moskauer Patriarchat rief zur Wiederherstellung des Friedens auf. Ihr Oberhaupt,
Metropolit Onufri (Beresovskij) von Kiew,
bezeichnete den Raketenbeschuss als
einen „terroristischen Akt“ und machte
sich damit die Sprachregelung der ukrainischen Regierung zu eigen. Zu dieser
unterhält der Metropolit ansonsten keine
so guten Beziehungen wie die anderen
großen Kirchen, offene Kritik an Russland
vermeidet er (s. RGOW 2/2015, S. 9–11). Das
Oberhaupt der Ukrainischen Orthodoxen
Kirche–Kiewer Patriarchat, Patriarch Filaret (Denisenko), erklärte, der Angriff auf
Mariupol beweise erneut, dass die von
Separatisten ausgerufene „Volksrepublik Donezk“ eine „Terrororganisation“ sei.
Die Welt müsse den Kreml-Terrorismus im
Donbass verurteilen.
Das Oberhaupt der Russischen Orthodoxen Kirche, Patriarch Kirill, forderte
bei einer Veranstaltung im Kreml am
21. Januar ebenfalls ein Ende der Gewalt
im Osten der Ukraine. Er appellierte an
die Konfliktparteien, sich zu versöhnen:
„Die Bruderfehde im Donbass bringt vor
allem den friedlichen Bewohnern unermessliches Leid.“
KNA-ÖKI, 26. Januar 2015.
Religionsführer rufen Gläubige zur Vaterlandsverteidigung auf
Der Allukrainische Rat der Kirchen und
religiösen Organisationen hat alle Gläubigen zur Landesverteidigung aufgerufen:
„Zum ersten Mal seit der Wiederherstellung der Unabhängigkeit sieht sich die
Ukraine mit einer Gefahr von außen
sowie außerordentlichen Herausforderungen im Innern konfrontiert. Die Richtlinien des internationalen Rechts und die
Prinzipien der Moral werden verletzt, um
die Ukrainer zu zwingen, auf eine eigenständige Gestaltung ihrer Zukunft zu verzichten. Es werden große Anstrengungen
unternommen, um die Souveränität und
Integrität unseres Staates zu zerstören.
Als Oberhäupter und Vertreter der Kirchen und religiösen Organisationen der
Ukraine tun wir alles in unserer Macht
stehende […], um das Blutvergießen zu
beenden und einen tragfähigen Frieden
zu etablieren […]. Gleichzeitig bekräftigen wir das Recht jedes Einzelnen wie
auch des Staates, sich vor den Angriffen
derer zu schützen, die ohne gesetzliche
Grundlage und mit der Waffe in der Hand
Böses im Schilde führen und Tod, Leid und
Tränen auf der ukrainischen Erde des
Donbass säen. Wir rufen daher die Gläubigen auf, sich entsprechend ihrer religiösen Überzeugung und ihren Möglichkeiten der Verteidigung des Vaterlandes
anzuschließen. Für einen allumfassenden
Sieg möge der eine in die Armee gehen,
der andere ihr nach Kräften als Feldgeist-
licher oder Freiwilliger in den Spitälern
dienen, ein dritter die Familien der Wehrpflichtigen sowie die Zivilbevölkerung
des Donbass und die Zwangsumsiedler
unterstützen.
An die Politiker und Verantwortlichen
im Staat appellieren wir: Schieben Sie alle
Differenzen beiseite und bündeln Sie alle
Anstrengungen für die Verteidigung des
Vaterlandes und den Kampf gegen das
größte innere Übel, die Korruption, sowie
für die Umsetzung dringender wirtschaftlicher und politischer Reformen zum Wohl
des gesamten ukrainischen Volkes […].“
www.risu.org.ua/ru,
11. Februar 2015 – O. S.
WEISSRUSSLAND
Metropolit Pavel gegen mehr Unabhängigkeit von Moskau
In der Debatte über eine mögliche größere Autonomie der orthodoxen Kirche
Weißrusslands vom Moskauer Patriarchat hat der Minsker Metropolit Pavel
(Ponomarev) ein Machtwort gesprochen.
Die Mehrheit der Weißrussen lehne eine
größere Selbstverwaltung der Kirche
kategorisch ab, sagte der Metropolit am
18. Januar in einem Interview des staatlichen Fernsehens. Das Thema werde von
der Tagesordnung gestrichen. „Wir werden die nächsten 25 Jahre, vielleicht sogar
50 Jahre, nicht zu ihm zurückkehren“, so
Metropolit Pavel.
Eine Versammlung der Priester
der Metropolie Minsk hatte sich am
16. Dezember 2014 dafür ausgesprochen, dass Metropolit Pavel gegenüber
Patriarch Kirill und dem Hl. Synod des
Moskauer Patriarchats auf einen „Selbstverwaltungsstatus der Weißrussischen
Orthodoxen Kirche nach dem Vorbild
Lettlands, Moldovas und Estlands“
dringt. Die Initiative für mehr Autonomie wurde auch in die Abschlusserklärung der Priesterversammlung aufgenommen, die auf der Internetseite der
Weißrussischen Orthodoxen Kirche ver-
öffentlicht wurde. Eine völlige Loslösung
des Exarchats von Moskau wurde jedoch
ausdrücklich nicht angestrebt.
Das weißrussische Exarchat hat zwar
einen Hl. Synod, die Bischöfe beruft jedoch
der Hl. Synod des Moskauer Patriarchats.
Auch über die Gründung von Eparchien
in Weißrussland entscheidet Moskau.
Die Weißrussische Orthodoxe Kirche verfügt über 11 Eparchien, 15 Bischöfe, 1555
Gemeinden, 1691 Priester und 34 Klöster.
Kathpress, 20. Januar 2015; www.
churchby.info/bel, 17. Dezember 2014 .
Nr. 3 2015
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JA N H U S
Thomas Krzenck
Jan Hus – Theologe,
Kirchenreformer, Märtyrer
Aus bescheidenen Verhältnissen stammend legte Jan Hus eine theologische Karriere hin und
avancierte zu einem der charismatischsten Prediger in Prag. Durch seine öffentliche Kritik an
kirchlichen Missständen und seine Bezugnahme auf den englischen Kirchenreformer John Wyclif
geriet Hus in Konflikt mit der kirchlichen Hierarchie. Im Zuge eines Ketzerprozesses wurde Jan Hus
auf dem Konstanzer Konzil zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt. – S. K.
Studien, fünf Jahre später den eines Bakkalaureus der Theologie, ohne nachfolgend das Magisterstudium in diesem Fach zu
beenden. Im Wintersemester 1401/02 bekleidete er das Amt des
Dekans der Artistenfakultät – zweifellos ein Beleg für die Anerkennung, die sich Hus innerhalb der akademischen Gemeinde
erworben hatte.
Mit Beginn des Studiums an der Theologischen Fakultät hörte
der Student Vorlesungen der Doktoren sowie älterer Bakkalare,
deren Inhalt die Bibel und die Sentenzen des Petrus Lombardus
(um 1095/1100–1160) als Versuch der Systematisierung der Theologie bildeten. Zu den Vorlesungen kam die obligatorische Teilnahme an Disputationen, Feierlichkeiten sowie akademischen
Exerzitien, und erst danach konnte der Studierende auf Vorschlag
eines Magisters der Fakultät zur Promotion zum Bakkalaureus
empfohlen werden. In diese strengen Vorgaben eingeordnet vollzog sich auch Hussens Theologiestudium. Er war Student – und
Lehrender zugleich.
Die bis heute erhaltenen Manuskripte sind ein wichtiges
Zeugnis für Hussens lehramtliche Tätigkeit und zeigen, wie
tief er in den biblischen Stoff eindrang. Einen Einblick in Hussens geistige Vorstellungen und seine Wahrnehmung der Prager
Gesellschaft bietet exemplarisch eine Predigt aus dem Jahre 1404
bei einer Universitätsfeier zu Ehren ihres Gründers Karl IV. Der
Sermon Abiciamus opera tenebrarum („Wir werfen die Werke der
Finsternis zu Boden“) nimmt Bezug auf den Römerbrief (Kap. 13,
12–13), wo es heißt: „Die Nacht ist vorgerückt, der Tag aber nahe
herbeigekommen, so lasset uns ablegen die Werke der Finsternis
und anlegen die Waffen des Lichtes. Lasset uns ehrbar wandeln
als am Tage, nicht in Fressen und Saufen, nicht in Kammern und
Unzucht, nicht in Hader und Neid.“ Man ahnt bereits den Zeitbezug! Und in der Tat nutzte Hus die öffentliche Bühne, um
Vom unbekannten Studenten zum anerkannten Theologen
Um 1370 vermutlich im südböhmischen Husinec in bescheidenen mit Rekurs auf die Bibel und anerkannte kirchliche Autoritäten
Verhältnissen geboren, entschied sich Hus rasch, eine geistliche scharfe Kritik am zeitgenössischen sittlich-moralischen Zustand
Laufbahn einzuschlagen – anfänglich in der naiven Vorstellung der Geistlichkeit zu üben, wenn er z. B. Simonie und weltliche
„eine gute Wohnung und Kleidung zu haben und von den Men- Macht der Kirche anprangerte und eine sittliche Reform der Kirschen geschätzt zu werden“, wie er Jahre später in seinem „Büch- che forderte.
lein vom Ämterkauf“ selbstkritisch notierte. Für 1393 liegt das
erste quellenmäßig gesicherte Zeugnis zu Hussens Vita vor: Im Vom Theologen zum charismatischen Prediger
September dieses Jahres erreichte „Joannes de Hussynecz“ seine Als Hus besagte Predigt 1404 hielt, war er bereits seit zwei Jahren
erste Graduierung an der knapp ein halbes Jahrhundert zuvor Rektor der 1391 von einem Hofmann König Wenzels IV. gestifvon König Karl IV. gegründeten Prager Universität mit dem teten Bethlehemskapelle zu Prag. Wie seine Amtsbrüder auch
Erwerb des akademischen Titels eines Bakkalaureus der Freien bemühte er sich dabei um eine Pfründe zur Absicherung seines
Künste. Den höheren Grad eines Magisters der Freien Küns- Lebensunterhalts. In den ersten beiden Jahren seines Priesterte erwarb Hus 1396, was auf seinen Fleiß und sein Bemühen, tums hatte er gelegentliche Gastpredigten etwa in der Kirche
sich möglichst rasch einen Unterhalt noch vor einer Priester- St. Michael in der Prager Altstadt gehalten und bereits Aufmerkweihe (diese erfolgte im Jahre 1400) zu sichern, schließen lässt. samkeit erzielt. Hussens Predigten erfreuten sich nicht nur eines
1398 nahm Hus das zwölfjährige (!) Studium der Theologie auf, regen Zustroms der Gläubigen, sondern wurden zahlreich kopiert
erreichte hierin 1404 den Titel eines Bakkalaureus der biblischen und gelesen – ein deutlicher Beweis dafür, dass er als Prediger den
Zum 28. November 1414 notierte der am Konstanzer Konzil teilnehmende Beamte der päpstlichen Kurie, Giacomo Cerretani,
in sein Tagebuch: „Und an diesem Tag ist der Wyclifist Johannes
Hus, weil er die üble Lehre des Wyclif in dem Haus, in dem er
in Konstanz wohnte, denen, die zu ihm kamen und sich dort
versammelten, predigte und sich trotz Ermahnung weigerte, dies
zu unterlassen, […] vor unseren Herrn Papst und die Herren
Kardinäle geführt […] und unter der Bewachung des Bischofs von
Lausanne festgesetzt worden.“ Etwas mehr als drei Wochen zuvor
war Jan Hus in Begleitung einer kleinen Schar von Landsleuten
nach mehrwöchiger Reise aus Böhmen am Bodensee eingetroffen, nachdem er bereits vier Jahre zuvor von der Kurie der Häresie angeklagt und vom römisch-deutschen König Sigismund von
Luxemburg für die Reise nach Konstanz mit einem speziellen
Geleitbrief ausgestattet worden war. Hus hoffte, er werde die
Gelegenheit erhalten, seine eng an den englischen Kirchenreformer John Wyclif angelehnten Glaubensvorstellungen vor dem
versammelten Konzil als der größten Kirchenversammlung des
Mittelalters auf deutschem Boden verteidigen zu können. Ein
grundlegender Irrtum, wie sich nunmehr herausstellen sollte!
Denn was folgte, waren Kerkerhaft, Krankheit, quälende Ungewissheit, abgelöst von trügerischen Momenten der Hoffnung –
und schließlich die Gewissheit, für die eigenen Überzeugungen
sterben zu müssen. Doch wer war der Mann, dessen Leben am
6. Juli 1415 vor den Toren der Konzilsstadt auf dem Scheiterhaufen enden sollte und der wenige Jahre später einer ganzen
Bewegung, die vor allem das Königreich Böhmen in seinen
Grundfesten erschütterte, unfreiwillig, aber konsequenterweise
den Namen gab?
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Bedürfnissen seiner Zuhörer voll entsprach, nicht zuletzt durch
seine Appelle an eine Reform des christlichen Lebens.
Hus sah Predigertätigkeit und Priesterdasein nicht – wie zahlreiche seiner Amtsbrüder – als Mittel zum Zweck an, er fühlte
vielmehr eine innere Berufung und nahm die damit verbundene
Lebensweise sehr ernst. Dies waren hervorragende Voraussetzungen für die Berufung als Rektor (erster Prediger) der Bethlehemskapelle. Die Ernennung erwies sich für den etwa 32-jährigen Hus in doppelter Hinsicht als bedeutsam: Sie bot durch
ein Jahresgehalt materielle Absicherung und zugleich durch die
an der Ostseite der Kapelle angebaute Dienstwohnung ein Dach
über dem Kopf.
Das schlichte Hallengebäude mit seinem gotischen Doppelgie­
bel war eine Dominante im damaligen Stadtbild, ein programmatischer Ort, der zugleich durch seine Gestaltung die Forderung
nach Reform architektonisch und gestalterisch artikulierte. Der
Innenraum mit seiner Fläche von fast 800m 2 bot immerhin etwa
3 000 Besuchern Platz! Der Name der Kapelle war dabei zugleich
Programm: Wie der Stifter schrieb, fand er es angemessen, „die
Kapelle ‚Bethlehem’ zu nennen, was man ‚Haus des Brotes’ auslegt, mit der Absicht, dass sich das gemeine Volk und die Treuen Christi mit dem Brot der heiligen Predigt erfrischen sollen.“
Und es ging nicht einfach um die Predigt, sondern um jene in
tschechischer Sprache, was der Tendenz eines wachsenden pränationalen Gefühls der einheimischen Slawen entsprach, das sich
in unterschiedlicher Gestalt artikulieren sollte.
Was aber predigte Hus? Wer waren die Zuhörer? Und wie
erreichte der Prediger die versammelte Masse? Mehrere Predigtsammlungen – Hus hob z. B. im Verlaufe des Kirchenjahres
seine Unterlagen auf, bearbeitete sie zu einem Buch und stellte sie
Studenten und Predigern zur Verfügung – sind überliefert, etwa
aus den Jahren 1404/1405 und 1411/12; natürlich gab es hierbei,
wenn auch in den Anfangsjahren vom Verfasser mehrheitlich
getilgt, Anspielungen auf aktuelle Ereignisse, doch den Inhalt
dieser homiletischen Texte prägten vor allem Heiligenpredigten,
Sermones zur Fastenzeit, Auslegungen über die Passion Christi.
Sofern Hus nicht gerade auf der Kanzel oder hinter dem
Vorlesungspult an der Universität stand, saß er mit ziemlicher
Sicherheit in seiner Stube im Predigerhaus an der Bethlehemskapelle, studierte die Bibel, arbeitete an seinen Traktaten und bereitete seine Vorlesungen an der Universität sowie seine Predigten vor, dabei stets die seelsorgerische Aufgabe als Hirte seiner
Gemeinde vor Augen. Hus ging es dabei – den Erfahrungshorizont seines Publikums, das sich mehrheitlich aus tschechischen
Handwerkern und Kaufleuten rekrutierte, vor Augen – vor allem
um Anschaulichkeit, Gleichnisse und Zeitbezüge. Die Ansprüche an eine solche Predigertätigkeit formulierte Hus in einem
Brief an einen jungen Priester, dem er u. a. schrieb: „Erst lebe
fromm und heilig, dann lehre treu und recht. Sei anderen ein
Vorbild in guten Taten, damit du nicht beim Wort genommen
wirst, warne vor Sünden und empfehle die Tugenden. […] Predige
unermüdlich, jedoch kurz und effektiv und mit einem kundigen
Verständnis der Heiligen Schriften. […] Predige beharrlich gegen
die Genusssucht, denn sie ist das wildeste Raubtier, das die Menschen verschlingt.“ Hus strebte beharrlich danach, diesem Ideal
nahezukommen. Und dies in einer Welt voller Widersprüche, in
einer Stadt praller Gegensätze.
Bildnis von Jan Hus in dem
von Johann Agricola 1562
herausgegebenen Buch
„Wahrhaftige Bildnisse etlicher gelahrter Männer“.
30 000 Einwohnern eine der größten Städte nördlich der Alpen,
die Karl IV. aus dem Hause Luxemburg als prachtvolle Residenz großzügig hatte umbauen und erweitern lassen. Doch der
äußere Schein trog, mit Karls Tod 1378 und dem Ende eines
scheinbar „goldenen Zeitalters“ brachen mühsam zuvor gekittete Konflikte offen aus. Diese zeigten sich auch und gerade in
der omnipräsenten Kirche. Allein 44 Pfarreien, 24 Klöster und
1 200 Kleriker gab es in Prag, womit die Moldaustadt eines der
größten geistlichen Zentren in Europa war. Die wachsende Zahl
geistlicher, um Pfründe konkurrierender Personen geriet in einen
größer werdenden Gegensatz zur abnehmenden wirtschaftlichen
Leistungskraft der böhmischen Länder. In Prag waren die Krisensymptome angesichts der enormen Zahl von Geistlichen und
Klöstern besonders wahrnehmbar, was bereits seit den sechziger
Jahren des 14. Jahrhunderts ein breites Forum für Kirchen- und
Gesellschaftskritik schuf. Im Zentrum der Kritik von Predigern
wie Konrad Waldhauser, Johann Militsch von Kremsier und
Matthias von Janov stand dabei die Forderung nach einer wahren, auf weltlichen Besitz verzichtenden Kirche in der Nachfolge
Christi und seiner Armut. Allen Gesellschaftsschichten war die
Stellung der katholischen Kirche, insbesondere deren sittlichmoralischer Zustand (Simonie, Zölibat, Konkubinat, Geldgier
usw.) sowie deren umfangreicher Grundbesitz im Lande, der
bei 30–40 % des gesamten nutzbaren Bodens lag, ein Dorn im
Auge. Hinzu kamen machtpolitische, mitunter mit bewaffneten
Mitteln ausgetragene Konflikte zwischen Hochadel und König,
König und Prager Erzbischof sowie zwischen König Wenzel IV.
und anderen Familienangehörigen aus dem Hause Luxemburg.
Und noch ein weiteres, „verbales Schlachtfeld“ offenbarte
sich: Als geistiger Unruheherd rückte die 1348 gegründete Prager Universität ins Zentrum. Eine junge aufstrebende Generation
böhmischer Universitätsmagister und Prediger, zu denen auch
Hus gehörte, orientierte sich an den Vorstellungen und Forderungen des Oxforder Kirchenkritikers John Wyclif (um 1330–1384),
der eine ganz an der Hl. Schrift ausgerichtete Reform von Kirche
und Klerus gefordert hatte. Dabei stießen sie auf den erbitterten
Widerstand der landfremden Universitäts-„Nationen“ – ein Streit
um philosophische Grundpositionen, hinter denen sich freilich
diametral entgegengesetzte (auch pfründenorientierte) politische
Interessen verbargen. Gelöst wurde der Konflikt durch das KutPrag – Landesmetropole und Brennspiegel von Konflikten
Jan Hus erlebte, so Pavel Soukup, zwei böhmische Könige, tenberger Edikt 1409, das das Stimmenverhältnis an der Prager
sechs Prager Erzbischöfe, fünf Könige des Heiligen Römischen Universität zu Gunsten der einheimischen böhmischen „NatiReiches und neun Päpste. Allein diese Zahlen zeigen, in welch on“ veränderte und zur Sezession der deutschen Magister und
bewegter Zeit der Prager Magister lebte, vor allem wenn man die Scholaren führte. Hus selbst wurde im Wintersemester 1409/10
tiefgreifenden Folgen des 1378 ausgebrochenen „Großen Abend- Rektor der nunmehr geschrumpften Hochschule, an der die
ländischen Schismas“ bedenkt. Prag war dabei mit mindestens Wyclif-Anhänger an Bedeutung gewannen.
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Das waren die äußeren Rahmenbedingungen, unter denen
Jan Hus als aufmerksamer Beobachter des Geschehens um ihn
herum zum charismatischen und wortgewaltigen Prediger an
der Bethlehemskapelle reifte und dabei immer mehr zur Leitfigur einer wachsenden Anhängerschaft im Prager „Volk“ und
zum Hassobjekt seiner nicht minder zahlreichen Gegner aus
den Reihen des von ihm heftig kritisierten Prager Klerus und
der hohen Geistlichkeit aufstieg. Die anfängliche Zusammenarbeit mit bzw. eine gewisse Protektion durch den theologisch
nicht sehr versierten Prager Erzbischof Zbyněk von Hasenburg
fand spätestens 1408 ihr Ende, als Hus wegen seiner kritischen,
angeblich aufrührerischen Predigten und wegen seiner Sympathie für die Lehren des John Wyclif in einen offenen Konflikt
mit der Kirchenobrigkeit geriet. Noch aber wusste Hus einen
weiteren, mächtigen – freilich aus egoistischen Gründen handelnden – weltlichen Schutzherrn hinter sich: König Wenzel IV.
Die römische Kurie wird hellhörig
Kirchenkritik war als solche nicht zwangsläufig gefährlich, bzw.
rief den Verdacht der Häresie hervor. Viele gelehrte Zeitgenossen – auch unter den Konzilsvätern in Konstanz – prangerten
Missstände in der Kirche an, freilich sprichwörtlich hinter den
verschlossenen (oder besser: undurchdringlichen) Mauern geistiger und geistlicher Gelehrsamkeit und ohne in letzter Konsequenz die kirchliche Hierarchie in Frage zu stellen. Doch wehe,
wenn diese Kritik nach außen drang und von den „illiterati“ – den
Laien, d. h. der großen Masse des einfachen, nicht selten unzufriedenen Volks – willig aufgegriffen wurde und durch nackte
Gewalt der Einsturz der gottgewollten und scheinbar ewigen
Ordnung drohte. Bereits 1405 hatte Hus als Synodalprediger
heftige Kritik an kirchlichen Missständen geübt, doch eben auf
einer Synode in Prag, also nur unter Geistlichen. Dabei hatte er
sogar Wyclifs Kirchenbegriff der communio praedestinatorum
(„Gemeinschaft der Vorherbestimmten“) propagiert. Doch die
moralische Standpauke nahm die Synode scheinbar ungerührt
und unbemerkt zur Kenntnis.
Dies sollte sich jedoch schon bald grundlegend ändern, wobei
die Entwicklung in der Causa Hus in hohem Maße durch die
Folgen des Großen Schismas bestimmt wurde: Hatte Hussens
Landesherr, König Wenzel IV., anfänglich die römische Obödienz präferiert, setzte er nach dem Pisaner Konzil 1409 auf Papst
Alexander V., der freilich die Konfiskation aller Schriften Wyclifs
befahl, was Erzbischof Zbyněk in Prag bereitwillig umsetzte und
darüber hinaus im Sommer 1410 die Schriften des englischen
„Häretikers“ symbolträchtig in der Landeshauptstadt verbrennen
ließ. Hus reagierte empört und legte bei Papst Johannes XXIII.,
dem Nachfolger Alexanders V., Widerspruch gegen die Bücherverbrennung ein, was wiederum den Prozess gegen Hus an der
päpstlichen Kurie in Gang setzte. Die nachfolgende Vorladung
ignorierte Hus, den kanonischem Recht folgenden Prozessregeln hatte dies wiederum die Verhängung des Kirchenbanns zur
Folge.
In Reaktion auf das erlassene Predigtverbot in Kapellen,
das auch und gerade auf Hussens Arbeitsplatz zielte, stieg der
Betroffene Ende Juni 1410 auf die Kanzel, um die wyclifschen
„Wahrheiten“ zu verteidigen – dezidiert mit dem Hinweis auf
das biblische Gebot „Man muss Gott mehr gehorchen als den
Menschen“ (Apg 5, 29). Der versammelten Menge stellte Hus die
suggestive Frage, ob sie weiter zu ihm halten wolle, was diese
mit einem eindeutigen Ja beantworte. Hus fuhr fort: „Wisset also,
dass ich erklärt habe und erneut erkläre, dass es meine Bestimmung ist, entweder zu predigen oder aus dem Lande verbannt
zu werden oder im Kerker zu sterben, weil Päpste lügen können
und in der Tat lügen; Gott aber lügt nicht.“ Hus vertrat jetzt
offen Wyclifs Überzeugung von der Kirche als Gemeinschaft der
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Erwählten, während er in den Verdammten (presciti) Glieder des
Teufels erblickte, ohne dass er die Funktionen der bestehenden
kirchlichen Institution völlig negierte.
Für kurze Zeit durften Hus und seine Anhänger hoffen, dass
der vielschichtige Konflikt zwischen Landesherr und Erzbischof,
der im Frühjahr 1411 zur Beschlagnahme von Kirchengütern
führte, sowie der überraschende Tod des Prager Metropoliten
im September 1411 ihre Positionen stärken würde, doch diese
Annahme sollte sich als trügerisch erweisen. Denn durch den
Ablassstreit 1412 verloren Hus und seiner Anhänger schließlich
den Schutz ihres weltlichen Protektors: Während Wenzel IV. den
von Papst Johannes XXIII. ausgerufenen Kreuzzug gegen den
König von Neapel unterstützte, weil er hiervon finanziell profitierte, geißelte Hus voller Empörung von der Kanzel der Bethlehemskapelle den Ablass und polemisierte gegen die päpstlichen
Bullen, während in der Prager Bevölkerung Unruhen ausbrachen. Die größte Enttäuschung in dieser ohnehin angespannten
und verfahrenen Situation war für Hus der Übertritt ehemaliger
Wyclif-Anhänger, seines Lehrers Stanislaus von Znaim und seines Freundes Stefan von Paletsch, auf die Seite der „Verräter der
Wahrheit“. Und aus Rom traf eine weitere Bulle in Prag ein, die
die Exkommunikation Hussens aufgrund seines Nichterscheinens vor dem päpstlichen Gericht verschärfte: Schloss die „kleine“ Exkommunikation den Betroffenen von den Sakramenten
aus, beinhaltete die „große“ Exkommunikation auch das Verbot, mit dem Verbannten zu kommunizieren, ihm Speise, Trank
und Unterkunft zu gewähren. In dieser Situation appellierte
Hus erneut – freilich nicht an den Papst, sondern an Christus
selbst als obersten Richter! Ein Appell, menschlich-moralisch
in Hussens Situation verständlich, von einem streng rechtlichen
Gesichtspunkt aus freilich unzulässig. Prozessual machte sich
Hus weiter angreifbar.
Jan Hus und seine Kirchenvorstellungen
Nachdem König Wenzel IV. seine schützende Hand über Jan
Hus hatte fallen lassen, wurde die Situation für den Theologen
und Prediger nach dem erneuten päpstlichen Bannstrahl derart gefährlich, dass der Geächtete Prag verließ und sich aufs
Land unter den Schutz adeliger Gönner zurückzog, u. a. in
die waldumschlungene Einsamkeit der südböhmischen Burg
Kozí Hrádek (Ziegenburg), die Hus – ähnlich wie Luther 100
Jahre später die Wartburg – als schützender Zufluchtsort diente.
Gleich dem deutschen Reformator des 16. Jahrhunderts suchte
Hus – neben Predigten unter der Landbevölkerung – die äußere
Bedrängnis durch Arbeit zu kompensieren. So propagierte er
die Bibelübersetzung ins Tschechische, verfasste Auslegungen
der Zehn Gebote und vollendete sein theologisches Hauptwerk,
den Tractatus De ecclesia (Über die Kirche). Anknüpfend an sein
geistiges Vorbild Wyclif, den zu verteidigen ihm vor allem am
Herzen lag, entwickelte Hus seine bereits in früheren Werken
anzutreffende Ekklesiologie weiter und brachte sie in konzentrierter Form zu Papier.
Die Idee der Prädestination bedeutete im theologischen Verständnis Wyclifs und daran anknüpfend Hussens, dass Gott von
Anfang an das Los aller Menschen vorherbestimmt habe, wobei
die Kirche sich aus der Zahl der Prädestinierten zusammensetze
und deren Haupt Christus allein bilde: „Christus ist Haupt der
heiligen universalen Kirche und sie selbst sein Leib, jeder Erwählte sein Glied und damit Teil der Kirche, die Christus mystischer,
das ist geheimnisvoller, Leib ist.“ Dieser Kirchenbegriff hatte
auch Folgen für die kirchliche Hierarchie, was etwa bedeutete,
dass bei Prälaten keineswegs von vornherein als Axiom gelten
konnte, sie seien Glieder der Kirche Christi, was folgerichtig
die gesamte Struktur der Amtskirche ins Wanken brachte. Die
Kleriker konnten den Anspruch ihrer Mittlertätigkeit nur dann
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1402 wurde Jan Hus zum Prediger an der Bethlehemskapelle berufen.
erheben, wenn sie das wirkliche Kirchenhaupt, also Christus, in
ihrer Lebensweise nachahmten bzw. vorlebten. Die ganze hierarchische Verfassung der Kirche mit dem Primat des Papstes
wurde somit angezweifelt! Fast folgerichtig musste in solcher
Argumentation, dachte man weiter, auch bereits ein christliches
Widerstandsrecht formuliert werden für den Fall, dass die päpstlichen Gebote denjenigen Christi widersprachen und zum Schaden gereichten. Dann, so Hus, „soll er [der Gläubige] ihm kühn
entgegentreten, auf dass er nicht durch Zustimmung Teilnehmer
an einem Verbrechen wird.“ Man kann sich gut vorstellen, wie
diese Gedanken an der Kurie aufgenommen wurden.
Es war wiederum die große Politik, die den weiteren Gang
der Ereignisse richtungweisend bestimmen sollte, zumal sich
die Frage der endgültigen Überwindung des Schismas durch
ein allgemeines Kirchenkonzil immer dringender stellte. Hus
sah hierin auch (s)eine Chance, sich vom Vorwurf der Ketzerei
zu befreien und seine Auffassungen, wie er glaubte, verteidigen
zu können. Das Risiko bestand darin, nicht in die böhmische
Heimat zurückkehren zu können, sondern auf dem Scheiterhaufen zu enden. In Augenblicken des Schwankens und der Furcht
rechnete Hus mit Letzterem, wovon auch sein Testament von
Anfang Oktober 1414, adressiert an seinen Schüler Martin von
Wolin, eindrucksvoll Zeugnis ablegt, insbesondere durch die auf
den versiegelten Brief geschriebene Bemerkung: „Ich bitte Dich,
diesen Brief erst zu öffnen, wenn Du dessen sicher bist, dass ich
tot bin.“
Hus auf Veranlassung König Sigismunds von Luxemburg vor
dem Konzil „angehört“, unter zum Teil tumultartigen Umständen. Mehrfach haben die Konzilsväter versucht, Hus Brücken zu
bauen; Anklagepunkte wurden dahingehend zusammengestrichen. Der zentrale Kern der Anklage stand in Hussens Traktat
über die Kirche: „Niemand ist Herr, niemand ist Prälat, wenn
er sich im Zustand der Todsünde befindet!“ Noch im Gefängnis
führte Hus eine rege Korrespondenz mit seinen böhmischen
Anhängern in der Heimat, immer wieder forderte er sie auf, in
Treue und Demut auszuharren. Seine eigene Rolle sah Hus immer
klarer, Gedanken an einen Märtyrertod, schon früher zeitweise
präsent, ergriffen ihn und gaben seinem Leben einen (neuen) Sinn
in der noch verbleibenden irdischen Zeit. Hus konnte, für heutige
Menschen schwer nachvollziehbar, gar nicht mehr anders, als sich
zu opfern und dadurch seinen Anhängern in Böhmen ein Zeichen
der Stärkung, des Glaubens und der Hoffnung zu geben – gemäß
der späteren hussitischen Losung „Veritas vincit!“
Am 6. Juli 1415 schließlich wurde das Urteil verkündet: Das
Konzil warf Hus vor, hartnäckig Irrtümer und Häresien des
Wyclif verteidigt und gepredigt zu haben, ebenso hartnäckig
habe er den Kirchenbann ignoriert und an Christus appelliert,
ohne dabei die kirchliche Mittlerfunktion beachtet zu haben.
Andere, wie wir heute wissen, wesentliche Gründe seiner Verurteilung wurden offiziell nicht genannt: sein öffentlicher Angriff
auf die Macht und den Reichtum der Kirche und ihrer Mitglieder in der kirchlichen Hierarchie. Stellen wir uns abschließend
noch einmal die Frage: Wer war Jan Hus? Er war weder Prophet,
noch ein Prager Savonarola oder gar ein „Revolutionär“! Er wollte keine andere, sondern eine bessere Welt. Er war ein eifriger
Theologe, ein charismatischer Prediger, ein überzeugter Reformer der kirchlichen Missstände seiner Zeit, die er geißelte – und
unter das Volk trug. Dies machte ihn gefährlich in einer Zeit, die
widerspruchsvoll genug war und die hierarchische Ordnung der
Welt bedrohte. Hussens menschliches Schicksal wurde zu einem
Meilenstein in der tschechischen wie europäischen Geschichte:
Durch seine Entscheidung für den Scheiterhaufen avancierte Hus
zu einem Mitschöpfer einer neuen historischen Epoche. Hus war
physisch tot, doch die nachfolgenden Ereignisse in seiner böhmischen Heimat zeigen mit aller Deutlichkeit, dass der Kampf
um seine reformatorischen Vorstellungen und Ziele unter dem
Banner „Die Wahrheit siegt“ erst richtig begonnen hatte. „Erst,
da Hus tot war, wurden seine Gedanken eigentlich lebendig“, hat
schon Leopold von Ranke 1888 richtig erkannt.
Literatur
Konstanz – eine Reise ohne Wiederkehr
Die causa fidei (Glaubensfrage) war – neben der Frage der Überwindung des Schismas (causa unionis) und jener der notwendigen Kirchenreform (causa reformationis) – nur ein Punkt der
Kirchenversammlung am Bodensee. Doch vor allem der Prozess
gegen Hus ist in der Erinnerung geblieben, zumal es in Konstanz noch heute zahlreiche Erinnerungsorte an Hus gibt. Nicht
zu vergessen die zeitgenössische Chronik des Ulrich Richental
mit ihren farbigen Illustrationen. Der Prozess gegen Jan Hus
war, dies hat Thomas Fudge überzeugend herausgestellt, ein Ketzerprozess, der – wenngleich die Prozessakten nicht überliefert
sind – nach genau definierten Regeln der Kirche durchgeführt
wurde und der, sollte der Delinquent nicht widerrufen, nur ein
Urteil kannte: Tod auf dem Scheiterhaufen!
Hauptankläger Hussens war – Ironie der Geschichte – ein
Landsmann, ein Böhme namens Michael de Causis, der als Kirchenrechtler an der Kurie wirkte. Als Richter wiederum agierten
Fachleute ersten Ranges, deren Namen sich wie das Who is Who
damaliger theologischer Kompetenz lesen – unter ihnen Pierre
d’Ailly, Jean Gerson und Francesco Zabarella. Dreimal wurde
Šmahel, František: Jan Hus. Život a díl. Prag 2013; Soukup,
Pavel: Jan Hus. Stuttgart 2014; Hilsch, Peter: Johannes Hus.
Prediger Gottes und Ketzer. Regensburg 1999; Krzenck, Thomas: Johannes Hus. Theologe, Kirchenreformer, Märtyrer.
Gleichen – Zürich 2011; Das Konstanzer Konzil. 1414–1418.
Weltereignis des Mittelalters. Essays, hg. von Karl-Heinz
Braun u. a. Darmstadt 2013; Buck, Thomas Martin; Kraume,
Herbert: Das Konstanzer Konzil (1414–1418). Kirchenpolitik, Weltgeschehen, Alltagsleben. Ostfildern 2013; Fudge,
Thomas: The Trial of Jan Hus. Medieval Heresy and Criminal
Procedure. New York 2013; Husitské století, hg. von Pavlina
Čermanová, Robert Novotný und Pavel Soukup. Prag 2014.
Thomas Krzenck, Dr. phil., forschte und lehrte
nach seinem Studium der Geschichte in Brno viele
Jahre in Leipzig, Prag und Konstanz. Er ist heute
freiberuflicher Historiker und Übersetzer und
hat zahlreiche Aufsätze zur spätmittelalterlichen
Geschichte Böhmens verfasst. 2011 erschien seine
Hus-Biographie bei Musterschmidt Göttingen.
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Thomas A. Fudge
Die hussitische Bewegung
im spätmittelalterlichen Böhmen
Die hussitische Bewegung versetzte die spätmittelalterliche Welt mit ihren religiösen und sozialen
Forderungen in Aufruhr. Zentrale Anliegen der Bewegung, bei der auch Frauen eine aktive Rolle
spielten, waren der Laienkelch und eine moralische Erneuerung der Kirche. In fünf Kreuzzügen
versuchten der Papst und der römisch-deutsche König den Hussiten Herr zu werden. Die
Hussitenkriege führten zu enormen Verwüstungen in den böhmischen Ländern. – R. Z.
„Als ich [von den Taboriten] abreiste, kam es mir vor, als sei ich
aus den unteren Tiefen der Hölle zurückgekehrt.“ 1 Dies war der
Eindruck des Humanisten und päpstlichen Legaten Aeneas Silvius
Piccolomini, nachdem er 1451 die hussitische Stadt Tábor besucht
hatte. 36 Jahre zuvor hatte die Hinrichtung von Jan Hus in Böhmen eine Revolution ausgelöst. 2 Auf ihrem Höhepunkt führten
die hussitische Häresie und die daraus erwachsende religiöse und
soziale Bewegung zu bedeutenden Veränderungen der spätmittelalterlichen Welt und insbesondere innerhalb Böhmens; dies
betraf unter anderem das Rechtswesen, die religiöse Praxis, die
den Jan Hus-Kult und den Laienkelch umfasste, sowie die Rolle
der Frau. Darüber hinaus bewirkten die Zerstörungen durch die
Kreuzzüge und der destruktive Bildersturm eine Schwächung der
böhmischen Länder.
Die hussitische Revolution und die Hussitenkriege
In den 1420er und 30er Jahren publizierten und verteilten die Hussiten europaweit Manifeste zur Verteidigung ihrer Sache. Nachdem die hussitischen Reformbemühungen als Häresie verurteilt
worden waren, hatte dies Kreuzzüge, Religionskriege und großflächige Gewaltausbrüche zur Folge. Die Hussitenkriege dauerten
insgesamt 18 Jahre von 1419 bis 1437. Fünf von der Kirche und vom
Heiligen Römischen Reich unterstützte Kreuzzüge marschierten
in Böhmen ein, um die Häretiker der Macht der Kirche zu unterwerfen. Als Häretiker bezeichnet, wurden die Hussiten in eine
Situation gedrängt, in der sie beschlossen, eher für ihren Glauben zu kämpfen, als sich passiv dem Willen der offiziellen Kirche
zu unterstellen. Die Hinrichtung von Jan Hus löste in Böhmen
Empörung aus, so dass er zur zentralen Figur des hussitischen
Kampfes wurde. 3
Die Beweggründe der Revolution waren größtenteils religiös. Die hussitische Häresie war eine direkte Folge von Versuchen,
die lateinische Kirche in der böhmischen Provinz zu reformieren. Dabei ging es hauptsächlich um die Form der Messe. Seit
den 1370er Jahren war vom mährischen Prediger Jan Milíč von
Kroměříž die Laienkommunion eingeführt worden. Daraufhin
folgte die Einführung des Utraquismus (Abendmahl in beiderlei Gestalt – Brot und Wein) durch den Prager Priester Jakoubek
Stříbro. Und schließlich durften alle Getauften einschließlich der
Kinder und Kleinkinder an der Eucharistie teilnehmen. Diese
Neuerungen verurteilte das Konzil von Konstanz. 4
Um ein anhaltendes Schisma zu vermeiden und die Kontrolle über die böhmische Kirche wieder zu gewinnen, wurde 1420
ein Kreuzzug gegen die Hussiten ausgerufen. Doch 450 Barone
widersetzten sich den Entscheidungen von Konstanz. Ein Bischof
wurde entführt und gezwungen, hussitische Priester zu ordinieren. Römische Priester wurden aus den Gemeindekirchen in
Böhmen vertrieben und durch hussitische Kleriker ersetzt. Viele
Gelehrte der Universität stellten sich auf die Seite der Reformer. 5
1418 wies Papst Martin V. den römisch-deutschen König Sigismund an, militärisch gegen die widerspenstigen Hussiten vorzugehen. Sigismund zögerte und schob die Angelegenheit fast zwei
Jahre hinaus. In der Zwischenzeit gerieten die Kräfte der Kirche
und des Reichs immer mehr ins Hintertreffen und es entstand eine
Volksbewegung wie ein Phönix aus dem Feuer von Konstanz. Die
Gemeinschaft vom Tábor, die Aeneas Sylvius so schockiert hatte,
wurde 1420 gegründet. Bis dahin hatte der radikale Priester Jan
Želivský in Prag seine Reformagenda umgesetzt, das militärische
Genie Jan Žižka hatte sich auf die Seite der Häresie gestellt, und
die Prager Universität hatte beschlossen, dass der Glaube verteidigt werden darf, wenn er angegriffen wird. Der Kreuzzugsbulle
gegen die böhmischen Häretiker waren militärische Scharmützel seit 1419 vorausgegangen. Die Stadt Kutná Hora ist dabei ein
Bespiel für anti-hussitische Strategien und Praktiken: Die Bevölkerung wurde aufgerufen, Angehörige der hussitischen Religion
zu verraten. Der Stadtrat bot einen Groschen für einen Laien und
fünf für einen Kleriker. In der Folge wurden 1416 mehr als 1 600
Hussiten in einem Bergwerkschacht getötet. König Sigismund
glaubte, dass ein Kreuzzug notwendig sei, um die Häretiker „zu
unterdrücken und auszurotten“. 6
In Breslau wurde die päpstliche Kreuzzugsbulle gegen die
Hussiten am 17. März 1420 von der Kanzel verlesen. Sie bezog sich
auf das „tödliche Virus“ des Hussitentums und versprach vollkommene Vergebung aller Sünden für Kreuzzugsteilnehmer, die
bereit waren, Häretiker zu töten. Das war nichts Neues. Bereits
1417 hatte Sigismund dem böhmischen König Wenzel IV. geschrieben: „Wir können Sie nicht als unseren Bruder erachten, wenn Sie
nicht auf die Weise unserer Vorfahren alle Häretiker ausrotten…
Lasst jede tschechische, deutsche und lateinische Person wissen, dass
ich den Tag kaum erwarten kann, an dem ich jeden Wyclifiten und
Hussiten ertränken werde.“ 7
Im Spätfrühling 1420 versammelte sich ein gewaltiger Kreuzzug außerhalb Prags. Gemäß einigen mittelalterlichen Chroniken waren 150 000 Kreuzzugsteilnehmer aus drei Dutzend Nationen erschienen. 8 Die großen hussitischen Bauernarmeen unter
der Führung von Jan Žižka gewannen jedoch die Schlacht von
Prag im Sommer 1420. Trotz der desaströsen Niederlage drängte
Papst Martin V. König Sigismund weiterhin zu einer militärischen
Lösung des hussitischen Problems: „Wende all deine Aufmerksamkeit dieser Angelegenheit zu; nichts kann Gott wohlgefälliger,
für Dich ruhmreicher und für die Christen vorteilhafter sein.“ 9
Darauf folgten weitere Kreuzzüge und Gegenkreuzzüge – alle
im Namen Gottes.
Nach Aeneas Silvius „gab es kein anderes Königreich zu
dieser Zeit als Böhmen, in dem so viele Veränderungen durch
Kriege, Schlachten und Wunder stattgefunden hatten“.10 Fünf
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Kreuzzugsbullen wurden gegen die Hussiten erlassen und die
Gewalt dauerte 18 Jahre lang an. Trotz wiederholter Bemühungen
der Autoritäten des Reichs oder der Kirche konnten die Hussiten
weder gestoppt noch unterdrückt werden. Ihre Ideen waren so
machtvoll, dass die offizielle Kirche gezwungen war, die häretischen Hussiten 1433 einzuladen, Vertreter an das Konzil von
Basel zu senden, wo die Hussiten mit Rom über Konzessionen verhandelten und diese auch erhielten.11 Einen ähnlichen Fall kennt
die 2 000-jährige Kirchengeschichte nicht. Schließlich erreichten
jedoch interne Differenzen, was die Feinde der Hussiten nicht
erreicht hatten: 1434 besiegten die gemäßigten Hussiten zusammen mit den Katholiken die radikalen Hussiten in der Schlacht
von Lipan.
Die hussitische Bewegung
Die Gründung von Tábor 1419 als hussitische Gemeinschaft
bedeutete einen entscheidenden Übergang von Reform zu Reformation, bzw. was die hussitische Geschichte betrifft, den Schritt
von Revolte zur Revolution. Zwei Ereignisse im Juli waren entscheidend: Am 30. Juli vollführten hussitische Aufständische
unter der Leitung von Priester Jan Želivský den „Fenstersturz
von Prag“, bei dem die Stadtregierung durch einen veritablen
Putsch gestürzt wurde.12 Das zweite Ereignis hatte bereits am
22. Juli stattgefunden, als sich eine Menschenmasse beim TáborBerg versammelt hatte, deren Kern in Erwartung des Weltendes
die taboritische Religion und Gesellschaft gründete: „Diejenigen, die sich auf dem Berg versammelt hatten, waren ganz von
biblischem eschatologischen Symbolismus erfasst. In der Heiligen
Schrift geschehen grundlegende Offenbarungsereignisse immer auf
Bergen. Auf einem Berg ist das Gesetz gegeben worden, auf einem
Berg betet, predigt und sendet Jesus aus zur Verkündigung. […]
Gemäß den Visionen der Propheten geschehen die letzten, eschatologischen Ereignisse auf Bergen. Diejenigen, die den Versammlungsort Tábor nannten, gaben dem Berg und der Bewegung einen
Namen von eschatologischer Bedeutung.“ 13
Tábor bezeichnete mehr als einen Berg, auf dem die erste hussitische Gemeinschaft gegründet wurde. Schon bald entstand dort
eine Festungsstadt mit demselben Namen. Die neue Stadt ersetzte die verlassene Burg von Hradiště und spiegelte die Wahrheiten und Realitäten der grundlegenden hussitischen Lehre wider.
Deren Kurzfassung beinhaltete die „Vier Artikel von Prag“ (1420):
Utraquismus (Abendmahl in beiderlei Gestalt), freie Predigt, Veräußerung von Kircheneigentum und Bestrafung aller schlimmen
Sünden.14
Seit Anbeginn war Tábor eine religiöse, politische und soziale
Revolution. Die Menschen drängten aus ganz Böhmen und Mähren zu den Tábor-Predigern. Sie verkauften ihren Besitz und legten das Geld zu deren Füßen. Alle Dinge wurden geteilt und alle
waren gleichwertig: „Von nun an gibt es in Tábor nichts, was mein
oder dein ist.“15 Das waren ein Kommunismus und eine Güterteilung mit Bezug auf die biblische Apostelgeschichte. Gemeinschaftskassen wurden in Písek, Tábor und anderswo eingerichtet.
Eine neue Gesellschaftsordnung war geboren, soziale Spaltungen
wurden aufgehoben, kulturelle Hierarchien weitgehend aufgelöst.
Bezahlung für Miete und Dienstleistungen waren verboten. Um
Mitglied zu werden, musste das materielle Vermögen der Gemeinschaft übergeben werden. Bestehende Gesetze wurden missachtet,
Schuldner wurden von ihren bisherigen Verpflichtungen befreit,
Herr-Bauer-Verhältnisse wurden aufgelöst, alle Personen galten
als Brüder und Schwestern, und die Idee vom Privateigentum
wurde geächtet. Obwohl die hussitische Tábor-Bewegung populär
war, bedrohte sie die Traditionen und Stabilität der spätmittelalterlichen Gesellschaft, die sich selbst als Gott gegeben verstand.
Doch sogar die Kritiker der Häretiker sahen sich gezwungen
zuzugeben, dass eine Art Ideal erreicht wurde.
Foto: Wikimedia Commons / Rudolf Kukačkla
Hus-Denkmal des Bildhauers František Bílek in Tábor.
Es gab aber auch Probleme: Die Kassen waren nicht ohne
Boden, Prophezeiungen des Weltendes wurden nicht Realität.
Eine Entzauberung setzte ein. Da die Anführer Unruhen vorhergesehen hatten, wählten sie vier Militärkapitäne, unter ihnen
Jan Žižka. Deren Truppen wurden als „Gotteskrieger“ bekannt
und sie waren der Grund dafür, weshalb die hussitische Häresie
sich über 15 Jahre lang halten und florieren konnte.16 Die Experimente mit radikalen sozialen Veränderungen waren in Tábor
lange Zeit erfolgreich, weil es im Land keine ausreichend starke
Gegenkraft gab. Mit der Zeit wurde auch der Erzbischof von Prag
Hussit und der mutmaßliche Erbe des böhmischen Thrones, Sigismund, wurde des Landes verwiesen. Allerdings waren die strengen religiösen Praktiken und die kühnen sozialen Veränderungen
zum Scheitern verurteilt: Das falsche Sicherheitsgefühl hinderte
die hussitischen Häretiker daran, von einem konsumierenden zu
einem produzierenden Kommunismus überzugehen, bis es zu
spät war. Die Bewegkräfte der Bewegung waren ursprünglich
eher theologisch und religiös als sozial und ökonomisch gewesen,
und so war Theologie ironischerweise für den Aufstieg und Fall
vieler sozialer Aspekte der hussitischen Bewegung verantwortlich.
Hussitische Frauen
Eine der interessantesten, wenn auch nur vorübergehenden Neuerungen der Hussiten im religiösen wie im sozialen Bereich betraf
die Rolle der Frauen.17 Generell spielten in mittelalterlichen häretischen Bewegungen Frauen prominentere Rollen als in der offiziellen Kirche. Bis 1415 gab es in Prag mindestens 18 Beginenhäuser. Diese waren klein mit sechs bis zwölf Mitgliedern und legten
einen Akzent auf geistigen Studien. Jan Milíč (†1374) hatte seinen
Dienst auf sozial enterbte Frauen in Prag ausgerichtet, vor allem
Prostituierte. Die von ihm errichtete „Jerusalem“-Gemeinschaft
wurde in die Hände von Frauen übergeben, die die Führung einiger dieser Häuser übernahmen. Sowohl Matěj von Janov und Jan
Hus gaben Frauen die Möglichkeit, am religiösen Gemeindeleben
durch das Singen von Hymnen oder die Auslegung von Gottes
Gesetz teilzunehmen. Einige hussitische Reformen waren für die
Frauen von Vorteil. Beispielsweise befreiten die Predigten gegen
extreme Kleidermoden von bestimmten sozialen Erwartungen.
Einige Frauen, darunter Königin Sophie, nutzten ihre Macht und
ihr Eigentum, um die Reformbemühungen zu unterstützen. Was
die Ehe anbelangt, erlaubten die Taboriten die Scheidung für Männer und Frauen, insofern deren Ehegatten sie an der Teilnahme an
der Reformbewegung hinderten. Ebenso war bei den Taboriten
die Heirat von Klerikern nicht verboten.
In dieser einzigartigen Situation kämpften Frauen auch an der
Seite der Männer in Heeren. Während sie nur in Notfällen an
den Kämpfen teilnahmen, waren hussitische Frauen oft Teil der
stehenden Feldheere. Anlässlich des ersten Kreuzzugs nach Prag
standen Frauen an der Seite von Jan Žižka an den Frontlinien.
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Es könnte sein, dass Jeanne d’Arc von den Geschichten über die
hussitischen Frauen beeinflusst war.18 Was das Predigen angeht,
gibt es Hinweise in der Literatur dieser Zeit, dass Frauen gelehrte
Schriften verfassten. Leider ist keines dieser Dokumente überliefert. 1416 behaupteten die Anti-Hussiten in Prag, dass die Häretiker Frauen als Predigerinnen anstellten. Indem sie versuchten, die
Biblizismus-Welle auf die Hussiten zurückzuwerfen, bestanden
ihre Feinde darauf, dass diese Häretiker „Prediger machen aus
Schustern, Müllern, Metzgern, Bäckern, Gerbern, Barbieren und
anderen Handwerkern. Sogar Frauen ist es erlaubt zu predigen.
Danach haben sie wohl den Hl. Paulus nicht gefragt.“ 19 Frauen
kamen auch in den Parodien und Polemiken der anti-hussitischen
Literatur vor. Nach seinem Tábor-Besuch von 1451 sagte Aeneas
Silvius, dass Frauen in der hussitischen Bewegung die Bibel besser kennen würden als viele italienische Bischöfe. Er vermerkte
auch ihre löblichen frommen Ausdrucksformen, und dass einige
zweimal täglich die Kommunion empfingen. 20
In einigen hussitischen Gemeinschaften wurden die liturgischen Gesänge abgeschafft, und an ihrer Stelle wurden Lieder
eingeführt, die von Frauen und Kindern gesungen wurden (was
die Katholiken bitter beklagten). Das führte zu einer doppelten
Umkehrung: Das traditionelle und offizielle Latein wurde durch
die tschechische Mundart ersetzt, und die Rolle von männlichen
Priestern, die normalerweise die Liturgie sangen, war in einigen
Fällen an Frauen übertragen worden. In einer Quelle von 1417
wird Anežka Mochov beschrieben als „unehrenhafte Frau“, als
„grausame Hexe“, als „grimmige Jezebel“ und als „heimtückische
kleine alte Frau“, die Dämonen anbetet und viele dazu ermutigt,
den häretischen Wegen des Jan Hus einzuschlagen. Die literarische Anklage kam zum Schluss, dass diese „arme elende Frau“ sich
für alle Ewigkeit in der Hölle winden würde. 21
Die hussitische Religion
Was kann über die hussitische Religion im Allgemeinen gesagt
werden? Die „Vier Artikel von Prag“ waren die beständige Grundlage, welche die verschiedenen hussitischen Splittergruppen in
der frühen Periode vereinte. Die hussitische religiöse Praxis war
ursprünglich von einem geschärften eschatologischen Bewusstsein geprägt, das durch einen langgezogenen Krieg und intensive
soziale Konflikte weiter angespornt wurde. Von Anfang an war
die Reform grundsätzlich eher moralischer, denn doktrinärer
Art. Von Jan Hus bis zu seinen taboritischen Nachfolgern lag
der Akzent klar auf dem „Gesetz Gottes“. Das zentrale Anliegen
der hussitischen Religionspraxis betraf die Eucharistie. Jan Milíč
betonte die Wichtigkeit häufiger Kommunion, Jakoubek führte
1414 den Laienkelch (Utraquismus) wieder ein, und die Priester
Jakoubek und Koranda ließen nicht später als 1417 auch Kinder
die Kommunion empfangen. Trotz dieser tiefen Erneuerung der
eucharistischen Praxis in Böhmen herrschte jedoch kein Konsens
über die „Präsenz“: Die Taboriten folgten John Wyclif. Die konservativen Prager folgten dagegen der traditionellen Transsubstantiationslehre. In Autoritätsfragen hatte die Bibel die Priorität, und
viele folgten der Lehre von Jan Hus, nach der Schrift, Tradition
und Vernunft die Glaubensregel bildeten. Viele Hussiten hingen
nicht der sola fide-Lehre an, wie es später die Protestanten taten.
Nach einer genauen Analyse steht die hussitische Theologie Thomas von Aquin näher als Martin Luther. In der Praxis trat die
hussitische Theologie gegen Ämterkauf, soziale Ungerechtigkeit
und Unsittlichkeit auf und kann in diesem Sinne prinzipiell als
moralische Reform verstanden werden. 22
Im Gegensatz zur weit verbreiteten Meinung waren die Hus­
si­ten keine vorzeitigen Protestanten. Technisch gesprochen
waren sie Häretiker, die das Gesetz Gottes und ihr Verständnis
der Wahrheit zu verteidigen bereit waren, wobei sie der Praxis
des Laienkelches und der Erinnerung an den Heiligen Jan Hus
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Statue des hussitischen Heerführers
Jan Žižka von Josef
Strachovský (1884) in
Tábor, Tschechien.
Foto: Wikimedia
Commons (Milkbreath)
verpflichtet waren. 1429 erklärten die Hussiten gegenüber Kaiser
Sigismund, dass „die Tschechen ihre Schwerter zur Verteidigung
von Gottes Wahrheiten gezogen haben, und sie werden sie nicht
weglegen, bis sie alle unter ihrem Programm vereinigt haben.“ 23
Das war sowohl eine Behauptung puren Trotzes als auch eine
zuversichtliche Verpflichtung gegenüber ihren religiösen und
sozialen Zielen. In vielerlei Hinsicht waren diese mittelalterlichen Häretiker erfolgreich. In einigen Fällen verließen hussitische
Armeen Böhmen in den späten 1420er Jahre mit 45 000 Mann und
kamen mit 70 000 zurück. 24 Die hussitische Bewegung hatte sich
zu einer Kraft entwickelt, mit der man in Mitteleuropa rechnen
musste.
Als Jan Hus sich für eine Kirchenreform eingesetzt hatte,
wurde er verfolgt, am Konstanzer Konzil verurteilt und auf dem
Scheiterhaufen als Häretiker verbrannt. Die darauf folgenden 15
Jahre haben alles verändert. Nicht nur wurden die Hussiten an
das Basler Konzil eingeladen, sondern sie erreichten bei der lateinischen Kirche Konzessionen, die einer Legitimierung ihrer religiösen Praktiken gleichkamen. Anders als andere mittelalterliche
Häresien haben die Hussiten religiöse, soziale und nationale Interessen erfolgreich kombiniert. Die Tatsache, dass die hussitischen
Heere die Reichsheere besiegten, lässt auf eine militärische Stärke
schließen, die man so im mittelalterlichen Westen bis anhin nicht
gekannt hatte. Die Annahme ist gerechtfertigt, dass zwischen 50
und 60 Prozent der tschechischen Bevölkerung in Böhmen den
hussitischen Glauben annahm. 25 Das führte zur Herausbildung
eines Böhmischen Königreichs, das als Hussitische Nation wahrgenommen wurde. Im Vergleich dazu gibt es in mittelalterlichen
Quellen keine Bezüge auf ein Katharerland, eine Waldensische
Nation oder ein Lollarden-Königreich. Die hussitische Häresie
überdauerte fast mehr als 200 Jahre, bis sie im Dreißigjährigen
Krieg unterdrückt und in den Untergrund oder ins Exil gedrängt
wurde.
Eine ähnliche Institutionalisierung einer Häresie kennt das
Mittelalter nicht: Im Laufe von zwei Jahrzehnten entstanden
Städtebünde, die sich zum hussitischen Glauben bekannten. In
vielen Regionen waren die Lokalregierungen pro-hussitisch. Die
Stadt Tábor hatte ihren eigenen Bischof. Der römische Erzbischof
von Prag konvertierte zum hussitischen Glauben. Die Hussiten
gründeten ihre eigene Kirche. Die Häretiker verfügten über ein
konkurrenzloses stehendes Feldheer und manchmal einen hussitischen König. Das alles hatte großen Einfluss auf die böhmische
Welt und brachte tiefgreifende soziale, politische, ökonomische,
kulturelle und religiöse Veränderungen mit sich. Bis zu 90 Prozent
13
14
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Bildnis einer Hussitenschlacht in der
Chronik von Eberhard
Windeck „Kaiser
Sigismunds Buch“.
des Kircheneigentums in Böhmen fiel in die Hände der Häretiker,
einschließlich bis zu 200 Klostergebäude. Mindestens 220 Dörfer,
die einst von Klöstern oder Kathedralkapiteln kontrolliert wurden, gingen an die Hussiten verloren, und man kann behaupten,
dass der Feudalismus in Böhmen fast ganz zerstört worden war. 26
Es gab aber auch negative Konsequenzen: Böhmen wurde vom
Rest Europas isoliert. Die Kriege verwüsteten das Land und die
Bildersturm-Exzesse einiger Hussiten entwerteten das Land und
seine Kultur auf abstoßende Weise. Bücher, Manuskripte, Kunst,
Skulpturen und religiöse Gebäude wurden zerstört. Ökonomische
Blockaden und politische Sanktionen forderten hohe Tribute. Die
Bauern waren oft negativ betroffen, und sie waren nicht die einzigen, die darunter litten, wenn die Hussiten nicht immer ihren eigenen Prinzipien folgten oder die Versprechen ihrer Reformen nicht
einlösten. Trotz dieser Niederlagen und Enttäuschungen zählt die
hussitische Bewegung in der Geschichte der westlichen Welt zu
den großen Kämpfen für soziale, politische und religiöse Freiheit.
Jan Hus und seine Nachfolger haben eine neue historische Epoche
eingeläutet. Die Hussiten waren die erste Reformbewegung aus
dem Volk, die Rom erfolgreich herausgefordert und erstmals eine
Häresie auf Dauer institutionalisiert hat. Diese Errungenschaft
hat die Gestalt der europäischen Zivilisation für immer verändert.
Anmerkungen
1) Bischof Eneas an den Kardinal Juan Carvajal, 21. August 1451.
In: Wolkan, Rudolf (Hg.): Der Briefwechsel des Eneas Silvius Piccolomini. Wien 1918 (= Fontes rerum austriacarum II,
vol. 68), S. 56.
2) Fudge, Thomas A.: The Trial of Jan Hus: Medieval Heresy
and Criminal Procedure. New York 2013; Kejř, Jiří: Die Causa
Johannes Hus und das Prozessrecht der Kirche. Regensburg
2005; Seibt, Ferdinand: Hussitica. Zur Struktur einer Revolution. Köln 1965. Hilsch, Peter: Johannes Hus (um 1370–1415):
Prediger Gottes und Ketzer. Regensburg 1999; Werner, Ernst:
Jan Hus: Welt und Umwelt eines Prager Frühreformators. Weimar 1991.
3) Fudge, Thomas A.: Heresy and Hussites in Late Medieval
Europe. Farnham 2014, S. 14–15; Ders.: The Crusade against
Heretics in Bohemia, 1418–1437. Aldershot 2002; Ders.: Jan
Hus: Religious Reform and Social Revolution in Bohemia.
London 2010; Krzenek, Thomas: Johannes Hus: Theologie,
Kirchenreformer, Märtyrer. Zürich 2011.
4) Holeton, David R.: The Bohemian Eucharistic Movement in
its European Context. In: The Bohemian Reformation and
Religious Practice 1 (1996), S. 23–47; Brandmüller, Walter: Das
Konzil von Konstanz 1414–1418, 2 Bde. Paderborn 1991–1997.
5) Kejř, Jiří: Mistři pražské university a kněží táborští. Prag 1981.
6) Fudge: The Crusade against Heretics (Anm. 3), S. 21–25, 33–38,
40–41, 45–52, 127.
7) Palacký, František (Hg.): Urkundliche Beiträge zur Geschichte
des Hussitenkrieges. 2 Bde. Osnabrück 1966, Bd. 1, S 17–20;
Ders. (Hg.): Documenta Mag. Joannis Hus vitam, doctrinam,
causam in constantiensi concilio actam et controversias de
religione in Bohemia annis 1403–1418 motas illustrantia. Prag
1869, S. 684.
8) Bujnoch, Josef (Hg.): Die Hussiten: Die Chronik des Laurentius von Březová, 1414–1421. Graz 1988, S. 100 f.
9) Kerler, Dietrich (Hg.): Deutsche Reichstagsakten. Bd. 8. Gotha
1883, S. 119–121.
10)Martínková, Dana (Hg.): Aeneae Silvii Historia Bohemica.
Prag 1998, S. 6.
11)Fudge, Thomas A.: Prokop in the Bath: Some observations on
the Liber diurnus de gestis Bohemorum in Concilio Basileensi.
In: The Bohemian Reformation and Religious Practice 7 (2009),
S. 139–155.
12)Kaminsky, Howard: A History of the Hussite Revolution.
Berkeley 1967, S. 265–360; Ders.: The Prague Insurrection of
30 July 1419. In: Mediaevalia et Humanistica 17 (1966), S. 106–
126; Šmahel, František: Die Hussitische Revolution. Hannover
2002, Bd. 2, S. 1007–1365.
13)Molnár, Amedeo: Eschatologická naděje české reformace. In:
Souček, J. B. (Hg.): Od reformace k zítřku. Prag 1956, S. 29.
14)Šmahel, František: Die vier Prager Artikel. Das Programm der
Hussitischen Reformation. In: Eberhard, Winfried; Machilek,
Franz (Hg.): Kirchliche Reformimpulse des 14./15. Jahrhunderts in Ostmitteleuropa. Köln 2006, S. 329–339.
15)Fudge, Thomas A.: ‘Neither Mine Nor Thine’: Communist
Experiments in Hussite Bohemia. In: Canadian Journal of
History 33 (1998), S. 25–47.
16)Heymann, Frederick G. : John Žižka and the Hussite Revolution. New York 1969.
17)Klassen, John: Women and Religious Reform in Late Medieval Bohemia. In: Renaissance and Reformation 5, 4 (1981),
S. 203–221.
18)Štěpán, Václav: Jana z Arcu a České zemé. In: Husitský tábor
16 (2009), S. 105–146.
19)Nebeský, Václav: Verše na Husity: Dvé stare satyry. In: Časopis
českého musem 26 (1852), S. 149.
20)Libros Antonii Panormitae poetae, de dictis ef factis Alphonsi
regis memorabilibus commentaries, bk. 2 in Aeneae Sylvii Piccolominei … Opera quae extant omnia (Basel 1571), S. 480.
21)Palacký: Documenta (Anm. 7), S. 697.
22)Fudge: Heresy and Hussites (Anm. 3), S. 49–72; Ders.: The
Memory and Motivation of Jan Hus. Medieval Priest and Martyr. Turnhout 2013, S. 211–245.
23)Palacký: Urkundliche Beiträge (Anm. 7), Bd. 2, S. 22–26.
24)Winter, Eduard: Tausend Jahre Geisteskampf im Sudetenraum:
Das Religiöse Ringen zweier Völker. Leipzig 1938, S. 123.
25)Šmahel, František: Idea národa v husitských Čechách. Prag
2000, S. 165.
26)Fudge, Thomas A.: The Magnificent Ride: The First Reformation in Hussite Bohemia. Aldershot 1998, S. 275–284; Šmahel,
František: La révolution hussite, une anomalie historique. Paris
1985, S. 105–110.
Übersetzung aus dem Englischen: Regula Zwahlen.
Thomas A. Fudge, Prof. Dr., Professor für Mittelalterliche Geschichte, University of New England,
Australien.
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Barbara Hallensleben
Wie durch Feuer – Jan Hus
und die Aufgabe der Kirchenreform
Angesichts des Großen Abendländischen Schismas und der zunehmenden Verweltlichung des
kirchlichen Verwaltungssystems war die Aufgabe der Kirchenreform eines der zentralen Anliegen
der Zeit des Jan Hus. In den Mittelpunkt trat dabei die Frage „Wo ist die wahre Kirche?“. Für Jan
Hus war es unsichtbare Versammlung der Prädestinierten, die er der hierarchisch verfassten Kirche
gegenüberstellte, und die ihm als Grundlage seiner Kritik an den kirchlichen Missständen diente. – S. K.
„Am 6. Juli 1415 stieß Jan Hus auf dem Konzil von Konstanz, bevor
er der weltlichen Gewalt überliefert und zu seinem Scheiterhaufen
geführt wurde, bei seiner Degradation als Priester jenen Schrei aus,
der gleichsam vom Zeitalter der Scholastik in das des eben beginnenden Humanismus hinüberhallt: erster Schrei eines Mannes, der
die Unverdientheit und Unwürdigkeit eines menschlich-persönlichen, in der Erfahrung Gottes begründeten Schicksals weltweit
geschichtlich kundtat“.1
Auch vor 50 Jahren, 1965, bewegte der Jahrestag der Verbrennung des böhmischen Predigers Jan Hus während des Konzils
von Konstanz die Gemüter. Edzard Schaper (1908–1984), zum
Schriftsteller gereift zwischen den totalitären Regimen der Nazis
in Deutschland und des sowjetischen Kommunismus, von beiden
zum Tode verurteilt, auf der Flucht und im Lager um Glaube und
Freiheit ringend, oft einsam und der Verzweiflung nahe, fühlte sich
dem Geschick des Jan Hus eng verbunden. 1947 gelang ihm mit
Hilfe von Freunden die Übersiedlung in die Schweiz, wo er seine
Erfahrungen literarisch verarbeitete. Seine schriftstellerische Gabe
bestand nicht im Erfinden von Geschichten, sondern im Ver-Dichten der Geschichte. Schaper gab denen eine Stimme, die von den
jeweiligen Machthabern in der politischen wie in der kirchlichen
Welt zum Schweigen gebracht und unsichtbar gemacht werden. Die
Erinnerung steht für ihn im Dienst der Versöhnung. Er führt seine
Leser hinaus über die spontane Empörung über einen Justizmord,
noch dazu begangen von einem ehrwürdigen Konzil, das nicht
zuletzt um der Kirchenreform willen zusammengetreten war.
Schaper verleiht Hus eine Stimme: „‚Königliche Gnaden‘,
schrie Hus, an seinen einstigen Schutz- und Geleitherrn, König
Sigismund von Ungarn, gewandt, als ihm die Schere in der Hand
eines unschlüssigen Bischofs, der nicht recht wusste, wie er ihm den
letzten Schimpf antun sollte, ihn seiner corona, der priesterlichen
Tonsur, zu berauben, die peinigend lange Zeit dazu ließ, ‚Königliche Gnaden! Die Bischöfe sind sich nicht einmal einig, wie sie mich
beleidigen sollen!“ 2 Schaper kommentiert: „Mich – Jan Hus. Nicht
das Amt, dessen er nach schon vorangegangenen sechs Degradationen dann unter wahllosen Scherenschnitten in sein Haupthaar
endgültig verlustig ging. Das Ende seiner Reden bis zum Feuer war
ein einziges: ‚Christe, fili Dei vivi, misere mei!’, ‚Christus; Sohn des
lebendigen Gottes, erbarme dich meiner!’ Es gab für ihn keinen
schützenden Menschen mehr. Seine Einsamkeit hatte nur Gott.“ 3
Johannes XXIII. folgte. Dieser Papst hatte gegenüber Benedikt
XII. und Gregor XIII., die in Pisa abgesetzt worden waren, nun
zumindest eine gewisse kanonische Autorität auf seiner Seite und
setzte sich, dem Drängen von König Sigismund folgend, für die
Einberufung eines Konzils in Konstanz ein. Neben der Frage der
Einheit der Kirche (causa unionis) standen die dringlichen Fragen
der Kirchenreform (causa reformationis) und der Rechtgläubigkeit
(causa fidei) auf der Tagesordnung. Insbesondere die Verweltlichung des kirchlichen Verwaltungssystems mit seinem System von
Pfründen, Abgaben und sonstigen Privilegien wurde zunehmend
als anstößig empfunden. Reformbereite Kreise in dieser Zeit fanden keine eindeutigen Anhaltspunkte mehr, um die wahre Kirche
Jesu Christi zu identifizieren. Wer auch nur die Frage nach der
Reform stellte, sah sich auf sich selbst und sein Urteilsvermögen
zurückgeworfen. Das Konzil von Konstanz stand vor genau dem
gleichen Problem wie Jan Hus: Seit dem frühen Mittelalter galt der
Grundsatz: prima sedes a nemine iudicetur – „Der Stuhl Petri darf
von niemandem gerichtet werden“. Nun musste sich angesichts der
drei Päpste im Konzil eine Urteilsinstanz konstituieren, die sich
nicht auf die anerkannten Absetzungsgründe wie Häresie oder
Geisteskrankheit berufen konnte. Was lag näher, als gegenüber der
reformbedürftigen Kirche an Christus, ihr Haupt und gerechter
Richter, zu appellieren? Genau das tat Hus am 18. Oktober 1412
auf der Prager Synode als Reaktion auf seine Exkommunikation.
Jan Hus wuchs mit einem wachen Geist und einer großen Einsatzbereitschaft in seine Welt hinein. Geboren um 1371 in Husinec in Südböhmen in die Familie eines Fuhrmanns, besuchte er
die Pfarrschule und anschließend die Artistenfakultät der Prager
Universität, die ihn 1396 zum Magister promovierte und 1401/02
zu ihrem Dekan machte. Das Theologiestudium seit 1398 führte
ihn zur Priesterweihe im Jahr 1400, ohne dass er je das Doktorat
abschloss. 1402 übernahm er das Rektorat der Bethlehemskapelle
und widmete sich der Predigt. 1409/10 bekleidete er gleichzeitig
das Amt des Rektors der Universität. Im universitären Kontext
wurde Hus in den Streit um das Denken des englischen Weltklerikers John Wyclif (um 1330–1384) hineingezogen.
Wyclif fand angesichts der Uneindeutigkeit der kirchlichen
Lage seinen Halt – in der Philosophie. Gegen den Nominalismus
des Spätmittelalters, der die Begriffe als Produkte menschlicher
Abstraktion verstand, vertrat Wyclif einen von Augustinus inspirierten „Ideenrealismus“:4 Ihrer Idee nach gründen alle Dinge in
Gottes Erkenntnis und Willen. Ihr irdisches Dasein in Raum und
Wo ist die wahre Kirche?
War es nicht wirklich zum Verzweifeln mit der Kirche? Seit 1378 Zeit ist der Abglanz dieser Wahrheit, irdische Zufälle und Widergab es zwei Päpste, von denen einer die Obödienz der Avignoner sprüche sind in Gottes ewiger Wahrheit aufgehoben. Diese realisZeit repräsentierte, der andere die Obödienz der römischen Tra- tische Metaphysik konkretisierte sich für Wyclif in der Bibel, für
dition. Selbst die Heiligen dieser Zeit wussten nicht, an welches deren Übersetzung ins Englische er sich einsetzte. Weil die Bibel
Kirchenoberhaupt sie sich halten sollten. Seit dem Konzil von ein treuer Spiegel der göttlichen Urwahrheit sei und als „Gesetz
Pisa 1409 kam ein dritter Papst hinzu, Alexander V., dem 1410 Gottes“ (lex Dei) auch die Weisung für das rechte Leben enthalte,
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gilt ein strenges Schriftprinzip. Vorbildhaft für das christliche
Leben sind insbesondere Christi Armut, Demut und sein geduldiges Leiden. Wo die Kirche nicht in dieser Weise in die Nachfolge Christi tritt, ist die wahre Kirche der Prädestinierten nicht
gegeben, und selbst Laien haben das Recht, über das Tun ihrer
kirchlichen Vorgesetzten bis hin zum Papst zu urteilen. Wyclif
sah es als Aufgabe des Königs an, die angemessene Lebensführung
der Kirche zu überwachen: Der König ist ja der Stellvertreter des
erhöhten Christus, während Bischöfe Christus im Stand seiner
Erniedrigung zu repräsentieren haben. Eine politische Umsetzung
seiner Gedanken gelang Wyclif jedoch nicht.
Es war die Verurteilungen von Sentenzen des John Wyclif,
die seine Lehre umso bekannter und attraktiver werden ließen.
Nachdem der englische König 267 Sentenzen Wyclifs in London
als häretisch verdammt hatte, ließ das Konzil von Konstanz all
seine Schriften verbrennen, erklärte ihn wenige Wochen vor dem
Urteil gegen Jan Hus zum Ketzer und zensurierte weitere seiner
Sentenzen. Für Jan Hus wurde nicht zuletzt die Weigerung, sich
entschieden von Wyclif zu distanzieren – mit dem er durchaus
nicht in allen Lehren übereinstimmte – zum Verhängnis.
Wo ist die wahre Kirche?, so lautete nun die Frage, an der niemand mehr vorbeikam. Die Traktate De ecclesia (Über die Kirche) mehrten sich. John Wyclif ging 1378 mit seinem Traktat De
ecclesia voran. Die Wyclif-Anhänger in Böhmen forderten – in
unterschiedlicher Radikalität – die Verwirklichung der neuen
Vision und sprachen sich für eine Reform unter Enteignung der
Kirchengüter aus. Das trug ihnen zunächst die Gunst des Königs
und des Hochadels ein. Seit der böhmische König Wenzel IV. die
Universitätsverfassung so revidiert hatte, dass die böhmischen
Studenten und Magister über die Mehrheit verfügten, waren die
Wyclif-Anhänger an der Artistenfakultät in der Überzahl. Seit
1408 führte Hus einen Prozess, zunächst gegen den Erzbischof,
schließlich sogar gegen den Papst, um die Verurteilung Wyclifs
aufzuheben. Am 25. August 1410 zog er sich dadurch die Exkommunikation zu, gefolgt vom Kirchenbann, der ihn zum Verlassen
der Stadt Prag nötigte. Auf die Unterstützung des Königs konnte
er nicht mehr bauen, da er mit der Absage an die sichtbare Kirche
auch mit der Kritik an der königlichen Unterstützung päpstlicher Ablassgeschäfte nicht sparte. Sein letzter Rückhalt war der
böhmische Adel, in dessen Burgen Hus Aufnahme und Schutz
fand. Hier verfasste er seinen Traktat De ecclesia, der nach neueren Forschungen bei aller Eigenständigkeit Anklänge an Wyclifs
Vorgängerwerk zeigt.
Wie John Wyclif geht Jan Hus vom Kirchenverständnis des
Augustinus aus und definiert die Kirche als Gesamtheit aller Prädestinierten in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Diese
Kirche ist die heilige katholische Kirche, und sie ist universal –
aber diese Kirche ist unsichtbar. Daneben bezieht Hus den Kirchenbegriff auf die konkreten, sichtbaren Teile der Kirche, zu
denen auch die hierarchisch verfasste Kirche seiner Zeit gehörte.
Diese Kirche bleibt vieldeutig. In ihr sind die Glieder des wahren
Leibes Christi vermischt mit den Gliedern, die zum „Leib des
Teufels“ (corpus diaboli) gehören. Daher wird Jesus beim jüngsten
Gericht „wie ein Hirt die Schafe von den Ziegen trennen“ (vgl.
Mt 25,31–33). Für die bestehende kirchliche Hierarchie ist zu
folgern: „Kein Papst ist in dieser katholischen Kirche Person von
allerhöchster Würde außer Christus; also gibt es auch kein Haupt
dieser katholischen Kirche außer Christus“. 5 Vermutlich sind sogar
die Infragestellungen der Lehre von der Wandlung der Gaben von
Brot und Wein in Leib und Blut Christi (Transsubstantiation), die
sich bei Wyclif wie – in gemilderter Form – bei Hus finden, nur
ein Nebenschauplatz seines Kampfes gegen die angemaßte Autorität der kirchlichen Hierarchie. Vorwiegend aus diesem Traktat
De ecclesia wurden die Anklageartikel für den Prozess gegen Jan
Hus zusammengestellt.
Die Verurteilung in Konstanz
Jan Hus, der mit viel Optimismus in Konstanz erschienen war,
wurde bald radikal enttäuscht und in die politischen und kirchenpolitischen Wirren der Konzilsentwicklungen hineingezogen.
Ihm begegnete nicht die reine Versammlung der Prädestinierten,
sondern die höchst realen Konzilsteilnehmer in einem Gebrodel von Kirchenpolitik, königlichen Interessen und dem großen
Jahrmarkt der Konzilsstadt Konstanz. Er, der mit einem Rechtgläubigkeitszeugnis des Großinquisitors der Diözese Prag und
einem Schutzbrief von König Sigismund angereist war, genoss
anfangs auch die Unterstützung des Papstes: „Und wenn er meinen Bruder getötet hätte, nicht ein Haar auf dem Kopf würde
ihm gekrümmt, solange er in der Stadt weilt.“6 Doch schon bald
holte die Dialektik seines eigenen Konzepts der Kirchenreform
den böhmischen Eiferer für das Evangelium ein: Papst Johannes
XXIII. musste abdanken. König Sigismund entdeckte, dass Hus
die These von der Illegitimität der unmoralischen Obrigkeit auch
auf die weltlichen Herrscher bezog und ließ ihn fallen. 7 Und bei
den Glaubens- und Reformfragen erschien Jan Hus als Störfaktor
für eine Kirche, die so schnell wie möglich unter einem neuen
Papst zu Ruhe und Ordnung zurückkehren wollte.
Während der 15. Generalsitzung des Konzils wurde Hus
als verstockter Ketzer zum Tode verurteilt. Der vorbereitete Beschluss über seine Absetzung und Einkerkerung beweist,
dass die Richter bis zuletzt mit der Möglichkeit des Widerrufs
gerechnet hatten, ja sich dafür einsetzten. Doch Hus widerrief
nicht, wie sehr man ihm in der Formulierung auch entgegenkam:
„Ich scheu mich, das zu tun, um nicht angesichts des Herrn als
Lügner dazustehen, sowie auch, um nicht mein Gewissen und
Gottes Wahrheit zu verletzen, da ich die fälschlicherweise gegen
mich angeführten Sätze niemals behauptet habe, vielmehr ihnen
entgegen geschrieben, gelehrt und gepredigt habe, und auch deswegen, um nicht einer so großen Schar, der ich gepredigt habe,
sowie anderen getreu das Wort Gottes Verkündigenden Ärgernis
zu geben.“ 8 Noch am selben Tag starb Hus in den Flammen, und
selbst seine Gegner waren vom Zeugnis seiner unerschrockenen
Treue in Glaube und Gebet tief bewegt.
Jan Hus starb als Zeuge für die Barmherzigkeit Jesu Christi –
verurteilt von einer Kirche, die ihn als Verräter an der Barmherzigkeit Christi ansah. Diese unerhörte Spannung kann wohl nur
in der szenischen Darstellung des Schriftstellers ihre gebührende
Dramatik erhalten. Edzard Schaper bringt Hus ins Gespräch mit
Kardinal Francesco Zabarella, der die Leitung der vom Konzil
eingesetzten Glaubenskommission innehatte und bis zur letzten
Minute um die Rettung von Hus bemüht blieb:
KARDINAL ZABARELLA: Legt ihrer Verworfenheit ein
Maß aus der Liebe Gottes an und nicht ein Maß als engherziger
Schneider der von Euch selbst als wahr erkannten Moral! Seit
den Nächten, da ich Eure Akten studiert habe, sehe ich, dass
Eurem Eifer für das Göttliche nur ein kleiner Schritt fehlt, um
in die Fußstapfen der großen Vorgänger einzutreten. Der Schritt
über Euch selbst hinaus. Dann seid Ihr bei Gott. Und bei unserer
heiligen Kirche.
JAN HUS: Ich bin überall bei Ihm.
KARDINAL ZABARELLA: Wer hat Euch das gesagt?
JAN HUS: Ich.
KARDINAL ZABARELLA: Das ist wenig.9
Da ist es wieder – das Ich, das von nun an in der Bemühung
um Kirchenreform nicht mehr zu umgehen ist. Der reformierte
Hagiologe Walter Nigg beginnt seine Darstellung des Jan Hus mit
der Aussage: „Johannes Hus’ Schicksal war es, als einzelner sich
einer Gesamtheit gegenüberzustellen und durch diese Tat aufs
Neue zu dokumentieren, wie die geistige Entwicklung immer in
der Befreiung des Individuums vom Kollektivismus liegt.“10 Von
nun an kann die Kirche ihre Legitimität vor dem Evangelium
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nicht mehr durch einen autoritär begründeten „Kollektivismus“
nachweisen. Sie muss die eschatologische Differenz zwischen sich
selbst und Jesus Christus, zwischen ihrer historischen Gestalt
und ihrer himmlischen Vollendung explizit bezeugen und reflektieren. Das Konzil von Konstanz war in seiner Gesamtheit zu diesem Zeugnis nicht fähig. Doch die Rückkehr zur alten Ordnung
war auch den Gegnern von Jan Hus verwehrt: Als Papst Johannes
XXIII. hoffte, seine Vorrangstellung durch das Konzil bestätigen
zu lassen, war sein Schicksal besiegelt: „Wer ist denn er? Er verdient es, verbrannt zu werden!“, rief der Patriarch von Konstantinopel aus.11 Die Flucht konnte seine Verhaftung und Anklage
nur verzögern. Man warf ihm Simonie, Sodomie, Vergewaltigung,
Inzest, Folter und Mord vor. Seines Amtes enthoben, soll der ehemalige Papst in der Burg von Gottlieben inhaftiert gewesen sein,
wo auch Hus seinem Todesurteil entgegensah. Dem Papst blieb
der Scheiterhaufen erspart, nicht aber die Erniedrigung.
Die Frage nach der Kirche und ihrer Reform
Die große offene Frage, die von nun an das Leben der Kirche
begleitet, lautet: Wie leben wir mit der unaufhebbaren Differenz
zwischen der Gerechtigkeit Christi und den Grenzen unserer
geschichtlichen Existenz? Wyclif und Hus fanden keine Brücke
zwischen der unsichtbaren Versammlung der Prädestinierten
und der sichtbaren Versammlung der Gläubigen. Dieses von Hus
sicher nicht gewollte Dilemma ist in der Literatur nicht unbemerkt geblieben: „Auch hat Hussens praxisbezogene ethische
Glaubenskonzeption mit dem eigentlichen Protestantismus wirklich nicht viel gemeinsam“12 , schreibt der Hus-Experte Robert
Kalivoda. „Viel eher scheint hier eine der vorreformatorischen
Varianten offenbarungsgläubiger Selbstgerechtigkeit auf die
Spitze getrieben.“13 Noch deutlicher wird die Spannung beim
Übergang zur politischen Praxis: „So haben merkwürdigerweise
nicht nur jene Historiker recht, nach denen Hus wie Wyclif die
gegebene Ordnung keineswegs umstürzen wollten, sondern nur
sichern in ethischer Transzendenz; aber auch die entgegengesetzte
Meinung trifft zu, wonach Wyclif wie Hus mit dem radikalen Maß
des Absoluten jede Ordnung aufzuheben imstande waren. Nur
ob man’s tat, ob man im Namen des Absoluten alle Herrschaft
für suspekt und nichtig erklärte oder nicht – das war letztlich ein
politischer Entschluss, dem weder Hus noch Wyclif beigepflichtet
haben.“ 14
Es gibt nur einen Weg – den Hus in der Tat gegangen ist, ohne
ihn theologisch einzuholen: den Weg der Liebe, der das eigene
Leben einsetzt und so dem Weg Christi in Armut, Demut und
geduldigem Leiden folgt. Das bedeutet den Verzicht auf die philosophische (Wyclif) wie auf die ethische (Hus) oder juristische
(so die heutige Variante des Ausweichens vor der Verantwortung)
Eindeutigkeit. Nicht nur der Schrei des Jan Hus wird zu allen
Zeiten hörbar bleiben – auch die Frage nach der Kirche und ihrer
Reform, die Jan Hus uns unerbittlich stellt, wird nicht mehr verstummen. Ab jetzt kostet die Kirchenreform nichts weniger als
das Leben – wenn auch nicht immer auf dem Scheiterhaufen. Ab
jetzt kann man dem Feuer nicht mehr ausweichen, das Jesus bringen will: „Ich bin gekommen, um Feuer auf die Erde zu werfen.
Wie froh wäre ich, es würde schon brennen“ (Lk 12,49). Ab jetzt
gilt für jeden, der das Evangelium ernst nimmt: „Das Werk eines
jeden wird offenbar werden; jener Tag wird es sichtbar machen,
weil es im Feuer offenbart wird. Das Feuer wird prüfen, was das
Werk eines jeden taugt. […] Brennt es nieder, dann muss er den
Verlust tragen. Er selbst aber wird gerettet werden, doch so wie
durch Feuer hindurch“ (1 Kor 3,13–15).
Edzard Schaper lässt Kardinal Zabarella im Gespräch mit dem
Humanisten Poggio Bracciolini, der am Konstanzer Konzil als
Sekretär von Papst Johannes XXIII. teilnahm, die bleibende Einsicht formulieren:
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KARDINAL ZABARELLA: Vielleicht hat er gerade das bei
uns allen gewollt: dass er unsere Anfechtung sei. Denn sein Glaube
und seine Seelenstärke waren größer als das, was die Lehrsätze
unserer heiligen Kirche Ketzerei nennen. Wenn er aber weiter
so hätte reden dürfen, wie er es gewollt hat, wäre es das Ende
der Ordnung in allen Dingen gewesen. Maß und Ordnung auf
Erden sind in einem gewissen Verzicht auf das Absolute begründet,
Magister Hus, welche Massen du auch noch in Aufruhr bringen
wirst. Du warst nur für Christus auf die Welt gekommen, wir aber
auch für seine Welt und seine Menschen und ihren kleinen Frieden.
POGGIO: Die Gerechtigkeit ist bei der Anfechtung, Eminenz?
KARDINAL ZABARELLA: Und die Anfechtung, Poggio,
bleibt bei aller Gerechtigkeit.
***
Die von der Tschechischen Republik vorbereitete Wanderausstellung JAN HUS wird ab dem 16. März für ca. sechs Wochen an
der Universität Freiburg Schweiz zu besuchen sein. Zum Besuchsund Vortragsprogramm: www.unifr.ch/iso.
Anmerkungen
1) Schaper, Edzard: Das Heil im Widerspruch. Jan Hus und Blaise Pascal. In: Ders.: Wagnis der Gegenwart. An Kreuzwegen
christlicher Geschichte. Stuttgart 1965, S. 109–118, hier S. 109.
2)Ebd.
3)Ebd.
4) Vgl. Benrath, Gustav Adolf: John Wyclif. In: Gestalten der
Kirchengeschichte. Mittelalter II, hg. von Martin Greschat.
Stuttgart 1983, S. 219–233.
5) Zit. nach: Machilek, Franz: Art. Hus/Hussiten. In: TRE 15.
Berlin 1986, S. 710–735, hier S. 718 f. Vgl. die englische Übersetzung: De Ecclesia. The Church by John Huss. Translated,
with notes and introduction by David S. Schaff. New York
1915.
6) Zit. nach: Greenblatt, Stephan: Die Wende. Wie die Renaissance begann. München 2011, S. 177.
7) Das Konzil verabschiedete am Todestag des Jan Hus das
Dekret Quilibet tyrannus, das die Aussage verurteilte: „Jeder
beliebige Tyrann kann und muss erlaubtermaßen und verdienstvollerweise von einem jeden seiner Vasallen oder Untertanen getötet werden“ (DH 1235).
8) Zit. nach: Machilek, Art. Hus/Hussiten (Anm. 5), S. 721.
9) Szene 11 aus der Umarbeitung von Edzard Schapers Hörspiel
in ein Theaterstück, aufgeführt zum 100. Geburtstag des
Schriftstellers am 30. September 2008 an der Universität Freiburg (Schweiz); der volle Text erscheint unter dem Titel „Wie
durch Feuer. Leben und Sterben des Jan Hus“ im Sommer 2015
in der Reihe „Epiphania Egregia“ im Aschendorff Verlag. Die
Vorlage bildet das Hörspiel von Schaper, Edzard: Das Feuer
Christi. Leben und Sterben des Johannes Hus. Stuttgart 1965
(mit einem Nachwort von Schaper).
10)Nigg, Walter: Das Buch der Ketzer. Zürich 41962, S. 262.
11)Greenblatt, Die Wende (Anm. 6), S. 179.
12)Kalivoda, Robert: Revolution und Ideologie. Der Hussitismus.
Köln 1976, S. 22.
13)Seibt, Ferdinand: Jan Hus. In: Gestalten der Kirchengeschichte. Mittelalter II, hg. von Martin Greschat. Stuttgart 1983,
S. 251–266, hier S. 258.
14) Ebd., S. 264.
Barbara Hallensleben, Dr. theol.; Professorin für
Dogmatik und Theologie der Ökumene an der
Universität Freiburg (Schweiz), dort u. a. im Direktorium des Instituts für Ökumenische Studien.
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Erich Bryner
„Wir sind alle Hussiten“ –
Jan Hus und die Reformation
Die Reformatoren haben sich in vielfacher Weise auf Jan Hus und dessen Hinrichtung
auf dem Konstanzer Konzil bezogen. Luther, Zwingli und Bullinger beriefen sich bei
Lehrauseinandersetzungen während der frühen Reformation immer wieder auf Jan Hus. Luther
bekannte: „Wir sind alle Hussiten ohne es zu wissen“. Mit Verweis auf die Verurteilung von Jan Hus
zweifelte Zwingli den Wert der Konzile an. Die Forderung von Hus nach dem Abendmahl unter
beiderlei Gestalt nahmen die Reformatoren auf. – S. K.
Am 6. Juli 1415 wurde der böhmische Reformator Jan Hus in über die Reform der Kirche zusammen. Die grundsätzlichen
Konstanz verbrannt. Dieses Ereignis beeindruckte nicht nur theologischen Überlegungen über das Wesen der Kirche hatte
viele Zeitgenossen, sondern auch die Reformatoren ein Jahrhun- er vom englischen Reformtheologen John Wyclif übernommen,
dert später. An sensiblen Ereignissen der frühen Reformation seine konkreten kirchenpolitischen Folgerungen jedoch selbwie der Leipziger Disputation (1519), dem Wormser Edikt (1521), ständig formuliert. Die Schrift enthielt eine sehr scharfe Kritik
der ersten Zürcher Disputation (1521) war die Rückbesinnung an der Kirche und ihren Missständen. Von den Päpsten verlangauf Hus, sein reformatorisches Wirken in Böhmen und seinen te Hus, dass sie echte Nachfolger Christi seien sollten. Zu den
Märtyrertod jeweils ein zentrales Argument. Luther, Zwingli Pflichten der Gläubigen gehöre es, zu prüfen, ob die päpstlichen
und Bullinger bekannten sich in ihren theologischen Schriften, Anordnungen dem Gesetz Christi entsprechen, und wenn dies
in Predigten, Briefen und bei vielen anderen Gelegenheiten nicht der Fall sei, dann sei es christliche Pflicht, Widerstand zu
immer wieder zu Jan Hus. Luther nannte Hus einen gelehrten leisten. Der Spitzensatz in der Argumentation von Hus lautete:
Mann, der für die Wahrheit unschuldig verurteilt wurde und „Sich gegen einen vom rechten Weg abweichenden Papst aufzuwie Christus starb. „Ich liebe ihn“, erklärte der Reformator in lehnen, heißt dem Herrn Jesus Christus zu gehorchen.“ Hus
einer Tischrede im Mai 1540.1
berief sich in seiner Schrift insgesamt dreimal auf die Verteidigungsrede des Apostels Petrus vor dem Hohen Rat zu JerusaHus in der Wittenberger Reformation
lem: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Apg
Das Bekenntnis zu Hus war zu Beginn des 16. Jahrhunderts 5,29). Luther war begeistert. Im folgenden Jahr schrieb er dem
mit großem Risiko verbunden. Dies wurde an der Leipziger kursächsischen Rat und Freund Georg Spalatin, wie sehr er sich
Disputation im Juni/Juli 1519 besonders deutlich: Luther stritt mit Hus identifiziert habe und wie sehr er dessen Schrift über
mit seinem Gegner Johannes Eck über den Ursprung des päpst- die Kirche schätze: „Wir sind alle Hussiten, ohne es zu wissen,
lichen Rechtsanspruchs über die gesamte Kirche. Eck gelang es, auch Paulus und Augustin sind eigentlich Hussiten. Zeige bitte,
den aufmüpfigen Augustinermönch immer mehr in die Enge zu wohin wir kommen ohne den böhmischen Führer und Doktor.“ 3
treiben. Schließlich musste dieser zugeben, dass es auch andere
Das Wormser Edikt vom Mai 1521, das auf den Wormser
Kirchenmodelle gebe als nur das römische mit einem Papst an Reichstag folgte und in dem die Reichsacht über Luther ausgeder Spitze: die Griechen besäßen ebenfalls eine altehrwürdi- sprochen wurde, nannte Luthers Bekenntnis zu Hus ausdrückge und traditionsreiche Kirche, hätten aber keinen Papst. Eck lich als einen Grund für seine Verurteilung. Luther habe das
griff diese Bemerkung auf und lenkte das Streitgespräch auf Konzil zu Konstanz als „eine Synagoge des Teufels“ bezeichnet
Jan Hus; Luther solle sich zu ihm bekennen oder sich von ihm und die Konzilsteilnehmer, die für die Hinrichtung von Hus
distanzieren, und Luther erklärte daraufhin, dass es unter den verantwortlich waren, als „Antichristen, Teufelsapostel, TotGlaubensartikeln des Jan Hus viele gebe, die sehr christlich, sehr schläger und Pharisäer“ charakterisiert. Alles, weswegen Hus
wahr und evangelisch seien („Christianissimi, verissimi et Euan- als Ketzer verurteilt wurde, sei „christlich und evangelisch“,
gelici“), welche die universale Kirche nicht verdammen dürfe. habe er behauptet und von sich selber gesagt, wenn Hus einmal
„Das Wort fiel wie ein Stich durch den Saal“, berichteten Augen- ein Ketzer gewesen sei, „so sei er zehnmal ein Ketzer“. 4
zeugen später. Herzog Georg von Sachsen, der Veranstalter der
Disputation, soll ausgerufen haben: „Das walt die Sucht!“ (in Bezugnahme von Luther auf Hus
heutiger Umgangssprache etwa „verdammt nochmal!“). Luther In theologischen und polemischen Schriften, Bibelauslegunmusste zugeben, dass sich Konzile irren können. Nun war klar gen und Predigten bekannte sich Luther immer wieder zu
geworden: Luther hatte mit dem Papsttum, mit der römischen Hus. So erklärte er 1521 in seiner Schrift „Grund und Ursach
Kirche gebrochen – der „point of no return“ war überschritten. 2 aller Artikel D. Martin Luthers, so durch die römische Bulle
Luthers Bekenntnis zu Hus gelangte sehr rasch nach Böhmen. unrechtlich verdammt sein“ zum Wort Christi zu Petrus „Du
Anfang Oktober erhielt Luther zwei Glückwunschschreiben aus bist Petrus, und auf diesem Felsen will ich meine Kirche bauen“
Prag; einem dieser Briefe war Hussens theologisches Hauptwerk (Mt 16,18), Lüge und Falschheit des Papstes seien jetzt deutlich,
dem Papst sei der Kopf abgeschlagen worden, und ironisch„Über die Kirche“ (De ecclesia) beigelegt.
Hus hatte dieses Werk 1412/13 geschrieben, nachdem er sarkastisch fügte er bei: „Da liegst du nu, du lieber Papst. Wenn
exkommuniziert worden war und im Verborgenen in Nord- du dich hieraus redlich erretten und die Lügen zur Wahrheit
böhmen lebte. In dieser Schrift fasste er seine Hauptgedanken machen kannst, dann will ich sagen, du seist von Gott zum
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polemische Literatur von altgläubiger Seite, in der Luther nach
Hus in die Ketzergeschichte eingeordnet wurde. 8
Hus in der Zürcher Reformation
Luther auf dem Reichstag zu Worms. Kolorierter Holzschnitt von 1557.
Papst gemacht. Das alles hat schon Johannes Hus getan, nicht
Luther, wie geschrieben steht: ein toter Gerechter verdammt die
lebenden Gottlosen.“ 5
In einer Predigt vom 21. November 1529 kam Luther auf die
Gefangenschaft von Jan Hus in Konstanz und auf seinen Feuertod zu sprechen, wie in einer Predigtnachschrift zu lesen ist.
Hus sei mit seiner Standhaftigkeit, mit der er sein Martyrium
auf sich genommen habe, ein Vorbild für die heutigen schwierigen Zeiten der Reformation geworden, in welcher der Glaube
lebensgefährlich sein könne. Man müsse gegen die Feinde des
wahren Glaubens Widerstand leisten. Ausdrücklich nannte
Luther den Papst, den Kaiser und die Türken und er führte zur
Ermunterung seiner Predigthörerinnen und -hörer aus, dass sie
standhalten könnten, wenn er selber den Feinden zum Opfer
fiele und sterben müsse. „So hat es Johannes Hus getan, als er in
Konstanz verbrannt wurde und über 10 000 Mann mit ihm hinausgingen. Die ganze Welt war gegen ihn, aber er hat geglaubt
und ist darauf verbrannt worden. Der war seiner Sache gewiss.“ 6
1536 gab Luther die Gefangenschaftsbriefe von Jan Hus heraus und versah sie mit einem Vorwort: „Vier Christliche briefe /
so Johann Hus der heylig marterer aus dem gefengknus zu Costenz [Konstanz] im Concilio an die Behem (Böhmen) geschriben
hat / verteutscht / samt einer vorrede D. Marth. Luthers / das
zukünfftig Concilium betreffent“. Kaiser Karl V. hatte ein Konzil ausgeschrieben, in dem die Sache der Reformation geordnet
werden sollte. Luther warnte im Vorwort vor diesen Plänen: Die
Evangelischen sollten sich hüten vor einem solchen Konzil; das
Konzils von Konstanz, in dem „die Wahrheit mit grosser Gewalt
und dann sehr lange bestritten und angefochten“ wurde, hat ein
schlechtes Vorbild abgegeben. Es soll nicht „des gleichen oder
ergers aus diesem Concilio folgen“. 7
In Büchern, Artikeln und Flugschriften der Reformationszeit, die der Propaganda der reformatorischen Ideen dienten
und oft eine große Auflage hatten, wurden das Wirken von
Hus, seine Hauptideen, seine Gefangenschaft und sein Märtyrertod häufig erwähnt. Daraus ist zu schließen, dass Hus und
sein Schicksal in der Bevölkerung weithin bekannt waren. So
erschien 1521 ein prohussitisches Pamphlet „Beclagung eines
Leyen genannt Hans Schwalb uber viel missbrauch christlichen
Lebens, und darin begriffen kurtzlich von Ioannes Hußen“ mit
einer scharfen Kritik an Rom und den kirchlichen Missständen
sowie einer Reihe von Verbesserungs- und Reformvorschlägen.
1524 wurde eine Schrift mit dem Titel „Artikel und Ursprung
der Waldenser und der Armen von Lyon auch Ioanis Wiclif und
Joannis Hus“ veröffentlicht. Der italienisches Humanist Poggio
Bracciolini schrieb über die Leidensgeschichte des Hus-Schülers
Hieronymus von Prag, der 1416 in Konstanz verbrannt wurde,
und bewunderte sein Martyrium. Auf der anderen Seite gab es
In der Reformationszeit lag Zürich in der Diözese Konstanz,
die sehr ausgedehnt war und Gebiete von Stuttgart bis zu den
Alpen, von Bern bis nach Kempten im Allgäu umfasste. Schon
aus geographischen und kirchenpolitischen Gründen gelangten
die Nachrichten von der Verbrennung des böhmischen Reformators rasch nach Zürich. Es ist überliefert, dass der Seckelmeister (Finanzreferent) Zürichs, Heinrich Röuchli, zu Beginn
der 1520er Jahre einmal spitz bemerkt habe, dass am Konzil
zu Konstanz „etlich tusend Pfaffen“ versammelt gewesen seien,
und ausgerechnet den frömmsten unter ihnen, Johannes Hus,
„hebent sy verbränt“.9
Nachdem Anfang der 1520er Jahre die Grundideen der
Reformation in die Innerschweiz gelangt waren und zu Auseinandersetzungen und Kämpfen geführt hatten, wandte sich
Zwingli 1522 mit der Schrift „Eine freundliche Bitte und Ermahnung an die Eidgenossen“ an seine Landleute und forderte die
freie Verkündigung des Evangeliums und auch die Priesterehe.
Zwingli verlangte, ähnlich wie es Hus schon getan hatte, man
müsse – gemäß der Verteidigungsrede des Apostel Petrus vor
dem Hohen Rat zu Jerusalem – Gott mehr gehorchen als den
Menschen (Apg 5,29). Zwingli wehrte sich gegen die Bezeichnung von Predigern des Evangeliums als Lutheraner, Hussiten
oder Ketzer, denn Hus und Luther hätten aus dem wahren
Brunnen des Evangeliums getrunken.10
An der ersten Zürcher Disputation vom 29. Januar 1523, zu
der der Zürcher Rat geladen hatte, stellten die Behörden fest,
dass in Zwinglis Predigt keine Ketzerei nachgewiesen werden
könne, und der Rat beschloss, dass Zwingli mit seiner allein auf
der Heiligen Schrift beruhenden Predigt fortfahren solle. An der
Disputation hatte der Generalvikar des Bischofs von Konstanz,
Johannes Faber, der schärfste Gegner der Zürcher Reformation,
eine kurze Übersicht über die Häresien in der Kirchengeschichte von den ersten Jahrhunderten bis in die jüngste Zeit gegeben,
und dabei auch die „Behem“ (Böhmen) und die „Bigkharder“
(Pikarden, ein anderer Name für die Hus-Anhänger in Böhmen) genannt und die Konzilsentscheide gegen sie verteidigt.
An diesen Entscheiden gebe es nichts mehr zu rütteln. Damit
gab sich Zwingli nicht zufrieden. Er verlangte klare Beweise aus
der Heiligen Schrift für das Vorgehen des Konstanzer Konzils
gegen den „gefangnen priester“. Der Generalvikar blieb diesen
Beweis schuldig.11
An der zweiten Zürcher Disputation, die Ende Oktober 1523
stattfand und in der es um die Abschaffung der römischen Messe
und die Einführung des evangelischen Abendmahls ging, führte Zwingli aus, dass die Christen verpflichtet seien, nach dem
Wort Gottes zu handeln, auch dann, wenn ein Konzil einmal
anders entschieden haben sollte. Überhaupt zweifelte Zwingli
den Wert der Konzile an. Er halte nichts von ihnen, oft werde
von ihnen wenig nach dem Wort Gottes gehandelt, wie das Konzil von Konstanz gezeigt habe: „Das Konzil von Konstanz hat
den frommen Hans Hus verbrannt und für einen Ketzer erklärt,
weil er gesagt habe, man solle den Laien das Sakrament nach
der Anweisung Gottes in beiderlei Gestalt geben, mit Wein und
Brot. Wenn Hus das gelehrt habe, dann habe er richtig gelehrt.
Ich rede und lehre dies auch. Und wenn er deswegen verbrannt
wurde, dann ist er ein beklagenswerter Märtyrer vor Gott und
ist unschuldig getötet worden.“ 12
Ähnlich argumentierte Zwingli in einem Schreiben an Valentin Compar, einem ehemaligen Landschreiber des Landes Uri.
Compar hatte eine Schrift gegen Zwingli verfasst und darin den
alten Glauben, die Bilderverehrung, die kirchliche Tradition
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und das Fegefeuer verteidigt; die Schrift ist nicht mehr erhalten.
Zwingli antwortete am 27. April 1525 mit seiner Schrift „Eine
Antwort, Valentin Compar gegeben“ sehr ausführlich. Er äußerte sich zuvorkommend über Wilhelm Tell und Nikolaus von
der Flüe, um seine Sympathien für die Innerschweiz kundzutun, verteidigte aber entschieden das evangelische Abendmahl
unter beiderlei Gestalten. Den Konzilsbeschluss gegen Hus wie
Konzile überhaupt lehnte er mit scharfen Worten ab. Die Verurteilung und Verbrennung des Hus bezeichnete er als einen sehr
groben Irrtum des Konzils.13
Heinrich Bullinger, der Nachfolger Zwinglis, beschäftigte
sich ebenfalls mit Hus. 1520 schrieb er eine Arbeit „Kundgebung der 24 Artikel des Johannes Hus“, die nicht mehr erhalten ist.14 In seinem Buch „Über den Ursprung des Irrglaubens“
zeigte Bullinger in einer ausführlichen Analyse, wie aus dem
urchristlichen Abendmahl die römische Messe entstanden sei,
und er kam auch auf die Frage des Laienkelchs zu sprechen:
Die römische Kirche des Mittelalters hatte festgesetzt, dass den
einfachen Gläubigen der Kelch vorenthalten werde, Hus und
seine Anhänger setzten sich für die Eucharistiefeier mit Brot
und Wein für alle Gläubigen ein und wurden vom Konstanzer
Konzil verurteilt. „So lesen wir auch, dass Johannes Hus und
Hieronymus von Prag, hervorragende und strenggläubige Männer, die zweifellos heilige Märtyrer Gottes sind, hauptsächlich
aus diesem Grund lebendig verbrannt worden sind. Und dabei
hatten sie sich doch zu nichts anderem als der alten und apostolischen Auffassung bekannt, dass man das Abendmahl unter
beiderlei Gestalt empfangen solle.“ Jesus Christus hat nach dem
Evangelium nach Matthäus ausdrücklich gesagt: „Trinket alle
daraus.“ Offenbar sah er voraus, „dass es in der Kirche solche
geben werde, die mit frevlerischer Dreistigkeit das wegnehmen
würden, was der Herr der Kirche übergeben und gewährt hatte.“
So könne nicht bezweifelt werden, dass die Verantwortlichen
des Konzils von Konstanz „an der Kirche Gottes untreu und
an Gott selbst zu Lästerern geworden sind.“15
In seinem Werk „Die Autorität der Heiligen Schrift“ von
1538 klagte Bullinger über die Gewaltherrschaft des Papstes
und hielt fest, er schreibe nicht gegen die Priester der römischen Kirche allgemein, sondern nur gegen die, die in Wirklichkeit „unverbesserliche und blutdürstige Schurken“ seien: „Wie
undankbar sie gegen Gott und gegen verdienstvolle Menschen
gewesen sind, beweist schon die Todesstrafe, die sie in unbarmherziger und treuloser Weise über Jan Hus und Hieronymus von
Prag verhängt haben.“ 16
Bewegung führte zu einer Kirchenspaltung, zu religiösen, politischen und sozialen Unruhen, zu langwierigen und blutigen
Kriegen. Das dritte Vorhaben des Konzils, eine umfassende
Kirchenreform, ist völlig missraten.
Dies gehört zu den tieferen Ursachen, die zur Reformation
im 16. Jahrhundert führten. Luther, Zwingli, Bullinger sowie
weitere Theologen und Kirchenführer beriefen sich an besonders sensiblen Schaltstellen ihrer Reformvorhaben auf Hus
und die Vorgänge am Konzil zu Konstanz. Dass Konzile irren
können, wurde an der Verbrennung von Hus aufgezeigt. Sein
Feuertod wurde als Martyrium in der Nachfolge Jesu Christi
hoch geschätzt und mit der Kreuzigung Jesu Christi in Parallele gesetzt. Die Kirchenkritik, die Hus in seiner Schrift über
die Kirche geäußert hatte, wurde weitergeführt, und auch der
von Hus mehrere Male zitierte Satz aus der Apostelgeschichte,
man solle Gott mehr gehorchen als den Menschen, spielte in
der Reformation eine wichtige Rolle. Eine der Hauptforderungen von Hus und seinen Anhängern, in der Kirche solle das
Abendmahl unter beiderlei Gestalten für alle Gläubigen gefeiert werden, nahmen die Reformatoren auf. Die Briefe, die Hus
in der Konstanzer Gefangenschaft geschrieben hatte, wurden
zur Stärkung der Gläubigen nachgedruckt. Luther identifizierte
sich geradezu mit Hus: „Wir sind alle Hussiten, ohne es zu
wissen.“
Anmerkungen
1) Luthers Werke in Auswahl. Achter Band, Tischreden, hg.
von Otto Clemen. Berlin 19623, S. 246.
2) Luther, Martin: Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe, künftig abgekürzt WA), Bd. 7. Weimar 1897,
S. 135; Skalweit, Stephan: Reich und Reformation. Berlin
1967, S. 126.
3) Martin Luther an Georg Spalatin, ca. 14. Februar 1520. In:
Luther, WA Briefwechsel, Bd. 2, S. 42.
4) Obermann, Heiko A.: Die Kirche im Zeitalter der Reformation. In: Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen, Bd. 3.
Neukirchen-Vluyn 1981, S. 64.
5) Mülhaupt, Erwin (Hg.): D Martin Luthers Evangelien-Auslegung. Zweiter Teil. Das Matthäus-Evangelium (Kap. 3–25).
Göttingen 19603, S. 537.
6) Ebd., S. 831.
7) Luther, WA 50, S. 23–25.
8) Hoyer, Siegfried: Jan Hus und der Hussitismus in den Flugschriften des ersten Jahrzehnts der Reformation. In: Köhler,
Hans-Joachim (Hg.): Flugschriften als Massenmedium der
Reformationszeit. Stuttgart 1980, S. 291–307.
Bilanz
Das Konzil von Konstanz, das 1414–1418 tagte, hatte sich drei 9) Zitiert nach Farner, Oskar: Huldrych Zwingli, Bd. 2. Seine
Entwicklung zum Reformator. Zürich 1946, S. 384.
Hauptaufgaben gestellt: die Überwindung der Kirchenspaltung
(es gab gleichzeitig drei Päpste, die miteinander rivalisierten), 10)Huldrych Zwingli: Eine freundliche Bitte und Ermahnung
an die Eidgenossen. In: Huldreich Zwinglis Sämtliche Werke,
die Beendigung der kirchlichen Unruhen in Böhmen und eine
hg. von Emil Egli et al. (künftig abgekürzt Z), Bd. 1. Berlin
Reform der Kirche an Haupt und Gliedern. Das erste Vorhaben
1905, S. 224.
ist gelungen. Die drei Päpste wurden abgesetzt und ein neuer,
Martin V., wurde gewählt. Allerdings konnte das Papsttum in 11)So im Verhandlungsprotokoll, Z 1, S. 508–512.
der Folgezeit nicht zu einer religiös überzeugenden Institution 12)Vgl. Z 2, S. 765.
umgestaltet werden. Im Gegenteil, seine Verweltlichung nahm 13)Vgl. Z 4, S. 73.
im Laufe des 15. Jahrhunderts noch mehr zu und bot weiteren 14)Heinrich Bullinger: Diarium (Annales vitae) der Jahre 1504–
1574, hg. von Emil Egli. Zürich 1985, S. 16.
kirchlichen Reformströmungen starke Argumente für die Forderung nach einer Neugestaltung der Kirche. Die zweite Aufga- 15)Heinrich Bullinger: Über den Ursprung des Irrglaubens,
2. Auflage 1539. In: Ders.: Schriften 1. Zürich 2004, S. 411 f.
be, die „Ketzerei“ in Böhmen zu beenden, versuchte das Konzil
mit List, Gewalt und Ketzerverbrennungen zu lösen. Dieses 16)Heinrich Bullinger: Schriften 2. Zürich 2006, S. 361.
Vorhaben ist völlig misslungen. Eigentlich hätten die Konzilsverantwortlichen wissen müssen, dass man mit Martyrien von
Erich Bryner, Dr. phil. habil., Schaffhausen; TituFührergestalten eine dissidente Bewegung nicht schwächt, sonlarprofessor für Kirchengeschichte Osteuropas an
der Theologischen Fakultät der Universität Zürich;
dern stärkt. Die Hussiten in Böhmen erhielten mit Hus und
1991 bis Januar 2005 Leiter des Instituts G2W.
Hieronymus von Prag ihre Nationalheiligen. Die hussitische
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Jan-Andrea Bernhard
Die Beziehungen zwischen den
Böhmischen Brüdern und Zürich
Die Böhmischen Brüder setzten sich den 1520er Jahren intensiv mit den Schriften der Reformatoren
auseinander. Neben den Kontakten nach Wittenberg war auch die Zürcher Reformation in Böhmen
und Mähren bestens bekannt. Die Schriften Zwinglis und Bullingers waren weithin verbreitet. Die
Confessio Bohemica war der Versuch eines vermittelnden Bekenntnisses im Sinne eines Vergleichs
zwischen Lutheranern, Reformierten und Böhmischen Brüdern. – S. K.
In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts ist aus radikal-hussitischen Kreisen, den sog. Neuutraquisten, zu denen sich auch
Waldenser und Taboriten gesellten, die Brüderunität („unitas
fratrum“) entstanden. Sie zeichnete sich unter anderem durch
starke Bibeltreue, apostolische Lehrweise, kompromisslose
Nachfolge Jesu, Kirchenzucht und politische Abstinenz aus.
Als im 16. Jahrhundert in ganz Europa Reformbewegungen in
der Kirche einsetzten und reformatorische Schriften sich ausbreiteten, stellte sich für die Brüderunität die Frage nach dem
Anschluss an die Reformation. Spätestens seit den 1520er Jahren fand eine intensive Auseinandersetzung mit den Schriften
Luthers und anderer Reformatoren statt, mit der Absicht, lehrmäßig in eine Beziehung zu den reformatorischen Kirchen treten
zu können und damit in Böhmen Anerkennung zu erlangen oder
zumindest geduldet zu werden.
Die Übersetzung reformatorischer Schriften ins Böhmische
ist eine Folge dieser Absicht und sollte einen Anschluss an die
Zentren der Reformation ermöglichen. Dies war mit ein Grund,
dass die erste bekenntnismäßige Äußerung der Böhmischen
Brüder, Vydání počátku z viry (1532), noch im gleichen Jahr in
Zürich unter dem Titel Rechenschafft des Glaubens, der Dienst
unnd Cerimonien der Brüder in Behmen und Mehrern erschien.
Kontakte der Böhmischen Brüder nach Zürich
Mit dem Tode des Lukas von Prag (Lukáš Pražský, † 1528), der
seit seinem Amtsantritt als Bischof der Böhmischen Brüder maßgebende Reformen (z. B. in Liturgie) umgesetzt, einen Katechismus (Otázky dětinské, ca. 1501) verfasst und auch die Bibel übersetzt hatte, entstand ein Vakuum, weil die Nachfolger – es gab
deren vier Bischöfe (seniores) – sich vorerst nicht einig waren, ob
und welcher Reformation sie sich anschließen sollten. Johannes
Horn (Jan Roh, † 1547), der zweimal in Wittenberg bei Luther
war, wurde zum Nachfolger in Jungbunzlau (Mladá Boleslav,
Tschechien) gewählt. Er plädierte für den Anschluss an die lutherische Reformation, während Michael Weiße († 1534), seit 1532
im engeren Rat der Brüderkirche, erklärter Zwinglianer war. Als
Weiße die Rechenschaft der Brüder ins Deutsche übersetzte und
in Zürich (1532) drucken ließ, verlangte der Teil der Brüder, die
zu den Anhängern Luthers gehörten, eine neue Übersetzung;
diese erschien schließlich mit einem Vorwort Martin Luthers
1533 in Wittenberg. Luther schrieb auch zur Confessio Bohemica (1535), verfasst von Johann Horn und Jan Augusta, das
Vorwort, obwohl die darin vertretene Rechtfertigungslehre nicht
rein lutherisch war.
Die Zürcher Reformation war in Böhmen und Mähren bestens bekannt. Dies vor allem aus zwei Gründen: Einerseits fanden aus Zürich ausgewiesene Täufer wegen der in Mähren „toleranten“ Religionspolitik Exil. So ließ sich Balthasar Hubmaier in
Titelblatt der ersten bekenntnismäßigen Äußerung der Böhmischen Brüder:
„Rechenschafft des Glaubens, der Dienst unnd Cerimonien der Brüder in
Behmen und Mehrern“.
Nikolsburg (Mikulov, Tschechien) nieder, und Wilhelm Reublin
in Znaim (Znojmo, Tschechien); beide, vor allem aber Hubmaier,
standen ursprünglich der Zürcherischen Richtung der Reformation nahe. Andererseits aber, und dies war wohl weit bedeutender,
wurden seit den 1520er Jahren Schriften Zwinglis in Böhmen und
Mähren verbreitet. In diesem Zusammenhang ist beispielsweise
an Zwinglis Traktat über das Abendmahl, an den Reutlinger Prediger Matthäus Alber oder an Zwinglis Schlussreden zu denken.
Gerade Zwinglis Traktat über das Abendmahl bewog die beiden
Brüder Jan Cížek und Jan Mnich die offizielle Lehrweise der
Brüderunität über die Messe anzugreifen. Es folgte eine jahrelange literarische Fehde innerhalb der Brüderunität.
Eine Folge dieser Fehden war die Spaltung der Brüderunität
in verschiedene „Richtungen“, und es kam zu Neugründungen. Noch vor dem Tode von Lukas von Prag sammelte Jan
Dubčanský († 1543), der stark vom erasmischen Humanismus
geprägt war, in Habrovany bei Brünn (Brno) einen Kreis reformatorisch Gesinnter, um Schriften Zwinglis, Oekolampads
und Bucers zu lesen. Schließlich wurde 1528 eine eigene Unität
gegründet, die sich nicht nur auf die genannten Reformatoren
berief, sondern sich auch klar von den in Mähren angesiedelten
Antitrinitariern und Täufern distanzierte. Zwecks Verbreitung
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Heinrich Bullinger (Porträt von Hans Asper, 1550) pflegte Kontakte zu den
Böhmischen Brüdern in Tschechien.
der eigener Schriften wurde in Lultsch (Luleč, Tschechien) auch
eine eigene Druckerei gegründet, die 1527–1536 in Betrieb war.
Die Nachfrage nach Schriften der Zürcher Reformation war
auch in den 1530er Jahren anhaltend. Dies illustriert insbesondere der Briefwechsel zwischen Oswald Pergener aus Zittau (Žitava,
Deutschland) und Heinrich Bullinger. Im Jahre 1533 wandte sich
Pergener an Bullinger und teilte ihm seine Trauer über den Tod
Zwinglis mit, durch dessen Schriften er so oft getröstet worden
sei. Zudem machte er darauf aufmerksam, dass er in Prag beim
politischen Haupt der Brüder, Baron Konrad von Krajek, auf
Bullingerschriften, unter anderem auf Bullingers De prophetae
officio (1532), gestoßen sei. Auch würden sich nicht nur in Zittau,
sondern auch in Böhmen zahlreiche Freunde Bullingers finden;
seine Schriften wie auch die von Zwingli und Oekolampad seien
beliebt.1
Zwischen Pergener und Bullinger entwickelte sich ein regelmäßiger Briefwechsel. Aus der Korrespondenz wird deutlich, dass
Pergener zahlreiche Schriften Bullingers kannte und las, darunter Bullingers Bibelkommentare oder die Schrift De Testamento
seu foedere (1534). Durch den häufigen Aufenthalt in Prag macht
Pergener mehrere Brüder mit Bullinger (und seinen Schriften)
bekannt, die ihn oft grüßen ließen. Pergener nahm eine „Vermittlungsfunktion“ zwischen Bullinger und den Brüdern ein. Unter
anderem zeigte Pergener den Brüder Bullingers Kommentar zum
Abendmahl im Hebräerbrief, die darüber hocherfreut waren. 2
Diese engagierten Kontakte waren ein wesentlicher Grund,
dass einige Jahre nach dem Druck von Bullingers Utriusque in
Christo naturae […] assertio orthodoxa (1534) zur Bekämpfung
der sich in Mähren ausbreitenden antitrinitarisch-anabaptistischen Bewegung eine mährische Übersetzung von Bullingers
Schrift erschien; leider konnte die Forschung bislang aber nicht
schlüssig nachweisen, ob dieselbe noch in der Habrovaner-Druckerei in Lultsch oder in der Oliveti-Druckerei in Olmütz (Olomouc), dem historischen Zentrum Mährens, erschien.
es nicht, dass Leonhard Soerin Bullinger darüber in Kenntnis
setzte, dass er auf Wunsch der Böhmischen Brüder in Mähren
eine Schrift Bullingers, nämlich die Orthodoxa Tigurinae ecclesiae confessio (1545), zurückgelassen habe. 4 Dies illustriert, dass
die Böhmischen Brüder, obwohl sie sich in ihrer Gesamtheit
nicht der Zürcher Reformation anschlossen, eine vermittelnde
Haltung einnahmen. Gerade die Confessio Bohemica von 1535
bot ja die besten Voraussetzungen dazu. Orientierte sie sich im
Aufbau an der Ausgabe der Confessio Augustana von 1533, so
in der Anordnung der Loci an den helvetischen Kirchen, setzte also mit der Schriftlehre ein. Seit den 1530er Jahren wurden
zudem Schriften verschiedener Reformatoren ins Böhmische
übersetzt und in Böhmen bzw. Mähren herausgegeben, unter
anderem Schriften von Luther, Calvin, Bucer oder Melanchthon.
Der Nürnberger Buchdrucker Christoph Gutknecht besorgte
schließlich bis in die 60er Jahre des 16. Jahrhunderts böhmische
Drucke, unter anderem auch von Schriften Calvins.
Natürlich hatte Bullinger großes Interesse daran, die Kontakte zu den Böhmischen Brüdern zu festigen. In seinem Diarium und in der Korrespondenz finden sich regelmäßig Hinweise
darauf, dass er von Brüdern aufgesucht wurde, und Kaufleute
oder Gelehrte nach Niederungarn (Slowakei), Mähren und Böhmen zogen. So gelangten weiterhin viele Schriften der Zürcher
Reformation nach Böhmen. Noch 1562 meldete Pavel Bramburg
aus Krumau (Český Krumlov, Tschechien) an Bullinger, dass die
Schriften der Zürcher Theologen in Böhmen auf großes Interesse
stoßen würden. 5
Dennoch haben die Böhmischen Brüder die Confessio Helvetica posterior (1566), deren 450-jähriges Bestehen 2016 gefeiert
wird, nicht rezipiert – anders als die benachbarten reformatorischen Kirchen Siebenbürgens und des Partium. Die Böhmischen
Brüder sind sich treu geblieben und haben ihre Eigenständigkeit
bewahren wollen und können. Die abschließende Formulierung
der Confessio Bohemica (1575) ist denn auch der Versuch eines
vermittelnden Bekenntnisses im Sinne eines Vergleichs zwischen Lutheranern, Reformierten und Böhmischen Brüdern.
Als „ökumenischer Patriarch“ trug Bullinger deswegen keinen
Groll. Bereits kurz nachdem die Confessio Bohemica an Kaiser Maximilian II. überreicht worden war, und noch vor seinem
Tode hat sich Bullinger brieflich an Andrej Stefan in Eibenschütz
(Ivančice, Tschechien) bei Brünn gewandt. In aller Herzlichkeit
schloss er den Brief mit den Worten: „Dominus benedicat tibi et
servet te una cum omnibus aliis tuis et nostris fratribus ab omni
malo.“ 6 („Der Herr segne dich und behüte dich zusammen mit
allen anderen deinen und unseren Brüdern vor jedem Leid.“)
Anmerkungen
1) Vgl. 13. Oktober 1533. In: Bullinger, Heinrich: Briefwechsel,
hg. von Ulrich Gäbler et al., 17 Bde., Zürich 1973– 2015, hier
Bd. 3 (=HBBW 3).
2) Vgl. 20. Februar 1537. In: HBBW 7.
3) Vgl. 23. August 1542. In: HBBW 12.
4) Vgl. 5. August 1546. In: HBBW 17.
5) Vgl. 15. November 1562. In: Hrubý, František: Česke
svĕdectví o Jednotĕ bratrské do Švýcar z roku 1570. In: K
dĕjinam československým v období humanismu, hg. von
Friedrich Jenšovský et al. Prag 1932, S. 297 f.
6) 23. Mai 1575. In: Quellen zur Geschichte der Böhmischen
Brüder vornehmlich ihren Zusammenhang mit Deutschland
betreffen, hg. von Anton Gindely. Wien 1859, S. 419.
Vermittelnde Haltung der Böhmischen Brüder
Das Interesse für die Schriften Bullingers hielt auch in den 1540er
Jahren an. In diesen Jahren der ständigen Türkengefahr meldete Pergener an Bullinger, dass in Böhmen die Gläubigen durch
die Kommentare Bullingers gestärkt worden seien. 3 So erstaunt
Jan-Andrea Bernhard, PD Dr. theol., evangelischreformierter Pfarrer in Castrisch und Riein, Lehrbeauftragter an der theologischen und philosophischen Fakultät der Universität Zürich.
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Jaroslav Šebek
Transformationen der tschechischen
Erinnerungskultur an Jan Hus
Mit dem Aufkommen der tschechischen Nationalbewegung im 19. Jahrhundert wurde Jan Hus
vor allem als Vorkämpfer eines unabhängigen tschechischen Staates gedacht. Auch für die in
der Zwischenkriegszeit neu entstandene Evangelische Kirche der Böhmischen Brüder und der
Tschechoslowakischen Kirche spielte die Berufung auf Hus eine zentrale Rolle. Das sozialistische
Regime porträtierte die Hussiten dagegen als Klassenkämpfer. In den letzten Jahrzehnten gibt es
jedoch Bemühungen um eine objektivere Wahrnehmung von Jan Hus. – S. K.
Unter den nationalpatriotischen Traditionen Tschechiens nimmt
der Kult um den böhmischen Reformator Jan Hus zweifellos
eine zentrale Stellung ein. Zu einem intensivierten Interesse an
der Person Jan Hus kam es freilich erst im Zusammenhang mit
der nationalen „Wiedergeburt“ in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, deren Charakteristika ein kritisches Verhältnis zur
katholischen Kirche sowie der Wunsch nach bürgerlichen und
liberalen Werten waren. Die Erinnerung an Bedeutung und
Wirken von Jan Hus stellte eines der wichtigsten Elemente bei
der Konstituierung der modernen tschechischen nationalen
Identität dar. Vor allem seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die Hus-Verehrung zu einer zentralen Säule der
tschechischen historischen Tradition. Dabei gilt jedoch für die
Rezeption des böhmischen Reformators das gleiche, was auch
für andere vermeintliche Volkstraditionen gilt – ein großes Maß
an politischer Manipulation und „Geschichtspolitik“.
Jan Hus als Vorkämpfer der tschechischen Nation
In liberalen Kreisen dieser Zeit wurde Jan Hus anfänglich als
ein Märtyrer der Gewissensfreiheit verstanden und als Ikone
einer rationalistischen Aufklärung porträtiert. Vor allem in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts trat jedoch die Frage nach
Hus im Rahmen des tschechischen Nationaldiskurses in den
Vordergrund. Zur massiven Entwicklung der Hus-Verehrung
trug insbesondere der Historiker František Palacký bei, der aus
einer evangelisch-lutherischen Familie stammte. In seiner mehrbändigen Bearbeitung der böhmischen Geschichte, die ab 1848
auch in tschechischer Sprache unter dem Titel Dějiny národu
českého v Čechách a na Moravě („Geschichte des böhmischen
Volkes in Böhmen und Mähren“) erschien, stilisierte er das Hussitentum zum Höhepunkt der tschechischen Nationalgeschichte.
Palackýs Interpretation der nationalen Vergangenheit fand in der
tschechischen Gesellschaft großen Widerhall. Ihr Einfluss auf
das Bild von Hus und die Hussiten blieb auf wissenschaftlicher
Ebene bis in das erste Drittel des 20. Jahrhunderts wirksam; auf
der Ebene der Populärkultur sogar noch wesentlich länger. Im
Zuge der Revolution von 1848/49 verschmolzen Leben und Wirken von Jan Hus und das Hussitentum dann zu einer wesentlich
mit dem tschechischen Kampf um nationale Selbstbestimmung
verbundenen Tradition. Palacký selbst verstand allerdings die
religiösen Motive im Handeln von Hus sehr gut, weshalb ihm
eine rein nationale Interpretation des Hussitentums fremd war.
So war er eher bestrebt, dessen Ideen in einen gesamteuropäischen Konfliktkontext zwischen Katholizismus und Protestantismus einzuordnen.
Nach der Niederlage der liberalen Revolution trat die betonte
Hervorhebung des Hussitentums für eine kurze Zeit wieder in
Hintergrund, was mit einer Stärkung der privilegierten gesellschaftlichen Rolle der katholischen Kirche zusammenhing, die
1855 ein Konkordat mit dem Vatikan abschließen und ihren Einfluss auf das Schulwesen ausbauen konnte. Dies änderte sich
jedoch nach dem verlorenen preußisch-österreichischen Krieg
von 1866 und dem anschließenden österreichisch-ungarischen
Ausgleich (1867), der das Ende der böhmischen Hoffnungen auf
eine Föderalisierung der Habsburgermonarchie bedeutete. Bei
den Bemühungen, das böhmische Staatsrecht zu verteidigen,
wurden breite Schichten der Stadt- und Landbevölkerung in
die öffentliche Debatte einbezogen. Als ein besonders geeigneter
Mobilisierungsfaktor erwies sich dabei die Gestalt des Magisters
Jan Hus.
Das Gedenken an Jan Hus und an diese Periode der Volksgeschichte wurde zu einem wesentlichen Bestandteil vieler gesamtnationaler Erinnerungsfeste. In dieser Zeit begannen auch die
regelmäßigen Wallfahrten böhmischer Politiker nach Konstanz,
an den Ort, wo Hus hingerichtet worden war. 1868 wurden
auf Initiative der Arbeitervereine an bedeutenden, mit der böhmischen Geschichte verbundenen Orten Volksversammlungen
organisiert, die zur definitiven Formung der Hussitentradition
als Tragachse der gesamten böhmischen Geschichte sowie zur
Auffassung des böhmischen Volkes als Nachfolger, Erbfolger
und Fortsetzer der „Krieger Gottes“ beigetrugen. An diesen
Volksversammlungen wurde das Hussitentum als Kampf für
soziale und demokratische Werte ausgelegt. Im Jahr 1869 fanden anlässlich des vermuteten 500. Jahrestages der Geburt des
Reformators die ersten großen Feiern in seinem südböhmischen
Geburtsort Husinec statt. Dies beeinflusste auch das tschechische politische Leben. Die 1874 gegründete Nationalfreisinnige
Partei der sog. Jungtschechen entwickelte ihre Politikentwürfe
in engem Zusammenhang mit dem Kult um Jan Hus, der von
den Protagonisten der Partei maßgeblich befördert wurde. Ihre
höchsten Stimmenanteile erzielte die Partei in den Gebieten, die
zugleich Hochburgen des Hus-Kultes waren: Prag, die Elbegebiete, Nordost- und Westböhmen.
Die Entwicklung eines Hus-Kultes fand jedoch nicht nur in
politischen Aktivitäten ihren Ausdruck, sondern auch in Form
einer breiteren intellektuellen und kulturellen Rezeption sowie
eines gesteigerten Interesse der tschechischen Geschichtswissenschaft an der hussitischen Zeit. Ähnliches gilt für die bildende Kunst. In der Belletristik wurde das Verständnis von Hus
und des Hussitentums vor allem durch die historischen Romane
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bedeutenden Traditionsbestandteil des Befreiungskampfes für
einen eigenständigen Staat, zu dem sich vor allem die Protagonisten des ausländischen Widerstandes bekannten, u. a. Tomáš
G. Masaryk, der 1918 erster tschechoslowakischer Staatspräsident wurde.
Gedenken an Jan Hus in der Ersten Republik
Der Historiker
František Palacký
trug viel zur Popularisierung der
Hus-Verehrung im
19. Jahrhundert
bei; Büste von Josef
Václav Myslbek.
Foto: Wikimedia
Commons
des Schriftstellers Alois Jirásek in breiten Bevölkerungsschichten populär. In diesen Romanen und Dramen wurde Hus freilich nicht mehr mit konkreten reformatorischen Forderungen,
sondern mit nationalen und gesellschaftlichen Projekten in Verbindung gebracht.
Zur Verbreitung der Hus-Gedenkveranstaltungen trugen
auch die immer stärkeren nationalen Konflikte zwischen tschechischer und deutscher Bevölkerung in den böhmischen Ländern an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert bei. Wie sehr
Hus im Zentrum des nationalen Interesses der Tschechen stand,
zeigte sich unter anderem in der Debatte über die Errichtung
eines Hus-Denkmals in Prag Ende des 19. Jahrhunderts. Den
Beginn dieser Debatte stellte eine Erklärung des Abgeordneten Fürst Karl IV. von Schwarzenberg während Beratungen
des böhmischen Landtags dar: Im Rahmen einer Diskussion
über die Aufstellung einer Gedenktafel mit Hussens Namen
am neuen Gebäude des Landesmuseums (des heutigen Nationalmuseums) in Prag bezeichnete der Fürst die Hussiten als eine
Bande von Räubern und Brandstiftern. Als Reaktion darauf forderten tschechische Kreise die Errichtung eines Hus-Denkmals.
Die Entstehungsgeschichte dieses Erinnerungsortes war jedoch
starken Turbulenzen unterworfen, da der Standort des Denkmals alsbald zum Gegenstand scharfer Auseinandersetzungen
innerhalb der tschechischen Gesellschaft wurde: Während das
nationalliberale Lager Hus als symbolischen Höhepunkt der
tschechischen Geschichte präsentierte, der an die Größe und
den Ruhm der Nation erinnere, verwies der konservative und
insbesondere der katholische Teil des Meinungsspektrums in der
Debatte auf die Folgen der hussitischen Kriege, die zu nationalem Niedergang, gesellschaftlichem Chaos und Zerfall geführten hätten. Nach langwierigen Diskussionen wurde 1903 auf
dem Prager Altstädter Ring – neben der barocken Mariensäule,
die die katholische Tradition verkörperte – der Grundstein für
das Denkmal gelegt. Dieser Akt sollte die Symbiose beider religiösen Traditionsstränge symbolisieren und den ehrwürdigen
Platz Hussens im tschechischen Nationalbewusstsein verdeutlichen. Die Gruppendarstellung des gewaltigen Bronzeblocks
im Stil von Rodin zeigte Hus freilich nicht als konfessionellen Apostel, sondern als Protomärtyrer für die Wahrheit. Das
Denkmal wurde schließlich 1915 anlässlich des 500. Jahrestages
der Verbrennung von Jan Hus eingeweiht. Aufgrund des Ersten
Weltkrieges gab es aber keine würdevollen Feiern und zudem
hatte die österreichische Regierung jegliche öffentliche Manifestationen verboten. Umso intensiver bekannte sich allerdings das
tschechische, antiösterreichische Exil zu Hus: Die Erinnerung
an die Hussiten wurde während des Ersten Weltkriegs zu einem
Die Hus-Traditionen wurden während des Ersten Weltkrieges
zu einem wesentlichen Bestandteil des als Befreiungskampf
empfundenen Einsatzes für die Schaffung eines selbstständigen Staates. Daher kam den Hus- und Reformationstraditionen
auch eine entscheidende Rolle bei der Formierung der offiziellen
Staatsideologie nach der Entstehung des selbständigen tschechoslowakischen Staates im Oktober 1918 zu. Die Gründung
der Tschechoslowakei brachte neue Auffassungen der Hussitentradition sowie eine neue Symbolik und gleichzeitig auch
neue Konflikte mit sich. Die Erste Republik bekannte sich offen
zur Hussitentradition als einem Höhepunkt der böhmischen
Volksgeschichte. Die Erinnerung an Hus bot eine ideelle Projektionsfläche für die Formulierung nationaler Vorstellungen,
Interessen und Hoffnungen.
Auf der Basis der Verehrung von Hus kam es auch zur Vereinigung der beiden protestantischen Konfessionen – Lutheraner
und Reformierte: Im Dezember 1918 entstand die Evangelische
Kirche der Böhmischen Brüder (EKKB), deren Glaubenslehre
die Hus-Lehre als untrennbaren Bestandteil enthält. Die Ideen
von Jan Hus zur Kirchenreform wurden auch zu einer ersten
ideologischen Plattform, auf der sich seit dem Jahre 1920 die
nationale Tschechoslowakische Kirche im Umkreis des katholischen Reform-Klerus etablierte. Die neue Kirche, die in wenigen
Jahren etwa 800 000 Mitglieder gewann, nationalisierte durchwegs ihre Ausdrucksformen: Sie übersetzte die Liturgie ins
Tschechische, verwendete Texte der Nationalliteratur, vor allem
von Hus, in ihrer Liturgie und orientierte sich bei der Erfindung
eigener Riten, z. B. bei der Bischofswahl, an den einheimischen
reformatorischen Traditionen.
Auf Beschluss des tschechoslowakischen Parlaments, das im
März 1925 ein neues Feiertagsgesetz verabschiedete, wurde der
Todestag von Jan Hus, der 6. Juli, zum nationalen Gedenktag
erklärt. In der sozialistischen Presse sprach man zur gleichen
Zeit von Hus als einem mit dem „Kampf der tschechischen
Demokratie des 15. Jahrhunderts gegen Rom“ und damit gegen
den Katholizismus verbundenen Symbol. Im Juli 1925, als
des 510. Jahrestages des Feuertodes von Hus gedacht wurde,
erreichte die Konfrontation zwischen katholisch-konservativen und protestantisch-liberalen Traditionsdeutungen ihren
Höhepunkt: Präsident Tomáš G. Masaryk hatte die Schirmherrschaft für die Feierlichkeiten übernommen. Das päpstliche
Staatssekretariat fasste dies als Entwürdigung der katholischen
Kirche und als Provokation auf, die die Gemüter der Katholiken beleidige. Nuntius Francesco Marmaggi reiste daher aus
Protest am Abend des 6. Juli von Prag nach Rom ab. So führten
die Feiern zum bisher größten Konflikt in den tschechoslowakisch-vatikanischen Beziehungen. Die Auseinandersetzung
zwischen dem Vatikan und der Tschechoslowakei konnte erst
mit der Einigung auf einen Modus Vivendi im Jahr 1928 beigelegt werden.
Nach der nazistischen Okkupation der Tschechoslowakei
und der Errichtung des Protektorats Böhmen und Mähren
im März 1939 fand die Hussitentradition ihren stärksten Ausdruck auf patriotischer Ebene. Der Verweis auf Jan Hus und
die Hussiten war eine der ideellen Stützen für die These von der
Unzerbrechlichkeit des böhmischen Volkes. Der kommunistische Auslandwiderstand in Moskau berief sich auf die Hussitentradition als Aufforderung zum Widerstand.
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Licht zu rücken. Dennoch sind aus früheren Zeiten
bestimmte Bilder haften geblieben: auf der einen Seite
Hus als der häretische Spalter, der Nationalist, der
Kämpfer für soziale Gerechtigkeit und Vorläufer der
links orientierten und kommunistischen Bewegungen;
auf der anderen Seite Hus als intellektueller Wahrheitssucher, der im Kampf gegen die Verweltlichung und
sittliche Verwahrlosung der Kirche aus der Tiefe des
Evangeliums schöpft. Zwischen diesen Polen schwankt
das Hus-Bild fast bis heute.
Es ist jedoch interessant, dass bei der Suche nach
einer neuen Wahrnehmung von Jan Hus die katholische
Kirche, und sogar deren höchste Leitung, Bedeutendes beigetragen hat. Diese Tatsache illustriert am treffendsten die Aufforderung von Papst Johannes Paul II.
zur Umwertung der Hus-Position in der böhmischen
Geschichte, die er während seines ersten Besuches in
der Tschechoslowakei im April 1990 aussprach. Im
Herbst 1993 fand in Bayreuth das erste große SymDas monumentale Hus-Denkmal auf dem Prager Altstädter Ring wurde 1915 anlässlich
des 500. Todestages von Jan Hus eingeweiht.
Foto: Petr Vilgus/ Wikimedia Commons
posium statt, das die bisherigen Forschungsergebnisse
zusammenfasste und die Breite der gesamten Problematik in den Blick nahm. Im Dezember 1999 kam die bis heute
Jan Hus als Vorbild im Klassenkampf
Am offenkundigsten ist die Erinnerung an Jan Hus und die Hus- bedeutendste Konferenz über Jan Hus zustande: An dem viertäsiten mit Beginn des kommunistischen Regimes in der Tschecho- gigen Symposium an der Päpstlichen Lateranuniversität in Rom
slowakei 1948 instrumentalisiert worden. Die kommunistischen waren rund 100 Wissenschaftler aus sieben Ländern beteiligt.
Machthaber bemühten sich, der Hus-Geschichte einen neuen Am 17. Dezember wurden die Konferenzdelegierten, unter ihnen
Inhalt zu geben, der vor allem den aktuellen ideologischen und auch Staatspräsident Václav Havel, von Papst Johannes Paul II.
propagandistischen Bedürfnissen dienen sollte. In dieser Zeit empfangen. In seiner Ansprache erklangen aus historischer Sicht
wurde Jan Hus – vereinfacht gesagt – vor allem als Schöpfer eines ausschlaggebende Worte: „Heute […] fühle ich mich verpflichtet,
ideologisierten sozialen Programms der Hussitenkämpfer gegen mein tiefes Bedauern auszusprechen für den grausamen Tod von
die ausbeutenden, herrschenden Klassen und den deutschen Feind Jan Hus und für die daraus folgende Wunde, eine Quelle von
wahrgenommen. Zu dieser Rezeption trug auch die offizielle His- Konflikten und Spaltungen, die dadurch in den Geist und die
toriographie insbesondere der 1950er Jahre bei, die das Hussiten- Herzen des tschechischen Volkes gerissen wurde.“
Die Suche nach einer gemeinschaftlichen Wahrnehmung, was
tum mit marxistischen Begriffen interpretierte. Das kommunistische Regime rechnete zwar Jan Hus durchaus zu den progressiven die Bedeutung der Person des Magisters Jan Hus anbelangt, hat
und damit verehrenswerten Gestalten der böhmischen Geschich- zur Annäherung quer durch die tschechischen Konfessionen
te, doch wurde dabei weniger die Persönlichkeit des Magisters beigetragen und auch eine koordinierte Vorbereitung seines
hervorgehoben, vielmehr musste sich Hus seine Popularität mit 600. Todestages im Jahr 2015 ermöglicht.
In den 1990er Jahren ist die Popularität von Jan Hus als einer
anderen Protagonisten des Hussitismus teilen, beispielsweise mit
Jan Želivský, der zum radikalsozialen Segment der hussitischen böhmischen Identifikationsgestalt jedoch auch etwas zurückgeRevolution gehörte. Die kommunistische Propaganda akzentu- gangen. Die Verdammung der kommunistischen Vergangenheit
ierte außerdem besonders die Kriege der hussitischen Bewegung. nach der Niederlage der autoritären Staatsmacht 1989 hat nämSeit den 1960er Jahren trat die Ideologisierung von Jan Hus lich auch zu einem Abflauen der mit ihr verknüpften Traditionen
jedoch langsam zu Gunsten einer realistischeren Anschauung geführt. Die übermäßige Hervorhebung der sozialen Dimension
seiner Person zurück, woran die Historiker František Šmahel, der Hus-Botschaft hat so die Annahme dieser Geschichte nach
Jaroslav Mezník, Petr Čornej oder Jiří Kejř im Rahmen quellen- 1989, als sich auch die Wahrnehmung vieler anderer Traditionen
gestützter Interpretationen ihren Anteil hatten. Auch der Prager veränderte, etwas erschwert. Das wichtigste Merkmal der postErzbischof Josef Beran nahm nach seiner Reise ins römische Exil kommunistischen liberalen Demokratie ist die Hervorhebung
1965 im Rahmen der Debatten zum Thema Regionsfreiheit auf des Individualismus sowie die Gestaltung von zeitlich begrenzdem Zweiten Vatikanischen Konzil auf Jan Hus Bezug. Bedeu- ten utilitaristischen Bindungen. Eine Gesellschaft lässt sich aber
tende Exiltheologen – auf katholischer Seite etwa Thomas Špidlík, nicht nur über kurzfristige Interessen und Perspektiven, die oft
auf protestantischer Seite beispielsweise Johann Milíč Lochman – ökonomischer Natur sind, definieren. Wenn demgegenüber die
riefen in den 1980er Jahren zum Einbezug der Hus-Thematik in großen geistlichen und volkstümlichen Traditionen in ErinneGlaubens- und moralische Fragen sowie zur Befreiung seiner rung gebracht werden, können sie eine Gelegenheit zur GestalGestalt von zweckgerichteten Interpretationen auf. Auch der tung der notwendigen Ecksteine einer Gesellschaft sein.
Pole Stefan Swieżawski, der an der Katholischen Universität in
Lublin wirkte, leistete bedeutende Beiträge in dieser Debatte.
Jaroslav Šebek, doc. Magr., PhD., Historisches
Institut der Tschechischen Akademie der Wissenschaften. Forschungsschwerpunkte: PolitiNeue Wahrnehmung von Jan Hus
sche, Sozial- und Ideengeschichte der TschechoNach dem Fall des Kommunismus begann eine neue Phase, die
slowakei im 20. Jahrhundert, Kirchengeschichte
sich um eine Objektivierung der Rolle von Jan Hus als Kirchenin den böhmischen Ländern und in Mitteleuroreformator bemühte. Trotz mancher Verfälschung und Entfrempa im 19. und 20. Jahrhundert sowie Analysen
dung, die es in der Vergangenheit bei der Sichtweise auf seine Perzu aktuellen Entwicklungen von Kirchen und
son gegeben hatte, gelang es gegen Ende des 20. Jahrhunderts, den
Religionsgemeinschaften.
einstigen Gelehrten und Kirchenreformator in ein realistischeres
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Gerhard Frey-Reininghaus
Gedenken der evangelischen Kirchen
im heutigen Tschechien an Jan Hus
Die Evangelische Kirche der Böhmischen Brüder und die Tschechoslowakische Hussitische Kirche
gestalten gemeinsam das Hus-Gedenkjahr in Tschechien. Höhepunkt des Gedenkjahres sind die
Feierlichkeiten am Todestag von Jan Hus (5./6. Juli) auf dem Prager Altstädter Ring. Das Hus-Jahr
stellt auch eine ökumenische Herausforderung dar, gilt es doch die Frage zu beantworten, wie das
Gedenken an Jan Hus die Kirchen einen und nicht entzweien kann. – S. K.
Am 2. Advent 2014 wurde in der altehrwürdigen Kirche St. Martin
in der Mauer in der Prager Altstadt das Jan-Hus-Jahr eröffnet. Zu
diesem liturgischen Beginn des Jan-Hus-Jahres hatten die Evangelische Kirche der Böhmischen Brüder (EKBB) und die Tschechoslowakische Hussitische Kirche (THK) eingeladen. Gekommen waren Repräsentanten der verschiedensten Kirchen in der
Tschechischen Republik wie auch Vertreter der Karlsuniversität
und der Prager Selbstverwaltung. Geleitet wurde die Feier von den
Repräsentanten der beiden einladenden Kirchen, Synodalsenior
Joel Ruml und Patriarch Tomáš Butta. Dass das Jan-Hus-Jahr für
alle Kirchen in der Tschechischen Republik von Bedeutung ist,
machte der Vorsitzende des Rates der Kirchen in der Tschechischen
Republik, Daniel Fajfr, deutlich.
Veranstaltungen und Publikationen
Ein Jahr zuvor, im Advent 2013, hatten die THK und die EKBB in
einer Vereinbarung feierlich ihre Absicht erklärt, das Hus-Gedenken 2015 gemeinsam zu planen und zu gestalten – in Zusammenarbeit mit den anderen Kirchen in Tschechien und in Kooperation
mit der Stadt Prag, mit der Karlsuniversität und weiteren Organisationen. In dieser Zusammenarbeit sollten auch Gedanken aufgenommen und weitergeführt werden, die in der Hus-Kommission diskutiert wurden, die bereits 2011 von der Tschechischen
Bischofskonferenz und dem Ökumenischen Rat der Kirchen in
Tschechien ins Leben gerufen worden war. In dieser Kommission
trafen sich führende Theologen und Wissenschaftler, Vertreter von
Schulen und Medien, um gemeinsam über das Hus-Gedenken im
Jahr 2015 nachzudenken. Diese Kommission sollte die Gedanken
aufnehmen, die beim Symposium über Jan Hus an der Päpstlichen
Lateranuniversität im Dezember 1999 diskutiert worden waren.
Inzwischen befinden wir uns in den ersten Monaten des JanHus-Jahres, das seinen Höhepunkt am 5./6. Juli 2015 haben wird,
denn der 6. Juli ist der Todestag von Jan Hus, der in Tschechien
als Staatsfeiertag begangen wird. Doch auch vor diesen Jan-HusFeierlichkeiten werden Vorträge, Ausstellungen und andere Veranstaltungen verschiedenster Art stattfinden. Vom 9. bis 12. April
2015 findet eine Internationale Theologische Konferenz statt, die
die EKBB in Zusammenarbeit mit der Evangelisch-Theologischen
Fakultät und der THK in Prag veranstaltet. Eine Einführung in
die böhmische Reformation gibt Peter Morée von der Evang.-Theol.
Fakultät der Prager Karls-Universität. Den Hauptvortrag hält Prof.
in Jana Nechutová von der Masaryk-Universität in Brno zu der
Frage, was das Erbe von Jan Hus für uns heute bedeuten kann.
Zu Wort kommt auch der Prager Erzbischof, Dominik Kardinal
Duka. Ein Teil der Konferenz widmet sich zudem dem Thema
„Reformation und Säkularisierung“.
Sehr vielseitig wird das Programm am 5./6. Juli 2015 in Prag.
Hauptort der Feierlichkeiten wird der Altstädter Ring sein, das
Zentrum Prags um die Statue von Jan Hus, die dort vor 100 Jahren,
zum 500. Todestag von Jan Hus im Herzen Prags aufgestellt wurde.
In den Kirchen rund um den Altstädter Ring wird es Vorträge von
Hus-Experten geben, ebenso Ausstellungen und Konzerte. In der
evangelischen Salvátor-Kirche erklingt das Oratorium „Johann
Hus“ von Carl Loewe (1796–1869). In der Bethlehemskapelle
findet der traditionelle Gottesdienst zum Todestag von Jan Hus
statt. Für Jung und Alt gibt es eine Tour durch sieben Kirchen, die
in einem Zusammenhang mit der Böhmischen Reformation und
Jan Hus stehen. Höhepunkt wird ein ökumenischer Gottesdienst
auf dem Altstädter Ring sein, dem ein Konzert der Jugend für
Jan Hus und am Abend eine Aufführung des Oratoriums „Jan
Hus“ von Richard Pachmann folgen. Mit einem festlichen Abend
im Gemeindehaus der Stadt Prag (Obecní dům) gehen die HusFeierlichkeiten am 6. Juli zu Ende. Erwartet werden zu diesen
Feierlichkeiten Gäste aus ganz Tschechien und aus aller Welt.
Die Kirchen begleiten das Jahr auch publizistisch. Die EKBB
gibt jedes Jahr ein Andachtsbuch „Für jeden Tag“ heraus. Dieses
Andachtsbuch ist dieses Jahr Zitaten von Jan Hus gewidmet. Die
Autorinnen und Autoren haben für jeden Tag ein Hus-Zitat ausgewählt. Manchmal spricht das Zitat für sich selber, und der Autor
hat dazu noch einen Bibeltext ausgewählt und ein kleines Gebet
formuliert, oder aber das Zitat ist mit einem eigenen Gedanken
verbunden.
Ein Jugendbuch ist zurzeit in Vorbereitung wie auch die tschechische Übersetzung einer Broschüre über Jan Hus, herausgegeben vom Religionspädagogischen Institut in Baden. Diese reich
bebilderte Broschüre bietet Grundinformationen über Jan Hus
und die böhmische Reformation. Schließlich ist auch ein Heft
„Prag und Böhmen“ im Rahmen der Reihe „Orte der Reformation“ von der Evangelischen Verlagsanstalt in Leipzig in Vorbereitung. Die THK hat ein Büchlein von Patriarch Butta über Jan
Hus herausgegeben unter dem Titel „Seznámení s Mistrem Janem“
(Sich Bekannt machen mit Meister Jan). Ein Buch unter dem Titel
„Dopisy z Kostnice“ (Briefe aus Konstanz) von Jana Krajčiřková
(Text) und Jana Wienerová (Illustrationen) will vor allem der
jüngeren Generation die Geschichte von Jan Hus in Konstanz
nahebringen.
Wichtig ist auch die Präsentation im Internet. Die EKBB stellt
das Hus-Gedenken in eine ganze Reihe von Gedenkjahren zwischen 2013 und 2018 und präsentiert diese im Internet unter der
Überschrift „Naše reformace“ (Unsere Reformation, www.nasereformace.cz) Die Jahrestage begannen 2013 mit dem 400. Jubiläum der sog. Kralitzer Bibel. Die Kralitzer Bibel ist die erste
tschechische Übersetzung der Bibel aus den Originalsprachen
durch ein Übersetzer-Kollektiv der alten Brüderunität, eine einzigartige Leistung, vor allem auch im Blick auf die Bedeutung
der tschechischen Sprachbildung. 2014 war das 600. Jubiläum der
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Foto: Wikimedia Commons
In der gotischen Kirche St. Martin in der Mauer in der Prager Altstadt wurde
am 2. Advent 2014 das Jan-Hus-Jahr in Tschechien eröffnet.
Wiedereinführung des Abendmahls unter beiderlei Gestalt für alle
Gläubigen, das die EKBB mit der THK und weiteren Kirchen
gefeiert hat. Dem Gedenken an Jan Hus 2015 und Hieronymus
von Prag 2016 folgt das Luther-Jahr 2017 und schließlich 2018
„100 Jahre Evangelische Kirche der Böhmischen Brüder“ in ihrer
heutigen Gestalt.
Die THK präsentiert im Internet ihr Hus-Triennium (www.
Hus2015.cz) und eine gemeinsame Internetseite www.husovskeslavnosti.cz konzentriert sich auf die Feierlichkeiten am 5./6. Juli
2015.
Herausforderung für alle Christen und Kirchen
Das Hus-Gedenken ist in vielerlei Hinsicht eine Herausforderung
für alle, die sich auf die Mitgestaltung dieses Jan-Hus-Jahres eingelassen haben. Für die Evangelischen ist es dabei wichtig, sich
immer wieder von neuem zu vergegenwärtigen, wie wichtig für
Jan Hus die Ausrichtung auf Christus und auf die Wahrheit war,
die sich in ihm offenbart hat. Der bedeutende Kirchenhistoriker
der Prager Comenius-Fakultät Amadeo Molnar hat die Bedeutung
der Wahrheit für Hus so beschrieben:
„Nach Jan Hus ist jede Tat Christi eine Leitlinie für unser Entscheiden. […] Nicht nur, dass wir die Wahrheit nicht in Lüge verwandeln dürfen, wir haben auch nicht das Recht die Wahrheit zu
verschweigen. Auch in sehr praktischer Hinsicht hat die Wahrheit
befreienden Charakter, die die Wahrheit selber vorzeichenhaft
verkörpert. Die Freiheit ist die Atmosphäre der Wahrheit. In diesen Zusammenhang hat Hus unermüdlich die Aussage von PseudoChrysostomos wiederholt: ‚Ein Verräter der Wahrheit ist, wer sie
nicht frei dann ausspricht, wenn er sie frei sagen soll, oder wer
sie nicht frei verteidigt, wenn es nötig ist, sie frei zu verteidigen.‘
Eine nicht wegzudenkende Forderung der Hus´schen Ethik ist die
Verteidigung der Wahrheit als gesellschaftliche Tat. Die Wahrheit
zu sagen oder nicht zu sagen, ist nie folgenlos und ohne Bedeutung
für die Nächsten, für die Gemeinschaft. […] Die Ausdauer, mit der
Hus in Konstanz dem Widerrufen widerstanden hat, hatte eine
ihrer erfassbaren Quellen in der Befürchtung, dass er die Wahrheit
verrät und zum Lügner wird […].“
Es bleibt zu wünschen und zu hoffen, dass gerade die Frage
der Wahrheit Christi auch für das Nachdenken der Zeitgenossen
über den Weg der Kirche in die Zukunft wegweisend wird. Für
das Hus-Jahr wurde ein Wettbewerb für ein Logo ausgeschrieben.
Aus den über 30 Vorschlägen wurde ein Logo ausgewählt und
dazu ein Spot zur Animation gemacht. Darin erscheinen einige Stichworte, für die Hus auch heute steht und Inspiration für
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die Gegenwart sein kann: Wahrheit, Mut des Glaubens, Bildung.
Faszinierend ist für mich die Vorstellung, wie lebendig damals
Lehrende und Studierende an der Prager Universität und in der
Bethlehmskapelle, in der Jan Hus zehn Jahre lang Sonntag für
Sonntag gepredigt hat, miteinander über die Erneuerung der Kirche diskutiert und gerungen haben. Das Ringen um die Wahrheit
und den Weg der Kirche in der Krise war für Jan Hus und seine
Mitstreiter zentral und ist auch heute eine Herausforderung für
alle Christen und Kirchen. Dies gilt besonders auch im Blick auf
die Evangelischen, denen das Ecclesia semper reformanda immer
von zentraler Bedeutung war.
Dass das Hus-Gedenken eine ökumenische Herausforderung
bedeutet, versteht sich von selbst. Wird das Hus-Gedenken etwas
Neues im evangelisch-römisch-katholischen Miteinander bringen,
das hinausgeht über die Worte von Papst Johannes Paul II., mit
denen er aufrichtig den grausamen Tod von Jan Hus bedauerte
und sich für ein Heilen der Erinnerungen aussprach? Der Ökumene-Beauftragte der Tschechischen Bischofskonferenz betont
immer wieder, dass Jan Hus die Christen in Tschechien einen soll
und nicht entzweien. Dafür sind auch die Evangelischen. Doch
wie kann dies so geschehen, dass es mehr als ein gut gemeinter
frommer Wunsch ist? Das Hus-Gedenken wird sicher manche
Gelegenheit dazu bieten.
Im Jan-Hus-Jahr gibt es eine enge Verbindung zwischen Prag
und Konstanz. Auch die Stadt Konstanz hat mit den Kirchen das
Jahr 2015 zum Jan-Hus-Jahr gemacht, als „Jahr der Gerechtigkeit“.
Dazu steht auf der Konstanzer Internetseite (www.konstanzerkonzil.de): „Das ‚Jahr der Gerechtigkeit‘ würdigt den tschechischen Theologen und Reformer Jan Hus. Hus, der nach Konstanz
gereist war, um seine Lehren zu verteidigen, wurde am 06. Juli 1415
verurteilt und verbrannt. Ein Jahr später ereilte seinen Gefährten
Hieronymus von Prag das selbe Schicksal. Internationale und ökumenische Gedenkveranstaltungen sollen an die beiden beständigen
Männer erinnern und zur Auseinandersetzung mit Themen wie
Toleranz, Umgang mit Andersgläubigen sowie Werten und ihrem
Wandel anregen.“ Es gibt verschiedene Pilgerwege von Tschechien
nach Konstanz und so auch ein gemeinsames Gedenken.
Eine weitere evangelische Initiative ist das Projekt „Tripolis“,
in dem drei Städte der Reformation sich vorgenommen haben, der
Reformation gemeinsam zu gedenken: Prag, Zürich und Marburg.
Dieses Projekt soll auch dazu beitragen, die europäische Vernetzung des Reformationsgedenkens praktisch zu machen durch
gegenseitige Begegnungen von Vertreterinnen und Vertretern der
evangelischen Gemeinden in den drei Städten.
Eine nicht zu unterschätzende Herausforderung bildet die
Zusammenarbeit mit der Stadt Prag. Den Vertretern der Kirchen wurde versichert, dass die Stadt Prag beim Hus-Gedenken
gerne mit den Kirchen zusammenarbeitet und dieses Gedenken
auch finanziell unterstützt. Diese Zusammenarbeit wird dadurch
erschwert, dass die politische Repräsentanz der Stadt Prag im
Laufe der Vorbereitungen schon mehrmals gewechselt hat und
dadurch immer wieder ein Neuanfang notwendig wurde. Es ist
zu hoffen, dass die Zusammenarbeit ein würdiges Hus-Gedenken
möglich machen wird.
Schließlich ist die Zusammenarbeit zwischen der EKBB und
THK eine Herausforderung für beide Kirchen, die doch sehr
unterschiedliche Traditionen haben und sich bei der Vorbereitung
und Durchführung des Jan-Hus-Jahres besser kennenlernen und
viele Entscheidungen gemeinsamen treffen müssen. Möge dieses
Jan-Hus-Jahr ein Jahr der Begegnung mit dem Erbe von Jan Hus
sein, das auch heute Mut macht zum Christsein und zur Erneuerung von Kirche und Gesellschaft.
Gerhard Frey-Reininghaus, Pfr., Dezernent für
Außenbeziehungen der EKBB.
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Gyula Pásztor
Unterstützung von Studierenden
aus der Karpato-Ukraine
An der Theologischen Hochschule im ungarischen Sárospatak studieren auch viele Studierende aus
der Karpato-Ukraine. Aufgrund des Kriegs in der Ukraine hat sich deren materielle Situation nochmals
verschlechtert. Das Institut G2W unterstützt Studierende aus der Karpato-Ukraine mit Stipendien, damit sie in
Sárospatak und in der Zweigstelle im ukrainischen Beregovo/Beregszász studieren können. Die Theologische
Hochschule bietet Abschlüsse in Theologie, Religionspädagogik und als Gemeindehelfer an. – S. K.
Das Leben der Reformierten Theologischen Hochschule in Sárospa- Karpato-Ukraine gestorben, oder sie wurden körperlich und psytak im Nordosten Ungarns ist auf zweierlei Weise mit der Karpato- chisch verletzt. Es gibt sogar Stimmen, die befürchten, dass später
Ukraine verbunden: Einerseits wohnt fast die Hälfte der Studie- ukrainische Nationalisten aus dem Osten in die Karpato-Ukraine
renden der Theologischen Hochschule dort. Und andererseits hat kommen und hier Angriffe gegen die Ungarn provozieren.
Eine andere dramatische Auswirkung des Krieges ist der masdie Schule eine eigene Ausbildungsstelle in Beregove/Beregszász im
äußersten Westen der Ukraine, wo etwa 70 Katecheten und Gemein- sive Wertverfall der ukrainischen Währung, der Griwna. So wird
dehelfer ihre Ausbildung absolvieren. Die aktuellen Ereignisse in der das alltägliche Leben von Tag zu Tag schwieriger. Nachdem viele
Ukraine bzw. Karpato-Ukraine haben daher auch Auswirkungen Menschen nur noch teilweise ihr Gehalt ausbezahlt bekommen oder
sogar ihre Arbeitsstelle verloren haben, versuchen sie nun im Ausauf unsere Arbeit.
land eine Arbeit zu finden, um ihre Familie zu ernähren. Deren
Anzahl ist mittlerweile so groß geworden, dass die Reformierte KirAuswirkungen des Krieges
Das Jahr 2014 stand auch in der Karpato-Ukraine unter dem Schat- che in der Karpato-Ukraine den üblichen Kurs für Presbyter, an dem
ten der innenpolitischen Konflikte und des Krieges in der Ukraine. auch die Theologische Hochschule in Sárospatak mitbeteiligt ist, in
Obwohl sich der Krieg im östlichen Teil des Landes abspielt, wirkt diesem Schuljahr nicht durchführen konnte, denn die Teilnehmer
er sich auf das Leben der gesamten Bevölkerung aus. Im Frühling blieben aus. Gleichzeitig fehlen die Teilnehmer auch als Mitarbeiter
gab es eine erste Welle der Einberufungen. Für die Ungarn in der in den Familien und Kirchgemeinden.
Unter diesen Umständen versuchen die Gemeinden noch mehr
Karpato-Ukraine entstand dadurch eine besonders schwierige
Situation: Was im Osten des Landes geschieht, ist im Grunde ein als sonst, den Armen und den Familien, deren Männer in den Krieg
Konflikt der ukrainischen und russischen Nationalitäten. Damit ziehen mussten, physisch und seelisch zu helfen. Die Reformierte
haben die Ungarn in der Karpato-Ukraine, die die Ukraine nach Kirche in Ungarn hat daher im Herbst 2014 ein großes Hilfeprojekt
dem Zweiten Weltkrieg von Ungarn „geerbt“ hatte, gar nichts zu durchgeführt, um den Menschen in der Karpato-Ukraine zu helfen.
tun. Das umstrittene ukrainische Sprachgesetz vom 23. Februar Möge der Herr geben, dass diese Versuche nicht nur den Hunger,
2014, das letztlich dann doch nicht umgesetzt wurde, war für die sondern auch die inneren Bedürfnisse und Regungen stillen!
In diesen Tagen, da ich diesen Artikel schreibe, hat eine neue
ungarisch-stämmige Bevölkerung genauso beleidigend wie für die
russischsprachige Bevölkerung in der Ostukraine. Für die Ungarn Welle der Einberufungen begonnen. Die neu Einberufenen sollen
aus der Karpato-Ukraine ist es daher sehr schwer, dazu gezwungen die vorherigen Soldaten im Krieg ablösen. Momentan ist aber noch
zu sein, an der Seite der Ukraine gegen die Russen zu kämpfen, die nicht absehbar, was genau geschehen wird.
Das ist der gegenwärtige politische-soziale Hintergrund unserer
als Minderheit im Grunde in einer ähnlichen Lage sind wie sie selbst.
In der Karpato-Ukraine leben Ungarn und Russinen (eine sla- Studierenden aus der Karpato-Ukraine. Die Gespräche mit ihnen
wische Minderheit) schon sehr lange in Frieden zusammen. Beide und die Anträge auf Sozialhilfe lassen deutlich spüren, wie sehr der
Nationalitäten (ebenso wie die Rumänen in der Südwestukraine) Krieg sie betrifft. Wichtig ist jedoch, dass die Studierenden, egal ob
hatten das Gefühl, dass aus ihren Reihen mehr Männer für die sie ein Vollzeitstudium oder einen Fernkurs bei uns absolvieren,
Kriegszone rekrutiert wurden als aus der ukrainischen Bevölke- derzeit keinen Wehrdienst in der Ukraine leisten müssen. Zudem
rung. Die Kirchen und örtliche Verwaltungen konnten nur errei- ist erfreulich, dass sie nach Erhalt eines Visums nach Ungarn (also
chen, dass Männer, die eine große Familie haben, nicht einberufen in die sog. Schengenländer) als Studierende die gleichen Möglichwurden. Im Krieg sind leider auch schon mehrere Männer aus der keiten wie die Einheimischen haben: So können sie im Rahmen des
Alle Fotos: Theologische Hochschule
Eine Gruppe von Absolventen mit Dr. István Győri
(vorne), em. Professor für Neues Testament.
Während eines mehrtägigen Ausflug lernen sich die
neuen Studierenden näher kennen.
Viele Studierende leisten Dienst in einer reformierten
Gemeinde, etwa im Kirchenchor.
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Studentenaustauschprogramms Erasmus ein Semester an anderen Dies bedeutete auch eine große Anerkennung unserer Arbeit
europäischen Universitäten verbringen. Mehrere unserer Studieren- insgesamt.
den nutzen diese Möglichkeiten klug aus. Es gibt regelmäßig StudenEs ist erfreulich, dass es viele Menschen in der Karpato-Ukraine
ten aus der Karpato-Ukraine, die zwischen ihren Studienjahren ein gibt, die sich auf einen Dienst in der Kirche vorbereiten. Meistens
diakonisches Jahr einlegen. Dabei können sie nicht nur den Umgang haben sie eine Aufgabe in ihrer Gemeinde und möchten diese treu
mit Menschen üben und Einblick in das Arbeitsleben gewinnen, son- erfüllen. Viele haben sich für eine unserer Ausbildungen bewordern auch ihre Sprachkenntnisse erweitern oder auffrischen.
ben, aber oftmals stellt sich heraus, dass nicht alle – aus welchen
Gründen auch immer – fähig sind, so ein Studium zu absolvieren.
Für diese Gruppe möchte unsere Hochschule in Zusammenarbeit
Auf Hilfe angewiesen
Aufgrund der schwierigen Umstände versucht die Theologische mit der Reformierten Kirche in der Karpato-Ukraine einen Kurs
Hochschule den Studierenden aus der Karpato-Ukraine derart entwickeln, der ihnen hilft, sich auf den praktischen Dienst in der
zu helfen, dass sie sie zu größeren Leistungen und Ergebnissen Gemeinde vorzubereiten. In der heutigen kirchlichen Lage wird es
anspornt. Deshalb wird das Studienstipendium immer höher fest- immer wichtiger, dass nicht allein der Pfarrer die Gemeinde ausgelegt als das normale Sozialstipendium. Die Studierenden, die die macht, sondern sich viele Gemeindeglieder an dem Dienst des Evanbesten Ergebnisse erzielen oder sich für die Gemeinschaft einsetzen, geliums beteiligen.
können Sonderzahlungen erhalten.
Die Theologische Hochschule in Sárospatak zählt in diesem
Die Hochschule hat im Jahr 2014 eine größere Summe für Wintersemester 217 eingeschriebene Studierende. Davon studieArbeitsmöglichkeiten bereitgestellt, wodurch Studierende ihr Ein- ren 70 Theologie (unter ihnen 31 aus der Karpato-Ukraine). Die
kommen ergänzen können. Wenn sie neben ihrem Studium ein, übrigen studieren andere Fächer, um später als Religionspädagogen,
zwei Stunden pro Tag arbeiten, kann ihr Gehalt die Internats- oder Diakone, Gemeindehelfer und Reformierte Community Organizer
Unterhaltskosten decken. Dieses Angebot wird durch den Vorsteher arbeiten zu können. In Beregszász haben wir zurzeit 66 Studierende,
des Studentenrates organisiert. Ergänzt wird es bei Studierenden aus die einen Abschluss als „Religionspädagoge“ und „Gemeindehelfer“
der Karpato-Ukraine je nach Bedarf durch die Unterstützung vom anstreben.
Institut G2W. Im letzten Jahr hat dieses System gut funktioniert.
Wir haben auch sehr eindrückliche Beispiele erlebt, wie Studierende Missionarische Umgestaltung der Reformierten Kirche
einander helfen können und wollen. Für die Unterstützung durch Im Herbst kam ein langer Vorbereitungsprozess im Synodalen
das Institut G2W möchten wir uns auch diesmal bei allen Spende- Ausschuss für Mission der Reformierten Kirche in Ungarn zum
Abschluss. Der Prozess zielt auf die missionarische Umgestalrinnen und Spender herzlich bedanken!
Besonders gefreut hat uns, dass wir nach vielen Jahren die Mög- tung der Reformierten Kirche bzw. der reformierten Gemeinden
lichkeit hatten, unsere Gebäude teilweise zu erneuern: Es wurden in Ungarn. Solch ein Wandel lässt sich ganz bestimmt nicht von
eine neue Küche und ein Computersaal eingerichtet. Auch die Hei- heute auf morgen verwirklichen, aber wir hoffen darauf, dass die
zung im Hauptgebäude wurde modernisiert. Das Internat für die neugewählte Synode diese Initiative als eigenes Ziel betrachtet und
Frauen wird völlig renoviert und neu eingerichtet. In diesem Früh- unterstützt. Denn die Daten der letzten Volkszählung bestätigen,
ling ist es hoffentlich bezugsfertig. Nach der langen Wartezeit freuen dass die Kirchen mit den alten Methoden nicht einmal mehr die
Anzahl ihrer Mitglieder aufrechterhalten können. Ihre Aufgabe
sich alle schon sehr darauf.
Prof. Dr. István Győri (Professor für Neues Testament), die lang- ist es daher heute mehr denn je, alle Völker zu Jüngern Christi zu
jährige Kontaktperson zwischen der Reformierten Theologischen machen. Dafür bedarf die Reformierte Kirche auch eines erneuerten
Akademie in Sárospatak und dem Institut G2W, ist aufgrund seiner Engagements und neuer Mittel.
Die Reformierte Theologische Akademie in Sárospatak möchte
Krankheit im Frühling 2014 in den Ruhestand getreten. Im Rahmen
einer größeren Veranstaltung hat sich die Akademie zusammen mit sich an diesem Prozess derart beteiligen, dass möglichst viele und
verschiedene Menschen (Pfarrer, Religionslehrer, Presbyter und
ehemaligen Studierenden für seinen treuen Dienst bedankt.
andere Laien) auf diese missionarische Arbeit vorbereitet werden.
So sind wir dabei, unser Lehrangebot in diese Richtung weiter zu
Unterricht in Beregszász und Sárospatak
2014 war ein sehr wichtiges Jahr für die Ausbildungsstätte in entwickeln. Möge der Herr uns als Kirche und Gläubige erneuern,
Beregszász (Beregovo). Nach drei Jahren haben die ersten fünf Stu- dass dieser Eifer zum gesegneten Ergebnis führt und reiche Frucht
dierenden ihr Studium abgeschlossen (noch nicht alle aus diesem trägt!
Jahrgang). Die Übergabe der Diplome und das festliche Gelübde
***
der ersten Katecheten und Gemeindehelfer war ein bewegendes
Ereignis. Ihr Ausharren ist für viele ermutigend. Im Herbst haben
wieder 20 Studierende ihr erstes Semester begonnen. Zusammen Sie können die Studierenden an der Theologischen Hochschule
mit den Studenten der Pädagogischen Hochschule vor Ort haben in Sárospatak mit einer Spende auf das Konto des Instituts G2W
wir ein sehr schönes Schuljahreröffnungsfest erlebt, bei dem auch (IBAN CH22 0900 0000 8001 51780) mit dem Vermerk „Sárospader ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán anwesend war. tak“ unterstützen.
Mit Hilfe der Studierenden konnte die Hochschule ihre
Gebäude teilweise erneuern.
Sportliche Aktivitäten kommen während des Studiums
in Sárospatak keineswegs zu kurz.
An der Semesterabschlussfeier in Beregszász nehmen
auch Vertreter der Hochschule von Sárospatak teil.
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Jan Hus
Pavel Soukup
Jan Hus
Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2014, 263 S.
ISBN 978-3-17-021514-6. €24.99; CHF 37.90.
Im Mittelpunkt der Hus-Biographie von
Pavel Soukup, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Zentrums für mediävistische
Studien am Institut für Philosophie der
Akademie der Wissenschaften in Prag,
steht der Gelehrte, Prediger und öffentliche Intellektuelle als „aussagekräftiges Beispiel einer spätmittelalterlichen
Karriere im Schnittpunkt von zeitgenössischen Konflikten“ (S. 11). Das theologische Profil des Magisters und die Charakteristika seines öffentlichen Auftretens
werden im synchronen Vergleich mit
anderen Persönlichkeiten des kirchlichen
und universitären Lebens des Spätmittelalters herausgearbeitet, um aufzuzeigen,
was zeittypisch und was einzigartig an
Jan Hus war. Jedes Kapitel – etwa zur
Predigttätigkeit, zur Universitätskarriere oder seinen volkssprachlichen Schriften – nimmt somit eine Lebensstation
von Hus sowie den weiteren kirchlichen,
politischen und gesellschaftlichen Kontext in den Blick; am Ende eines jeden
Kapitels steht immer die Frage, „welche
Bedeutung das jeweilige Phänomen oder
Ereignis im Leben von Hus besaß und ob
es zu seiner Verurteilung beigetragen
hat“ (S. 14).
Ausschlaggebend für die Verurteilung
von Jan Hus auf dem Konstanzer Konzil ist dabei für Soukup letztlich nicht
dessen Reformpredigt an sich (viele
Konzilsväter waren ja ebenfalls selbst
Anhänger einer Kirchen- und Klerusreform), sondern vielmehr das Hinaustragen innerkirchlicher Angelegenheiten
an die Öffentlichkeit mit unabsehbaren
Folgen für die gesellschaftliche Ordnung: „Hus legte keine umfassende
soziale Theorie vor. Keinesfalls war er
ein sozialer Revolutionär. Er wollte die
bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse in Ordnung bringen und reformieren, und damit aufrechterhalten. Aber
sein heterodoxer Kirchenbegriff drohte
in seinen Auswirkungen in eine Rebellion zu münden, und die Kirchenväter als
versierte Theologen mussten das erkennen“ (S. 202 f.).
Im letzten Kapitel nimmt Soukup das
Verhältnis von Hussitismus und Reformation in den Blick; dabei geht es ihm nicht
darum, Jan Hus als Vorläufer von Martin
Luther zu stilisieren – letzterer bezog
sich zwar immer wieder aus Hus, betonte aber auch, dass ersterer „lediglich den
Lebenswandel der Papstkirche kritisiert,
während er selbst ihre Lehre angefochten habe“ (S. 211). Für Soukup beginnt
die Reformationsgeschichte dennoch
schon mit dem Hussitismus, weil sich die
utraquistische Landeskirche in Böhmen
bereits im 15. Jahrhundert de facto zu
einer eigenständigen Konfessionskirche entwickelte: „Die Hussiten führten
bewusst und mit Absicht eine von Rom
praktisch unabhängige Existenz“ (S. 216).
Stefan Kube
Die hussitische Revolution
Franz Machilek (Hg.)
Der erste Teil nimmt grundlegende Fra- on zum ersten Mal in der europäischen
gen in den Blick: Georg Denzler geht auf Geschichte die Frage nach der Toleranz im
die unterschiedlichen Reformbewegun- Sinne einer rechtlich garantierten religiögen innerhalb der spätmittelalterlichen sen Koexistenz stellte: Da beide Gruppe –
Kirche ein. Peter Hilsch beleuchtet das katholische Kirche wie Hussiten – in Böhöffentliche Auftreten von Jan Hus und men etwa gleich stark waren und keine
dessen Kirchenkritik. Hinsichtlich des die andere verdrängen konnte, bedurfVerhältnisses von Jan Hus und hussitischer te es eines neues Orientierungssystems,
Bewegung kommt Hilsch zu dem Resul- das sich den ideologischen Gegensätzen
tat: „Hus hatte an der Entstehung der überordnete: „Erst als die machtpolitihussitischen Bewegung, an der ‚späteren‘ sche Komponente der – eben gewaltsam
Revolution keinen persönlichen Anteil – erzwungenen – Koexistenz dissidenter
Hus war kein ‚Hussit‘. Aber sein Tod auf Konfessionen ihre Absurdität selbst herDie hussitische Revolution
dem Scheiterhaufen […] wurde zum ent- beiführte – durch Ergebnislosigkeit und
Religiöse, politische und regionale Aspekte
scheidenden Anstoß dieser Entwicklung unerträglich lange Leiden ebenso wie
(= Forschungen und Quellen zur Kirchenund
ließ ihn später zu einem protestan- durch die offenkundige Nutzlosigkeit von
und Kulturgeschichte Ostdeutschlands, Bd. 44)
Wien: Böhlau Verlag 2012, 292 S.
tischen ‚Märtyrer‘ werden“ (S. 37). Blan- Intoleranz – reifte in Mitteleuropa die
ISBN 987-3-412-20891-2. € 39.90; CHF 53.90.
ka Zilynská vergleicht das Synodalleben dauerhafte Einsicht in den gesellschaftlider Hussiten mit der synodalen Praxis der chen und staatlichen Vorteil von Toleranz
Der vorliegende Sammelband enthält Reformation, die sich in vielerlei Hinsicht im Sinne der Religionsfreiheit und Koexismehrere Beiträge von deutschen und ähnelten: „Die böhmischen Synoden des tenz konfessioneller Gruppen“ (S. 105).
tschechischen Autoren zu Leben und Wir- 15. Jahrhunderts können wir deshalb als
Der zweite Teil behandelt demgegenken von Jan Hus sowie zur hussitischen Vorläufer, nicht aber als Vorlage für die über regionale Aspekte des Hussitismus,
Bewegung in Böhmen und angrenzen- Synodalität der europäischen Reformati- den Abschluss bildet eine Beitrag von
den Regionen (Schlesien, Oberpfalz und on bezeichnen: augenfällig ist hier eine Thomas Wünsch zur ErinnerungskulNiederbayern); er geht auf eine Tagung gemeinsame Entwicklungstendenz, aber tur an Jan Hus und den Hussitismus im
des Instituts für ostdeutsche Kirchen- und keine direkte Übereinstimmung“ (S. 75).
19. Jahrhundert.
Kulturgeschichte 2008 in Regensburg
Winfried Eberhard verweist darauf,
zurück.
dass sich mit der hussitischen RevolutiStefan Kube
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B U C H B ES P R EC H U N G E N
Reformation 1517–2017
Volker Leppin, Dorothea Sattler (Hg.)
Reformation 1517–2017
Ökumenische Perspektiven
(= Veröffentlichungen des Ökumenischen
Arbeitskreises evangelischer und katholischer
Theologen, Bd. 16)
Freiburg/Br.: Herder Verlag 2014, 119 S.
ISBN 978-3-451-34745-0. € 19.99; CHF 28.90.
Mit Blick auf das Reformationsjubiläum
2017 hat der Arbeitskreis evangelischer
und katholischer Theologen eine Studie
zu den ökumenischen Perspektiven dieses Gedenkjahres erarbeitet. Dabei geht
es nicht in erster Linie um konkrete Vorschläge für eine mögliche ökumenische
Gestaltung des Gedenkjahres, sondern
um eine konzise historische Rekonstruktion der Ereignisse im 16. Jahrhundert
und deren systematisch-theologische Beide Perspektiven sind aus Sicht der
Reflexion aus ekklesiologischer Perspek- Autoren legitim und verständlich, doch
tive und daran anschließend um ökume- entbinde dies nicht davon, „an einer
nische Herausforderungen im Umgang gemeinsamen, ökumenischen Deutung
mit dem Reformationsgedenken. Die und Bewertung des Geschehens auch
Studie ist auf Deutsch und Englisch im Sinne einer gemeinsamen Wertschätveröffentlicht, um eine internationale zung der Reformation zu arbeiten“ (S. 72).
Rezeption des Textes zu erleichtern.
Bei der historischen Rekonstruktion
In einer Einführung beleuchten die der historischen Ereignisse vor 500 Jahbeiden Herausgeber kurz den Entste- ren werden folgerichtig die Überwinhungskontext der Studie und die Umset- dung bisheriger konfessioneller Deuzung des ökumenisch-theologischen tungsmuster der Reformationsforschung
Projekts (z. B. wer aus dem Arbeitskreis betont und das Ineinander von KontinuiReferate zu welchen Themen beigesteu- tät und Neuansatz zwischen spätmittelert hat) und ordnen es in die Geschichte alterlicher Welt und Reformation aufgedes Ökumenischen Arbeitskreises ein, zeigt. Systematisch-theologisch steht die
der seit 1946 existiert.
Frage nach der Reformbedürftigkeit und
Leitfrage der Studie ist, „wie in einer -fähigkeit aller Kirchen im Mittelpunkt:
für heutige ökumenische Verständigung „Christi Ruf zur ‚dauernden Reform‘ ist
befriedigenden Weise über die Reforma- nicht an die Grenzen der Konfession
tion und ihre Folgen gesprochen werden gebunden. Im gemeinsamen Hören
kann“ (S. 33), da bis heute unterschied- auf Christi Ruf werden die getrennten
liche kirchliche Grundeinstellungen das Kirchen zusammengeführt“ (S. 55). HinGedenken an die Reformation prägen: dernisse und Lerngeschichten auf dem
Während die evangelischen Kirchen Weg der Annäherung der Kirchen nimmt
2017 die Errungenschaften der Reforma- schließlich der dritte Teil zu den ökumetion feiern wollen, wird von Seiten der nischen Herausforderungen in den Blick.
römisch-katholischen Kirche auch an den
Stefan Kube
Verlust der kirchlichen Einheit erinnert.
Pilger, Popen und Propheten
Christoph Schmidt
Pilger, Popen und Propheten
Eine Religionsgeschichte Osteuropas
Paderborn: Ferdinand Schöningh 2014, 293 S.
ISBN 978-3-506-77265-7. € 34,90; CHF 49.90.
Eine der zehn provokanten Thesen
im vorliegenden Buch von Christoph
Schmidt, Osteuropahistoriker der Universität Köln, besagt, dass die Religionslandschaft Osteuropas wesentlich vielfältiger sei als diejenige des Westens (S. 9).
Insofern müsse die Religionsgeschichtsschreibung die verschiedenen religiösen
Positionen auch vor ihren politischen
Hintergründen vermehrt zueinander in
Beziehung setzen (S. 11).
Im ersten Teil über „Entstehung und einen Vergleich zwischen russischer und
Verbreitung“ geht Schmidt dann doch polnischer Kirche enthält. Zum Schluss
einzeln auf fünf Religionen und ihre räsoniert Schmidt über „Religion als
diversen Schattierungen in Osteuropa historische Kraft oder der Gottesmann
(v. a. Polen-Litauen, Ukraine, Russland) siegt?“ und spricht sich angesichts
ein: Schamanismus, Orthodoxie und der Tatsache, dass sich alle Religionen
Lateiner, Muslime (v. a. tschetscheni- der Modernisierung ausgesetzt sahen,
scher Sufismus), Juden und Buddhisten. gegen die Annahme eines einheitlichen
Im zweiten Teil „Spezifik und Dynamik“ „Säkularisierungsprozess“ und für „viellöst Schmidt dann den formulierten mehr eigenständige SäkularisierungsAnspruch ein. Das Kapitel „Von West faktoren“ aus, die es gründlicher zu
nach Ost: Die Täufer“ handelt von den erforschen gelte.
tiefgreifenden Änderungen im JahrAngesichts der zahlreichen Fakten,
hundert der Reformation und des Buch- Erzählstränge und Einzelstudien, die
drucks, die alle Religionen auf verschie- Schmidt miteinander verwebt, fehlt
dene Weise erfassten. „Zwischen Ost ein Sachregister. Die Lektüre verlangt
und West: Die Unierte Kirche“ behan- Konzentration, eignet sich aber dank
delt das „Ringen um die Dneprland- gewollt provokanter Thesen („Bedinschaft“. Um religiöse Dissidenz und gen sich Geographie, Lebensform und
deren vielfältige strukturelle Ähnlich- Glaube auch gegenseitig oder anders
keiten geht es im Kapitel „Spaltung im gefragt: Sind Reiternomaden als LutheProtest: Altgläubige und Chassidim“. In raner denkbar?“), auffallenden Lücken
einem weiteren Kapitel wird gezeigt, (z. B. fehlen die Hussiten) und Hinweiinwiefern die „Aufklärung die erste sen auf noch unerforschtes Terrain
Geistesströmung überhaupt [war], die hervorragend als Inspirationsquelle für
alle abrahamitischen Religionen erfas- weitere Studien zur osteuropäischen
sen sollte“(S. 197). Relativ mager fällt Religionsgeschichte.
das Kapitel über „‚Politische Religion‘
Regula Zwahlen
und sowjetischer Atheismus“ aus, das
31
Nr. 3 2015
RGOW
Ukraine aktuell
Ukraine
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Die Kirchen der byzantinischen Tradition in der Ukraine
Geschichte und Gegenwart der Ukrainischen GriechischKatholischen Kirche
Zur Selbstpositionierung der UGKK 20 Jahre nach ihrer
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