Beilage: Heute vor 70 Jahren endete der Krieg in Hamburg Beilage

Beilage: Heute vor 70 Jahren endete der Krieg in Hamburg
Auferstehung
aus Ruinen
Foto: Wunder
Hamburgs Kapitulation
Eine Geschichte
reif für Hollywood
Wie Albert Schäfer die Stadt
vor dem Untergang rettete
Dan Perjovschi
Schnell mal
gezeichnet
Was dem rumänischen
Künstler zum Kriegsende einfällt
Zeitzeugen
So erlebten wir
das Kriegsende
Sechs Hamburger erzählen
von ihren Erinnerungen
Foto: Wunder
Foto: Ullstein
Als die Waffen endlich schwiegen,
war die Stadt nur noch ein
Trümmerfeld. Die Menschen
hungerten und froren. Und doch
resignierten sie nicht. Sie
begannen mit dem Wiederaufbau
II HAMBURG
Sonntag, 3. Mai 2015
Sie
Sie riskierten
riskierten ihr
ihr LLeben
eben
Fotos: Wunder (3), MOPO-Archiv
Mit weißer Fahne gingen diese drei Männer den Engländern
entgegen – und leiteten so die Kapitulation Hamburgs ein
Drei Männer nehmen Ende
Volk versprochen hat, glaubt keiApril 1945 ein großes Risiko auf
ner mehr. Die Stadt ist kriegsmüsich. Mit einer weißen Fahne in
de. Im Juli und August 1943 haben
der Hand laufen sie über die
britische Bomberverbände HamFrontlinie, immer den
burg zur Hälfte in
Von Hamburgs
britischen Soldaten
Trümmer
gelegt.
entgegen. Eigentlich Stunde Null berichtet Mehr als 40 000 MenOlaf Wunder
geht es ihnen lediglich
schen sind ums Leben
um ein Lazarett in
gekommen. Und die,
Harburg. Sie wollen die Briten
die am Leben geblieben sind, hofbitten, es von weiteren Artillefen auf ein baldiges Ende des
rie-Angriffen zu verschonen.
Krieges. Sie wünschen sich FrieAber dann retten sie die ganze
den. Haben es satt, Nacht für
Stadt vor der totalen Zerstörung:
Nacht von Sirenengeheul in die
Die Rede ist von Albert Schäfer,
Bunker getrieben zu werden.
dem Chef der Phoenix-GummiDie britischen Truppen erreiwerke in Harburg, dem Arzt Dr.
chen Ende April die südliche
Stadtgrenze von Hamburg. WeiHermann Burchard und dem
Leutnant Otto von Laun.
terzukämpfen, ist aussichtslos,
Drei Männer, die Geschichte
schrieben: Hermann
Burchard (oben), Albert
Schäfer (Mitte ) und Otto
von Laun (unten): Als sie
am 29. April 1945 mit
weißer Fahne auf die
Engländer zugingen,
wollten sie eigentlich nur
darum bitten, ein Lazarett
nicht länger zu beschießen.
Es wurde mehr daraus ...
Frühjahr 1945. Der Krieg ist verloren. Das steht fest. An den „Endsieg“, den der „Führer“ seinem
da sind sich Gauleiter Karl Kaufmann und Hamburgs Kampfkommandant, General Wolz, einig. Aber Adolf Hitler will nichts
wissen von Kapitulation. Im Gegenteil: Er hat die Stadt zur Festung erklärt. Hamburg soll um jeden Preis gehalten werden.
Schlimmer noch: Am 19. März erteilt er den sogenannten „NeroBefehl“: Heranrückende Truppen sollen nichts weiter als „verbrannte Erde“ vorfinden. Mit anderen Worten: Kaufmann alle Infrastruktur vernichten und die
Lebensgrundlagen der Stadt zerstören.
Zunächst sieht es so aus,
als würde Kaufmann – stets
ein treuer Vasall des „Führers“ – den Befehlen Hitlers Folge leisten. Er
stellt den Volkssturm
auf, ruft alte Männer
und Hitler-Jungen,
Der 3. Mai 1945 – der Tag, an dem in Hamburg der
Codewort „Baltic“: Um 16.13 Uhr setzen sich britische Panzer in Bewegung. Ausgangssperre in der Stadt – doch es fällt kein Schuss
Am 3. Mai 1945 ist in Hamburg
der Krieg vorbei. An jenem Donnerstag vor 70 Jahren gilt bereits
ab 13 Uhr eine Ausgangssperre.
Der bevorstehende Einmarsch
der Briten wird seit Stunden im
Rundfunk angekündigt.
Um 16.13 Uhr ist es dann
schließlich so weit. Das Codewort lautet „Baltic“ – das ist das
Zeichen für die Soldaten der 7.
Britischen Panzerdivision, sich
in Marsch zu setzen.
Die Motoren heulen auf, dann
fahren die Panzer los. Ihr Weg
führt über die Elbbrücken, dann
über den Heidenkampsweg bis
zur Mönckebergstraße und weiter bis zum Rathaus. Die Sorgen,
irgendein fanatischer Nazi könnte das Feuer auf die Engländer eröffnen, erweisen sich zum Glück
als unbegründet. Es fällt kein
Schuss.
Kurz vor 18 Uhr trifft der erste
englische Offizier, Colonel
müsse auf Brigadegeneral David
Weinmann, auf dem RathausSpurling warten.
markt ein, der damals noch
Um 18.25 Uhr trifft Spurling
Adolf-Hitler-Platz heißt. Kampfschließlich ein,
kommandant Alwird am Portal
win Wolz und
Seit sie Bergenempfangen und in
seine Offiziere
Belsen
befreit
haben,
den Bürgermeissind irritiert, als
verachten die Briten tersaal geführt,
Weinmann plötzwo bereits Gaulich damit andie Nazis nur noch.
leiter Kaufmann
fängt, Tauben zu
und Bürgermeister Vincent
füttern. Wolz sagt, er möchte
Krogmann warten. Hände werjetzt gerne die Stadt übergeben,
den geschüttelt. Kaufmann sagt,
aber Weinmann antwortet, er
die kampflose Übergabe der
Stadt solle den Tod von Hunderttausenden Frauen und Kindern
verhindern.
Spurling ist kurz angebunden.
Er hat für die Nazis nur noch Verachtung übrig, denn er weiß, was
seine Truppen vorgefunden haben, als sie wenige Tage zuvor
das Konzentrationslager BergenBelsen befreiten: Tausende von
halb Verhungerten, die neben
Leichenbergen dahinvegetier-
HAMBURG III
Sonntag, 3. Mai 2015
und
und retteten
retteten ddie
ie Stadt
Stadt
die nur notdürftig ausgebildet
sind, an die Waffen – und wirft sie
an die Front. Und so sind es vor
allem halbe Kinder, die am 26.
April den Befehl erhalten, den
Ort Vahrendorf südlich von Harburg, der von Briten besetzt ist,
zurückzuerobern. Es kommt zu
einer sinnlosen Schlacht, die auf
beiden Seiten hohe Verluste fordert. Ein Soldatenfriedhof erinnert bis heute daran. Die Grabsteine verraten, wie alt die meisten geworden sind: nicht mal 18
Jahre.
Zwei Tage nach diesem Blutbad bezieht britische Artillerie in
Buxtehude Stellung und feuert
auf Harburg. Auch die PhoenixWerke werden getroffen – was
nicht weiter verwunderlich ist,
denn es handelt sich dabei um ein
Rüstungsunternehmen,
das
Gummireifen für die Wehrmacht
herstellt. Allerdings befindet sich
im Keller seit einiger Zeit ein Lazarett. Und die Patienten sind
jetzt in großer Gefahr.
Ihretwegen nehmen Albert
Schäfer, der Firmendirektor, und
der Leiter des Lazaretts, Dr. Hermann Burchard, die Gefahr auf
sich und marschieren den Engländern entgegen. Sie wollen
darum bitten, das Lazarett zu verschonen. Als Übersetzer soll
Leutnant Otto von Laun mitkommen, der Englisch spricht.
Am 29. April, einem Sonntag,
geht es los. Bei Lürade treffen die
drei auf englische Posten, werden beschossen, schließlich festgenommen. Britische Soldaten
verbinden ihnen die Augen und
führen sie in das Lokal „Hoheluft“ in Buchholz, damals ein britisches Offizierskasino. Captain
Tom Lindsay, im Privatleben Musikprofessor in Oxford, empfängt
sie freundlich. Er sagt ihnen zu,
das Lazarett zu verschonen. Aber
Lindsay will noch mehr, führt mit
den drei Männern Einzelgespräche. Am Ende erklärt sich Schäfer
bereit, einen Brief des britischen
Befehlshabers Lewis O. Lyne den
Verantwortlichen in Hamburg
zu überbringen.
Schäfer muss den
Rückweg allein antreten. Das Schreiben
hat er vorsichtshal-
ber unter der Einlegesohle seines
Schuhs versteckt, denn falls die
SS es bei ihm findet, droht ihm
die Erschießung. In dem Brief
heißt es nämlich, dass Tausende
von Bombern bereitstünden, um
die Stadt restlos auszuradieren.
Aber so weit müsse es nicht kommen. „Im Namen der Menschlichkeit verlangen wir die Übergabe von Hamburg.“ Alwin Wolz,
Hamburgs Kampfkommandant,
lächelt zufrieden, als er den Brief
tags darauf liest. „Das können die
Herren Engländer bald haben“,
entgegnet er.
Denn inzwischen sind Wolz
und Kaufmann entschlossen, die
Befehle Hitlers zu missachten.
Und weil sie wissen, dass sie damit ihr Leben riskieren, treffen
sie Vorkehrungen. Beide sind
jetzt stets bewaffnet. Karl Kaufmann verlässt seinen Amtssitz,
die heutige Hochschule für Musik und Theater, überhaupt nicht
mehr. Drei ausgesuchte Volkssturmbataillone sichern das
Areal rund um die Milchstraße
gegen einen möglichen Angriff
der SS.
Unterdessen beginnen intensive Geheimverhandlungen mit
den Engländern: Wolz hat zwei
Offiziere mit Antwortbriefen zu
den Briten geschickt. Man sei bereit, über eine Kapitulation zu reden, heißt es darin. Dann überschlagen sich mit einem Mal die
Ereignisse: Am 1. Mai wird bekannt, dass Hitler tot ist, angeblich im Gefecht gefallen. Großad-
Foto: dpa
3. Mai 1945: Britische Panzer
überqueren die Elbbrücken und
fahren über Heidenkampsweg
und Mönckebergstraße bis zum
Rathaus.
miral Karl Dönitz, der zum Nachfolger bestimmt ist und ahnt, was
in Hamburg vor sich geht, warnt
Kaufmann, untersagt ausdrücklich zu kapitulieren. Dann passiert ein Fehler, der folgenreich
hätte sein können: Am 1. Mai – 24
Stunden früher als beabsichtigt –
wird am Gänsemarkt im Schaukasten der „Hamburger Zeitung“
eine Sonderausgabe ausgehängt,
in der Kaufmann die Kapitulation
ankündigt.
Die Nachricht geht wie ein
Lauffeuer durch die Stadt. Kaufmann drohen die Absetzung und
die Erschießung. Aber im letzten
Moment schaltet sich Rüstungsminister Albert Speer ein. Mit Erfolg. Am 2. Mai gibt Dönitz nach.
Aus dem Fernschreiber tickert:
„Hamburg ist ab sofort eine offene Stadt.“
Noch am selben Abend kommt
es in einem Landhaus in Klecken,
dem Hauptquartier der 131st Infantry Brigade, zu Kapitulationsverhandlungen, die bis tief in die
Nacht dauern. Es nehmen auf
deutscher Seite der ehemalige
Bürgermeister und Staatsrat Wilhelm Burchard-Motz und General Wolz daran teil. Als am Tag
darauf eine Delegation des Oberkommandos der Wehrmacht die
Kapitulationsurkunde
unterschrieben hat, beginnt die Übergabe der Stadt.
Der Krieg in Hamburg ist vorbei. Aber ohne den Mut der drei
Männer wäre das nicht möglich
gewesen: Otto von Laun (gest.
2000) macht sich später als Völkerrechtler einen Namen. Hermann Burchard (gest. 1973) leitet
später das Kinderkrankenhaus in
den Walddörfern. Und Albert
Schäfer (gest. 1971) wird Präses
der Handelskammer Hamburg
und Präsident des Deutschen Industrie- und Handelstages.
Krieg zu Ende ging
ten. Ein Anblick, den viele Soldaten nie mehr vergessen werden.
Um 19 Uhr zieht sich Spurling
ins Hotel „Atlantic“ zurück, wo
für ihn und seinen engsten Stab
ein Abendessen vorbereitet ist.
Vereinzelt kommt es in Hamburg zu Übergriffen britischer
Soldaten. Mindestens fünf Frauen werden vergewaltigt – wahrscheinlich sind es viel mehr. Augenzeugen berichten auch von
„Tommys“, die mit vorgehaltener Waffe von Haus zu Haus ziehen und Schmuck und Uhren for-
dern. Doch dies sind Einzelfälle.
Schon nach wenigen Wochen hat
die britische Militärpolizei die
Lage im Griff.
In Hamburg beginnt nun eine
neue Ära. Führende Nazis, darunter Ex-Gauleiter Karl Kaufmann, werden festgenommen
und interniert. Die britische Militärverwaltung muss nun sehr
schnell handeln: Die Bevölkerung hungert. Und auch Wohnraum ist knapp. Es folgen Jahre,
die geprägt sind von Not und
Entbehrung ...
3. Mai 1945, 18.25 Uhr: Der Hamburger Kampfkommandant Alwin Wolz (salutierend) übergibt die Stadt an
Brigadegeneral John Spurling (mit weißem Koppel). Damit ist in Hamburg der Krieg beendet.
IV HAMBURG
Kunst zum Weltkrieg
Sonntag, 3. Mai 2015
„Ich war so jung, ich
kannte nur Krieg“
Kleine Zeichnungen – große
Wirkung: Künstler Dan Perjovschi
Liebe
Leserinnen,
liebe Leser,
die heutige Ausgabe der MOPO
am Sonntag ist in mehrfacher
Hinsicht eine besondere. Zum
einen enthält sie eine Beilage
zum 70. Jahrestag des Kriegsendes in Hamburg. Zum anderen hat der rumänische Künstler Dan Perjovschi diese zwölf
Seiten mit Zeichnungen zum
Thema Weltkrieg versehen.
Perjovschi (54) ist ein international renommierter Zeichner,
der mit seinen Aktionen immer
wieder für Aufsehen sorgt. Seine Kunst besteht darin, mit
kleinen Zeichnungen große
Wirkung zu erzielen und den
Betrachter zum Nachdenken zu
bringen. Seine Arbeiten sind
auf den ersten Blick simpel, bestehen oft nur
aus wenigen
Strichen. Dahinter verbergen sich Witz
und
Ironie,
mit
denen
Perjovschi gesellschaftliche Entwicklungen kommentiert.
Dazu kombiniert er Zeichnungen, Cartoons und Graffiti. Perjovschi arbeitet regelmäßig mit
Zeitungen und Magazinen zusammen. Die Kooperation mit
der MOPO am Sonntag entstand auf Initiative der Stadtkuratorin Hamburg, die in diesem Jahr das Projekt „Kunst im
öffentlichen Raum“ ins Leben
gerufen hat. Wir hoffen, dass
Sie das Resultat ebenso interessant finden wie wir.
FRANK NIGGEMEIER
[email protected]
Friedrich Koch ist im Mai 1945
gerade 15 Jahre alt. Seine Familie
wohnt im Göhlbachtal in Harburg, nur ein paar Kilometer
von der Front entfernt. „Ich war
jung, ich kannte nur Krieg“, erzählt der 85-Jährige. „Ich weiß
noch, wie irritiert ich war, als
plötzlich keine Schüsse mehr
fielen, keine Sirenen mehr heulten. Das war ganz neu für mich.“
Koch erinnert sich an die letzten Kriegstage. Wie er zum Beispiel aus seinem Kinderzimmerfenster begeistert einen
Luftkampf zwischen zwei deutschen Jagdflugzeugen und vier
britischen Spitfire-Maschinen
beobachtet. Er kann von dort
sogar die englischen Sturmgeschütze sehen, die von der gegenüberliegenden
Anhöhe
Richtung Harburg schießen.
„Wenn dann die 12,5-Zentimeter-Kanone der Wehrmacht
drüben in Ehestorf zurückfeuerte, dann schepperten bei
uns im Haus die Fenster, und
Stuermann, mein Hund, verkroch sich in unserem Luftschutzkeller.“
Davon, dass Gauleiter Karl
Kaufmann Hitlers Durchhalte-Befehl missachtet und kapituliert, weiß der Junge
nichts, als er am 4. Mai morgens
im Bett liegt. „Es war wohl schon
sehr spät, jedenfalls kam meine
Mutter fauchend
herein,
brüllte
,Dich soll wohl der
Tommy aus dem
Bett holen!‘ – und
im selben Moment trat hinter
ihr ein britischer
Soldat mit vorgehaltenem Gewehr
ins Zimmer. Ich
musste in dem
Moment lachen. Meine Mutter
drehte sich um und stieß ein erschrockenes: ,Ja, was wollen Sie
denn hier?‘ aus.“
Koch erinnert sich, dass die
Briten in den ersten Tagen plündernd durch die Gegend zogen.
„Einmal ging ein englischer Soldat am Haus vorbei. Als er Musik hörte, hat er mir sofort das
Radio weggenommen. Allerdings hat er dabei eine Tüte mit
Äpfeln bei uns vergessen. Und
die war mir fast lieber.“
Es folgen schwere Jahre. „Das
Schlimmste war dieser Winter
Friedrich Koch
1943. Da ist er 13
und auf „Kinderlandverschickung“
in Ungarn. Ganz
rechts sein Kumpel
Hans-Joachim
Bartsch, in der
Mitte ein DeutschUngar, mit dem sie
sich dort angefreundet haben.
46/47“, sagt er. „Von Ende Dezember bis weit in den März war
es durchgehend bitterkalt, Tausende sind erfroren.“
Friedrich Koch ist in dieser
Zeit fast jede Nacht unterwegs,
um irgendwo Brennmaterial zu
„organisieren“. Sprich: Er ist
Kohlendieb. „Einmal war ich
gerade dabei, Kohlen in
meinen Sack zu packen,
als der Zug plötzlich anfuhr – und erst auf der
Veddel hielt er wieder
an. Bei Eis und
Schnee musste ich
den ganzen Weg zurücklaufen. Ein anderes Mal bin ich auf der
Flucht vor der Polizei
nachts in einen Graben gesprungen. Ich lag da und wunderte
mich, warum es plötzlich so
stinkt. Bis ich bemerkt habe,
dass ich in einem Haufen Mist
saß. Hätte mich die Polizei erwischt – ich glaube, die hätte
mich sofort wieder laufen lassen.“
Fotos: Wunder
Foto: SZ Photo/Rumpf
Zeitzeuge Friedrich
Koch aus Harburg ist
15 und Hitlerjunge,
als die Briten
einmarschieren
Inzwischen 85 Jahre alt:
Friedrich Koch lebt auch heute
noch in dem elterlichen Haus
im Göhlbachtal in Harburg.
HAMBURG V
Foto: dpa
Sonntag, 3. Mai 2015
Helga Bischoffs Heimat:
Am Ende des Krieges wird
Königsberg, die Hauptstadt
Ostpreußens, schwer
zerstört. Bischoff, damals
17, flieht nach Hamburg.
„Ich sah, wie Königsberg
unterging“
Helga Bischoff ist jung und schön. In Königsberg hat sie an der Oper eine Ausbildung zur Tänzerin absolviert. Dann aber
bricht der Krieg aus. Im August 1944 muss
sie erleben, wie britische Bomber ihre geliebte Heimatstadt in Schutt und Asche legen. Schließlich beginnt Anfang 1945 die
furchtbare Schlacht um Königsberg, die
der Stadt den Untergang bringt.
Helga Bischoff will jetzt nur noch eins:
Königsberg verlassen! Abhauen in den
Westen, bevor „der Russe“ kommt! Gemeinsam mit ihrer Mutter tritt sie die
Flucht an. Furchtbare Erinnerungen daran
hat sie. Vor allem an die Angriffe durch
Tiefflieger. „Ich habe so viele Leichen gesehen, es war furchtbar.“
Zuflucht findet Helga Bischoff in Hamburg. „Ich hatte Hunger, keinen Job, nur einen Traum“, erzählt sie, „nämlich ein Star
zu werden wie Marika Rökk.“ Und sie bekommt ihre Chance: Das Flora-Theater im
Schanzenviertel, das die Bombenangriffe
auf Hamburg weitgehend unbeschadet
überstanden hat, eröffnet 1946 neu. Es gibt
große Revuen: „Csárdásfürstin“, „Fledermaus“, „Gräfin Mariza“, „Maske in
Blau“. Und Helga Bischoff steht jedes
Mal auf der Bühne.
Auch am Theater herrscht damals
Not: „Kostüme haben wir aus Fallschirmseide genäht, Kleider aus Wolldecken“, erzählt sie. „Weil es
nicht mal genug Brennmaterial
gab, um das Theater zu heizen,
mussten die Zuschauer im Winter Eintritts-Briketts mitbringen. Und am Ende der Vorstellung hat uns das Publikum nicht
etwa mit Blumen beschenkt, sondern mit Butter, Käse und Brot!“
Eine zweite Marika Rökk wird Helga Bischoff nicht. Sie heiratet, wird
schwanger, bringt einen Sohn zur Welt
und arbeitet viele Jahre in der Bibliothek
der Hochschule für Musik und Theater in
Harvestehude. Heute lebt sie in Hamm –
und erzählt gerne von ihrer Theaterzeit.
„Ich habe gehungert, ich habe gefroren,
aber ich war glücklich“, sagt sie.
Foto: Wunder
Helga Bischoff flieht im März
1945 aus Ostpreußen nach
Hamburg – und wird Tänzerin
am Flora-Theater
Helga Bischoff ist inzwischen 87 Jahre alt.
Das Foto, das sie in der Hand hält, zeigt sie
als Tänzerin des „Flora-Theaters“.
VI HAMBURG
Foto: Denkmalschutzamt
Sonntag, 3. Mai 2015
Razzia gegen Schwarzmarkthändler
1946 in St. Pauli. Die Polizei geht
immer wieder hart gegen den
Tauschhandel vor. Doch der
Kampf dagegen ist aussichtslos.
Foto: Wunder
„Mit Schwarzmarkthandel
hielten wir uns
über Wasser“
Im Winter
1946/47
haben sie
geheiratet:
Ursula (86)
und Heinz
Loest (92).
Sie leben
heute in
HoheluftWest.
Ehepaar Loest erzählt von Hunger und Not in der Nachkriegszeit
chen und ließ es vom Kellner zuteten Moment so viel in meinen Eistellen.“ So lernen sich die beiden
mer gepackt, wie reinpasste, habe
kennen. 1946 heiraten sie, bald
Sand drübergeschaufelt und bin
kommt das erste Kind.
weg.“ Tags darauf verhökert er seiDie Familie zu ernähren, ist
ne Beute auf dem Schwarzmarkt.
nicht leicht. Lebensmittel sind ra„Meistens spielte sich das an der
tioniert und die
Susannenstraße
Rationen so klein,
„Jeder hat gestohlen. ab“, erzählt Heinz
dass es nicht zum
Loest. „Da standen
Wer überleben
Leben und nicht
überall die Händwollte, musste das.“ ler – die einen verzum
Sterben
reicht. Aber Heinz
schämt in den
Heinz Loest (92)
Loest lässt sich
Hauseingängen,
was einfallen. „Nachts bin ich im
die anderen offen auf der Straße.
Hafen herumgeschlichen und haDu hörtest überall, wie Leute einbe verrostete Kähne ausgeschlachander zuraunten: ,Butter? Zigarettet. Das Altmetall habe ich dann
ten?‘ Dann ließen sie für den
verhökert.“
Bruchteil einer Sekunde ihre WaAuch tagsüber hält er immer seiren aus ihrer Jackentasche hervorne Augen auf. „Ich kam ja viel herblitzen. Alles musste ja schnell und
um, habe mal hier, mal da Bombenunauffällig gehen, denn Schwarzschäden ausgebessert.“ Einmal hat
markthandel war streng verboten.“
er bei einer Schneiderei zu tun und
Loest erinnert sich, einmal bei
lässt 40 Rollen Garn mitgehen. Ein
einem richtigen Schieber zu Hause
anderes Mal arbeitet er für eine
gewesen zu sein: „Ich dachte, ich
Drogerie. „Da stand Seife rum. Datraue meinen Augen nicht. Alle
von habe ich in einem unbeobachhungerten, aber der hatte die ganze
Wohnung voll mit Sachen, die es
seit Jahren nicht mehr gab“, erzählt
er. „Es war ziemlich leichtsinnig,
Foto: Norbert Joa
Heinz Loest (92) gibt es offen zu:
„In den Nachkriegsjahren habe ich
gestohlen. Das hat damals jeder so
gemacht“, sagt er. „Das musste
man, wenn man überleben wollte.“
Heinz Loest ist 22 Jahre alt, als
der Krieg aus ist. Wenige Monate
zuvor ist er desertiert, hat sich von
Amerikanern gefangen nehmen
lassen. Weil er Maurer ist und Leute wie er für den Wiederaufbau gebraucht werden, kommt er schon
im Sommer 1945 frei. Die Rückkehr
nach Hamburg hat er sich allerdings anders vorgestellt. Seine
Verlobte hat inzwischen einen
neuen Freund, einen englischen
Soldaten…
Im Sommer 1945 begegnet Loest
seiner heutigen Frau Ursula. Sie ist
16 und darf zum ersten Mal ausgehen. „Ich bin mit einer Freundin ins
Café Meyer am Neuen Pferdemarkt gegangen“, erzählt sie. „An
diesem Tag war ,Saalpost‘. Das bedeutete: Hatte ein Mann Interesse
an einer Frau, schrieb er ein Kärt-
mich dahin mitzunehmen. Ein anderer hätte den Kerl totgeschlagen
und die ganze Bude ausgeräumt.“
IIch
ch ssaß
aß iim
mK
KZ,
Z,
Lebt heute in Prag: Dagmar Lieblová (85)
Das KZ Bergen-Belsen in
Niedersachsen. Britische
Soldaten, die am 15. April
1945 bei der Befreiung des
Lagers dabei sind, werden
den Anblick nie vergessen:
Zigtausende Leichen liegen überall herum. Dazwischen Häftlinge, abgemagert bis auf die Knochen.
Dagmar Lieblová, damals 15 Jahre alt, ist eine
von diesen Halbtoten. Sie
ist schwer krank. Hat Tuberkulose. Außerdem ist
HAMBURG VII
Sonntag, 3. Mai 2015
als
als die
die Briten
Briten kamen
kamen
sie gezeichnet von Hunger,
Durst, Kälte und den täglichen
Grausamkeiten der SS. „So lange
hatte ich auf den Tag der Befreiung gewartet“, erzählt die inzwischen 85-Jährige. „Dann
aber hatte ich nicht einmal die
Kraft, um aufzustehen.“
Dagmar Lieblová ist Tschechin, Tochter eines jüdischen
Arztes. 1942 ist ihre Familie in
das Ghetto Theresienstadt gebracht und im Jahr darauf ins
Vernichtungslager AuschwitzBirkenau deportiert worden.
„Ich bekam die Nummer 70788
eintätowiert“, erzählt sie. „Ich
war froh, denn es hieß: Wenn du
eine Nummer hast, wirst du
nicht umgebracht.“
Aber nicht die Nummer, sondern ein Irrtum der SS rettet
Dagmar Lieblová das Leben. Im
März 1944 werden 3791 Frauen,
Männer und Kinder an einem
einzigen Tag in die Gaskammer
geführt und ermordet. „Eigentlich hätte ich auch dazugehört,
aber die SS hatte mein Geburtsdatum falsch aufgeschrieben.
Die Tschechin überlebt
Auschwitz, Neuengamme
und Bergen-Belsen
Sie hielten mich für fünf Jahre
älter – deswegen kam ich zu den
Arbeitsfähigen.“
Sie wird nach Hamburg gebracht, in ein Außenlager des
KZ Neuengamme. Mit bloßen
Händen muss sie Bombentrümmer wegräumen und Panzergräben ausheben gegen die anrückenden englischen Truppen.
Im April 1945, als die SS das
KZ Neuengamme auflöst, werden alle Gefangenen weggeschafft. Sie sollen nicht den Alliierten in die Hände fallen. So
wird Dagmar Lieblová ins KZ
Bergen-Belsen gebracht, an einen Ort, an dem, wie sie sagt,
„der Tod regierte. Es gab kein
Wasser, nichts zu essen. Es gab
keine Pritsche, nicht mal Stroh.
Wir lagen auf dem nackten Boden. Und überall um uns herum
Leichen, die niemand mehr
wegräumte. Man konnte sich
nirgends hinlegen, der Boden
war voll mit Toten, mit Ungeziefer, mit Dreck.“
Nach der Befreiung durch die
Briten verbringt sie zweieinhalb
An Ruhr, Typhus und an einer
besonderen Form von Malaria,
mit der auch ich mich ansteckte.“
Mitten im Elend erfährt er ein
wenig Menschlichkeit: „Ich war
immer der Jüngste und eine russische Ärztin erklärte es zu ihrer
wichtigsten Aufgabe, wenigstens dem ,Jungen’ das Leben zu
retten. Sie ist mitten im Winter
mit einem Schlitten nach Moskau gefahren, um Penicillin zu
besorgen. So habe ich überlebt.“
Am 10. April 1947 – Lucks ist
inzwischen 18 – erhält er zum
ersten Mal die Genehmigung,
eine Karte nach Hause zu
schreiben. Genau 25 Worte.
Mehr sind nicht erlaubt: Er gratuliert der „lieben Mutti“ zum
Geburtstag.
Es ist etwa in dieser Zeit, dass
sich der junge Mann zum ersten
Mal verliebt. Er muss inzwischen auf Moskauer Baustellen
Mietskasernen im Akkord hochziehen. Durch den Drahtzaun
erblickt er das zauberhafte Wesen, das ihn vom Fenster aus beobachtet. Er winkt schüchtern,
Walja, so ihr Name, winkt
schüchtern zurück. Ein Techtelmechtel beginnt. Lucks besticht
den Wachmann, damit der ihn
wenigstens für ein paar Stunden
hinaus in die Freiheit lässt. Erste
Zärtlichkeiten. Erste Küsse.
Erste Liebe.
Ende Dezember 1949 entlassen die Russen Lucks in die Freiheit. Am 4. Januar 1950 – auf den
Tag genau fünf Jahre nachdem
er seine Heimatstadt verließ –
fährt sein Zug in Hamburg ein.
Walja sieht er nie wieder.
Neuengamme
Foto: Wunder
Während in Hamburg der Krieg
vorbei ist, geht er für ihn weiter.
Noch viele Jahre. Denn Günter
Lucks gerät 1945 als blutjunger
Angehöriger der Waffen-SS in
sowjetische
Kriegsgefangenschaft. Erst 1950 – da ist er 21 –
kommt er frei.
Die Geschichte beginnt im Juli 1943. Lucks, damals 15, wird
über Nacht erwachsen. Der Feuersturm! Mit einer noch nie da
gewesenen Wucht greifen alliierte Bomberverbände Hamburg an. „Als der Dachstuhl unseres Hauses brannte, bin ich
mit meinem Bruder die Treppen
hinaufgelaufen, um zu löschen.
Plötzlich trifft mich irgendetwas
am Kehlkopf. Ich
ringe nach Luft,
breche
zusammen.“ Bruder Hermann will Hilfe holen, eilt zum Haus
der
Tante.
Er
kommt nie mehr
zurück. Als Günter
später nach ihm
sucht, findet er nur
noch Trümmer vor.
Und sieht verkohlte,
verschrumpelte LeiDer Krieg war schon fast vorbei, da kam der 16-jährige Günter Lucks noch zur Waffen-SS. Er geriet
chen, die in Waschin russische Gefangenschaft. Am Arm die Blutgruppen-Tätowierung, die jeder SS-Mann hatte
wannen davongetragen werden.
r Hitlers
Als Lucks Ende
heute kampflos übergeben wordort stellt sich heraus: Die GeDas Buch „Ich wa n Günter Kämpfe ver1944 von Hitlers Be- letztes Aufgebot“ vo wohlt- wickelt. Mehden!“ Es ist der 3. Mai 1945.
fangenenlager sind voll. Also
Ro
fehl hört, dass alle waf- Lucks erscheint im 99 Euro. rere GranatLucks’ Einheit wird aufgerieweiter nach Tallinn. Als der
9,
fenfähigen Männer im Verlag und kostet
splitter treffen
ben, er und seine
Transport bei 26
Alter von 16 bis 60 zum
Lucks in Arm
Kameraden
An dem Tag, an dem Grad minus anVolkssturm zusammengefasst
und Körper, dazu ein Schuss ins
kommen in ruskommt, sind von
Hamburg kapituliert, den 40 Kamerawerden, meldet er sich freiwilGesäß.
sische Gefangenlig. Nach kurzer Ausbildung
In einer Notoperation rettet
schaft.
Eine
kämpft ein Arzt um den in Lucks’
wird ihm eröffnet: „Du meldest
ihm ein Truppenarzt das Leben.
Odyssee in ViehWaggon sieben
Günter Lucks’ Leben. tot.
dich jetzt freiwillig zur WaffenLucks erinnert sich: „Bevor mir
waggons durch
SS. Was dagegen?“ Wenig später
der Doktor die Äthermaske aufOsteuropa beEtliche Lager
ist die „SS-Panzerdivision Hitsetzte, sagte er zu mir, um meine
ginnt. Erst Tschechien, dann Rudurchläuft Lucks, eines ist
lerjugend“, der er nun angehört,
Familie müsse ich mir keine Sormänien. Anschließend im Güschlimmer als das andere. „Die
in der Nähe von Wien in heftige
gen mehr machen: Hamburg ist
terzug nach Stalingrad. Doch
Leute starben wie die Fliegen.
Foto: KZ Gedenkstä
tte
„Mit 16 kam ich
zur Waffen-SS“
Günter Lucks gerät in
russische
Gefangenschaft. Er
kommt erst 1950 frei
Sie war 15 Jahre
Briten sie aus de alt, als die
m KZ befreiten.
Jahre in Krankenhäusern und einem Sanatorium. Endlich wieder genesen, holt sie ihre Schulabschlüsse nach und studiert.
Sie wird Professorin für Germanistik in Prag, wo sie bis heute
lebt.
VIII HAMBURG
Sonntag, 3. Mai 2015
Fotos: dpa (3), Staatsarchiv Hamburg, MOPO Archiv
Hunger, Wohnungsnot
Um die Versorgung mit günstigen,
aber guten Produkten sicherzustellen,
schuf der deutsche Wirtschaftsrat
1948 das Jedermann-Programm.
So kamen endlich wieder bezahlbare
Schuhe in die Läden.
Nachkriegszeit
in Hamburg –
eine Chronik
3. Mai 1945: Hamburg kapituliert und
wird von britischen Truppen besetzt.
4. Mai 1945: Als erster deutscher Sender unter britischer Regie strahlt Radio Hamburg wieder ein Programm
aus. Britische Einheiten besetzen die
Werft Blohm + Voss und erklären das
gesamte Betriebsgelände zum Sperrgebiet. Gauleiter Karl Kaufmann wird
unter Hausarrest gestellt und wenig
später in Internierungshaft genommen.
8. Mai 1945: Die ersten Züge der UBahn fahren wieder, allerdings noch
sehr unregelmäßig. Da nur selten Züge
fahren und sonst noch keine Verkehrsmittel unterwegs sind, sind die Züge
sehr überfüllt.
10. Mai 1945: Der 55-jährige Oberst
Harry William Hugh Armytage wird
Stadtkommandant von Hamburg.
11. Mai 1945: Bürgermeister Carl Vincent Krogmann wird festgenommen.
15. Mai 1945: Die britische Besatzungsmacht ernennt den Kaufmann Rudolf
H. Petersen zum Bürgermeister.
1. Juni 1945: Im Hafen werden wieder
HAMBURG IX
Sonntag, 3. Mai 2015
und Schwarzmarkthandel
Zigtausende Bürger
hausen in Ruinen
und Nissenhütten.
Zahllose Hamburger
erfrieren im
SchreckensWinter 1946/47
Was mag in den Köpfen der Hamburger vorgehen, als britische
Truppen die Stadt besetzen? Die
allermeisten sind gewiss froh,
dass der Krieg vorbei ist. Kein
Fliegeralarm mehr. Keine Bombenangriffe. Dennoch empfinden viele den Einmarsch der
fremden Soldaten als Niederlage.
Von Befreiung spricht damals
kaum jemand.
Die Bilanz des Krieges fällt erschreckend aus: Keine deutsche
Stadt – nicht einmal das ausgebombte Dresden – hat unter
dem Krieg so gelitten wie Hamburg. Rund 120 000 Bürger sind
gestorben, die einen als Soldaten an der Front, andere bei den
Luftangriffen daheim, wieder
andere als politisch oder rassisch Verfolgte in Gefängnissen
und Konzentrationslagern. Weite Teile der Stadt liegen in
Schutt und Asche. Mehr als die
Hälfte der Wohnungen sind
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200 000 Hamburger
protestieren im Mai
1947 gegen die
unzureichende Lebensmittelversorgung.
Die Briten stellten 1946 Nazi-Verbrecher im Hamburger Curiohaus vor Gericht. Etliche SS-Leute, die im KZ
Neuengamme aktiv waren, wurden zum Tode verurteilt. Dieses Foto stammt aus dem Ravensbrück-Prozess.
Bei den Luftangriffen
auf die Stadt wurde
im Krieg die Hälfte
des Wohnraums
vernichtet. Noch Jahre
leben Familien deshalb in provisorischen
Unterkünften.
Viele Jahre ein
vertrautes Bild in
Hamburg. In solchen
Nissenhütten lebten
Ausgebombte und
Flüchtlinge aus dem Osten.
Schiffe be- und entladen.
6. August 1945: Hamburgs Volksschulen
nehmen den Betrieb wieder auf.
22. September 1945: Der Sender Hamburg wird in Nordwestdeutscher Rundfunk (NWDR) umbenannt. Er soll nach
britischem Vorbild als staats- und parteiunabhängige Anstalt arbeiten.
22. Oktober 1945: Die Gasversorgung
wird wieder aufgenommen. 60 Prozent
der Hamburger haben damit jetzt jeden
zweiten oder dritten Tag Stadtgas.
6. November 1945: An der Uni finden wieder Vorlesungen statt.
31. Januar 1946: Schlag gegen den
Schwarzmarkthandel. Bei einer Razzia
in den Stadtteilen St. Pauli und Eppendorf stellt die Polizei 34 000 Zigaretten
und 25 Zentner Butter sicher.
21. Februar 1946: Die Wochenzeitung
„Die Zeit“ erscheint zum ersten Mal.
27. Februar 1946: Erstmals tritt die von
der Militärregierung ernannte Bürgerschaft im Rathaus zusammen.
7. Mai 1946: Bei den Curiohaus-Prozessen werden elf Angehörige der Wachmannschaften des KZ Neuengamme
zum Tode, drei weitere zu langjährigen
Haftstrafen verurteilt.
16. Juni 1946: Der HSV besiegt den Eimsbütteler Turnverband mit 2 : 1 und gewinnt damit die erste Nachkriegs-Fußballmeisterschaft in Groß-Hamburg.
27. Juni 1946: Mehrere Tausend Menschen demonstrieren gegen die britische
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X HAMBURG
Sonntag, 3. Mai 2015
Was die Nachkriegszeit vor allem prägt, ist Hunger. Weil die
Versorgungslage schlecht ist,
senkt die Militärregierung mehrfach die Pro-Kopf-Rationen. Viele Hamburger sind darauf angewiesen, Hamsterfahrten aufs
Land zu unternehmen, um bei
Bauern Wertsachen gegen ein
paar Kartoffeln einzutauschen.
Wer nichts zum Tauschen hat,
muss betteln – oder verhungert.
Der einzige Markt, auf dem es
wirklich alles in Hülle und Fülle
gibt, ist der Schwarzmarkt.
Als wäre das alles nicht schon
schlimm genug, bricht im Dezember 1946 auch noch ein Winter über die Hamburger herein,
den niemand, der ihn erlebt, je
vergessen kann. Bis Ende März
liegen die Temperaturen bei minus 20 Grad und zeitweise noch
darunter. Bald steht kaum noch
ein Baum in den Hamburger
Parks, In ihrer Not fällen die
Bürger einen nach dem anderen
und machen daraus Brennholz.
Nachts schleichen Jugendliche
zu Güterzügen und packen ih-
ren Rucksack voll mit Kohle.
Die Jahre der Nachkriegszeit
sind eine harte Prüfung für
Hamburgs Bevölkerung. Besserung tritt erst im Sommer 1948
ein. Genauer gesagt am 20. Juni.
Es ist der Tag der Währungsreform. 40 Mark Kopfgeld bekommt jeder, und mit einem Mal
sind die Auslagen in den Geschäften zum Bersten gefüllt.
Endlich gibt es mal wieder ein
paar neue Schuhe und echten
Bohnenkaffee. Wie schmeckt
der eigentlich noch mal ...?
Fotos: Staatsarchiv Hamburg (2), MOPO Archiv (2), Ullstein, Denkmalschutzamt, hfr
genen Clubs, verfügen über eizerstört. Insgesamt liegen 43
gene Schulen, eigene Buslinien,
Millionen Kubikmeter Trümmerschutt in den Straßen hereigene Shops und leben sogar in
um. Es hätte eines Güterzuges
fünf eigenen Wohngebieten,
von 30 000 Kilometern Länge
beispielsweise in Blankenese,
bedurft, um alles abzutransporOthmarschen und Harvestehutieren.
de. Tausende von Wohnungen
Mancher hat im Mai 1945 gewerden von den Briten requiriert, meist inklusive des Mobilidacht, dass es ein halbes Jahrhundert in Anspruch nehmen
ars.
wird, alles wieder aufzubauen.
Die Ausquartierten haben ein
Mindestens. Aber dann dauert
riesiges Problem. Der Wohes doch „nur“ zehn, 15 Jahre.
nungsbau läuft zwar schon bald
Quer durch die City werden
auf Hochtouren, kann aber die
Gleise verlegt für die sogenannNachfrage noch lange nicht decken. Denn auch
te Trümmerbahn,
mit der der Schutt
Der einzige Markt, Flüchtlinge aus
nach und nach abden Ostgebieten
auf dem es noch
drängen in die
transportiert
alles gibt, ist der Stadt. Die Folge ist,
wird. Ein Teil dadass Zigtausende
von dient dazu,
Schwarzmarkt.
den Ballindamm
von Bürgern noch
zu verbreitern. Viel wird in der
viele Jahre lang in Ruinen hauElbe versenkt. Und auch der
sen müssen, in Kellern und BunÖjendorfer Park ist auf einem
kern. Wer Glück hat, bekommt
Schutthaufen angelegt.
eine Nissenhütte zugewiesen.
Das Sagen in der Stadt haben
Überall entstehen Siedlungen
die britischen Besatzer. Die
aus solchen Wellblech-Behausungen.
„Tommys“ unterhalten ihre ei-
Erboste Hamburger gingen 1947 auf die Straße und demonstrierten
gegen die viel zu mageren Lebensmittelrationen.
Die Care-Pakete aus den USA
lindern die Not der Hamburger ein
wenig. Dieser Junge freut sich über
die erste Schokolade seit Jahren.
Wohnungspolitik. Der Grund: 40 000
Menschen westlich und nördlich der
Außenalster müssen ihre Wohnungen
verlassen, weil sie als Unterkünfte für
die britische Kontrollkommission gebraucht werden.
13. Juli 1946: Gegen weitere fünf ehemalige Aufseher des KZ Neuengamme werden Todesurteile verhängt. Ein Ange-
klagter bekommt 15 Jahre Gefängnis.
31. Juli 1946: Zwei Todesurteile gegen
SS-Männer aus dem KZ Neuengamme,
ein Angeklagter wird freigesprochen.
13. Oktober 1946: Die SPD siegt bei der
ersten Bürgerschaftswahl nach dem
Krieg.
22. November 1946: Der neue Senat wird
vereidigt. Bürgermeister Max Brauer
tritt sein Amt an.
15. Februar 1947: Die Kältekatastrophe
hat Hamburg fest im Griff: Seit Wochen
ist es klirrend kalt in der Stadt, es gibt
kaum noch Brennmaterial. Max Brauer
fordert von der Militärregierung Sofortmaßnahmen.
9. Mai 1947: 200 000 Menschen folgen einem Streikaufruf der Gewerkschaften
und protestieren damit gegen die unzureichende Lebensmittelversorgung.
3. September 1947: 14 von 18 angeklagten
SS-Führern und Gestapo-Beamten werden zum Tode verurteilt. Sie sind der Erschießung von 50 britischen Fliegeroffizieren schuldig.
21. November 1947: Das Drama „Draußen
vor der Tür“ von Wolfgang Borchert
HAMBURG XI
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Dieses Foto verdeutlicht, wie katastrophal die Versorgungslage
der Bevölkerung nach dem Krieg war: Dieser Junge ist in Lumpen
gekleidet, hat keine Schuhe und sucht im Müll nach Essbarem.
Die meisten Männer waren noch
in Gefangenschaft, als die
„Trümmerfrauen“ damit anfingen,
die Stadt wiederaufzubauen.
Diese Familie
haust im
Keller eines
zerbombten
Hauses.
Gewaschen
werden die
Kinder in der
Küche. Wasser
muss mit
einem Eimer
geholt
werden.
wird in den Kammerspielen uraufgeführt.
Darin geht es um das Schicksal der
Kriegsheimkehrer.
31. Dezember 1947: Die britische Militärregierung beendet die Entnazifizierung. Seit
1945 sind 327000 Personen auf ihre NaziVergangenheit hin überprüft worden.
5. Januar 1948: Hamburgs Hafenarbeiter
streiken gegen die unzureichende Le-
Ihn ernannten die Engländer im Mai
1945 zum Bürgermeister: Rudolf
Petersen. 1946 wurde er von Max
Brauer (SPD) abgelöst.
Im September 1945 begannen die
Schulspeisungen: Viele Kinder
erhielten von da an ein Mal am
Tag eine warme Mahlzeit.
bensmittelversorgung.
1. Februar 1948: Die Militärregierung befiehlt die Demontage von Blohm + Voss.
Dadurch verlieren 40 000 Arbeiter ihren
Job.
20. Juni 1948: Über die Nacht sind die Läden voll – mit der D-Mark-Einführung
beginnt das Wirtschaftswunder.
2. Mai 1948: Durch ein 2:1 über den FC St.
Pauli wird der HSV Norddeutscher Fußballmeister.
24. Mai 1948: Vor 40 000 Zuschauern unterliegt der frühere Schwergewichtsweltmeister Max Schmeling in Hamburg seinem Rivalen Walter Neusel.
Schmeling beendet daraufhin seine Karriere.
22. Februar 1949: Der Wiederaufbau läuft
auf Hochtouren. Seit Kriegsende sind in
Hamburg 53 480 Wohnungen neu gebaut
oder instand gesetzt worden, bis 1954
sollen rund 60 000 folgen.
15. Mai 1949 Mit 97 gegen drei Stimmen
billigt die Hamburger Bürgerschaft das
Grundgesetz der Bundesrepublik.
16. September 1949: Zum ersten Mal erscheint die „Hamburger Morgenpost“.
XII HAMBURG
Sonntag, 3. Mai 2015
Was aus ihnen
geworden ist
Hamburgs Nazis
Foto: Staatsarchiv Hamburg
Das „Who is Who“ der braunen Brut:
Hamburgs führende Nazis. Sie sind verantwortlich für unsägliches Leid, sind
schuld am Tod unzähliger Menschen.
Einige haben dafür gebüßt. So wurden
mehrere SS-Mörder aus Neuengamme
1946 hingerichtet. Doch es fällt auf, dass
ausgerechnet die führenden NS-Persönlichkeiten der Stadt mit milden Strafen
davongekommen sind. Karl Kaufmann,
Hamburgs Reichsstatthalter, der Mächtigste von allen, wurde nicht einmal vor
Gericht gestellt.
Foto: MOPO-Archiv
Carl Vincent Krogmann
Mai 1945 von den Briten verhaftet und
interniert. Ein Ermittlungsverfahren
wegen „Verbrechen gegen die Mensch-
rufungsverfahren wurde
die Strafe auf viereinhalb
Jahre ermäßigt. Ahrens
starb 1974 in Hamburg.
Der Mann aus Aasbüttel
(Kreis Rendsburg) hatte
eigentlich keine Berufsausbildung, arbeitete in
der Landwirtschaft. Ab
1941 leitete Göttsche bei
der Gestapo in Hamburg
das Dezernat II B – auch
„Judenreferat“ genannt.
Göttsche organisierte die
Deportation der jüdischen Bevölkerung Hamburgs. Damit ist er mitverantwortlich für den Mord
an 8877 Hamburger Juden. Am 12. Mai 1945 ver-
Foto: KZ Gedenkstätte
Neuengamme
weitere Angeklagte zum
Tode. Am 8. Oktober 1946
wurde Pauly im Zuchthaus Hameln gehängt.
Dr. Kurt Heißmeyer
Foto: Staatsarchiv
Claus Göttsche
Er war für seine Grausamkeit bekannt, hat unzählige Menschen auf dem Gewissen: Max Pauly, der
Sohn eines Haushaltswarenhändlers, war von August 1942 bis zum Kriegsende Kommandant des
KZ Neuengamme. 1946
wurde der SS-Standartenführer zusammen mit
dreizehn weiteren SSMännern in Hamburg vor
ein britisches Militärgericht gestellt. Die Richter
verurteilten ihn und zehn
Georg-Henning von Bassewitz-Behr
übte er in Volksdorf mit
Zyankali Selbstmord, als
britische Soldaten ihn
verhaften wollten.
Der Mediziner Dr. Kurt
Heißmeyer nahm im KZ
Neuengamme Versuche
an Menschen vor. Zu den
„Versuchskaninchen“, die
er mit Tuberkulose infizierte, gehörten auch die
20 Kinder, die kurz vor
Kriegsende im Keller der
Schule am Bullenhuser
Damm erhängt wurden.
Nach 1945 wurde zunächst
kein Haftbefehl gegen den
Arzt erlassen. Er eröffnete
eine Tuberkulose-Praxis
in Magdeburg. 1963 wurde
1941/42 war Georg-Henning Graf von BassewitzBehr als SS-Offizier verantwortlich für die Ermordung Tausender Zivilisten, Partisanen und Juden in der Sowjetunion.
1943 wurde er zum Höheren SS- und Polizeiführer
von Hamburg ernannt
und war auch für die Räumung des KZ Neuengamme verantwortlich. 1947
wurde er in Hamburg von
einem britischen Militärgericht freigesprochen,
dann aber an die UdSSR
ausgeliefert. Er erhielt 25
Jahre Zwangsarbeit, starb
1949 im sibirischen Gulag.
Dr. Alfred Trzebinski
Foto: KZ Gedenkstätte Neuengamme
Georg Ahrens war Staatssekretär, stellvertretender Reichsstatthalter und
nach Kaufmann der einflussreichste Nazi der
Stadt. Seit 1943 sagte er
persönlich die Luftlagemeldungen für Hamburg
im Rundfunk an. Wegen
seiner
beruhigenden
Stimme gab ihm der
Volksmund den Spitznamen „Onkel Baldrian“.
Ahrens wurde am 5. Juli
1948 zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt. Im Be-
Max Pauly
Foto: Staatsarchiv Hamburg
Georg Ahrens
Foto: MOPO-Archiv
Er war im Dritten Reich der mächtigste
Mann in Hamburg: Reichsstatthalter
Karl Kaufmann (Foto r.) wurde am 4.
lichkeit“ führte zu einer Anklageschrift, aber zu einem Prozess kam es
nicht. Kaufmann war Teilhaber eines
Versicherungsunternehmens und einer chemischen Fabrik. Er starb 1969
als gut situierter Bürger in Hamburg.
er verhaftet und 1966 zu
lebenslanger Haft verurteilt. Er starb 1967 in Bautzen an einem Herzinfarkt.
Als KZ-Arzt von Neuengamme war Dr. Alfred
Trzebinski beteiligt an der
Ermordung der 20 Kinder
in der Schule am Bullenhuser Damm. Trzebinski
schläferte die Kinder am
20. April 1945 mit Morphium ein, damit andere SSLeute sie leichter erhängen konnten.
Nach Kriegsende tauchte Trzebinski zunächst unter, arbeitete dann inkognito bei der britischen
Armee als Militärarzt.
Foto: Bundesarchiv Berlin
Karl Kaufmann, Hitlers Reichsstatthalter
Der Sohn eines Hamburger Reeders wurde 1933
Bürgermeister. Die Briten
nahmen ihn am 11. Mai
1945 fest. Wegen Mitgliedschaft in einer verbrecherischen Organisation wurde er im August 1948 zu
10 000 Mark Strafe verurteilt. Nach seiner Entlassung aus dem Internierungslager arbeitete Krogmann in der Baubranche, war später Besitzer eines
Holzgroßhandels. Politisch ist er in der Öffentlichkeit
nicht mehr hervorgetreten. Im März 1978 starb er in
Hamburg.
1946 wurde er verhaftet,
angeklagt und zum Tode
verurteilt. Am 8. Oktober
1946 starb er am Galgen.