Beilage: Heute vor 70 Jahren endete der Krieg in Hamburg Auferstehung aus Ruinen Foto: Wunder Hamburgs Kapitulation Eine Geschichte reif für Hollywood Wie Albert Schäfer die Stadt vor dem Untergang rettete Dan Perjovschi Schnell mal gezeichnet Was dem rumänischen Künstler zum Kriegsende einfällt Zeitzeugen So erlebten wir das Kriegsende Sechs Hamburger erzählen von ihren Erinnerungen Foto: Wunder Foto: Ullstein Als die Waffen endlich schwiegen, war die Stadt nur noch ein Trümmerfeld. Die Menschen hungerten und froren. Und doch resignierten sie nicht. Sie begannen mit dem Wiederaufbau II HAMBURG Sonntag, 3. Mai 2015 Sie Sie riskierten riskierten ihr ihr LLeben eben Fotos: Wunder (3), MOPO-Archiv Mit weißer Fahne gingen diese drei Männer den Engländern entgegen – und leiteten so die Kapitulation Hamburgs ein Drei Männer nehmen Ende Volk versprochen hat, glaubt keiApril 1945 ein großes Risiko auf ner mehr. Die Stadt ist kriegsmüsich. Mit einer weißen Fahne in de. Im Juli und August 1943 haben der Hand laufen sie über die britische Bomberverbände HamFrontlinie, immer den burg zur Hälfte in Von Hamburgs britischen Soldaten Trümmer gelegt. entgegen. Eigentlich Stunde Null berichtet Mehr als 40 000 MenOlaf Wunder geht es ihnen lediglich schen sind ums Leben um ein Lazarett in gekommen. Und die, Harburg. Sie wollen die Briten die am Leben geblieben sind, hofbitten, es von weiteren Artillefen auf ein baldiges Ende des rie-Angriffen zu verschonen. Krieges. Sie wünschen sich FrieAber dann retten sie die ganze den. Haben es satt, Nacht für Stadt vor der totalen Zerstörung: Nacht von Sirenengeheul in die Die Rede ist von Albert Schäfer, Bunker getrieben zu werden. dem Chef der Phoenix-GummiDie britischen Truppen erreiwerke in Harburg, dem Arzt Dr. chen Ende April die südliche Stadtgrenze von Hamburg. WeiHermann Burchard und dem Leutnant Otto von Laun. terzukämpfen, ist aussichtslos, Drei Männer, die Geschichte schrieben: Hermann Burchard (oben), Albert Schäfer (Mitte ) und Otto von Laun (unten): Als sie am 29. April 1945 mit weißer Fahne auf die Engländer zugingen, wollten sie eigentlich nur darum bitten, ein Lazarett nicht länger zu beschießen. Es wurde mehr daraus ... Frühjahr 1945. Der Krieg ist verloren. Das steht fest. An den „Endsieg“, den der „Führer“ seinem da sind sich Gauleiter Karl Kaufmann und Hamburgs Kampfkommandant, General Wolz, einig. Aber Adolf Hitler will nichts wissen von Kapitulation. Im Gegenteil: Er hat die Stadt zur Festung erklärt. Hamburg soll um jeden Preis gehalten werden. Schlimmer noch: Am 19. März erteilt er den sogenannten „NeroBefehl“: Heranrückende Truppen sollen nichts weiter als „verbrannte Erde“ vorfinden. Mit anderen Worten: Kaufmann alle Infrastruktur vernichten und die Lebensgrundlagen der Stadt zerstören. Zunächst sieht es so aus, als würde Kaufmann – stets ein treuer Vasall des „Führers“ – den Befehlen Hitlers Folge leisten. Er stellt den Volkssturm auf, ruft alte Männer und Hitler-Jungen, Der 3. Mai 1945 – der Tag, an dem in Hamburg der Codewort „Baltic“: Um 16.13 Uhr setzen sich britische Panzer in Bewegung. Ausgangssperre in der Stadt – doch es fällt kein Schuss Am 3. Mai 1945 ist in Hamburg der Krieg vorbei. An jenem Donnerstag vor 70 Jahren gilt bereits ab 13 Uhr eine Ausgangssperre. Der bevorstehende Einmarsch der Briten wird seit Stunden im Rundfunk angekündigt. Um 16.13 Uhr ist es dann schließlich so weit. Das Codewort lautet „Baltic“ – das ist das Zeichen für die Soldaten der 7. Britischen Panzerdivision, sich in Marsch zu setzen. Die Motoren heulen auf, dann fahren die Panzer los. Ihr Weg führt über die Elbbrücken, dann über den Heidenkampsweg bis zur Mönckebergstraße und weiter bis zum Rathaus. Die Sorgen, irgendein fanatischer Nazi könnte das Feuer auf die Engländer eröffnen, erweisen sich zum Glück als unbegründet. Es fällt kein Schuss. Kurz vor 18 Uhr trifft der erste englische Offizier, Colonel müsse auf Brigadegeneral David Weinmann, auf dem RathausSpurling warten. markt ein, der damals noch Um 18.25 Uhr trifft Spurling Adolf-Hitler-Platz heißt. Kampfschließlich ein, kommandant Alwird am Portal win Wolz und Seit sie Bergenempfangen und in seine Offiziere Belsen befreit haben, den Bürgermeissind irritiert, als verachten die Briten tersaal geführt, Weinmann plötzwo bereits Gaulich damit andie Nazis nur noch. leiter Kaufmann fängt, Tauben zu und Bürgermeister Vincent füttern. Wolz sagt, er möchte Krogmann warten. Hände werjetzt gerne die Stadt übergeben, den geschüttelt. Kaufmann sagt, aber Weinmann antwortet, er die kampflose Übergabe der Stadt solle den Tod von Hunderttausenden Frauen und Kindern verhindern. Spurling ist kurz angebunden. Er hat für die Nazis nur noch Verachtung übrig, denn er weiß, was seine Truppen vorgefunden haben, als sie wenige Tage zuvor das Konzentrationslager BergenBelsen befreiten: Tausende von halb Verhungerten, die neben Leichenbergen dahinvegetier- HAMBURG III Sonntag, 3. Mai 2015 und und retteten retteten ddie ie Stadt Stadt die nur notdürftig ausgebildet sind, an die Waffen – und wirft sie an die Front. Und so sind es vor allem halbe Kinder, die am 26. April den Befehl erhalten, den Ort Vahrendorf südlich von Harburg, der von Briten besetzt ist, zurückzuerobern. Es kommt zu einer sinnlosen Schlacht, die auf beiden Seiten hohe Verluste fordert. Ein Soldatenfriedhof erinnert bis heute daran. Die Grabsteine verraten, wie alt die meisten geworden sind: nicht mal 18 Jahre. Zwei Tage nach diesem Blutbad bezieht britische Artillerie in Buxtehude Stellung und feuert auf Harburg. Auch die PhoenixWerke werden getroffen – was nicht weiter verwunderlich ist, denn es handelt sich dabei um ein Rüstungsunternehmen, das Gummireifen für die Wehrmacht herstellt. Allerdings befindet sich im Keller seit einiger Zeit ein Lazarett. Und die Patienten sind jetzt in großer Gefahr. Ihretwegen nehmen Albert Schäfer, der Firmendirektor, und der Leiter des Lazaretts, Dr. Hermann Burchard, die Gefahr auf sich und marschieren den Engländern entgegen. Sie wollen darum bitten, das Lazarett zu verschonen. Als Übersetzer soll Leutnant Otto von Laun mitkommen, der Englisch spricht. Am 29. April, einem Sonntag, geht es los. Bei Lürade treffen die drei auf englische Posten, werden beschossen, schließlich festgenommen. Britische Soldaten verbinden ihnen die Augen und führen sie in das Lokal „Hoheluft“ in Buchholz, damals ein britisches Offizierskasino. Captain Tom Lindsay, im Privatleben Musikprofessor in Oxford, empfängt sie freundlich. Er sagt ihnen zu, das Lazarett zu verschonen. Aber Lindsay will noch mehr, führt mit den drei Männern Einzelgespräche. Am Ende erklärt sich Schäfer bereit, einen Brief des britischen Befehlshabers Lewis O. Lyne den Verantwortlichen in Hamburg zu überbringen. Schäfer muss den Rückweg allein antreten. Das Schreiben hat er vorsichtshal- ber unter der Einlegesohle seines Schuhs versteckt, denn falls die SS es bei ihm findet, droht ihm die Erschießung. In dem Brief heißt es nämlich, dass Tausende von Bombern bereitstünden, um die Stadt restlos auszuradieren. Aber so weit müsse es nicht kommen. „Im Namen der Menschlichkeit verlangen wir die Übergabe von Hamburg.“ Alwin Wolz, Hamburgs Kampfkommandant, lächelt zufrieden, als er den Brief tags darauf liest. „Das können die Herren Engländer bald haben“, entgegnet er. Denn inzwischen sind Wolz und Kaufmann entschlossen, die Befehle Hitlers zu missachten. Und weil sie wissen, dass sie damit ihr Leben riskieren, treffen sie Vorkehrungen. Beide sind jetzt stets bewaffnet. Karl Kaufmann verlässt seinen Amtssitz, die heutige Hochschule für Musik und Theater, überhaupt nicht mehr. Drei ausgesuchte Volkssturmbataillone sichern das Areal rund um die Milchstraße gegen einen möglichen Angriff der SS. Unterdessen beginnen intensive Geheimverhandlungen mit den Engländern: Wolz hat zwei Offiziere mit Antwortbriefen zu den Briten geschickt. Man sei bereit, über eine Kapitulation zu reden, heißt es darin. Dann überschlagen sich mit einem Mal die Ereignisse: Am 1. Mai wird bekannt, dass Hitler tot ist, angeblich im Gefecht gefallen. Großad- Foto: dpa 3. Mai 1945: Britische Panzer überqueren die Elbbrücken und fahren über Heidenkampsweg und Mönckebergstraße bis zum Rathaus. miral Karl Dönitz, der zum Nachfolger bestimmt ist und ahnt, was in Hamburg vor sich geht, warnt Kaufmann, untersagt ausdrücklich zu kapitulieren. Dann passiert ein Fehler, der folgenreich hätte sein können: Am 1. Mai – 24 Stunden früher als beabsichtigt – wird am Gänsemarkt im Schaukasten der „Hamburger Zeitung“ eine Sonderausgabe ausgehängt, in der Kaufmann die Kapitulation ankündigt. Die Nachricht geht wie ein Lauffeuer durch die Stadt. Kaufmann drohen die Absetzung und die Erschießung. Aber im letzten Moment schaltet sich Rüstungsminister Albert Speer ein. Mit Erfolg. Am 2. Mai gibt Dönitz nach. Aus dem Fernschreiber tickert: „Hamburg ist ab sofort eine offene Stadt.“ Noch am selben Abend kommt es in einem Landhaus in Klecken, dem Hauptquartier der 131st Infantry Brigade, zu Kapitulationsverhandlungen, die bis tief in die Nacht dauern. Es nehmen auf deutscher Seite der ehemalige Bürgermeister und Staatsrat Wilhelm Burchard-Motz und General Wolz daran teil. Als am Tag darauf eine Delegation des Oberkommandos der Wehrmacht die Kapitulationsurkunde unterschrieben hat, beginnt die Übergabe der Stadt. Der Krieg in Hamburg ist vorbei. Aber ohne den Mut der drei Männer wäre das nicht möglich gewesen: Otto von Laun (gest. 2000) macht sich später als Völkerrechtler einen Namen. Hermann Burchard (gest. 1973) leitet später das Kinderkrankenhaus in den Walddörfern. Und Albert Schäfer (gest. 1971) wird Präses der Handelskammer Hamburg und Präsident des Deutschen Industrie- und Handelstages. Krieg zu Ende ging ten. Ein Anblick, den viele Soldaten nie mehr vergessen werden. Um 19 Uhr zieht sich Spurling ins Hotel „Atlantic“ zurück, wo für ihn und seinen engsten Stab ein Abendessen vorbereitet ist. Vereinzelt kommt es in Hamburg zu Übergriffen britischer Soldaten. Mindestens fünf Frauen werden vergewaltigt – wahrscheinlich sind es viel mehr. Augenzeugen berichten auch von „Tommys“, die mit vorgehaltener Waffe von Haus zu Haus ziehen und Schmuck und Uhren for- dern. Doch dies sind Einzelfälle. Schon nach wenigen Wochen hat die britische Militärpolizei die Lage im Griff. In Hamburg beginnt nun eine neue Ära. Führende Nazis, darunter Ex-Gauleiter Karl Kaufmann, werden festgenommen und interniert. Die britische Militärverwaltung muss nun sehr schnell handeln: Die Bevölkerung hungert. Und auch Wohnraum ist knapp. Es folgen Jahre, die geprägt sind von Not und Entbehrung ... 3. Mai 1945, 18.25 Uhr: Der Hamburger Kampfkommandant Alwin Wolz (salutierend) übergibt die Stadt an Brigadegeneral John Spurling (mit weißem Koppel). Damit ist in Hamburg der Krieg beendet. IV HAMBURG Kunst zum Weltkrieg Sonntag, 3. Mai 2015 „Ich war so jung, ich kannte nur Krieg“ Kleine Zeichnungen – große Wirkung: Künstler Dan Perjovschi Liebe Leserinnen, liebe Leser, die heutige Ausgabe der MOPO am Sonntag ist in mehrfacher Hinsicht eine besondere. Zum einen enthält sie eine Beilage zum 70. Jahrestag des Kriegsendes in Hamburg. Zum anderen hat der rumänische Künstler Dan Perjovschi diese zwölf Seiten mit Zeichnungen zum Thema Weltkrieg versehen. Perjovschi (54) ist ein international renommierter Zeichner, der mit seinen Aktionen immer wieder für Aufsehen sorgt. Seine Kunst besteht darin, mit kleinen Zeichnungen große Wirkung zu erzielen und den Betrachter zum Nachdenken zu bringen. Seine Arbeiten sind auf den ersten Blick simpel, bestehen oft nur aus wenigen Strichen. Dahinter verbergen sich Witz und Ironie, mit denen Perjovschi gesellschaftliche Entwicklungen kommentiert. Dazu kombiniert er Zeichnungen, Cartoons und Graffiti. Perjovschi arbeitet regelmäßig mit Zeitungen und Magazinen zusammen. Die Kooperation mit der MOPO am Sonntag entstand auf Initiative der Stadtkuratorin Hamburg, die in diesem Jahr das Projekt „Kunst im öffentlichen Raum“ ins Leben gerufen hat. Wir hoffen, dass Sie das Resultat ebenso interessant finden wie wir. FRANK NIGGEMEIER [email protected] Friedrich Koch ist im Mai 1945 gerade 15 Jahre alt. Seine Familie wohnt im Göhlbachtal in Harburg, nur ein paar Kilometer von der Front entfernt. „Ich war jung, ich kannte nur Krieg“, erzählt der 85-Jährige. „Ich weiß noch, wie irritiert ich war, als plötzlich keine Schüsse mehr fielen, keine Sirenen mehr heulten. Das war ganz neu für mich.“ Koch erinnert sich an die letzten Kriegstage. Wie er zum Beispiel aus seinem Kinderzimmerfenster begeistert einen Luftkampf zwischen zwei deutschen Jagdflugzeugen und vier britischen Spitfire-Maschinen beobachtet. Er kann von dort sogar die englischen Sturmgeschütze sehen, die von der gegenüberliegenden Anhöhe Richtung Harburg schießen. „Wenn dann die 12,5-Zentimeter-Kanone der Wehrmacht drüben in Ehestorf zurückfeuerte, dann schepperten bei uns im Haus die Fenster, und Stuermann, mein Hund, verkroch sich in unserem Luftschutzkeller.“ Davon, dass Gauleiter Karl Kaufmann Hitlers Durchhalte-Befehl missachtet und kapituliert, weiß der Junge nichts, als er am 4. Mai morgens im Bett liegt. „Es war wohl schon sehr spät, jedenfalls kam meine Mutter fauchend herein, brüllte ,Dich soll wohl der Tommy aus dem Bett holen!‘ – und im selben Moment trat hinter ihr ein britischer Soldat mit vorgehaltenem Gewehr ins Zimmer. Ich musste in dem Moment lachen. Meine Mutter drehte sich um und stieß ein erschrockenes: ,Ja, was wollen Sie denn hier?‘ aus.“ Koch erinnert sich, dass die Briten in den ersten Tagen plündernd durch die Gegend zogen. „Einmal ging ein englischer Soldat am Haus vorbei. Als er Musik hörte, hat er mir sofort das Radio weggenommen. Allerdings hat er dabei eine Tüte mit Äpfeln bei uns vergessen. Und die war mir fast lieber.“ Es folgen schwere Jahre. „Das Schlimmste war dieser Winter Friedrich Koch 1943. Da ist er 13 und auf „Kinderlandverschickung“ in Ungarn. Ganz rechts sein Kumpel Hans-Joachim Bartsch, in der Mitte ein DeutschUngar, mit dem sie sich dort angefreundet haben. 46/47“, sagt er. „Von Ende Dezember bis weit in den März war es durchgehend bitterkalt, Tausende sind erfroren.“ Friedrich Koch ist in dieser Zeit fast jede Nacht unterwegs, um irgendwo Brennmaterial zu „organisieren“. Sprich: Er ist Kohlendieb. „Einmal war ich gerade dabei, Kohlen in meinen Sack zu packen, als der Zug plötzlich anfuhr – und erst auf der Veddel hielt er wieder an. Bei Eis und Schnee musste ich den ganzen Weg zurücklaufen. Ein anderes Mal bin ich auf der Flucht vor der Polizei nachts in einen Graben gesprungen. Ich lag da und wunderte mich, warum es plötzlich so stinkt. Bis ich bemerkt habe, dass ich in einem Haufen Mist saß. Hätte mich die Polizei erwischt – ich glaube, die hätte mich sofort wieder laufen lassen.“ Fotos: Wunder Foto: SZ Photo/Rumpf Zeitzeuge Friedrich Koch aus Harburg ist 15 und Hitlerjunge, als die Briten einmarschieren Inzwischen 85 Jahre alt: Friedrich Koch lebt auch heute noch in dem elterlichen Haus im Göhlbachtal in Harburg. HAMBURG V Foto: dpa Sonntag, 3. Mai 2015 Helga Bischoffs Heimat: Am Ende des Krieges wird Königsberg, die Hauptstadt Ostpreußens, schwer zerstört. Bischoff, damals 17, flieht nach Hamburg. „Ich sah, wie Königsberg unterging“ Helga Bischoff ist jung und schön. In Königsberg hat sie an der Oper eine Ausbildung zur Tänzerin absolviert. Dann aber bricht der Krieg aus. Im August 1944 muss sie erleben, wie britische Bomber ihre geliebte Heimatstadt in Schutt und Asche legen. Schließlich beginnt Anfang 1945 die furchtbare Schlacht um Königsberg, die der Stadt den Untergang bringt. Helga Bischoff will jetzt nur noch eins: Königsberg verlassen! Abhauen in den Westen, bevor „der Russe“ kommt! Gemeinsam mit ihrer Mutter tritt sie die Flucht an. Furchtbare Erinnerungen daran hat sie. Vor allem an die Angriffe durch Tiefflieger. „Ich habe so viele Leichen gesehen, es war furchtbar.“ Zuflucht findet Helga Bischoff in Hamburg. „Ich hatte Hunger, keinen Job, nur einen Traum“, erzählt sie, „nämlich ein Star zu werden wie Marika Rökk.“ Und sie bekommt ihre Chance: Das Flora-Theater im Schanzenviertel, das die Bombenangriffe auf Hamburg weitgehend unbeschadet überstanden hat, eröffnet 1946 neu. Es gibt große Revuen: „Csárdásfürstin“, „Fledermaus“, „Gräfin Mariza“, „Maske in Blau“. Und Helga Bischoff steht jedes Mal auf der Bühne. Auch am Theater herrscht damals Not: „Kostüme haben wir aus Fallschirmseide genäht, Kleider aus Wolldecken“, erzählt sie. „Weil es nicht mal genug Brennmaterial gab, um das Theater zu heizen, mussten die Zuschauer im Winter Eintritts-Briketts mitbringen. Und am Ende der Vorstellung hat uns das Publikum nicht etwa mit Blumen beschenkt, sondern mit Butter, Käse und Brot!“ Eine zweite Marika Rökk wird Helga Bischoff nicht. Sie heiratet, wird schwanger, bringt einen Sohn zur Welt und arbeitet viele Jahre in der Bibliothek der Hochschule für Musik und Theater in Harvestehude. Heute lebt sie in Hamm – und erzählt gerne von ihrer Theaterzeit. „Ich habe gehungert, ich habe gefroren, aber ich war glücklich“, sagt sie. Foto: Wunder Helga Bischoff flieht im März 1945 aus Ostpreußen nach Hamburg – und wird Tänzerin am Flora-Theater Helga Bischoff ist inzwischen 87 Jahre alt. Das Foto, das sie in der Hand hält, zeigt sie als Tänzerin des „Flora-Theaters“. VI HAMBURG Foto: Denkmalschutzamt Sonntag, 3. Mai 2015 Razzia gegen Schwarzmarkthändler 1946 in St. Pauli. Die Polizei geht immer wieder hart gegen den Tauschhandel vor. Doch der Kampf dagegen ist aussichtslos. Foto: Wunder „Mit Schwarzmarkthandel hielten wir uns über Wasser“ Im Winter 1946/47 haben sie geheiratet: Ursula (86) und Heinz Loest (92). Sie leben heute in HoheluftWest. Ehepaar Loest erzählt von Hunger und Not in der Nachkriegszeit chen und ließ es vom Kellner zuteten Moment so viel in meinen Eistellen.“ So lernen sich die beiden mer gepackt, wie reinpasste, habe kennen. 1946 heiraten sie, bald Sand drübergeschaufelt und bin kommt das erste Kind. weg.“ Tags darauf verhökert er seiDie Familie zu ernähren, ist ne Beute auf dem Schwarzmarkt. nicht leicht. Lebensmittel sind ra„Meistens spielte sich das an der tioniert und die Susannenstraße Rationen so klein, „Jeder hat gestohlen. ab“, erzählt Heinz dass es nicht zum Loest. „Da standen Wer überleben Leben und nicht überall die Händwollte, musste das.“ ler – die einen verzum Sterben reicht. Aber Heinz schämt in den Heinz Loest (92) Loest lässt sich Hauseingängen, was einfallen. „Nachts bin ich im die anderen offen auf der Straße. Hafen herumgeschlichen und haDu hörtest überall, wie Leute einbe verrostete Kähne ausgeschlachander zuraunten: ,Butter? Zigarettet. Das Altmetall habe ich dann ten?‘ Dann ließen sie für den verhökert.“ Bruchteil einer Sekunde ihre WaAuch tagsüber hält er immer seiren aus ihrer Jackentasche hervorne Augen auf. „Ich kam ja viel herblitzen. Alles musste ja schnell und um, habe mal hier, mal da Bombenunauffällig gehen, denn Schwarzschäden ausgebessert.“ Einmal hat markthandel war streng verboten.“ er bei einer Schneiderei zu tun und Loest erinnert sich, einmal bei lässt 40 Rollen Garn mitgehen. Ein einem richtigen Schieber zu Hause anderes Mal arbeitet er für eine gewesen zu sein: „Ich dachte, ich Drogerie. „Da stand Seife rum. Datraue meinen Augen nicht. Alle von habe ich in einem unbeobachhungerten, aber der hatte die ganze Wohnung voll mit Sachen, die es seit Jahren nicht mehr gab“, erzählt er. „Es war ziemlich leichtsinnig, Foto: Norbert Joa Heinz Loest (92) gibt es offen zu: „In den Nachkriegsjahren habe ich gestohlen. Das hat damals jeder so gemacht“, sagt er. „Das musste man, wenn man überleben wollte.“ Heinz Loest ist 22 Jahre alt, als der Krieg aus ist. Wenige Monate zuvor ist er desertiert, hat sich von Amerikanern gefangen nehmen lassen. Weil er Maurer ist und Leute wie er für den Wiederaufbau gebraucht werden, kommt er schon im Sommer 1945 frei. Die Rückkehr nach Hamburg hat er sich allerdings anders vorgestellt. Seine Verlobte hat inzwischen einen neuen Freund, einen englischen Soldaten… Im Sommer 1945 begegnet Loest seiner heutigen Frau Ursula. Sie ist 16 und darf zum ersten Mal ausgehen. „Ich bin mit einer Freundin ins Café Meyer am Neuen Pferdemarkt gegangen“, erzählt sie. „An diesem Tag war ,Saalpost‘. Das bedeutete: Hatte ein Mann Interesse an einer Frau, schrieb er ein Kärt- mich dahin mitzunehmen. Ein anderer hätte den Kerl totgeschlagen und die ganze Bude ausgeräumt.“ IIch ch ssaß aß iim mK KZ, Z, Lebt heute in Prag: Dagmar Lieblová (85) Das KZ Bergen-Belsen in Niedersachsen. Britische Soldaten, die am 15. April 1945 bei der Befreiung des Lagers dabei sind, werden den Anblick nie vergessen: Zigtausende Leichen liegen überall herum. Dazwischen Häftlinge, abgemagert bis auf die Knochen. Dagmar Lieblová, damals 15 Jahre alt, ist eine von diesen Halbtoten. Sie ist schwer krank. Hat Tuberkulose. Außerdem ist HAMBURG VII Sonntag, 3. Mai 2015 als als die die Briten Briten kamen kamen sie gezeichnet von Hunger, Durst, Kälte und den täglichen Grausamkeiten der SS. „So lange hatte ich auf den Tag der Befreiung gewartet“, erzählt die inzwischen 85-Jährige. „Dann aber hatte ich nicht einmal die Kraft, um aufzustehen.“ Dagmar Lieblová ist Tschechin, Tochter eines jüdischen Arztes. 1942 ist ihre Familie in das Ghetto Theresienstadt gebracht und im Jahr darauf ins Vernichtungslager AuschwitzBirkenau deportiert worden. „Ich bekam die Nummer 70788 eintätowiert“, erzählt sie. „Ich war froh, denn es hieß: Wenn du eine Nummer hast, wirst du nicht umgebracht.“ Aber nicht die Nummer, sondern ein Irrtum der SS rettet Dagmar Lieblová das Leben. Im März 1944 werden 3791 Frauen, Männer und Kinder an einem einzigen Tag in die Gaskammer geführt und ermordet. „Eigentlich hätte ich auch dazugehört, aber die SS hatte mein Geburtsdatum falsch aufgeschrieben. Die Tschechin überlebt Auschwitz, Neuengamme und Bergen-Belsen Sie hielten mich für fünf Jahre älter – deswegen kam ich zu den Arbeitsfähigen.“ Sie wird nach Hamburg gebracht, in ein Außenlager des KZ Neuengamme. Mit bloßen Händen muss sie Bombentrümmer wegräumen und Panzergräben ausheben gegen die anrückenden englischen Truppen. Im April 1945, als die SS das KZ Neuengamme auflöst, werden alle Gefangenen weggeschafft. Sie sollen nicht den Alliierten in die Hände fallen. So wird Dagmar Lieblová ins KZ Bergen-Belsen gebracht, an einen Ort, an dem, wie sie sagt, „der Tod regierte. Es gab kein Wasser, nichts zu essen. Es gab keine Pritsche, nicht mal Stroh. Wir lagen auf dem nackten Boden. Und überall um uns herum Leichen, die niemand mehr wegräumte. Man konnte sich nirgends hinlegen, der Boden war voll mit Toten, mit Ungeziefer, mit Dreck.“ Nach der Befreiung durch die Briten verbringt sie zweieinhalb An Ruhr, Typhus und an einer besonderen Form von Malaria, mit der auch ich mich ansteckte.“ Mitten im Elend erfährt er ein wenig Menschlichkeit: „Ich war immer der Jüngste und eine russische Ärztin erklärte es zu ihrer wichtigsten Aufgabe, wenigstens dem ,Jungen’ das Leben zu retten. Sie ist mitten im Winter mit einem Schlitten nach Moskau gefahren, um Penicillin zu besorgen. So habe ich überlebt.“ Am 10. April 1947 – Lucks ist inzwischen 18 – erhält er zum ersten Mal die Genehmigung, eine Karte nach Hause zu schreiben. Genau 25 Worte. Mehr sind nicht erlaubt: Er gratuliert der „lieben Mutti“ zum Geburtstag. Es ist etwa in dieser Zeit, dass sich der junge Mann zum ersten Mal verliebt. Er muss inzwischen auf Moskauer Baustellen Mietskasernen im Akkord hochziehen. Durch den Drahtzaun erblickt er das zauberhafte Wesen, das ihn vom Fenster aus beobachtet. Er winkt schüchtern, Walja, so ihr Name, winkt schüchtern zurück. Ein Techtelmechtel beginnt. Lucks besticht den Wachmann, damit der ihn wenigstens für ein paar Stunden hinaus in die Freiheit lässt. Erste Zärtlichkeiten. Erste Küsse. Erste Liebe. Ende Dezember 1949 entlassen die Russen Lucks in die Freiheit. Am 4. Januar 1950 – auf den Tag genau fünf Jahre nachdem er seine Heimatstadt verließ – fährt sein Zug in Hamburg ein. Walja sieht er nie wieder. Neuengamme Foto: Wunder Während in Hamburg der Krieg vorbei ist, geht er für ihn weiter. Noch viele Jahre. Denn Günter Lucks gerät 1945 als blutjunger Angehöriger der Waffen-SS in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Erst 1950 – da ist er 21 – kommt er frei. Die Geschichte beginnt im Juli 1943. Lucks, damals 15, wird über Nacht erwachsen. Der Feuersturm! Mit einer noch nie da gewesenen Wucht greifen alliierte Bomberverbände Hamburg an. „Als der Dachstuhl unseres Hauses brannte, bin ich mit meinem Bruder die Treppen hinaufgelaufen, um zu löschen. Plötzlich trifft mich irgendetwas am Kehlkopf. Ich ringe nach Luft, breche zusammen.“ Bruder Hermann will Hilfe holen, eilt zum Haus der Tante. Er kommt nie mehr zurück. Als Günter später nach ihm sucht, findet er nur noch Trümmer vor. Und sieht verkohlte, verschrumpelte LeiDer Krieg war schon fast vorbei, da kam der 16-jährige Günter Lucks noch zur Waffen-SS. Er geriet chen, die in Waschin russische Gefangenschaft. Am Arm die Blutgruppen-Tätowierung, die jeder SS-Mann hatte wannen davongetragen werden. r Hitlers Als Lucks Ende heute kampflos übergeben wordort stellt sich heraus: Die GeDas Buch „Ich wa n Günter Kämpfe ver1944 von Hitlers Be- letztes Aufgebot“ vo wohlt- wickelt. Mehden!“ Es ist der 3. Mai 1945. fangenenlager sind voll. Also Ro fehl hört, dass alle waf- Lucks erscheint im 99 Euro. rere GranatLucks’ Einheit wird aufgerieweiter nach Tallinn. Als der 9, fenfähigen Männer im Verlag und kostet splitter treffen ben, er und seine Transport bei 26 Alter von 16 bis 60 zum Lucks in Arm Kameraden An dem Tag, an dem Grad minus anVolkssturm zusammengefasst und Körper, dazu ein Schuss ins kommen in ruskommt, sind von Hamburg kapituliert, den 40 Kamerawerden, meldet er sich freiwilGesäß. sische Gefangenlig. Nach kurzer Ausbildung In einer Notoperation rettet schaft. Eine kämpft ein Arzt um den in Lucks’ wird ihm eröffnet: „Du meldest ihm ein Truppenarzt das Leben. Odyssee in ViehWaggon sieben Günter Lucks’ Leben. tot. dich jetzt freiwillig zur WaffenLucks erinnert sich: „Bevor mir waggons durch SS. Was dagegen?“ Wenig später der Doktor die Äthermaske aufOsteuropa beEtliche Lager ist die „SS-Panzerdivision Hitsetzte, sagte er zu mir, um meine ginnt. Erst Tschechien, dann Rudurchläuft Lucks, eines ist lerjugend“, der er nun angehört, Familie müsse ich mir keine Sormänien. Anschließend im Güschlimmer als das andere. „Die in der Nähe von Wien in heftige gen mehr machen: Hamburg ist terzug nach Stalingrad. Doch Leute starben wie die Fliegen. Foto: KZ Gedenkstä tte „Mit 16 kam ich zur Waffen-SS“ Günter Lucks gerät in russische Gefangenschaft. Er kommt erst 1950 frei Sie war 15 Jahre Briten sie aus de alt, als die m KZ befreiten. Jahre in Krankenhäusern und einem Sanatorium. Endlich wieder genesen, holt sie ihre Schulabschlüsse nach und studiert. Sie wird Professorin für Germanistik in Prag, wo sie bis heute lebt. VIII HAMBURG Sonntag, 3. Mai 2015 Fotos: dpa (3), Staatsarchiv Hamburg, MOPO Archiv Hunger, Wohnungsnot Um die Versorgung mit günstigen, aber guten Produkten sicherzustellen, schuf der deutsche Wirtschaftsrat 1948 das Jedermann-Programm. So kamen endlich wieder bezahlbare Schuhe in die Läden. Nachkriegszeit in Hamburg – eine Chronik 3. Mai 1945: Hamburg kapituliert und wird von britischen Truppen besetzt. 4. Mai 1945: Als erster deutscher Sender unter britischer Regie strahlt Radio Hamburg wieder ein Programm aus. Britische Einheiten besetzen die Werft Blohm + Voss und erklären das gesamte Betriebsgelände zum Sperrgebiet. Gauleiter Karl Kaufmann wird unter Hausarrest gestellt und wenig später in Internierungshaft genommen. 8. Mai 1945: Die ersten Züge der UBahn fahren wieder, allerdings noch sehr unregelmäßig. Da nur selten Züge fahren und sonst noch keine Verkehrsmittel unterwegs sind, sind die Züge sehr überfüllt. 10. Mai 1945: Der 55-jährige Oberst Harry William Hugh Armytage wird Stadtkommandant von Hamburg. 11. Mai 1945: Bürgermeister Carl Vincent Krogmann wird festgenommen. 15. Mai 1945: Die britische Besatzungsmacht ernennt den Kaufmann Rudolf H. Petersen zum Bürgermeister. 1. Juni 1945: Im Hafen werden wieder HAMBURG IX Sonntag, 3. Mai 2015 und Schwarzmarkthandel Zigtausende Bürger hausen in Ruinen und Nissenhütten. Zahllose Hamburger erfrieren im SchreckensWinter 1946/47 Was mag in den Köpfen der Hamburger vorgehen, als britische Truppen die Stadt besetzen? Die allermeisten sind gewiss froh, dass der Krieg vorbei ist. Kein Fliegeralarm mehr. Keine Bombenangriffe. Dennoch empfinden viele den Einmarsch der fremden Soldaten als Niederlage. Von Befreiung spricht damals kaum jemand. Die Bilanz des Krieges fällt erschreckend aus: Keine deutsche Stadt – nicht einmal das ausgebombte Dresden – hat unter dem Krieg so gelitten wie Hamburg. Rund 120 000 Bürger sind gestorben, die einen als Soldaten an der Front, andere bei den Luftangriffen daheim, wieder andere als politisch oder rassisch Verfolgte in Gefängnissen und Konzentrationslagern. Weite Teile der Stadt liegen in Schutt und Asche. Mehr als die Hälfte der Wohnungen sind ➤ Bitte blättern Sie um! 200 000 Hamburger protestieren im Mai 1947 gegen die unzureichende Lebensmittelversorgung. Die Briten stellten 1946 Nazi-Verbrecher im Hamburger Curiohaus vor Gericht. Etliche SS-Leute, die im KZ Neuengamme aktiv waren, wurden zum Tode verurteilt. Dieses Foto stammt aus dem Ravensbrück-Prozess. Bei den Luftangriffen auf die Stadt wurde im Krieg die Hälfte des Wohnraums vernichtet. Noch Jahre leben Familien deshalb in provisorischen Unterkünften. Viele Jahre ein vertrautes Bild in Hamburg. In solchen Nissenhütten lebten Ausgebombte und Flüchtlinge aus dem Osten. Schiffe be- und entladen. 6. August 1945: Hamburgs Volksschulen nehmen den Betrieb wieder auf. 22. September 1945: Der Sender Hamburg wird in Nordwestdeutscher Rundfunk (NWDR) umbenannt. Er soll nach britischem Vorbild als staats- und parteiunabhängige Anstalt arbeiten. 22. Oktober 1945: Die Gasversorgung wird wieder aufgenommen. 60 Prozent der Hamburger haben damit jetzt jeden zweiten oder dritten Tag Stadtgas. 6. November 1945: An der Uni finden wieder Vorlesungen statt. 31. Januar 1946: Schlag gegen den Schwarzmarkthandel. Bei einer Razzia in den Stadtteilen St. Pauli und Eppendorf stellt die Polizei 34 000 Zigaretten und 25 Zentner Butter sicher. 21. Februar 1946: Die Wochenzeitung „Die Zeit“ erscheint zum ersten Mal. 27. Februar 1946: Erstmals tritt die von der Militärregierung ernannte Bürgerschaft im Rathaus zusammen. 7. Mai 1946: Bei den Curiohaus-Prozessen werden elf Angehörige der Wachmannschaften des KZ Neuengamme zum Tode, drei weitere zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. 16. Juni 1946: Der HSV besiegt den Eimsbütteler Turnverband mit 2 : 1 und gewinnt damit die erste Nachkriegs-Fußballmeisterschaft in Groß-Hamburg. 27. Juni 1946: Mehrere Tausend Menschen demonstrieren gegen die britische ➤ Bitte blättern Sie um! X HAMBURG Sonntag, 3. Mai 2015 Was die Nachkriegszeit vor allem prägt, ist Hunger. Weil die Versorgungslage schlecht ist, senkt die Militärregierung mehrfach die Pro-Kopf-Rationen. Viele Hamburger sind darauf angewiesen, Hamsterfahrten aufs Land zu unternehmen, um bei Bauern Wertsachen gegen ein paar Kartoffeln einzutauschen. Wer nichts zum Tauschen hat, muss betteln – oder verhungert. Der einzige Markt, auf dem es wirklich alles in Hülle und Fülle gibt, ist der Schwarzmarkt. Als wäre das alles nicht schon schlimm genug, bricht im Dezember 1946 auch noch ein Winter über die Hamburger herein, den niemand, der ihn erlebt, je vergessen kann. Bis Ende März liegen die Temperaturen bei minus 20 Grad und zeitweise noch darunter. Bald steht kaum noch ein Baum in den Hamburger Parks, In ihrer Not fällen die Bürger einen nach dem anderen und machen daraus Brennholz. Nachts schleichen Jugendliche zu Güterzügen und packen ih- ren Rucksack voll mit Kohle. Die Jahre der Nachkriegszeit sind eine harte Prüfung für Hamburgs Bevölkerung. Besserung tritt erst im Sommer 1948 ein. Genauer gesagt am 20. Juni. Es ist der Tag der Währungsreform. 40 Mark Kopfgeld bekommt jeder, und mit einem Mal sind die Auslagen in den Geschäften zum Bersten gefüllt. Endlich gibt es mal wieder ein paar neue Schuhe und echten Bohnenkaffee. Wie schmeckt der eigentlich noch mal ...? Fotos: Staatsarchiv Hamburg (2), MOPO Archiv (2), Ullstein, Denkmalschutzamt, hfr genen Clubs, verfügen über eizerstört. Insgesamt liegen 43 gene Schulen, eigene Buslinien, Millionen Kubikmeter Trümmerschutt in den Straßen hereigene Shops und leben sogar in um. Es hätte eines Güterzuges fünf eigenen Wohngebieten, von 30 000 Kilometern Länge beispielsweise in Blankenese, bedurft, um alles abzutransporOthmarschen und Harvestehutieren. de. Tausende von Wohnungen Mancher hat im Mai 1945 gewerden von den Briten requiriert, meist inklusive des Mobilidacht, dass es ein halbes Jahrhundert in Anspruch nehmen ars. wird, alles wieder aufzubauen. Die Ausquartierten haben ein Mindestens. Aber dann dauert riesiges Problem. Der Wohes doch „nur“ zehn, 15 Jahre. nungsbau läuft zwar schon bald Quer durch die City werden auf Hochtouren, kann aber die Gleise verlegt für die sogenannNachfrage noch lange nicht decken. Denn auch te Trümmerbahn, mit der der Schutt Der einzige Markt, Flüchtlinge aus nach und nach abden Ostgebieten auf dem es noch drängen in die transportiert alles gibt, ist der Stadt. Die Folge ist, wird. Ein Teil dadass Zigtausende von dient dazu, Schwarzmarkt. den Ballindamm von Bürgern noch zu verbreitern. Viel wird in der viele Jahre lang in Ruinen hauElbe versenkt. Und auch der sen müssen, in Kellern und BunÖjendorfer Park ist auf einem kern. Wer Glück hat, bekommt Schutthaufen angelegt. eine Nissenhütte zugewiesen. Das Sagen in der Stadt haben Überall entstehen Siedlungen die britischen Besatzer. Die aus solchen Wellblech-Behausungen. „Tommys“ unterhalten ihre ei- Erboste Hamburger gingen 1947 auf die Straße und demonstrierten gegen die viel zu mageren Lebensmittelrationen. Die Care-Pakete aus den USA lindern die Not der Hamburger ein wenig. Dieser Junge freut sich über die erste Schokolade seit Jahren. Wohnungspolitik. Der Grund: 40 000 Menschen westlich und nördlich der Außenalster müssen ihre Wohnungen verlassen, weil sie als Unterkünfte für die britische Kontrollkommission gebraucht werden. 13. Juli 1946: Gegen weitere fünf ehemalige Aufseher des KZ Neuengamme werden Todesurteile verhängt. Ein Ange- klagter bekommt 15 Jahre Gefängnis. 31. Juli 1946: Zwei Todesurteile gegen SS-Männer aus dem KZ Neuengamme, ein Angeklagter wird freigesprochen. 13. Oktober 1946: Die SPD siegt bei der ersten Bürgerschaftswahl nach dem Krieg. 22. November 1946: Der neue Senat wird vereidigt. Bürgermeister Max Brauer tritt sein Amt an. 15. Februar 1947: Die Kältekatastrophe hat Hamburg fest im Griff: Seit Wochen ist es klirrend kalt in der Stadt, es gibt kaum noch Brennmaterial. Max Brauer fordert von der Militärregierung Sofortmaßnahmen. 9. Mai 1947: 200 000 Menschen folgen einem Streikaufruf der Gewerkschaften und protestieren damit gegen die unzureichende Lebensmittelversorgung. 3. September 1947: 14 von 18 angeklagten SS-Führern und Gestapo-Beamten werden zum Tode verurteilt. Sie sind der Erschießung von 50 britischen Fliegeroffizieren schuldig. 21. November 1947: Das Drama „Draußen vor der Tür“ von Wolfgang Borchert HAMBURG XI Sonntag, 3. Mai 2015 Dieses Foto verdeutlicht, wie katastrophal die Versorgungslage der Bevölkerung nach dem Krieg war: Dieser Junge ist in Lumpen gekleidet, hat keine Schuhe und sucht im Müll nach Essbarem. Die meisten Männer waren noch in Gefangenschaft, als die „Trümmerfrauen“ damit anfingen, die Stadt wiederaufzubauen. Diese Familie haust im Keller eines zerbombten Hauses. Gewaschen werden die Kinder in der Küche. Wasser muss mit einem Eimer geholt werden. wird in den Kammerspielen uraufgeführt. Darin geht es um das Schicksal der Kriegsheimkehrer. 31. Dezember 1947: Die britische Militärregierung beendet die Entnazifizierung. Seit 1945 sind 327000 Personen auf ihre NaziVergangenheit hin überprüft worden. 5. Januar 1948: Hamburgs Hafenarbeiter streiken gegen die unzureichende Le- Ihn ernannten die Engländer im Mai 1945 zum Bürgermeister: Rudolf Petersen. 1946 wurde er von Max Brauer (SPD) abgelöst. Im September 1945 begannen die Schulspeisungen: Viele Kinder erhielten von da an ein Mal am Tag eine warme Mahlzeit. bensmittelversorgung. 1. Februar 1948: Die Militärregierung befiehlt die Demontage von Blohm + Voss. Dadurch verlieren 40 000 Arbeiter ihren Job. 20. Juni 1948: Über die Nacht sind die Läden voll – mit der D-Mark-Einführung beginnt das Wirtschaftswunder. 2. Mai 1948: Durch ein 2:1 über den FC St. Pauli wird der HSV Norddeutscher Fußballmeister. 24. Mai 1948: Vor 40 000 Zuschauern unterliegt der frühere Schwergewichtsweltmeister Max Schmeling in Hamburg seinem Rivalen Walter Neusel. Schmeling beendet daraufhin seine Karriere. 22. Februar 1949: Der Wiederaufbau läuft auf Hochtouren. Seit Kriegsende sind in Hamburg 53 480 Wohnungen neu gebaut oder instand gesetzt worden, bis 1954 sollen rund 60 000 folgen. 15. Mai 1949 Mit 97 gegen drei Stimmen billigt die Hamburger Bürgerschaft das Grundgesetz der Bundesrepublik. 16. September 1949: Zum ersten Mal erscheint die „Hamburger Morgenpost“. XII HAMBURG Sonntag, 3. Mai 2015 Was aus ihnen geworden ist Hamburgs Nazis Foto: Staatsarchiv Hamburg Das „Who is Who“ der braunen Brut: Hamburgs führende Nazis. Sie sind verantwortlich für unsägliches Leid, sind schuld am Tod unzähliger Menschen. Einige haben dafür gebüßt. So wurden mehrere SS-Mörder aus Neuengamme 1946 hingerichtet. Doch es fällt auf, dass ausgerechnet die führenden NS-Persönlichkeiten der Stadt mit milden Strafen davongekommen sind. Karl Kaufmann, Hamburgs Reichsstatthalter, der Mächtigste von allen, wurde nicht einmal vor Gericht gestellt. Foto: MOPO-Archiv Carl Vincent Krogmann Mai 1945 von den Briten verhaftet und interniert. Ein Ermittlungsverfahren wegen „Verbrechen gegen die Mensch- rufungsverfahren wurde die Strafe auf viereinhalb Jahre ermäßigt. Ahrens starb 1974 in Hamburg. Der Mann aus Aasbüttel (Kreis Rendsburg) hatte eigentlich keine Berufsausbildung, arbeitete in der Landwirtschaft. Ab 1941 leitete Göttsche bei der Gestapo in Hamburg das Dezernat II B – auch „Judenreferat“ genannt. Göttsche organisierte die Deportation der jüdischen Bevölkerung Hamburgs. Damit ist er mitverantwortlich für den Mord an 8877 Hamburger Juden. Am 12. Mai 1945 ver- Foto: KZ Gedenkstätte Neuengamme weitere Angeklagte zum Tode. Am 8. Oktober 1946 wurde Pauly im Zuchthaus Hameln gehängt. Dr. Kurt Heißmeyer Foto: Staatsarchiv Claus Göttsche Er war für seine Grausamkeit bekannt, hat unzählige Menschen auf dem Gewissen: Max Pauly, der Sohn eines Haushaltswarenhändlers, war von August 1942 bis zum Kriegsende Kommandant des KZ Neuengamme. 1946 wurde der SS-Standartenführer zusammen mit dreizehn weiteren SSMännern in Hamburg vor ein britisches Militärgericht gestellt. Die Richter verurteilten ihn und zehn Georg-Henning von Bassewitz-Behr übte er in Volksdorf mit Zyankali Selbstmord, als britische Soldaten ihn verhaften wollten. Der Mediziner Dr. Kurt Heißmeyer nahm im KZ Neuengamme Versuche an Menschen vor. Zu den „Versuchskaninchen“, die er mit Tuberkulose infizierte, gehörten auch die 20 Kinder, die kurz vor Kriegsende im Keller der Schule am Bullenhuser Damm erhängt wurden. Nach 1945 wurde zunächst kein Haftbefehl gegen den Arzt erlassen. Er eröffnete eine Tuberkulose-Praxis in Magdeburg. 1963 wurde 1941/42 war Georg-Henning Graf von BassewitzBehr als SS-Offizier verantwortlich für die Ermordung Tausender Zivilisten, Partisanen und Juden in der Sowjetunion. 1943 wurde er zum Höheren SS- und Polizeiführer von Hamburg ernannt und war auch für die Räumung des KZ Neuengamme verantwortlich. 1947 wurde er in Hamburg von einem britischen Militärgericht freigesprochen, dann aber an die UdSSR ausgeliefert. Er erhielt 25 Jahre Zwangsarbeit, starb 1949 im sibirischen Gulag. Dr. Alfred Trzebinski Foto: KZ Gedenkstätte Neuengamme Georg Ahrens war Staatssekretär, stellvertretender Reichsstatthalter und nach Kaufmann der einflussreichste Nazi der Stadt. Seit 1943 sagte er persönlich die Luftlagemeldungen für Hamburg im Rundfunk an. Wegen seiner beruhigenden Stimme gab ihm der Volksmund den Spitznamen „Onkel Baldrian“. Ahrens wurde am 5. Juli 1948 zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt. Im Be- Max Pauly Foto: Staatsarchiv Hamburg Georg Ahrens Foto: MOPO-Archiv Er war im Dritten Reich der mächtigste Mann in Hamburg: Reichsstatthalter Karl Kaufmann (Foto r.) wurde am 4. lichkeit“ führte zu einer Anklageschrift, aber zu einem Prozess kam es nicht. Kaufmann war Teilhaber eines Versicherungsunternehmens und einer chemischen Fabrik. Er starb 1969 als gut situierter Bürger in Hamburg. er verhaftet und 1966 zu lebenslanger Haft verurteilt. Er starb 1967 in Bautzen an einem Herzinfarkt. Als KZ-Arzt von Neuengamme war Dr. Alfred Trzebinski beteiligt an der Ermordung der 20 Kinder in der Schule am Bullenhuser Damm. Trzebinski schläferte die Kinder am 20. April 1945 mit Morphium ein, damit andere SSLeute sie leichter erhängen konnten. Nach Kriegsende tauchte Trzebinski zunächst unter, arbeitete dann inkognito bei der britischen Armee als Militärarzt. Foto: Bundesarchiv Berlin Karl Kaufmann, Hitlers Reichsstatthalter Der Sohn eines Hamburger Reeders wurde 1933 Bürgermeister. Die Briten nahmen ihn am 11. Mai 1945 fest. Wegen Mitgliedschaft in einer verbrecherischen Organisation wurde er im August 1948 zu 10 000 Mark Strafe verurteilt. Nach seiner Entlassung aus dem Internierungslager arbeitete Krogmann in der Baubranche, war später Besitzer eines Holzgroßhandels. Politisch ist er in der Öffentlichkeit nicht mehr hervorgetreten. Im März 1978 starb er in Hamburg. 1946 wurde er verhaftet, angeklagt und zum Tode verurteilt. Am 8. Oktober 1946 starb er am Galgen.
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