Bücher am Sonntag - Neue Zürcher Zeitung

Nr. 3 | 29. März 2015
NZZ am Sonntag
Judas
Amos Oz über
Verrat in allen
Variationen
4
Silvio Blatter
Wir zählen
unsere
Tage nicht
6
Buchklubs
Steigendes
Interesse an
Lesezirkeln
12
Marthe Gosteli
Vorkämpferin
des Frauenstimmrechts
16
Bücher
am Sonntag
Schweizer Geschichte
Neu
Neu
Ein Volkskunde-Buch der Sonderklasse: Die Kulturgeschichte und
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Zur
Zu Stärkung der Geistigen Landesverteidigung
hörte der Aufklärungsve
zugleich Regionalgeschichte des
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dienst dem Volk genau zu. Jetzt sind
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Luzerner Mosts mit seinen heute
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einige Hundert von Zehntausenden
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umgenutzten Mostereien und den
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dieser Rapporte einer breiten Leserdi
bis zu 20 000 Obstbäumen in Megbi
schaft zugänglich. Mit kritischen
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gen. Ein Muss für alle Geniesserge
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und Geniesser.
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Neu
Die Radionachrichten um 12.30 Uhr
Di
sind
für Generationen ein Fixpunkt
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Neu
Mehr
Me als 100 Jahre lang kämpften
die Frauen für ihre politischen
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des Tages. Kurt Witschi war jahrede
Rechte. Mit ihrem Sieg 1971 an
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lang verantwortlich für die Sendunlan
der Urne schrieben sie Geschichte.
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gen. In diesem Buch zeichnet er
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Nur ignorierten diese die Historiker
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die
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bis heute.
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im Rundfunk während der letzten
90 Jahren nach.
Franziska Rogger
«Gebt den Schweizerinnen ihre
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Kurt Witschi
Geschichte!»
Die Zeit: 12.30 Uhr
Marthe Gosteli, ihr Archiv
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und der übersehene Kampf ums
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Frauenstimmrecht
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Inhalt
Lustvoller Streit
um literarisches
Kopfkino
Nr. 3 | 29. März 2015
NZZ am Sonntag
Judas
Amos Oz über
Verrat in allen
Variationen
4
Silvio Blatter
Wir zählen
unsere
Tage nicht
6
Buchklubs
Steigendes
Interesse an
Lesezirkeln
12
Marthe Gosteli
Vorkämpferin
des Frauenstimmrechts
16
Bücher
am Sonntag
Amos Oz (S. 4).
Illustration von
André Carrilho
«Uff», notiert eine Mitleserin in der Schlussrunde zu Sibylle Bergs neuem
Roman «Der Tag, als meine Frau einen Mann fand». Es war das kürzestmögliche Fazit einer «frisch verliebten Mitdreissigerin», wie sie sich selbst
bezeichnet. Sie habe mit dem Buch ihre liebe Mühe gehabt, besonders mit
dem teils schroffen Stil, der polarisiere. Anderseits, so die Bloggerin, die
seit vier Jahren im Twitter-Lesezirkel @tw_lesezirkel über ihre Lektüre
schreibt, schaffe es Berg, Szenarien zu entwickeln, «dass das Kopfkino nach
zwei Sätzen schon anspringt» und man die Bilder kaum vergesse. Was im
18. Jahrhundert der französische Salon war und im 19. das Lesekabinett, ist
heute der Frauen-Literaturclub, die «book group» oder eben der TwitterLesezirkel. Lesen Sie dazu den vergnüglichen Reisebericht von Kathrin
Meier-Rust durch Schweizer Lesegruppen (Seite 12).
Kopfkino könnten auch der Roman «Judas» von Amos Oz (S. 4), Thomas
Brussigs Schelmengeschichte über die fortlebende DDR (S. 10) oder die
Biografie «Rilke und die Frauen» (S. 18) bieten. Und natürlich diese
Relativsatz-Bücher, die Charles Lewinsky, wie immer glänzend, aufs Korn
nimmt (S. 15).
Übrigens: Relativsatz-Titel werden häufiger. Neben jenem von Sibylle Berg
und den von Charles Lewinsky erwähnten finden sich in der vorliegenden
Ausgabe zwei weitere. Da Ostern vor der Tür steht: Viel Spass bei der
Titelsuche! Urs Rauber
Belletristik
Amos Oz: Judas
Von Susanne Schanda
6 Silvio Blatter: Wir zählen unsere Tage nicht
Von Martin Zingg
8 Jochen Beyse: Lawrence und wir
Von Bruno Steiger
Werner Spiess: Archiv der Träume
Von Gerhard Mack
9 Eugène Dabit: Hotel du Nord
Von Angelika Overath
Alain Monnier: Die wunderbare Welt des
Kühlschranks in Zeiten mangelnder Liebe
Von Stefana Sabin
10 Thomas Brussig: Das gibt’s in keinem
Russenfilm
Von Klara Obermüller
11 Mascha Kaléko: «Liebst du mich eigentlich?»
Von Charles Linsmayer
Kurzkritiken Belletristik
11 Saphia Azzeddine: Mein Vater ist Putzfrau
Von Regula Freuler
Frank Schablewski: Havarie
Von Manfred Papst
Tex Rubinowitz: Irma
Von Regula Freuler
Jeffrey Yang: Yennecott
Von Manfred Papst
Reportage
12 Das musst Du lesen!
Kathrin Meier-Rust erkundet das Phänomen
und hat dazu mehrere Lesezirkel in der
Schweiz besucht
Kolumne
15 Charles Lewinsky
Das Zitat von Arthur Schopenhauer
SCHWEIZERISCHE NATIONALBIBLIOTHEK
4
1968 treten die Gegner des Frauenstimmrechts mit
diesem Abstimmungsplakat an (S. 16).
Kurzkritiken Sachbuch
15 Angelika Ramer: Osorno Feuer
Von Urs Rauber
Max Meyer: Köbi Siber
Von Kathrin Meier-Rust
Claudia Starke, Thomas Hess, Nadja Belviso:
Das Patchwork Buch
Von Kathrin Meier-Rust
Martin Windrow: Die Eule, die gern aus dem
Wasserhahn trank
Von Geneviève Lüscher
Sachbuch
16 Franziska Rogger: «Gebt den Schweizerinnen
ihre Geschichte»
Von Kathrin Alder
18 Heimo Schwilk: Rilke und die Frauen
Von Claudia Schumacher
19 Orlando Figes: Hundert Jahre Revolution
Von Victor Mauer
20 Raymond Beutler, Andreas Gerth: Naturerbe
der Schweiz
Von Sarah Fasolin
Matthias Politycki: 42,195
Von Remo Geisser
21 Walter Mischel: Der Marshmallow-Test
Von Michael Holmes
22 Conchita Wurst: Ich, Conchita
Von Malena Ruder
Rolf Hosfeld: Tod in der Wüste
Von Geneviève Lüscher
23 JürgSchoch:MitAug’undOhrfürsVaterland
Von Thomas Zaugg
Kim Wilson: Auf den Spuren von Jane Austen
Von Geneviève Lüscher
24 Maria Antas: Wisch und weg
Von Berthold Merkle
Ronja von Wurmb-Seibel: Ausgerechnet Kabul
Von Victor Merten
Corinne Rufli: Seit dieser Nacht war ich wie
verzaubert
Von Gordana Mijuk
25 Otfried Höffe: Kritik der Freiheit
Von Manfred Koch
26 Kurt Schiltknecht: Wohlstand – kein Zufall
Von Urs Rauber
Das amerikanische Buch
James McGrath Morris: Eye on the Struggle.
Ethel Payne, the First Lady of the Black Press
Von Andreas Mink
Agenda
27 L. Grand, S. Mumenthaler: Die Not hat ein Ende
Von Manfred Papst
Bestseller März 2015
Belletristik und Sachbuch
Agenda April 2015
Veranstaltungshinweise
Chefredaktion Felix E.Müller (fem.) Redaktion Urs Rauber (ura., Leitung), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.)
Ständige Mitarbeit Urs Altermatt, Urs Bitterli, Hildegard Elisabeth Keller, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Sandra Leis, Charles Lewinsky, Andreas Mink, Klara Obermüller,
Angelika Overath, Martin Zingg Produktion Eveline Roth, Hanspeter Hösli (Art Director), Susanne Meures (Bildredaktion), Raffaela Breda (Layout), Korrektorat St.Galler Tagblatt AG
Verlag NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich, Telefon 0442581111, Fax 0442617070, E-Mail: [email protected]
29. März 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3
Belletristik
Roman In seinem jüngsten Roman erzählt der israelische Schriftsteller Amos Oz eine
Entwicklungsgeschichte zum Thema Verrat in allen Variationen – ein Buch voller Liebe und Schmerz
DurchsTalder
TränenindieWüste
Amos Oz: Judas. Aus dem Hebräischen
von Mirjam Pressler. Suhrkamp,
Berlin 2015. 335 S., Fr. 33.90, E-Book 25.–.
Von Susanne Schanda
Dieser Roman beginnt wie ein Wintermärchen und endet mit einem Anfang:
«Er stand da und überlegte.» Doch der
Reihe nach. Hauptfigur des jüngsten
Romans von Amos Oz ist ein unansehnlicher, empfindsamer, zu Tränen und
langen Vorträgen neigender 25-jähriger
Student mit gekraustem Barthaar wie
Stahlwolle und einer Schapka, einer russischen Fellmütze, auf dem Kopf; ein unglücklich Liebender, ein Asthmatiker,
Sozialist und Atheist, der eine Arbeit
über «Jesus in der Perspektive der Juden»
schreibt. Seine Helden, die er auf Postern
an den Wänden seines Zimmers aufmacht, sind bärtig wie er selbst, Che Guevara, die Brüder Castro und der Gekreuzigte in den Armen seiner Mutter.
Es ist Anfang Dezember 1959 in der
seit zehn Jahren geteilten Stadt Jerusalem. Schmuel Asch ist gerade von seiner
Freundin verlassen worden und verzweifelt an seiner Forschungsarbeit. Als
seine Eltern ihm aus Haifa schreiben,
dass sie sein Studium nicht länger finanzieren können, beschliesst er, Jerusalem
zu verlassen. Doch der Aufbruch verzögert sich, als er am Anschlagbrett der Uni
eine Anzeige entdeckt, in der ein Student
der Geisteswissenschaft gesucht wird,
der einem alten behinderten Mann jeden
Abend fünf Stunden für Gespräche zur
Verfügung stehen und dafür eine kleine
Entschädigung, Kost und Logis erhalten
soll. Kurz entschlossen zieht er ein ins
Haus und in die Welt von Gerschom Wald
und dessen verwitweter Schwiegertochter Atalja. In der schönen, geheimnisvollen Frau, die fast doppelt so alt ist wie er,
findet Schmuel ein Objekt der Sehnsucht
und Begierde, in dem alten Spötter einen
herausfordernden Gesprächspartner für
seine Jesus-Judas-Thematik.
4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. März 2015
Amos Oz, der nach zahlreichen internationalen Auszeichnungen kürzlich
den Siegfried-Lenz-Preis erhalten hat, ist
wohl der wichtigste zeitgenössische
Autor Israels und engagiert sich seit Jahrzehnten für einen Frieden im Nahen
Osten. Ein Schriftsteller von Weltformat
ist Amos Oz, weil er es versteht, die historischen Prozesse und grossen Fragen
der Menschheit in den Seelen, Körpern
und Gesichtern von einzelnen Figuren
darzustellen. In seinem autobiografischen Opus magnum «Eine Geschichte
von Liebe und Finsternis» hat der 1939 in
Jerusalem geborene Autor von seiner aus
Osteuropa nach Palästina eingewanderten Familie auf dem Hintergrund der britischen Mandatszeit und Staatsgründung Israels erzählt – mit dem Suizid der
Mutter als prägendem Schock für den
damals 12-Jährigen.
Biblischer Urverräter Judas
In «Judas» geht es um Verrat. Um den biblischen Urverräter. Schmuel Asch kritisiert in seiner Arbeit die christliche Überlieferung, die Judas als Verräter von
Jesus darstellt. Judas sei dadurch zum
Archetypus des Verräters geworden, ja
zum Archetypus des Juden. Im Neuen
Testament weist Schmuel Ungereimtheiten nach. So sei Judas ein wohlhabender
und gebildeter Mann gewesen, der keine
dreissig Silberlinge brauchte. Und wer
sollte denn etwas zahlen für den Verrat
an einem Mann, den in Jerusalem alle
kannten? Judas Ischariot sei vielmehr
der treueste Anhänger Jesu gewesen, der
bis zuletzt an dessen Göttlichkeit geglaubt und zur Beweisführung die Kreuzigung in Jerusalem organisiert habe. Als
Jesus starb, sei für Judas sein Lebenswerk zerbrochen, worauf er sich erhängt
habe. Judas sei in Wirklichkeit der erste
Christ, ohne den es keine Kreuzigung
und somit gar kein Christentum gegeben
hätte.
Diese Ansichten sind nicht neu. Der
Autor Amos Oz, der für sein friedenspolitisches Engagement wiederholt ange-
griffen und als Verräter bezichtigt worden ist, stützt sich hier auf einschlägige
Forschungsliteratur, zu der auch sein
Grossonkel einen Beitrag geleistet hat:
Joseph Gedalja Klausner, ein früher Zionist, hat mit seiner These, dass Jesus ein
jüdischer Reformer gewesen und als
überzeugter Jude gestorben sei, heftige
Kritik ausgelöst – bei Juden ebenso wie
bei Christen. Im Roman wird Verrat in
unterschiedlichsten Variationen thematisiert und hinterfragt. Während Schmuel
sich von seiner Geliebten verraten fühlt,
sind es in der Weltpolitik die Erneuerer
und Querdenker wie Lincoln in den USA,
Sadat in der arabischen Welt und Gorbatschow in der Sowjetunion, die als Verräter denunziert wurden.
In den Gesprächen erfährt Schmuel
von Gerschom, dass Ataljas verstorbener
Vater sich als einziger jüdischer Politiker
gegen die Idee eines jüdischen Staates
gestellt hatte. Für die revolutionäre Idee,
sich mit den Arabern zu verbünden und
mit ihnen zusammen die Briten aus dem
Land zu werfen, war er als Araberfreund
und Verräter beschimpft und von Ben
Gurion entlassen worden. Nun ist es
Schmuel, der die israelische Politik kritisiert und Gerschom widerspricht: «Mit
dem Sinai-Feldzug hat Ihr Ben Gurion
Israel zwei Kolonialmächten an den
Schwanz gehängt, die zum Untergang
verurteilt sind, Frankreich und England,
und damit hat er den Hass der Araber auf
Israel verstärkt und die Araber endgültig
davon überzeugt, dass Israel ein Fremdkörper in dieser Region ist, ein Werkzeug
des internationalen Imperialismus.»
Voll Leidenschaft hält er dem alten
Mann vor, dass keine militärische Macht
der Welt einen Feind in einen Freund
verwandeln könne; dass dies das existenzielle Problem Israels sei. Hinter den
politischen Debatten kommt nur zögerlich die persönliche Tragödie zur Sprache, die Gerschom und Atalja verbindet.
Micha war der einzige Sohn Gerschoms
und ist im arabisch-israelischen Krieg, an
dem er unbedingt teilnehmen wollte,
1948 gefallen; der Mann, mit dem Atalja
ein Jahr verheiratet war und seit dessen
Tod sie nicht mehr lieben kann. Den ganzen Winter verbringt Schmuel in dem
von Schmerz und Trauer imprägnierten
Haus. Dann teilt ihm Atalja eines Tages
mit, dass es Zeit für ihn sei, zu gehen;
sonst werde er noch versteinern wie sie
selbst und ihr Schwiegervater. Er packt
seinen Seesack und bricht auf Richtung
Wüste, wo eine neue Stadt gebaut werden soll.
Ein soziales Projekt der Stiftung Tosam www.tosam.ch
Bei aller Tragik, Düsternis und Schwere
wird dieser Roman immer wieder von
einer merkwürdigen Heiterkeit gestreift.
Das hat viel mit der liebevoll-spöttischen
Zeichnung des Protagonisten zu tun.
Etwa wenn Schmuel anfangs durch die
verregneten Strassen Jerusalems streunt
wie «ein schwindliger Bär, den man aus
seinem Winterschlaf gerissen hatte»;
oder wenn er träumt, dass Stalin ihn
einen Judas schimpft. Oder wenn
Gerschom Schmuel mitfühlend fragt:
«Haben Sie, abgesehen von Ihrer Schwes-
GETTYIMAGES
Merkwürdig heiter
Jüdische Familie beim
Laubhüttenfest in
der geteilten Stadt
Jerusalem, um 1955,
der Zeit, in der Amos
Oz’ Roman spielt.
ter und abgesehen von Lenin und Jesus,
keinen anderen auf der Welt, der Ihnen
nahesteht?»
Manchmal drohen die Gespräche zwischen dem Studenten und dem alten,
vom Leben gezeichneten Mann sich zu
verselbständigen, und die Engführung
der Judas-Thematik mit der Weltpolitik
und der Geschichte Israels erscheint
etwas forciert. Die stärksten Momente
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hat der Roman, wenn er ganz nah an seinem Protagonisten ist, dessen schüchterne Annäherungsversuche an Atalja
schildert, sein Erröten, Schwitzen und
seine Atemnot, sein Feuer beim Diskutieren mit dem Alten. Wie Schmuel in der
winterlichen Abgeschiedenheit einen
Reifungsprozess durchmacht, der ihn
von Illusionen und Abhängigkeiten befreit, das tut weh – auch beim Lesen. l
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29. März 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5
Belletristik
Roman Der Zürcher Autor Silvio Blatter legt eine Generationenerzählung vor, die unspektakulär, doch
eindringlich verschiedene Lebensentwürfe verhandelt
Kühner Aufbruch an der Schwelle
Silvio Blatter: Wir zählen unsere Tage nicht.
Piper, München 2015. 291 Seiten,
Fr. 29.90, E-Book 18.–.
Von Martin Zingg
Das Alter, hört man immer häufiger, sei
eine grausame Angelegenheit. Philip
Roth etwa, der amerikanische Romancier, sprach einmal vom Alter als einem
«Massaker», andere wiederum meinen,
es sei «nichts für Feiglinge». Leicht muss
es wohl nicht sein, das zu betreten, was
als «Alter» gilt – einmal abgesehen davon,
dass es heute auch nicht mehr einfach
ist, genau zu bestimmen, wo der Beginn
des Alters überhaupt liegt.
Sind Isa und Severin Lerch alte Menschen? Sie sind beide knapp über sechzig, und beide sind sie erfolgreich in
ihren jahrzehntelang geübten Disziplinen: Isa ist eine gefeierte, äusserst beliebte Radiomoderatorin, Severin ist ein
anerkannter Bildhauer mit einem imposanten Werk. Sie haben zwei Kinder,
Sandra und Matthias, sowie zwei Enkelkinder, Lucie und Lars. Obschon sie
unterschiedlichen Tagesrhythmen und
Interessen folgen, sind Isa und Severin
über all die Jahre zusammengeblieben.
Isa ist viel unterwegs, sie moderiert Sendungen, trifft sich mit Menschen, geht
einmal in der Woche mit ihrer Tochter
schwimmen und liebt es, Kleider zu kaufen. Ihre beiden Kinder haben die Stimme ihrer Mutter seinerzeit öfter am Radio
gehört als an der Bettkante. Severin wiederum ist gerne allein. Sein Atelierhaus
hat er in einer aufgegebenen Kiesgrube,
seit Jahrzehnten schon, und dort hält er
auch einen Hund, den seine Frau nicht
im gemeinsamen Haus haben will.
Beziehungsgeschichten
Das Personal von Silvio Blatters jüngstem Roman «Wir zählen unsere Tage
nicht» scheint auf den ersten Blick weitgehend zufrieden. Sandra Lerch ist mit
Rainer Flimm verheiratet, der als Geschäftsführer bei «Tonis Autowelt» arbeitet, einer Firma, die Fahrzeuge abwrackt.
Sie selber betreibt mit «In & out» nebenher ein Antiquitätengeschäft, das gut
läuft, und betreut den Sohn Lars. Ihr Bruder Matthias Lerch gibt ziemlich erfolgreich Kurse für Führungskräfte, Motto
«Ohne Führung macht jeder, was er
Isa Lerch im neuen Roman von Silvio Blatter soll ihren Platz am
www.rowohlt-berlin.de
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Eine Frau, ein Haus und der Wald.
Doris Knechts fesselnder Roman über Verlust und Neuanfang.
6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. März 2015
© Alexander Sehrbrock; shutterstock.com
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zum Alter
will». Im Privatleben will er von Sprüchen dieses bescheidenen Kalibers allerdings nicht viel wissen. Mit Amelie, einer
ambitionierten Sportlerin, hat er eine
Tochter, Lucie. Lange sind die drei aber
nicht zusammen, denn Amelie, die mehr
an ihrem Sportclub hängt als an ihrem
Partner, verlässt ihn schon bald mitsamt
der Tochter.
In kreisenden, gleichsam mahlenden
Erzählbewegungen führt Silvio Blatter
vor, wie die Familien ihren Alltag bewältigen. Nach und nach, in kleinen, präzis
konturierten Häppchen, in Vor- und
Rückblenden erfahren wir mehr aus dem
Leben der Protagonisten. Und bald keimt
der Verdacht, dass bei Lerchs und Flimms
nicht alles zum Besten steht. Isa zum
Beispiel ringt damit, dass sie ihren Platz
am Radiomikrofon räumen soll, obschon
sie beim Publikum so gut ankommt. Ihre
Nachfolgerin steht schon bereit – und recherchiert ausgerechnet für eine Dokumentarsendung über ihre Vorgängerin.
Und Severin klagt über eine «Krise der
Skulptur» und muss erleben, wie seine
Holzskulpturen in der abgelegenen Kiesgrube nächtlicherweise von «PaintballKriegern» bespritzt und beschädigt wer-
Wir alle sind doch Lerchs
Ist die Zeit von Isa und Severin Lerch nun
doch vorbei? Vierzig Jahre lang ist alles
gut gegangen, vierzig Jahre könnten
genug sein. Noch sträuben sie sich aber
dagegen, das Feld zu räumen. Severin,
als er sein Atelier wegen eines geplanten
Baggersees räumen soll, stellt sich
lautstark quer, und Isa sieht sich bereits
nach einem privaten Sender um, der sie
nach ihrer Pensionierung weiterbeschäftigen könnte. Zwei, die ins Alter gekommen sind und nicht aufhören können,
die nie genug haben, so sieht es aus.
Aber den beiden Kindern, die doch
jünger sind, geht es nicht viel besser, im
Gegenteil. Matthias hat beruflich Erfolge, ist aber mit wachsender Verzweiflung
hinter einer jungen Frau her, die von
ihrer kosovarischen Sippe abgeschirmt
wird. Und Sandra, inzwischen vierzig
Jahre alt, kommt per Zufall dahinter,
dass ihr Mann sie betrogen hat – mit Bar-
bara, einer quirligen Frau, die kurzzeitig
an den Grünliberalen interessiert war,
für die Rainer bei den nächsten Wahlen
kandidieren möchte.
Spielt es eine Rolle, wo dieser Roman
spielt? Irgendwo auf dem Lande. Der
Ortsname, der einmal genannt wird, tut
nichts zur Sache. Mit Stadt-Land-Gefälle
hat kaum zu tun, was in diesem Roman
alles passiert, wohl aber mit unterschiedlichen Lebensgefühlen. Isa und Severin
Lerch nämlich, die «Alten», werden am
Ende eine Lebensentscheidung treffen,
die weitaus kühner ist als alles, was ihre
Kinder an Lebensentwürfen je zu formulieren gewagt haben. Wie nebenbei blamieren sie jene Vorstellungen, die gerne
mit älter werdenden Menschen verknüpft werden – und lassen die Tochter
beim Ehetherapeuten zurück und den
Sohn bei einer ziemlich dumpf wirkenden Brautschau.
Silvio Blatter erzählt das alles in einem
mit Absicht gedämpften Tonfall, ohne
entlastende Pointen anzusteuern, mit
sorgfältig gezirkelten Schnitten – und
legt damit so manches frei von dem, was
nicht nur Lerchs und Flimms verbergen
müssen, um funktionieren zu können. l
Foto: © Alberto Venzago
Foto: © Richard Dubois
Foto: © Bernard van Dierendonck
* unverb. Preisempfehlung
Mikrofon räumen .
den. Es sind dieselben, mit denen sich
Severin später in einer blutigen Nacht
handfest anlegen wird und die ihn dann
endgültig aus seinem Paradies vertreiben werden.
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1989 und 1990: Der
Schweizer Journalist
Mario reist kurz vor
dem Mauerfall für eine
Reportage nach
Ostberlin. Was er
noch nicht weiß:
Der Kalte Krieg reicht
auch bis in sein
Leben und seine
Familie hinein.
Ein aktueller, hochspannender Thriller
aus der Welt der
Banker, Börsenhändler,
Journalisten und
Politiker.
Martin Suter
Montecristo
Roman · Diogenes
320 Seiten, Leinen,
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und Hörbuch
»Ein Meisterwerk der
Desillusionierung.«
Christopher Schmidt /
Süddeutsche Zeitung,
München
29. März 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7
Belletristik
Erzählung Dem Berliner Jochen Beyse ist eine schräge Allegorie des menschlichen Seins gelungen
WoFunzelndüster
imWindeschwanken
Jochen Beyse: Lawrence und wir.
Diaphanes, Zürich-Berlin 2015.
110 Seiten, Fr. 14.90, E-Book 10.–.
Von Bruno Steiger
Mit der sich zusehends zum Kreis schliessenden «digitalen Wende» scheinen die
alten tollen Fragen nach dem Wesen,
dem Ort, der Bestimmung des Menschen
beantwortet, für alle Zeit. Wer sich, sei’s
aus Verzweiflung, sei’s aus Übermut,
weiterhin auf die elementaren, mehr als
komischen Rätsel unseres Seins verlas-
sen möchte, ist bei Jochen Beyse bestens
aufgehoben. Wir sind die, die da sind ...
hier ... irgendwie ... vielleicht.
So ungefähr liesse sich Beyses in bisher rund fünfzehn Prosawerken entfalteter poetisch-philosophischer Ansatz zusammenfassen. In seiner neuen Erzählung setzt er seine Reihe grandios schräger Allegorien über menschliches Sein
als Sein von grundsätzlich Befangenen in
eindrücklichster Weise fort. Auch dieses
Buch steht weit ausserhalb all dessen,
was als angesagt oder gar relevant bezeichnet werden könnte. Der Befund tut
dem solitären Rang des 1949 geborenen,
Musée d’Orsay Revue von Meisterwerken
Edgar Degas hat viele junge Frauen bei der Toilette gemalt. Oft zeigte er sie in ungewöhnlichen Perspektiven
und kühnen Verkürzungen. Viele von ihnen hielt er mit
Pastellkreide fest, damit konnte er schnell arbeiten, und
die Bilder bekamen mehr Tiefe. Der irische Maler Sean
Scully hat das Pastell «Nach dem Bad (Frau sich den
Nacken trocknend)», das gegen 1898 entstanden ist,
ganz anders gesehen. Er fokussierte seinen Blick auf
den Hintergrund mit seinem Wechsel von vertikalen
Farbbahnen und machte daraus eine abstrakte Abfolge
von Bändern, die durch zwei Elemente gestört wird,
8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. März 2015
welche wohl an die Frau erinnern. Degas’ Werk ist im
Besitz des Musée d’Orsay in Paris und wurde von Werner
Spiess mit rund 130 weiteren Papierarbeiten ausgewählt, um die Sammlung vorzustellen. Das Buch, das
anlässlich einer Ausstellung erschienen ist (Albertina,
Wien, bis 3.5.), versammelt Spitzenwerke von Courbet
und Honoré Daumier bis zu Odilon Redon und Paul
Cézanne, aber auch Reaktionen von Künstlern, Schriftstellern und Regisseuren von heute. Gerhard Mack
Werner Spiess (Hrsg.): Archiv der Träume. Sieveking,
München 2015. 344 Seiten, 224 Farbabb., Fr. 59.90.
in Berlin lebenden Schriftstellers in keiner Weise Abbruch.
Wer, was, wo und woran ist man bei
Beyse, müssen auch bei seinem neuen
Buch die Fragen lauten. Erzählt wird
konsequent in der ersten Person Mehrzahl. «Wir» sind es, die als Zeit- oder
Wanderarbeiter leben oder vegetieren;
oder Zugegensein spielen, gebannt vom
bläulichen Licht der elektronischen Gerätschaften in unseren Handflächen. Im
mürben Schutz von zwei in allen Fugen
krachenden «Kuppeln des Wissens» erstreckt sich ein ausgedehntes Gelände
aus Bohrtürmen, Windrädern, Sendemasten, Technikmärkten, Lebensmitteldepots, in der Umgebung «oft alles voller
Vieh». Dazwischen Zeltreihen, die ganze
Zeltstädte in sich bergen, in der Dunkelheit eines Nebensatzes ist gar von einer
«Frauenbaracke» die Rede.
«Es gibt auch Zelte, wo Funzeln düstergelb im Wind schwanken. Die Schatten jagen sich dann wie Gespenster, die
dem Leben hinterherhetzen.» Was
heisst, was bedeutet das alles, ist die in
vorbildlich stupidem Smalltalk immer
neu formulierte Frage, die die Lagerbewohner umtreibt. Sie richtet sich letztlich an einen gewissen Lawrence, der
eines Tages in der unterirdischen, hallengrossen Abortanlage auftauchte. «Er hat
uns das Zeichen gegeben, so ist es allen
vorgekommen», damals, als er in Erscheinung trat, «hier unten», dermassen
laut mit seinen Stiefeln auf den gekachelten Boden aufschlagend, «dass jeder
auf den Klosettschüsseln hochgefahren
ist», noch immer keinen Blick von seiner
offenen Hand wendend.
Doch von Lawrence ist keine Antwort
zu erwarten; er schweigt in göttlicher
oder satanischer Erhabenheit. Dass
Beyse diese nur dubios zu nennende Erlösergestalt, einen absoluten Mentor der
übelsten Sorte, stets nur beiläufig erwähnt, ist ihm hoch anzurechnen. Umso
eindrücklicher die Figur des alten Mannes, der sich Tag und Nacht an den Handlauf eines kinnhoch aus dem Erdreich
ragenden Metallzylinders klammert, den
Blick auf die blauen Hunde gerichtet, die
zwischen den orange gekleideten Lagerwächtern umherschleichen.
Beyses Prosa ist überreich an solch
halluzinativen, dabei wunderbar stummen Bildern, und ebenso wunderbar ist
seine Lust, sie alsogleich zurückzunehmen und in den Raum eines virtuellen,
in Poesie überführten Deliriums zu stellen. Darin zeichnet sich eine hoch artistisch ausgespielte Unentschiedenheit ab,
in welcher böser Ernst und nur beseligend zu nennender tiefschwarzer Witz
sich durchdringen. Man ist geneigt, von
einer visionär ausgerichteten Gegenmetaphysik zu sprechen, die zu schreiben nur Jochen Beyse imstande ist, in
einer Diskretion, die über den heute
weltumspannenden Imperialismus des
Allzumenschlichen weit hinausragt. ●
Roman Eugène Dabits Buch über ein legendäres Lokal liegt in neuer Übersetzung vor
PariserHotelfürsozialesStrandgut
Eugène Dabit: Hotel du Nord. Deutsch von
Julia Schoch. Schöffling, Frankfurt a. M.
2015. 223 Seiten, Fr. 29.90, E-Book 19.90.
Von Angelika Overath
Emile Lecouvreur, ein ehemaliger Lastenkutscher, seine Frau Louise und ihr
Sohn Maurice stehen im 10. Arrondissement am Quai de Jemmapes in der Nähe
des Schleusenwärterhäuschens und warten auf den Makler. Mit geliehenem Geld
wollen sie das heruntergekommene
Hotel du Nord kaufen, eine Tat, die für
sie gleichbedeutend ist mit der Hoffnung
auf einen alles wendenden sozialen Aufstieg. Sie zögern, als sie bald durch die
dunklen Gänge des Hauses gehen und in
schmutzige Zimmer sehen.
«Selbstverständlich wollen wir kein
Stundenhotel», sagen sie ein wenig verlegen. Und das ist das Wohnhotel, das
Flussschiffern, Rollkutschern, Näherinnen, gestrandeten Ehepaaren und all
jenen eine Bleibe gibt, die dem bürgerlichen Blick als soziales Strandgut gelten,
ja auch nicht. Den Mut ihrer Entscheidung feiert die kleine Familie in einer
Kantine. Die vorsichtige Frage seiner
Frau, ob man auch eine Suppe oder lieber
einen Vorspeisenteller nehmen solle,
übergeht Monsieur Lecouvreur und ruft:
«Ober, dreimal Hirn!»
Eugène Dabit (1898–1936) musste
nicht dick auftragen, er kannte das Milieu zwischen proletarischem Stolz und
kapitalistischem Abgrund gut genug, um
die neuralgischen Punkte in zärtlichen
Strichen nur anzudeuten. Billiger kann
man auswärts nicht feierlich speisen.
«Schweigend und beinahe überschwänglich essen sie. Das reichhaltige Mahl erfüllt ihre Sinne und überrascht ihren
Geist.»
«Hotel du Nord» erschien 1929. Es ist
das autobiografische Debüt des Sohns
Eine Legende noch heute: Das Hotel du Nord in Paris (Foto undatiert).
eines Lastenfahrers und einer Putzfrau,
die in den zwanziger Jahren das Hotel am
Kanal kauften.
Eugène Dabit arbeitete (und schrieb)
dort als Nachtwächter. Im Unterschied
zum Roman, an dessen Ende das Hotel
durch Immobilienspekulanten abgerissen wird, steht das Haus heute noch und
beherbergt ein Restaurant, das das Arbeiter-Paris der zwanziger Jahre feiert.
Nicht zuletzt durch die sehr freie, melodramatische Verfilmung des Romans
durch Marcel Carné ist es zu einer Pariser Legende geworden.
Anders als der Film ist das Buch (in der
schönen Neuübersetzung von Julia
Schoch) nirgends sentimental. Wie Gaslaternen wirft es nur einen milden Schein
auf das flüchtige Menschenleben und
-lieben, das die Zimmer streift. Schon
frühmorgens wird das Café zur Bühne
für die Arbeiter des Viertels, die Buchhalter, Elektriker, Drucker, die Frauen aus
den Lederwarenfabriken und Spinnereien, die Verkäuferinnen und Schreibkräfte, die mit einem kleinen Roten oder
einem Milchkaffee ihren Tag beginnen.
Da ist Renée, das Waisenmädchen vom
Land, das schwanger von ihrem Fabrikschlosser verlassen wird und nach dem
Tod ihres Kindes unter dem Einfluss
der lebenslustigen Korsettmacherin Fernande in die Prostitution rutscht. Da ist
Mimar, der Gepäckträger, der «mit der
Sicherheit eines geistlosen, geilen Männchens» auf Frauenbeute lauert. Da ist der
tuberkulöse Monsieur Ladevèze, den
Louise noch im Krankenhaus besucht,
oder der homosexuelle Adrien, dem sie
hilft, sich als Carmen zu verkleiden. Da
ist der Koch Marius Pluche, der im Zimmer Kaninchenragout kocht, und das
Duo der nähenden Schwestern Delphine
und Julie, «alte Mädchen», die «kleinkrämerisch und in ständiger Angst vor der
Zukunft» sich das Leben vergällen.
Rechtschaffen, mit der milden Toleranz
von Menschen, die die Würde der Not
kennen, bemühen sich
Emile und
Louise, ihr Hotel am Kanal auf Kurs zu
halten, bis sie vor der neuen Zeit, den lukrativen Büroneubauten der «Cuir Moderne», weichen müssen.
Am Ende sieht Louise über das
Abrissareal, wo die hohen Baugerüste in
den Himmel steigen: «Es ist, als hätte es
das Hotel du Nord nie gegeben (...) Nichts
davon wird übrig bleiben.»
So feiert der Roman, als Totentanz, als
Reigen, das unerhebliche Glück und Leid
verlorener Tage. l
Roman Gelungene und amüsante Verbindung von Nostalgie mit Sozialkritik
Ein Kühlschrank kommt selten allein
Alain Monnier: Die wunderbare Welt des
Kühlschranks in Zeiten mangelnder Liebe.
Aus dem Französischen von Lis Künzli.
Arche, Hamburg 2015. 208 Seiten,
Fr. 25.90, E-Book 16.–.
Von Stefana Sabin
Die Geschichte beginnt mit dem Kühlschrank, den sich Marie kauft und der
«bereits kaputt ist, bevor er auch nur die
mindeste Kühleinheit von sich gegeben
hat». Von da an gerät Marie in die Fänge
der Marketingabteilung eines Konzerns,
des Beratungsdienstes von Zulieferfirmen, des Transportunternehmens und
der Fernseh- und Zeitungsreporter. Während dieser Zeit, in der sie die wirkliche
Liebe findet, den Hamster ihrer Freundin
verliert, ihn dann fast verhungert in
einem Kühlschrank entdeckt und sich
mit ihrem Vater versöhnt – während dieser Zeit mehren sich die Kühlschränke in
ihrer kleinen Toulouser Wohnung.
Zuerst wird vom Hauptsitz der Firma
aus ein Ersatz geliefert, der sich zu dem
alten und dem neuen kaputten gesellt;
dann veranlasst der Marketingdirektor
der Vertragsfirma die Lieferung eines
neuen Kühlschranks; dann schickt ihr
der Vater den alten, ja antiken Kühlschrank des Grossvaters. Denn, so kommentiert der Erzähler, «wenn ein System, das nie in Gang kommt, sich einmal
in Bewegung setzt, ist niemand da, der es
stoppen könnte». Irgendwann sind es
siebzehn, dann dreissig, dann so viele
Kühlschränke, dass sie im Treppenhaus
und auf der Strasse stehen – und Marie
wird als progressive Künstlerin gefeiert,
die in ihrer Kühlschrankinstallation der
Konsumwelt den kritischen Spiegel vorhält. Am Ende kehrt Marie zu sich selbst
und ihrer neuen Liebe zurück.
Alain Monnier (*1954) studierte Ingenieurwissenschaften und arbeitet in der
Umweltforschung. Er hat in elf Romanen
und zwei Erzählsammlungen alltägliche
Situationen ironisch dargestellt und Sozialkritik und Sozialnostalgie miteinander verwoben. Auch in diesem Roman
gelingt ihm eine einfache und amüsante
Geschichte, die die Hilflosigkeit des einzelnen Konsumenten gegenüber grossen
Firmen artikuliert und die Medienwelt
und die Kunstszene verlacht. l
29. März 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9
Belletristik
Roman Thomas Brussig malt sich aus, wie das sozialistische Ostdeutschland ausgesehen hätte,
hätte es nach 1990 weiter existiert – abgründig und witzig
SchäubleistKanzler,
unddieDDRlebtweiter
Thomas Brussig: Das gibts in keinem
Russenfilm. S. Fischer, Frankfurt a. M.
2015. 382 Seiten, Fr. 28.90. E-Book 19.–.
Mit «Helden wie wir» hat Thomas Brussig 1995 den lang ersehnten ersten Wenderoman geschrieben. 1999 folgte «Am
kürzeren Ende der Sonnenallee». Beide
Bücher wurden verfilmt. Beide erreichten ein breites Publikum und trugen wesentlich zum besseren Verständnis ostdeutscher Befindlichkeiten bei. Das
Gleiche gilt auch für das Musical «Hinterm Horizont», das seit 2011 Abend für
Abend über die Bühne des Stage-Theaters am Potsdamer Platz geht und die
dramatischen Ereignisse rund um Udo
Lindenbergs DDR-Konzert von 1983 noch
einmal aufleben lässt.
Und nun also wieder ein Roman. «Das
gibts in keinem Russenfilm» heisst er,
was so viel bedeutet wie: unwahrscheinlich, zu viel des Guten, zu schön, um
wahr zu sein. Der Titel ist also eine Art
Warnung. Und wem sie noch nicht genügt, der wird in einer kleinen Vorrede
darauf hingewiesen, dass es sich auch
bei Figuren mit bekannt klingenden
Namen um Erfindungen des Autors handelt und dass, wer nach dem Wirklichkeitsgrad des Erzählten fragt, von diesem zur Antwort erhält: «Nö, dis hab ich
mir bloss ausgedacht.»
Ossi-Feeling beflügelt
Ausgedacht hat sich der Autor Thomas
Brussig in der Tat vieles – und handkehrum auch wieder nichts. «Das gibts in keinem Russenfilm» ist nämlich eine Art
Autobiografie des «berühmten Schriftstellers Thomas Brussig», wie es im Klappentext heisst. Sie folgt getreu seinem
Lebenslauf vom Tag seiner Geburt am
19. Januar 1964 in Ostberlin über Schulund Armeezeit bis hin zu dem Zeitpunkt,
da er beschliesst, Schriftsteller zu werden. Bis zum Erscheinen seines ersten
Romans «Wasserfarben» sollte es allerdings noch eine Weile dauern. 1991 war
es dann schliesslich so weit: Deutschland
ist seit einem Jahr wiedervereinigt und
der Staat namens DDR endgültig Geschichte. Nicht so in Thomas Brussigs
fiktiver Autobiografie. Hier existiert die
DDR weiter. Das Buch mit dem seltsamen
Titel ist ein kontrafaktischer Roman. Er
funktioniert nach dem Prinzip: Was
wäre, wenn… Das beflügelt die Phantasie, hat aber auch seine Tücken. Denn, so
fragt sich der Autor nicht zu Unrecht,
«wozu die Zeit mit etwas vergeuden, das
erkennbar Unsinn ist?».
Die Erklärung, warum er es tut, liefert
Brussig im Roman gleich selbst: Er – oder
besser: sein Ich-Erzähler – braucht das
10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. März 2015
TIMELINE IMAGES
Von Klara Obermüller
Man kann sie förmlich
riechen, die DDR,
im Roman von
Thomas Brussig.
Grenzübergang
Invalidenstrasse in
Berlin, 1963.
DDR-Feeling, um schreiben zu können.
«Ohne die Reibung mit dem SED-Staat»,
sagt er einmal, «bin ich als Schriftsteller
undenkbar. Ja, was wäre aus mir geworden, wenn es 1990 eine Einheit gegeben
hätte? Vermutlich würde ich heute im
Keller von Oliver Welke sitzen und mir
FDP-Witze ausdenken.» Das ist zwar aus
ironischer Distanz zur Romanfigur gesprochen, aber etwas Wahres ist gleichwohl dran. Brussig ist einer der erfolgreichsten deutschen Nachwende-Autoren geworden. Seinen Stoff jedoch bezieht er nach wie vor aus jenem Land,
das es seit 1990 nicht mehr gibt.
Wo beginnt die Fiktion?
Die Idee, sich sein Leben unter DDR-Bedingungen noch einmal neu zu erzählen,
hat deshalb etwas Logisches. Und Brussig betreibt sein Verwirrspiel auch mit
Bravour. Vor allem zu Beginn der Lektüre
muss man sich immer wieder kneifen
und sich sagen, dass in Wirklichkeit alles
ganz anders war: dass die Mauer fiel,
dass die Einheit kam und dass es nie eine
DDR gegeben hat, in der die Zensur fiel,
das Reisen erlaubt war und der Kapitalismus eingeführt wurde unter der Führung der Partei. Dass dem Autor das Spiel
gelingt, hat zum einen mit seinem Erzähltalent und zum andern mit seinen
intimen Kenntnissen der DDR-Wirklichkeit zu tun. Man kann sie beim Lesen
förmlich riechen, diese DDR, und man
erkennt ihr Personal, ihre Institutionen,
ihre Sprechweise wieder, als ob man
eben erst dort gewesen wäre. Gleichzei-
tig wirbelt der Autor reale Figuren und
fiktive Ereignisse dermassen gekonnt
durcheinander, dass man oft selbst nicht
mehr weiss, wo die Wirklichkeit endet
und die Fiktion beginnt.
Brussig lässt sie alle aufmarschieren:
Günter Schabowski und Egon Krenz,
Christa Wolf und Heiner Müller, Lothar
Bisky, Gregor Gysi, Sarah Wagenknecht,
Oskar Lafontaine, Wolfgang Schäuble,
Günter Grass, Maxim Biller und viele andere mehr. Nur, die Funktionen, Ämter,
Werke und Taten, die er ihnen zuschreibt, sind völlig aus der Luft gegriffen. Da ist Schäuble Kanzler, da bekommt
Biller den Büchner-Preis, und Simon
Urban schreibt mit «Plan D» einen Roman
über die Wiedervereinigung statt, wie
Brussig hier, einen über das Fortbestehen der DDR.
«Das gibts in keinem Russenfilm» ist
im Grunde ein Schelmenroman und als
solcher über weite Strecken höchst vergnüglich zu lesen. Mit der Zeit aber nutzt
sich der Effekt ab, die Fiktionalisierungen werden vorhersehbar, und es stellt
sich am Ende die Frage: Warum hat der
Autor das Buch eigentlich geschrieben?
Aus dem Bedürfnis, Ordnung in die Kommode seiner Erinnerungen zu bringen,
wie er immer wieder behauptet? Oder
doch vielleicht aus Sehnsucht nach einer
Zeit, da Schriftsteller für das Schreiben
ihrer Bücher mit Repressalien, Gefängnisstrafen und manchmal sogar mit dem
Leben bezahlten? Thomas Brussig war
nie ein Dissident, insgeheim wäre er aber
vermutlich gern einer gewesen. ●
Briefe Mascha Kaléko schreibt ihrem Mann Kurzkritiken Belletristik
«Unsere Welt ist reif
für die A-Bombe»
Saphia Azzeddine: Mein Vater ist Putzfrau.
Deutsch von Birgit Leib. Wagenbach, Berlin 2015. 128 S., Fr. 22.90, E-Book 15.90.
Frank Schablewski: Havarie. Prosa.
Rimbaud, Aachen 2015. 54 Seiten,
Fr. 21.90.
Paul gehört zu jenem Milieu, das man in
den USA «White Trash» nennt: in prekären Verhältnissen lebend, doch nicht
wegen
Migrationshintergrund
oder
Hautfarbe, sondern einfach, weil man’s
nicht schafft. Pauls Vater verdient seinen
mickrigen Lohn mit Putzen, eine
Schmach für den Teenager. Seine Mutter
sieht nur fern, die Schwester ist ein Flittchen. Paul will eine andere Zukunft.
Eine, in der er der schönen, aber unerreichbaren Priscilla würdig ist. In den Bibliotheken der fiktiven französischen
Vorstadt, in denen er dem Vater nachts
putzen hilft, eignet er sich schwierige
Wörter wie «obskur» und «transzendent»
an. Saphia Azzeddine, 1979 in Agadir geboren, aufgewachsen in Frankreich und
heute in Genf wohnhaft, gelang mit
ihrem 2009 im Original erschienenen
Zweitling eine verdichtete Tragikomödie
über jene Menschen der Banlieues, die
unter dem medialen Radar liegen.
Der deutsche Autor Frank Schablewski,
Jahrgang 1965, stammt aus Hannover. Er
hat an der Kunstakademie Düsseldorf
studiert und als Lyriker wie als Essayist
mit bildenden Künstlern und Musikern
gearbeitet. Aus den Etymologien in verschiedenen Sprachen hat er eine so
eigenwillige wie originelle ästhetische
Theorie entwickelt. Nun legt er seinen
ersten kleinen Prosaband vor. Er enthält
drei ganz verschiedene, faszinierende
und beklemmende Texte. «Innenstatt»
erzählt in knappen, erratischen, parataktischen Sätzen von einem Mann, der
Kinder missbraucht, verurteilt wird, ins
Gefängnis kommt und von seinen Mitgefangenen drangsaliert wird. «Der mächtige Mann ist wendig», lesen wir zu Beginn. «Sein Stadtplan ist an den Strassen
der Grundschulen fast durchgerissen,
ein Kartenhaus.» Mehr braucht es nicht.
Der Text zielt nicht auf den Effekt. Doch
er ist nichts für schwache Nerven.
Tex Rubinowitz: Irma. Mit Zeichnungen
von Max Müller. Rowohlt, Berlin 2015.
240 Seiten, Fr. 28.90, E-Book 18.–.
Jeffrey Yang: Yennecott. Gedicht. Deutsch
von Beatrice Fassbender. Berenberg,
Berlin 2015. 116 Seiten, Fr. 29.90.
Letztes Jahr gewann Tex Rubinowitz den
Ingeborg-Bachmann-Preis, jetzt liegt das
Buch vor. «Irma» liest sich wie die Biografie eines sehr coolen Typen, was
einerseits daran liegt, dass vieles in den
1980ern spielt. Zum anderen hat «Irma»
maximale Ähnlichkeit mit Rubinowitz’
wilder Biografie, der ganz unjüdisch als
Dirk Wesenberg (*1961) in Lüneburg aufgewachsen ist und seit 1984 als Cartoonist, Musiker, Autor in Wien lebt. Dennoch ist «Irma» keine waschechte
Autobiografie, weil viele Namen und
Daten knapp an der Realität vorbeigehen. Vielmehr sind das süffige Erzählungen aus dem Leben des Herrn Tex Rubinowitz, wahre wie erdichtete, und
hoffentlich keine geklauten (er wurde im
Herbst eines Plagiats bezichtigt); gespickt mit Boshaftigkeiten, die einmal
billig (zu Herta Müller), ein anderes Mal
lustig sind (zu Rainald Goetz).
Der chinesisch-amerikanische Lyriker
Jeffrey Yang, der 1974 in Kalifornien geboren wurde und als Lektor sowie als
Übersetzer in New York lebt, ist uns 2012
erstmals aufgefallen: mit dem fabelhaften zweisprachigen Gedichtzyklus «Ein
Aquarium». Das bildungsgesättigte Werk
überzeugte durch Musikalität, sprachliche Schönheit und subtilen Humor – im
Original wie in der Übersetzung von Beatrice Fassbender. Nun widmet der Verlag
Jeffrey Yang eine weitere zweisprachige
Publikation: Das in freien Rhythmen gehaltene Langgedicht «Yennecott» ist eine
von Long Island ausgehende Reise zu
den Ursprüngen der USA. Es handelt von
den europäischen Siedlern wie von der
nordamerikanischen Urbevölkerung –
und verbindet Mythen, Sagen, Geschichte und die Schicksale Einzelner zu einem
faszinierenden Gewebe, das poetisch betört und inhaltlich überrascht.
Mascha Kaléko: «Liebst du mich eigentlich?»
Briefe an ihren Mann. dtv,
München 2015. 158 Seiten, Fr. 16.90.
Von Charles Linsmayer
«Mascha Kaléko / Dichterin / Gattin des
Musikologen / Chemjo Vinaver» steht auf
dem Grab der Autorin des Lyrischen Stenogrammhefts von 1933 im jüdischen
Friedhof Zürich-Friesenberg. Wer wissen
will, was es mit der aussergewöhnlichen
Liebe auf sich hatte, wird in Mascha Kalékos Briefen an ihren Mann fündig, die
Gisela Zoch-Westphal unter dem Titel
«Liebst du mich eigentlich?» herausgebracht hat. Der Titel evoziert die vier
Buchstaben LDME, mit denen die Dichterin die 1956 aus Hamburg, Berlin, Ascona und Rom an ihren Mann in Amerika
geschickten Briefe beendet.
Es sind Briefe einer erstmals nach
Europa zurückgekehrten Emigrantin, in
der die Uniformen unliebsame Erinnerungen wecken, die so Schreckliches formuliert wie «Unsere Welt ist reif für die
A-Bombe, die ganze Welt ist wieder neonazistisch», und die dann doch darum
betet, «dass es uns vergönnt sein möge,
hier mal zu leben», als es in Berlin «zum
Wildwerden ist vor echtem Frühling».
Der ständige Kampf, ein Zimmer für sieben Mark zu finden, die Begegnung mit
der allmählich wieder Tritt fassenden
deutschen Presse, die Beschreibung der
Mahlzeiten und der Gäste bei offiziellen
Empfängen – all das ergibt auf eindrückliche Weise jenes historische Bild deutscher Befindlichkeiten, von dem die Herausgeberin im einfühlsamen Nachwort
spricht. Das Bewegendste aber ist die Art
und Weise, wie die Beziehung zwischen
Mascha und ihrem Chemjolein in den
Briefen fassbar wird. Die sich allmählich
steigernde Sehnsucht, als sie allein in
Berlin ist und sich Sorgen um Mann und
Sohn in Amerika macht, bis der sehnlichst Erwartete dann tatsächlich eine
Zeitlang mit ihr in Deutschland lebt und
die Briefe, die nach seiner Rückkehr nach Amerika gehen,
davon handeln, dass das
Zusammensein
unter
einem unguten Stern
stand und sie den
Geliebten bittet: «Verzeih mir, dass ich so
ein Ekel war!» Aber gerade in ihrer Brüchigkeit erhält diese Liebe
und damit auch das
Gefühlsleben von Mascha
Kaléko etwas Authentisches,
unmittelbar Berührendes, das der
flotten Berliner Stilisiertheit ihrer Gedichte etwas
tief Beseeltes
gegenüberstellt.
Regula Freuler
Regula Freuler
Manfred Papst
Manfred Papst
29. März 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11
Reportage
Jahrzehntealt oder ganz neu, physisch präsent oder online, privat oder öffentlich als Tweet – Lesezirkel
sind in der Schweiz zwar wenig sichtbar, doch es gibt immer mehr davon. Und sie sind meist weiblich.
Kathrin Meier-Rust hat einige von ihnen besucht
Dasmusst
Dulesen!
«Und dieses Buch hat den Buchpreis bekommen?» «Bei Seite 120 hab ich aufgehört.» «Es hat
mich richtig aggressiv gemacht.» «Man kann
doch nicht einfach so drauflos assoziieren, das
ist eine Zumutung!» Die Empörung gilt dem
Roman Kruso von Lutz Seiler, nun knallt das
Buch auf den Tisch. Vier Frauen haben sich an
diesem Abend im gemütlichen Wohnzimmer
einer Zürcher Altwohnung eingefunden – eine
Psychotherapeutin, eine Sozialarbeiterin, eine
Buchhalterin und eine Richterin – der Rotwein
steht bereit und eine Schale mit frischen Datteln. Dass man sich gut und schon lange kennt,
hat schon die herzliche Begrüssung gezeigt. Die
Sache begann als Frauenstamm von Müttern mit
kleinen Kindern vor 22 Jahren, irgendwann
wurde daraus ein Literaturstamm: «Wir wollten
etwas Lustvolles zusammen machen.»
Lustvoll ist es allemal, wie sich die Unlust an
«Kruso» über eine Stunde lang Luft macht, mit
gezücktem Kindle, um grausliche Textstellen
vorzulesen. Vergeblich plädiert Jeannette für
etwas Milde – sie ist die einzige, die das Buch zu
Ende gelesen hat. Das Fazit fällt knallhart aus:
ein typisches Kritikerbuch. Nun endlich greift
man entspannt zum Glas.
Gemeinsam über Bücher reden
12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. März 2015
Social reading
Doris Moser will die Lesegruppen jedoch nicht
numerisch, sondern analytisch erforschen: Drei
private Laien-Lesegruppen sollen genau beobachtet und mit vergleichbaren online-Leseforen
verglichen werden: «Es geht darum, mal
reinzuschauen, was es eigentlich ist, das es interessant macht, in organisierter Weise über Bücher zu reden; sei dies face to face oder virtuell».
Social reading heisst der online geführte Austausch über Texte in Foren, Blogs oder speziel-
Lesegruppen sind eine Art
Untergrund-Phänomen, ein
unsichtbares, unterirdisches
Wurzelgeflecht des
Kulturlebens, das sich immer
mehr ausbreitet.
len Plattformen wie Goodreads, Readmill,
Lovelybooks. Generell sei dieser Austausch weniger strukturiert als in der physisch präsenten
Lesegruppe, erklärt Doris Moser, und er gehe
auch selten über die Bewertung der Lektüre hinaus. Dafür können sich frei von der Begrenzung
durch Ort und Zeit stärker spezialisierte Lesekreise bilden. Da wird dann zum Beispiel ein
schwieriges Werk wie «Der bleiche König» aus
dem Nachlass von David Foster Wallace über
Monate von ausgewählten Autoren und Kritikern gelesen und kommentiert.
Sogar twittern kann man über Bücher. Der
Hashtag #Lesezirkel hat 381 Followers. Gegründet vom IT-Fachmann Patrick Seemann und
der Informationsspezialistin Seraina Scherer
schliesst er mit Der Tag, als meine Frau einen
Mann fand von Sibylle Berg gerade die 36. monatliche Leserunde ab. Gelesen wird in wöchentlichen Etappen, für die Teilnahme gilt deshalb nur eine Regel: «Nicht spoilern», will heissen, Handlung nicht verraten, während andere
noch am Lesen sind. Die Diskussion sei mit 140
Zeichen natürlich nicht tiefschürfend, sagt Seemann, aber das sei auch nicht das Ziel. «Es geht
darum, regelmässig zu lesen, auch Bücher, die
man alleine nicht gelesen hätte.»
Schlag drei Uhr treffen sich an einem Mittwochnachmittag eine Handvoll Pensionierte in
Wettingen. Sie können sich das ja leisten am heiteren Werktag. Gastgeberin Rosemarie offeriert
ein Glas Wasser, doch dann geht’s gleich zur
Sache – den Kaffee gibt es erst danach. Die fünf
Frauen und ein Mann haben sich sorgfältig vorbereitet: Ihre Exemplare von Ali Smith: How to
be both sind gespickt mit bunten Klebebuchzeichen, da und dort werden sauber getippte
Notizen hervorgezogen. Diskutiert wird in bestem Englisch – neben den drei Frauen aus Australien, den USA und England sind zwei
▲
Szenenwechsel. Im weiten weissen Wohnzimmer in Oberwil AG stossen sieben Frauen zunächst mit einem Cüpli darauf an, dass sie es alle
geschafft haben, heute Abend dabei zu sein. Bei
berufstätigen Müttern ist das nicht selbstverständlich. Marina liegt auf dem Sofa, sie hat Rückenprobleme, und zeigt zur allgemeinen Heiterkeit zwei entzweigerissene Hälften von Jojo
Moyes: Ein ganzes halbes Jahr. Das dicke Paperback war im Liegen zu schwer für die Hände.
Das Buch sei ihr von einer Freundin empfohlen
worden: «Das musst du lesen», erzählt die Juristin Elvira. Die Freundin hatte recht, alle Frauen
haben das Buch mit Vergnügen verschlungen,
eine auf Englisch, die andere auf Deutsch, die
eine als E-Book, die andere auf Papier. «Ein bisschen Hollywood-Kitsch ist es ja schon», gibt Marina zu bedenken. Doch reihum ist man sich
einig: Man konnte den Roman nicht weglegen,
man musste ihn einfach in einem Zug zu Ende
lesen. Genau dies war das Ziel, als sie sich vor
einigen Monaten zu einer Lesegruppe zusammengetan haben: wieder Literatur lesen, auch
wenn frau wirklich gar keine Zeit dafür hat.
Lesegruppen sind eine Art Untergrund-Phänomen, ein unsichtbares, da unterirdisches
Wurzelgeflecht des Kulturlebens, das sich nicht
nur physisch, sondern auch virtuell ausbreitet
und dessen Grösse, wenn überhaupt, nur über
sporadische Bohrungen erahnt werden kann.
Beginnt man mit diesen Bohrungen, findet man
das Geflecht allerdings schnell: Jede zweite im
Bekanntenkreis liest in einer Gruppe oder kennt
jemanden, der dies tut.
Wie viele Lesegruppen gibt es? Für den
deutschsprachigen Raum existieren keine Zahlen, erklärt die Germanistin Doris Moser von der
Universität Klagenfurt, die gerade eine Studie
zum Phänomen Lesegruppe beginnt. Anders in
den angelsächsischen Ländern, wo Book Clubs,
wie sie hier heissen, seit längerem wissenschaftlich beobachtet werden. Es zeigte sich dabei,
dass ihre Zahl notorisch unterschätzt wird. Als
die Soziologin Elizabeth Long beschloss, sich für
eine genaue Untersuchung auf die Stadt Houston in Texas zu konzentrieren, ging sie von etwa
einem Dutzend Lesegruppen aus – fand dann
aber in kurzer Zeit 121. In den USA wird die Gesamtzahl der Book Clubs heute auf 500000 geschätzt.
Auch für Grossbritannien, wo Book Clubs
seit der Jahrhundertwende einen regelrechten
Boom erleben, liegt eine Hochrechnung vor:
50 000 Lesegruppen soll es im Jahr 2002 gegeben haben. Als das billigste aller Kulturförderungsmittel erkannt, werden sie von staatlicher Seite gefördert – die BBC brachte sogar
eine Sitcom namens «the BOOK group» –, und
auch die Verlage haben das kommerzielle Potenzial längst erkannt: Liebend gerne liefern
sie allerlei Bonusmaterial, zum Beispiel in
Form von «Questions for Book Clubs», die in
vielen englischen Romanen gleich mit abgedruckt werden.
Tausende von Lesezirkeln treffen sich regelmässig in Schweizer Wohnstuben und diskutieren – zum Beispiel «Der Vorleser» von Bernhard Schlink. Illustration von Andreas Gefe.
29. März 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13
Reportage
Schweizer Englischlehrer an diesem Nachmittag
dabei. Man liest genau, beachtet Wortspiele, In­
terpunktion, Typographie: «Look at this, page
245». Die Gruppe schätzt das Anspruchsvolle
des Buches, auch wenn viele Rätsel ungelöst
bleiben. Und dann bemerkt Gastgeberin Rose­
marie en passant, dass dies ihre liebste Lese­
gruppe sei. Ihre liebste? Tatsächlich, sie liest in
vier Book Clubs: «I am an avid reader.»
Wo bleiben die Männer?
Warum so viele Frauen, wo bleiben die lesenden
Männer? Ob französischer Salon im 18. Jahr­
hundert, ob Lesekabinett im 19. Jahrhundert,
ob amerikanische White Womens Reading
Groups – Lesezirkel waren in den vergangenen
200 Jahren oft der einzige Ort, an dem sich Frau­
en als denkende Wesen erfahren und betätigen
konnten. Das ist heute nicht mehr so – und den­
noch sind Lesegruppen weitgehend weiblich
geblieben. Von den privaten Gruppen in Gross­
britannien sind 80 Prozent vollständig weiblich,
weitere 10 Prozent zu 90 Prozent weiblich. Im
Gesamtdurchschnitt verzeichnet die Untersu­
chung einen Männeranteil von 5 Prozent.
Die Zürcher Sehhilfe ist eine Organisation der
Blindenfürsorge. Emsig wird heute der grosse
runde Tisch vorbereitet: Stühle müssen her, Tas­
sen auf den Tisch, Kekse, die Zuckerdose – jede
der älteren Frauen, die eintreffen, hilft mit. Da
dauert es schon ein Weilchen, bis jede einen frei­
en Stuhl gefunden hat und alle begrüsst sind. Bis
Renate Hody fragt: Wollen wir jetzt weiterlesen?
Der Buchtitel erweist sich hier als Programm:
Die Leiterin liest aus Der Vorleser von Bernhard
Schlink, weil sie als einzige in dieser Gruppe
selbst lesen kann. Alle sieben Teilnehmerinnen
sind stark sehbehindert. Hody liest einige Sei­
ten – dann wird diskutiert. Ausgehend vom
Vater des jungen «Vorlesers» wird die Diskussion
lebhaft, schweift weit ab zur eigenen Kindheit:
«Der Abstand zwischen Eltern und Kinder war
früher viel grösser als heute.» «Wir waren acht
Kinder.» «Ich wusste doch nichts über meine El­
tern.» Soll ich weiterlesen, fragt Renate Hody, es
ist schon etwas hartes Brot. Ja, die Zuhörerinnen
wollen das harte Brot, denn der Kuchen steht
auf dem Tisch. Alle betagten Teilnehmerinnen
Was lesen Lesegruppen?
Zeitgenössische Belletristik
inklusive Krimis steht an
erster Stelle, dann folgt die
klassische Literatur. Beim
Sachbuch sind es Biografien.
In England erleben
Lesezirkel seit der
Jahrhundertwende einen
Boom. Hier die BBC-Sitcom
«the BOOK group».
hören daheim auch Hörbücher. Doch die Lese­
gruppe sei immer eine besondere Freude. «Es ist
einfach persönlicher, wenn jemand vorliest»,
heisst es von allen Seiten. Zudem kennt man
sich seit zehn Jahren, es gibt viel zu erzählen.
Viele Lesegruppen betonen, wie wichtig nebst
den Büchern auch das soziale Element ist.
Mit Leitung oder ohne – dieser Unterschied
teilt Lesezirkel in zwei Gruppen: private Lese­
gruppen sind zahlreicher, aber mit etwa vier bis
acht Teilnehmerinnen kleiner. Sie treffen sich
meist reihum, in Wohnzimmern. Bei geleiteten
Lesezirkeln liegt die Teilnehmerzahl mit 15 bis
25 Personen höher, und sie finden in öffentli­
chen Räumen statt, in Bibliotheken, Buchläden,
Gemeindesälen.
Begreifen, was uns ergreift
Wie eine Lesegruppe kunstvoll zu leiten ist –
dafür gibt es inzwischen mancherlei Ratgeber
und Leitfäden, und sogar Kurse: Hardy Ruoss,
ehemals Literaturkritiker beim Schweizer Radio
und Fernsehen, erteilt diese (im Auftrag der
Schweizerischen Arbeitsgruppe der Bibliothe­
ken) für Bibliothekarinnen: «Sie sollen ermutigt
werden, Lesegruppen zu gründen und zu lei­
ten», erzählt Ruoss. Er tut dies ganz praxisnah,
indem er jeweils vier bis fünf Teilnehmerinnen
als Lesezirkel über vorher bestimmte Bücher
diskutieren lässt.
«Das Hauptproblem von Laien­Lesegruppen
besteht darin, dass meist nur über die Handlung
eines Romans gesprochen wird, allenfalls noch
über das eigene Erleben: «Ich fand das Buch
spannend», erzählt Ruoss. Das werde aber bald
einmal langweilig. «Hier muss ein Leiter dann
im Text einhaken: Wo genau hat es mich ge­
packt, wo genervt? Er muss die Aufmerksamkeit
darauf lenken, wie ein Buch gemacht ist.
Schliesslich besteht der Mehrwert von Literatur
gegenüber blossem Lesefutter gerade darin: in
der Machart.» Es gelte, mit dem berühmten Wort
des Literaturprofessors Emil Staiger, «zu begrei­
fen, was uns ergreift».
Lesegruppen erzählen gerne und stolz, was
sie gelesen haben. Oft wird sorgfältig Buch ge­
führt über die gelesene Literatur – «eine Art
Selbstvergewisserung» nennt es Germanistin
Doris Moser. Und Elizabeth Long schreibt:
«Wenn wir sind, was wir essen, so sind Lese­
gruppen, was sie lesen: Es ist das Herz ihrer
Identität als Gruppe.» Auch deshalb, vermutet
sie, freuen sich die meisten Lesegruppen über
Interesse von aussen. Auch in der Schweiz: Von
zehn angefragten Lesezirkeln wollten nur zwei
keinen Besuch. Und was lesen diese Gruppen so
alles? Auch dazu gibt es Hinweise aus England.
An erster Stelle steht eindeutig die zeitgenössi­
sche Belletristik inklusive Krimis, an zweiter die
klassische Literatur. Science Fiction, historische
Romane, Gedichte und Theaterstücke sind da­
gegen nachrangig. Wenn Sachbücher gelesen
werden, dann meist Biografien.
Eine Lesegruppe der besonderen Art bringt
ungeniert alle Kategorien an einem Abend zu­
sammen. Die sechs Freunde treffen sich seit
13 Jahren alle sechs Wochen zu einem Ge­
sprächsabend samt gutem Essen und Wein zu
einem vorher bestimmten Thema: Visionen,
Treue, Angst, Missverständnis. Jede und jeder
bringt einen literarischen Text zum Thema mit
und liest daraus eine Passage vor. «Das ist immer
sehr facettenreich, man lernt viele Bücher ken­
nen, die man selbst nie lesen wollte – bei mir ist
es zum Beispiel die Gattung Science Fiction», er­
zählt Alex aus München. Am Schluss des Abends
wird das Thema fürs nächste Mal bestimmt,
diesmal lautet es «die Fremde». «Und dann geht
man nach Hause, stellt sich vor den eigenen
Bücherschrank und überlegt.» ●
Zürich
Basel
Bederstrasse 4
Güterstrasse 137
Bern
Länggassstrasse 46
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100‘000 antiquarische Bücher
buecher-brocky.ch
14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. März 2015
Luzern
Aarau
Ruopigenstrasse 18
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Kunst
Kinder
Hel vetika
Freihofweg 2
Sport
Politik
Literatur
Hobby
Reisen
Kochen
u.v.m.
Kolumne
LUKAS MAEDER
Charles LewinskysZitatenlese
Der Autor Charles
Lewinsky arbeitet in
den verschiedensten
Sparten. Sein letzter
Roman «Kastelau»
ist im Verlag Nagel &
Kimche erschienen.
Nachahmung fremder
Eigenschaften und Eigentümlichkeiten ist viel
schimpflicher als das Tragen fremder Kleider: denn
es ist das Urteil der eigenen Wertlosigkeit, von sich
selbst ausgesprochen.
Kurzkritiken Sachbuch
Angelika Ramer: Osorno Feuer.
Persönlichkeit wirkt – 13 Porträts. Offizin,
Zürich 2014. 95 Seiten, Fr. 47.90.
Max Meyer: Köbi Siber. Abenteuer mit
Dinosauriern. Wartmann Natürlich,
Oberengstringen 2014. 280 S., Fr. 37.90.
Im Vulkan Osorno im chilenischen Patagonien fand die Schaffhauser Organisationsberaterin Angelika Ramer ihre Vision: das innere Feuer, das ausserordentliche Menschen beseelt. Solche Menschen stellt sie in ihrem elegant gestalteten Bändchen vor: Prominente wie den
ehemaligen Flüchtlingsdelegierten Peter
Arbenz, die Clownin Gardi Hutter, Mineralwasserproduzentin Gabriela Manser
oder den Wirtschaftsanwalt Peter Nobel.
Aber auch weniger bekannte wie die
Luzerner Stilprofilerin Irène Wüest oder
Miss Moneypenny-Chefredaktorin Stefanie Zeng. Es sind wohltuend kurze, aber
auch sehr wohlwollende Porträts. Sieht
man davon ab, dass die Osorno-Metapher von der Autorin gelegentlich überstrapaziert wird, lernt man doch ein
Dutzend Personen kennen, die sich ihrer
Lebensaufgabe mit Leidenschaft, Inspiration und Hingabe widmen und so Vorbild für andere werden. Sympathisch.
Schon als Schüler sammelte Köbi Siber
Steine. Nach einem Studienjahr in den
USA reist er als Einkäufer für die Mineralienhandlung seines Vaters durch
die Welt. Er erkennt das kommerzielle
Potenzial von Fossilien und beginnt
selbst in den Badlands von South Dakota
zu graben. Er studiert Lehrbücher der
Paläontologie, heiratet (mehrmals) und
wird Vater von vier Töchtern. Er sucht,
findet, präpariert und verkauft die verschiedensten Fossilien, schliesslich auch
Dinosaurier, die er wiederum solange
sucht, findet und verkauft, bis der Traum
vom eigenen Museum in Aathal wahr
wird. Ein Klassenkamerad aus der Primarschule erzählt diese erstaunliche
Biografie des heute 73-Jährigen, der es
vom Autodidakten zum Ehrendoktor der
Universität Zürich gebracht hat. Manchmal etwas zu ausführlich, doch die Wildwest-Dino-Gräber-Geschichten sind einfach hinreissend!
Claudia Starke, Thomas Hess, Nadja Belviso:
Das Patchwork Buch. Beltz,
Weinheim 2015. 345 Seiten, Fr. 27.90.
Martin Windrow: Die Eule, die gern aus dem
Wasserhahn trank. Hanser, München
2015. 317 Seiten, Fr. 29.90, E-Book 23.–.
Dieser Ratgeber für Patchworkfamilien
erzählt zunächst die äusserlich triviale,
aber innerlich komplexe Geschichte von
Lars und Beate, ihren beiden Ex-Partnern und ihren insgesamt vier Kindern.
Es ist eine Kunstgeschichte: zusammengesetzt aus Fällen, häufigen Problemen
und Mustern, die die beiden Familientherapeuten Claudia Starke und Thomas
Hess aus ihrer Arbeit kennen. Die Geschichte wird deshalb immer wieder «angehalten», mit einem Kommentar versehen – um sie dann in einer Alternativvariante weiterzuerzählen. Gleichzeitig
wird auf theoretische Informationen und
therapeutische Empfehlungen verwiesen, die den zweiten Teil des Buches ausmachen. Ein Ratgeber der anderen, überzeugenden Art also, für die grossen Herausforderungen, vor der jede Stief- und
Patchworkfamilie steht und an denen
über die Hälfte von ihnen scheitern.
Schon das Umschlagbild entzückt: Ein
Waldkauz sitzt da im Badezimmer und
blickt uns mit riesigen Kulleraugen an.
Das ist Mumble. Der Militärhistoriker
Martin Windrow beschreibt die 15 Jahre,
die er mit diesem im wahrsten Sinn des
Wortes kauzigen Haustier verbracht hat.
Liebevoll, mit britischem Humor schildert der Exzentriker, wie er Mumble
grossgezogen hat und wie sich die beiden aneinander gewöhnten, was nicht
immer einfach war. Von waghalsigen
Flugmanövern in der Wohnung ist die
Rede, von missglückten Landungen auf
rutschigen Oberflächen, von der Jagd auf
Schnürsenkel und Papierkugeln und
vom grossen Schmusebedürfnis des
Raubvogels. Auch wenn der Autor seinen
gefiederten Hausfreund bisweilen allzusehr vermenschlicht, ist die Geschichte
dieser innigen Beziehung zwischen
Mensch und Tier berührend.
Arthur Schopenhauer
Wenn Sie, wie ich, die «NZZ am Sonntag»
am liebsten beim gemütlichen Sonntagsbrunch lesen, dann haben Sie jetzt bestimmt auch Zeit für ein kleines Quiz.
Also dann: Welchen der folgenden
Buchtitel gibt es nicht wirklich, und ich
habe ihn nur zum Zweck dieser Glosse
erfunden?
a) «Die alte Dame, die ihren Hut nahm
und untertauchte»;
b) «Der 50-Jährige, der nach Indien
fuhr und über den Sinn des Lebens
stolperte»;
c) «Der Schriftsteller, der dachte, sein
Roman würde sich besser verkaufen,
wenn er auch wie alle andern einen
Relativsatz in den Buchtitel einbaute».
Na?
Ich wünschte ja, alle drei Titel wären
nur Ausgeburten meiner kranken Fantasie, aber die ersten beiden liegen tatsächlich in den Buchhandlungen. Die
«Relativsatz im Titel»-Seuche ist ausgebrochen und bis jetzt hat die Wissenschaft noch kein Heilmittel dagegen
gefunden.
Die Typhoid Mary dieser Epidemie,
also derjenige, der alle andern angesteckt hat, war wohl der schwedische
Autor Jonas Jonasson. Wenn er gewusst
hätte, was für Folgen das haben würde,
hätte er seinen sympathischen Erstlingsroman vielleicht gar nicht geschrieben.
Oder er hätte ihn anders genannt.
«Der Hundertjährige, der aus dem
Fenster stieg und verschwand» wurde
ein internationaler Grosserfolg. Und das
Nachfolgebuch, «Die Analphabetin, die
rechnen konnte», verkauft sich auch
nicht schlecht.
Seither ist das Virus nicht zu stoppen.
In den Verlagen gibt es wahrscheinlich schon eigene Spezialisten, die
nichts zu tun haben als die Titelvorschläge der hauseigenen Autoren zu
verrelativsatzen. «Wie soll Ihr Büchlein
heissen, Herr Goethe? ‹Die Leiden des
jungen Werther›? Da müssen wir schon
noch etwas dran tun, wenn die Buchhändler ihr Werk direkt neben die Kasse
legen sollen.»
Und, wer weiss, vielleicht hätte ja
«Der Werther, der zu jung war und daran
litt», noch viel mehr Erfolg gehabt. Vielleicht hätten sich nach der Lektüre auch
nicht liebeskranke junge Leute reihenweise umgebracht, sondern nur feinsinnige Ästheten, die es nicht ertragen,
wenn eine so sinnlose Modewelle die Titelliste der Neuerscheinungen überrollt.
PS: Vielleicht ist ja auch Oliver Sacks
an allem schuld. Er schrieb «Der Mann,
der seine Frau mit einem
Hut verwechselte». Aber
Sacks ist wenigstens Arzt
und weiss, dass das
Ganze eine Seuche ist.
Urs Rauber
Kathrin Meier-Rust
Kathrin Meier-Rust
Geneviève Lüscher
29. März 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15
Sachbuch
Frauenstimmrecht Die Berner Historikerin Franziska Rogger ordnet die Geschichte
der Schweizer Frauenbewegung neu ein und würdigt eine ihrer bedeutendsten
Persönlichkeiten: Marthe Gosteli
LangerKampf
umgleicheRechte
Von Kathrin Alder
Die Geschichte der Schweizer Frauen ist
eine Geschichte des Scheiterns – und
zwar im doppelten Sinne. Bis ihnen der
männliche Souverän und die Stände 1971
endlich das Stimm- und Wahlrecht gewährten, wurde ihnen dieses zuvor auf
kommunaler, kantonaler und eidgenössischer Ebene zigmal verwehrt. Die
Schweizerinnen mussten in ihrem
Kampf um Gleichberechtigung mehr
Niederlagen einstecken, als sie Erfolge
feiern durften.
Ebenso scheiterte die historische Aufarbeitung dieser leidvollen Beharrlichkeit, schreibt Autorin Franziska Rogger
in ihrem neusten Buch. Den Schweizer
Frauen sei ihre Geschichte bis heute unterschlagen worden. Es sei der Geschichtsschreibung in der Schweiz nicht
gelungen, das Kernstück des Frauenkampfs – die Erlangung der politischen
Gleichberechtigung – in einen grösseren
Kontext zu stellen. Vielmehr habe sie
den Erfolg von 1971 aufgrund einer eingeschränkten Wahl der Quellen zu sehr
der 68er, bzw. der neuen Frauengeneration zugeschrieben. Tatsächlich aber war
es die sogenannte «Arbeitsgemeinschaft
der schweizerischen Frauenverbände für
die politischen Rechte der Frau», die in
der heissen Phase mit dem Bundesrat
16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. März 2015
verhandelte und Geld, Kontakte und Medienpräsenz beschaffte. Bei ihr liefen die
Fäden zusammen. Rogger belegt dies
sorgfältig und als eine der ersten mit
schriftlichen Zeugnissen aus dem Archiv
zur Geschichte der Schweizer Frauenbewegung.
Die Gründerin des Archivs, Marthe
Gosteli, präsidierte damals die «Arbeitsgemeinschaft» und zählt heute zu den
bedeutendsten Frauenrechtlerinnen der
Schweiz. Als solche ist sie Leitfigur sowie
Dreh- und Angelpunkt des Buches. 1917
kam sie auf dem Landgut Altikofen zur
Welt, dort, wo sich heute das Archiv befindet. Sie wurde hineingeboren in eine
Familie bäuerlicher Grossgrundbesitzer,
der Vater war Grossrat und Kirchgemeindepräsident, der Grossvater mütterli-
cherseits stellte 1907 in Bolligen die erste
Sekundarlehrerin ein. Doch nicht nur die
Männer prägten Gosteli. Ihre Familiengeschichte ist voll von starken Frauenfiguren: Da war eine Urgrossmutter, die als
weibliche Gutsherrin ihren Hof 28 Jahre
selbst bewirtschaftete und dazu Stumpen rauchte. Da war aber auch ihre Mutter, «eine Revoluzzerin, die sich für ihr
Geld wehrte und Konfrontationen mit
dem Eherecht nicht aus dem Weg ging,
sondern auf ihr Recht pochte», so Gosteli. Ihre Mutter habe sie gelehrt, selbständig zu denken.
Engagierte Schwestern
ORNELLA CACACE
Franziska Rogger: «Gebt den
Schweizerinnen ihre Geschichte!». Marthe
Gosteli, ihr Archiv und der übersehene
Kampf ums Frauenstimmrecht. NZZ
Libro, Zürich 2015. 395 Seiten, Fr. 52.90.
Marthe Gosteli (*1917), die Grande Dame der
Schweizer Frauenbewegung (Foto 2013).
Selbständig Denken lehrten Gosteli aber
auch ihre Lehrerinnen in der Sekundarschule der Neuen Mädchenschule in
Bern, darunter Louise Grütter und Helene Stucki, beide überzeugte Frauenrechtlerinnen. Der Ausbruch des Zweiten
Weltkriegs beendete einen London-Aufenthalt vorzeitig, doch ihre erlangten
Englischkenntnisse ermöglichten Gosteli
eine Anstellung beim Informationsdienst der amerikanischen Botschaft.
Marthe und ihre Schwester waren die
ersten Gosteli-Frauen, die sich aus der
über Jahrhunderte hinweg gebildeten
patriarchalischen Sippenstruktur herauslösten und ihren Lebensunterhalt
selbst bestritten. Nach dem Tod ihres Vaters 1957 verwaltete sie das Altikofengut
vornehmlich alleine, die kränkliche Mutter war dazu nicht mehr in der Lage.
1949 trat Gosteli dem Berner Stimmrechtsverein bei. Es war der Beginn ihres
politischen Kampfes für die Rechte der
Frauen, der bereits seit Anfang des zwan-
An der Schweizerischen Ausstellung
für Frauenarbeit
(SAFFA) 1928 in Bern
demonstrierten viele
Kämpferinnen gegen
das schleichende
Tempo bei der
Einführung des
Frauenstimmrechts.
GOSTELI ARCHIV
zigsten Jahrhunderts im Gang war. Alle
europäischen Länder, mit Ausnahme
von Liechtenstein und der Schweiz, liessen ihre Frauen wählen, alle Vorstösse,
die dies in der Schweiz ändern sollten,
waren gescheitert. Zu dieser Zeit spaltete
sich die Schweizer Frauenbewegung
erstmals in zwei Lager: Die einen waren
der Ansicht, die politische Gleichberechtigung liesse sich über die Neuinterpretation der Bundesverfassung einfacher erreichen. Gosteli und der Berner Frauenstimmrechtsverein gehörten nicht dazu.
Dort war man überzeugt, dass der männliche Souverän die politische Gleichberechtigung nur dann akzeptiert, wenn er
sie selbst gewährt.
Zwei rivalisierende Lager
Die Spannungen zwischen den beiden
Lagern sollten auch später immer wieder
aufkommen. Hinzu kamen die jungen
Frauen der 68er-Bewegung, denen das
Ganze viel zu langsam vonstatten ging
und die gegen die «Verkalkung der Älteren» aufbegehrten. Ihre Aktionen waren
gegen das «Establishment» gerichtet,
laut und publikumswirksam, doch ver-
störten sie so manch gut situierten Mann
und riefen Trotzreaktionen hervor. Dies
wiederum erschwerte die Arbeit von
Gosteli und den übrigen «Stimmrechtlerinnen», die auf kluges Verhandeln und stetiges Lobbying setzten.
Zwar war dieser Weg langwierig und
mit dem nationalen Nein 1959 folgte eine
weitere schmerzvolle Niederlage. Doch
Gosteli, die seit 1965 im Vorstand des
Schweizerischen
Frauenstimmrechtsverbandes agierte, sollte recht behalten.
Als der Druck zur Unterzeichnung der
Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), die auch den Frauen politische Rechte vorbehaltlos zugestand,
stieg, war die Zeit reif: Die «wirksamste
unblutige Revolution aller Zeiten» fand
im November 1971 ein Ende.
Die Historikerin und Archivarin Franziska Rogger übt in ihrem neusten Buch
Kritik an der eigenen Zunft und deckt
einen Missstand auf, den sie sogleich
selbst zu beheben versucht. Es gelingt
ihr. «Ohne Gleichberechtigung in der Geschichte keine Gleichberechtigung in der
Zukunft», diesen Leitspruch von Marthe
Gosteli nimmt sie sich zu Herzen und
ordnet die Geschichte der Schweizer
Frauen neu ein. Man verzeiht ihr deshalb, wenn diese Geschichte zuweilen
etwas bernlastig erscheint.
Die Dreiteilung des Buches erlaubt es,
die Geschichte der Frauen aus unterschiedlichen Perspektiven und in unterschiedlichen Formen darzustellen. Frei
von politischen Ideologien zeichnet
Rogger im ersten Teil den beschwerlichen und zermürbenden Kampf der
Frauen nach, der schliesslich im Erhalt
der politischen Gleichstellung gipfelte.
Parallel dazu zeigt sie im zweiten, biografischen Teil Martha Gostelis Leben
auf und beschreibt im dritten, wie sie
sich aus dem engen Familienbund löst
und zur eigenständigen und engagierten
Frauenrechtlerin entwickelt.
Gerade hier wünscht man sich allerdings bisweilen etwas mehr Nähe. Wie
stark haderte Gosteli mit den vielen Niederlagen? Litt sie mitunter auch unter
ihrem Entscheid, nicht zu heiraten? Wie
machten ihr die Gräben innerhalb der
Frauenbewegung zu schaffen? Diese Fragen werden zwar angeschnitten, aber
nicht abschliessend beantwortet. l
29. März 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17
Sachbuch
Biografie Im Leben von Rainer Maria Rilke (1875–1926) drehte sich viel um die Liebe
FlitterwochenimSanatorium
Heimo Schwilk: Rilke und die Frauen.
Biogafie eines Liebenden. Piper,
München 2015. 336 Seiten, Fr. 34.90.
Von Claudia Schumacher
Die Mutter: eine Psychose auf zwei schönen Beinen. Der Vater: ein brav geschnürtes Bündel aus schwachen Nerven. In der Wüste zwischen den beiden
wächst ein Sohn heran, der es zu Weltruhm bringt: Rainer Maria Rilke. Der
neuen Biografie des schwäbischen Journalisten und Autors Heimo Schwilk zufolge führte die elterliche Prägung den
Dichter in ein Leben, in dem er eigentlich
nur eines suchte und doch immer wieder
sabotierte.
In seinem Buch erzählt Schwilk, der
mit Biografien von Hermann Hesse und
Ernst Jünger bekannt wurde, das unstete
Dasein Rilkes entlang den vielen Frauen,
deren Herzen oder Geldbeutel er gewann. Neben der Mutter und der
Künstlergattin gab es unzählige Ersatzmütter, Gönnerinnen und Geliebte. Tagebücher und Briefe, die der Biografie
zugrunde liegen, belegen die Beziehungen umfangreich.
Die Kapitel des Buches sind mit den
Namen der Frauen und ihrer Funktion
im Leben Rilkes überschrieben: «Lou Andreas-Salomé – Geliebte, Lehrerin, Übermutter» oder «Marie von Thurn und
Taxis – Bewunderin, Gönnerin, Mahnerin». In diesem Rahmen legt Schwilk eine
Künstlerseele blank, die zwischen Zyklen aus Glücksrausch, Krankheit und
Psychosen einen Schaffensegoismus betreibt, der wohl eine Art sublimiertes
Imponiergehabe darstellt. Gleichzeitig
muss jede Frau hinter der Kunst zurück
treten.
Drei der vielen sind zentral: die Mutter
Sophie Rilke, die Femme fatale Lou Andreas-Salomé und die Bildhauerin und
Malerin Clara Westhoff, die den Dichter
heiratete. Die Mutter ist die Person, die
ihn früh zum Schreiben ermutigt. Eine
überreizte Hochbegabte, die selbst im
Leben scheitert und ihren Ehrgeiz sowie
PLAYGROUND MEDIA PRODUCTIONS präsentiert
Das Ehepaar Clara
Westhoff und Rainer
Maria Rilke um 1900.
Die beiden trennten
sich bald, weil Rilke die
Verantwortung für die
gemeinsame Tochter
nicht übernehmen
wollte.
die Neigung zu Hochmut und Fall auf
den kleinen Rilke überträgt. Er wird
ihren glühenden Glauben in seine Person
später bei älteren Gönnerinnen suchen,
denen er sich in der Korrespondenz als
«Sohn» widmet.
Die zweite wichtige Frau, Lou Andreas-Salomé, gab ihm erst den Namen,
unter dem er bekannt wurde. Die Schriftstellerin stand auch mit Nietzsche und
Freud in Beziehung und war von Rilkes
Liebesschwüren nicht beeindruckt wie
andere. Im Gegenteil fühlte sie sich zunehmend davon abgestossen. Sie strafte
den fast 15 Jahre jüngeren Liebhaber, der
eigentlich auf René getauft worden war,
mit dem prosaischeren Namen Rainer für
seine Extravaganz ab. Schliesslich trennt
sie sich von ihm. Doch sie wacht weiter
über ihn und mahnt ihn an Pflichten,
wenn er sich oder seine Familie durch
Flatterhaftigkeit in Schwierigkeiten
bringt.
Auch zwischen Rilke und seiner Ehefrau Clara Westhoff bleibt zeitlebens eine
Bindung bestehen, obwohl bereits die
Flitterwochen wegen seiner schwachen
Konstitution im Sanatorium verbracht
werden. Doch mit der Geburt der Tochter
Ruth beginnt das Paar, getrennt zu leben.
Rilke flieht die Verantwortung als Vater
und spottet später über die Tochter, die
nicht mehr als ein bürgerliches Leben
will. Darin besteht vielleicht die eigentliche Tragik des Rilkeschen Liebeslebens. Er lehnt die einzige Frau, deren
Liebe er sich naturgemäss hätte fast sicher sein können, rigoros ab.
Schwilk interpretiert psychologisch
schlüssig und verzichtet angesichts der
Verletzungen, die Rilke seinem Umfeld
durch emotionale Unreife zufügt, weitgehend auf Moralin. Dennoch geht die
grosse Empathie für Rilke mitunter in
eine Nähe über, die zu viel werden kann.
So gross Schwilks Einfühlungsvermögen
hinsichtlich Rilke ist, so klein erscheint
es für die Frauen in Sätzen wie: «Sie
wussten, dass die Liebe vor allem den
Liebenden beschenkt, der Schmerz aber
auch etwas Heilsames hat.» Rilkes Tochter nahm sich schliesslich das Leben. ●
«Was würdest du tun, wenn du nur noch ein Jahr zu leben hättest?»
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ilm v
10. Zurich Film Festival
PUBLIKUMSPREIS
2014
NIAN
mit
PEDRO LENZ DIMITRI FRANZ HOHLER
KURT AESCHBACHER NIK HARTMANN u.a.
Ab 16. April im Kino
18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. März 2015
In Zusammenarbeit mit
Russland Die sowjetische Geschichte war kein Daueraufstand. Was sie war und was sie ausmachte,
erzählt Orlando Figes in einer kompakten Darstellung
DieRevolutionfrisstihreKinder
Phase anschloss. Sie begann mit Chruschtschows Geheimrede, dauerte Jahrzehnte und endete, wie sie begonnen hatte:
Die Partei verlor ihre Autorität, ihre Einheit und den Glauben an sich selbst. Der
Schwerpunkt liegt auf den ersten beiden
Phasen, die letzte wird kurz, wenn auch
prägnant skizziert.
Orlando Figes: Hundert Jahre Revolution.
Russland und das 20. Jahrhundert.
Hanser, München 2015. 384 Seiten,
Fr. 39.90, E-Book 28.90.
Von Victor Mauer
Revolutionen mögen die «Dampfmaschinen der Geschichte» (Karl Marx) sein.
Das Joch der Tyrannei haben sie nach
den Worten George Bernard Shaws jedoch meist auf eine andere Schulter gewälzt. Auf keine Revolution lässt sich
diese Feststellung so treffend anwenden
wie auf die russische Oktoberrevolution
des Jahres 1917.
Knapp hundert Jahre nach den Russland und die Welt verändernden Ereignissen legt Orlando Figes eine analytisch
dichte und wunderbar lesbare Geschichte Sowjetrusslands vor. Wer mit dem
Werk des am Birkbeck College in London
lehrenden Historikers vertraut ist, wird
bei der Lektüre an jene wegweisenden
Studien erinnert, die der Autor in den
letzten Jahrzehnten zur Epoche der russischen Revolution ebenso wie zum
Leben in Stalins Sowjetunion vorgelegt
hat. Nahtlos verschmelzen Erzählung
und Analyse zu einem grossen Ganzen.
Die Klammer bilden dabei zwei Revolutionen: jene von 1917, die nach Jahren
der Inkubation unter gezielter Anwendung von Gewalt von unten herbeigeführt wurde; und eine zweite, die, ursprünglich als Reform und Rückbesinnung auf die Grundlagen der Revolution
von 1917 konzipiert, 1991 ganz und gar
ungewollt als Revolution von oben in
den Kollaps der Sowjetunion mündete,
gerade weil die politisch Verantwortlichen auf die Ausübung von Gewalt verzichteten, als ihnen die Kontrolle entglitt.
Erfolg eines Gescheiterten
Ein russisches Plakat
von 1920 zeigt
Revolutionsführer
W. I. Lenin (1870–
1924). Die russische
Bildlegende bezieht
sich auf Karl Marx:
«Ein Gespenst
geht um in Europa,
das Gespenst des
Kommunismus.»
Die Komplexität der Ereignisse reduziert
Figes auf das Wesentliche, ohne die widerstreitenden Interessen der Akteure
im Wechselspiel zwischen realen und
vermeintlichen Sachzwängen, Gewolltem und Gewordenem unzulässig zu vereinfachen. So weist eben keine gerade
Linie von der Hungersnot der Bauern im
Südosten 1891 über die revolutionäre
Krise 1905 zur Doppelrevolution 1917, als
im Februar eine auf den Strassen gemachte Revolution zu einer in den Salons gebildeten Regierung führte, um
acht Monate später durch eine grundlegende soziale Revolution abgelöst zu
werden.
Vielmehr räumt Figes mit dem Mythos
auf, wonach die Wurzeln des zaristischen Zusammenbruchs in der Unzufriedenheit der Bauern oder in der Arbeiterbewegung gelegen hätten. Stattdessen
betont er den wachsenden Konflikt zwischen einer dynamischen öffentlichen
Kultur und einer verknöcherten Autokratie. Am Ende sei der bolschewistische
Aufstand kein heldenhafter Kampf der
Massen, sondern derart überschaubar
gewesen, dass die «Erstürmung» des
Winterpalais eher einer «polizeilichen
Einvernahme» geglichen habe.
Wenn die Kapitel zur ersten Phase
analytisch zu den überzeugendsten gehören, dann befassen sich jene der zweiten Phase mit den dunkelsten Facetten
der sowjetischen Geschichte: der Kollektivierung, den Arbeitslagern, dem Grossen Terror. Die Revolution frass ihre Kinder. Verführung und Gewalt wurden zum
Signum einer ganzen Epoche. Denn ohne
die Zehntausenden, die wie der ehemalige Komsomol-Angehörige und spätere
Dissident Lew Kopelew meinten, mit
ihren brutalen Aktionen gegen die Bauern «eine historisch notwendige Tat» zu
vollbringen, hätten Stalin und seine ihm
bis weit über den Tod hinaus in hündischem Gehorsam ergebenen Gefolgsleute wie Wjatscheslaw Molotow ihre wahnhafte Mission nicht erfüllen können.
Die Unfähigkeit des Volkes, einen realen Wandel herbeizuführen, hatte ihren
Ursprung in den dreissiger Jahren. Um zu
überleben, hatte der gewöhnliche Bürger
gelernt, stumm zu bleiben und die Obrigkeit nicht in Frage zu stellen. Ausschlaggebend für den Zusammenbruch von
1991 war deshalb die Art und Weise, mit
der sich das Regime von der Spitze her
auflöste. So gesehen, erscheint das abschliessende Urteil über Michail Gorbatschow nur auf Anhieb paradox: Als an
seinen eigenen Plänen Gescheiterter
wird er für immer eine bedeutende historische Figur bleiben.
Mit seiner Geschichte Russlands im
20. Jahrhundert erklärt Orlando Figes
uns nicht nur die Vergangenheit. Er hilft
uns auch, die Grundlagen für das heutige
Abdriften des Landes in eine Autokratie
besser zu verstehen. l
INTERFOTO
Kontinuitäten und Brüche
Deshalb, wie Titel und Einleitung insinuieren, von einer Dauerrevolution zu
sprechen, ist wenig zielführend. Schliesslich folgten dem revolutionären Aufbruch Phasen der Konsolidierung, der
Reformen und – unter dem grauen Funktionär Breschnew, der, wie Figes selbst
betont, so gar nichts Revolutionäres an
sich hatte – der Restauration. Dass die
Revolution von 1917 und ihre Prinzipien,
vom Einparteienstaat als Inbegriff der
Diktatur des Proletariats über das Staatseigentum an den Produktionsmitteln bis
hin zur Vorherrschaft kollektiver Interessen, jahrzehntelang als Selbstvergewisserung, als Rechtfertigung und nicht
zuletzt als disziplinierender Faktor herhalten mussten, ändert daran nichts. Im
Gegenteil, dem Autor erlauben sie,
Kontinuitätslinien und –brüche umso
klarer herauszuarbeiten.
Figes unterteilt seine Geschichte in
drei Phasen. Der Periode der Revolution
und des Bürgerkriegs folgte die Ära der
brutalen Machtsicherung, der sich schon
wenige Jahre nach Stalins Tod die letzte
29. März 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19
ANDREAS GERTH, NATURERBE DER SCHWEIZ, HAUPT-VERLAG 2015
Sachbuch
Naturerbe Die 162 vom Bund geschützten Gebiete unseres Landes – beschrieben und in prächtigen
Bildern vorgestellt
SoschönistdieSchweiz
Raymond Beutler, Andreas Gerth: Naturerbe der Schweiz. Die Landschaften und
Naturdenkmäler von nationaler
Bedeutung. Haupt, Bern 2015. 392 Seiten,
Fr. 84.90.
Von Sarah Fasolin
Ist das wirklich in der Schweiz? Mehr als
einmal stellt man sich diese Frage, wenn
man die Bilder im Buch «Naturerbe der
Schweiz. Die Landschaften und Naturdenkmäler von nationaler Bedeutung»
betrachtet. Das muss doch in Kanada
Morgennebel über
dem Burgäschisee,
südwestlich von
Herzogenbuchsee.
sein, denkt man, oder in Schottland oder
in Island. Nein, es ist der Breccaschlund
in den Freiburger Voralpen, das Chaltenbrunnenmoor im Berner Oberland oder
das Laggintal im Wallis.
162 Landschaften stellen die Autoren,
der Geograf und Raumplaner Raymond
Beutler und Landschaftsfotograf Andreas Gerth auf knapp 400 Seiten vor. Es
sind die Gebiete des «Bundesinventars
der Landschaften und Naturdenkmäler
von nationaler Bedeutung» (BLN), die
vom Bund zwischen 1977 und 1998 als
schützenswert definiert wurden. Nebst
den Klassikern wie dem Rheinfall oder
dem Matterhorn lernt der Leser wenig
bekannte Ecken des Landes kennen. Die
Breggiaschlucht im Tessin mit ihren rot
gestreiften Felsbrocken. Die Wässermatten im Oberaargau. Oder wer hat
schon einmal etwas vom Reich des
Perückenstrauchs auf den Bergij-Platten
im Wallis gehört?
Es ist das erste Mal, dass sämtliche
BLN-Objekte der Schweiz in einer Publikation beschrieben und abgebildet werden. Und schon nach den ersten Seiten
ist klar, worum es hier geht: Nicht darum,
die unter der Zersiedelung veränderte
Landschaft der Schweiz zu beklagen,
Gesellschaft Marathonlauf ist zu einem Massenphänomen der globalisierten Welt geworden
Erkenntnisse in Turnschuhen
Matthias Politycki: 42,195. Warum wir
Marathon laufen und was wir dabei
denken. Hoffmann und Campe,
Hamburg 2015. 320 Seiten, Fr. 29.90,
E-Book 18.90.
Von Remo Geisser
Jetzt sind sie wieder unterwegs. In London, Boston, Wien – und auch in Zürich.
Die grössten Städtemarathons ziehen bis
zu 50000 Sportlerinnen und Sportler an.
Was bewegt all diese Leute, einem Vorbild nachzueifern, der laut Mythos am
Ende seines Laufes tot zusammenbrach?
Es war der Meldeläufer Pheidippides, der
490 vor Christus von Marathon nach
Athen rannte, um vom Sieg über die Perser zu berichten. Als Wettkampf wurde
der Marathon an den ersten Olympischen Spielen der Neuzeit 1896 in Athen
eingeführt, eine Massenbewegung ist er
erst seit den 1980er Jahren.
Ungezählte Laufbücher befassen sich
mit dem Training oder erklären, an wel20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. März 2015
chen abgelegenen Orten es zusätzlich zu
den 42,195 Laufkilometern noch besondere Erlebnisse gibt. Am Nordpol zum
Beispiel, in der Sahara oder auf der Chinesischen Mauer. Nur selten widmen
sich aber Literaten dem Thema. Matthias
Politicky hat es getan. Warum? Wahrscheinlich, weil Laufen für ihn genauso
Bestandteil des Lebens ist wie Schreiben. Seit 40 Jahren läuft er, seit 40 Jahren schreibt er. Und immer wieder wurde
er gefragt: Warum?
Er diskutierte darüber mit Laufkameraden, und einmal kam während
eines langen Trainings folgende These
auf: Wer sich mit dem Laufen beschäftige, nämlich all dem, was man als
Randparameter dieses Sports bezeichnen könne, der beschäftige sich unweigerlich mit der Befasstheit des Menschen
schlechthin, des Menschen in der postmodernen Eventgesellschaft. Das ist ein
Thema, das Politicky auch in seinen Romanen aufgreift.
Sein Marathon-Buch gliedert er in
42,195 Kapitel. Das ist nicht gerade origi-
nell und wirkt zu Beginn langatmig. Je
mehr man sich aber in den Text einliest,
desto mehr begreift man, dass die Struktur den Marathon realitätsnah abbildet.
Denn auch Laufen ist langatmig, und
man durchlebt abwechselnd Demut,
Ärger, Euphorie, Zweifel, Angst. Aber nie
darf man das Ziel aus den Augen verlieren. «Wenn der Startschuss fällt, beginnt
das Rennen deines Lebens», schreibt Politicky. Und: «Wer heute stehen bleibt,
setzt sich morgen hin (…), ist übermorgen tot.»
Auf dem Weg ins Ziel erzählt der
Schriftsteller von Freuden und Leiden
des Trainings, von Verführungen des
Marketings, das mit immer neuen Schuhen, Hightech-Kleidungsstücken und
Pülverchen Wunder verspricht. Er
schreibt von Erfahrungen an Rennen in
verschiedenen Ländern, aber auch von
der Auseinandersetzung mit sich selbst
und der Welt. «Sobald man sich nicht
mehr auf den Parcours konzentrieren
muss, geht der Lauf konsequent nach
innen. Alles Überflüssige bleibt auf der
Strecke – man kommt stets als ein anderer zurück.»
Nur selten verweist Politicky auf die
Gemeinsamkeiten von Laufen und
Schreiben. «So wie man beim Laufen en
passant alle möglichen Probleme verarbeitet, wachtraumhafte Phantasien auslebt, spontan Ideen entwickelt, so kommen auch beim Schreiben die besten Einfälle ganz unversehens und beiläufig.»
Dass es trotzdem eine Strategie braucht,
erlebte der Autor mit dem Roman «Samarkand Samarkand», an dem er wiederholt scheiterte, bis er ihn nach Jahrzehnten endlich doch auf dem Papier hatte.
«Man darf einen Marathon in der Euphorie nicht zu schnell beginnen, auf der
Strasse nicht und am Schreibtisch erst
recht nicht.»
«42,195» ist keine Anleitung zum Bücherschreiben und auch keine zum
Marathonlaufen. Aber das Buch kann
Läufern helfen, sich selber besser zu begreifen – und Nichtläufern eine Ahnung
davon geben, warum Leute Tag für Tag
ihre Sportschuhe schnüren. l
Verhalten Der klinische Psychologe Walter Mischel sieht die Resultate
seines berühmten Süssigkeiten-Tests Jahrzehnte später bestätigt
WieKinderSelbstdisziplin
erlernen
Walter Mischel: Der Marshmallow-Test.
Willensstärke, Belohnungsaufschub und
die Entwicklung der Persönlichkeit.
Siedler, München 2015. 346 Seiten,
Fr. 37.90, E-Book 24.90.
Von Michael Holmes
Ein Marshmallow ist das Symbol für
eines der wichtigsten und berühmtesten
Experimente in der Geschichte der Sozialwissenschaften. Ab 1968 legten Psychologen der Stanford University 562
Vier- und Fünfjährigen einen Marshmallow oder eine andere Süssigkeit auf
einen Tisch und stellten sie vor die Wahl:
eine Leckerei gleich oder zwei Leckereien später. Durch einen Einwegspiegel beobachteten die Forscher, wie die Kinder
die Geduldsprobe zu meistern versuchten, sobald sie allein waren.
Videos der Tests auf YouTube sind zutiefst bewegend und zum Schreien komisch. Kinder führten Selbstgespräche,
erfanden Spiele und Lieder, schlossen
die Augen oder steckten sich die Faust in
den Mund. Die Wissenschafter identifizierten Strategien, mit denen Kinder der
Versuchung widerstehen und viele frustrierende Minuten auf einem Stuhl ausharren konnten. Aber die erstaunlichsten Resultate sollten sie erst viele Jahre
später erhalten, als sie die Probanden
erneut aufsuchten. Denn die im Vorschulalter gemessene Fähigkeit zum
Belohnungsaufschub besass eine unerwartet starke und weitreichende Vorhersagekraft für den Erfolg und das Wohlbefinden im späteren Leben.
Der Versuchsleiter Walter Mischel,
heute an der Columbia University, schildert in seinem faszinierenden und faktenreichen Buch «Der MarshmallowTest» den genauen Ablauf der Studie,
seine grosse Überraschung über die Ergebnisse sowie die Diskussionen über
deren Interpretation. Der Test wurde
auch in Trinidad, Chile, Boston und der
New Yorker Bronx sowie in Dutzenden
Varianten
durchgeführt.
Statistiker
haben gewaltige Datenmengen unter die
Lupe genommen. Fest steht: Jugendliche, die als Kinder im Marshmallow-Test
gut abgeschnitten hatten, waren nach
Einschätzung von Eltern, Lehrern und
Psychologen konzentrierter, stressresistenter, sozialer und friedfertiger. Im
Beim MarshmallowTest geht es um
Impulskontrolle: Soll
ich gleich zugreifen
oder lieber
warten?
Studierfähigkeitstest erreichten sie 210
Punkte mehr. Als Erwachsene hatten sie
mehr Selbstachtung und einen niedrigeren Body-Mass-Index. Sie konsumierten
weniger Drogen und liessen sich weniger
häufig scheiden.
Mischel hält die Selbstkontrolle für die
«Leitkompetenz» der emotionalen Intelligenz und stellt eine schlichte Theorie
vor, welche deren enormen Einfluss auf
sämtliche Lebensbereiche umfassend erklären soll. Dieser zufolge konkurrieren
zwei eng miteinander verwobene Gehirnsysteme um Einfluss auf unser Verhalten. Das heisse System sei emotional,
reflexhaft und impulsiv. Das kühle System ermögliche rationales, umsichtiges,
planvolles Handeln. Hirnforschungen
zeigen, dass die Amygdala und der
neofrontale Kortex die Zentren des heissen und kühlen Systems bilden. Wer sich
von einem System beherrschen lasse,
könne kein erfüllendes und erfolgreiches
Leben führen.
In den Experimenten fanden die erfolgreichsten Kandidaten Wege, die Wirkung der sinnlichen Reize zu verringern.
Wenn die Forscher die Süssigkeiten verdeckten oder Kinder dazu ermunterten,
sich mit lustigen Gedanken abzulenken,
warteten diese etwa zehnmal länger.
Wenn sie den Kindern rieten, sich die Leckereien in einem Bilderrahmen vorzustellen, hielten diese sogar 18-mal länger
durch. Auch der Gedanke, was ein Erwachsener an ihrer Stelle tun würde,
verlängerte die Wartezeiten.
Mischel fordert ein Bildungs- und Erziehungssystem, in dem jedes Kind eine
tiefgreifende Charakterbildung erhält. Er
hat Schulen besucht, die Kinder aus der
Armut holen, indem sie deren emotionale Intelligenz stärken. Ausserdem verrät er viele nützliche Tipps und Tricks,
wie wir die Impulskontrolle in jedem
Alter fördern können. Dieses bedeutende Werk zeigt, dass wir uns immer neu
entscheiden können, ob wir
den Marshmallow gleich
geniessen oder lieber
warten. l
GETTYIMAGES
sondern das, was ist und erhalten werden soll, zu zelebrieren. Die Fotos sind
bei Postkartenwetter und stets so aufgenommen, dass weder Masten noch
Hochspannungsleitungen den Himmel
durchschneiden. Kaum eine Strasse ist
darauf, geschweige denn ein Mensch
oder ein Auto. Nur Wälder, Weiden, Flüsse, Ufer, da und dort ein Gebäude. Die
Bilder wirken fast zu perfekt. Doch abgesehen von vier Fotos, bei denen er ein
Kabel oder einen Pfosten herausretuschiert habe, habe er die Landschaften
so angetroffen, sagt Andreas Gerth.
Die Texte beschreiben die Charakteristiken der einzelnen Gebiete und schaffen
es trotz ihrer Kürze, auch Historisches,
Geologisches oder Biologisches mit einzubeziehen. Man erfährt, dass die Libelle
«Gelbe Keiljungfer» in Mitteleuropa nur
am Hochrhein vorkommt. Oder wie die
Erdpyramiden im Val Sinestra entstanden sind. Dass Raymond Beutler die
Landschaften, abgesehen von drei kleinen Ausnahmen, alle selber zu Fuss erkundet hat, schlägt sich in den Texten
nieder. Anschaulich und für ein breites
Publikum verständlich fasst er in Worte,
was es vor Ort jeweils zu sehen gibt.
Der Erscheinungstermin des Buches
hingegen überrascht. Denn seit 2006 arbeitet das Bundesamt für Umwelt an
einer Überarbeitung des BLN. Die Objekte werden neu beschrieben, die Eigenschaften und Schutzziele der einzelnen
Landschaften präziser formuliert. Für
seine Texte konnte sich Autor Beutler
zwar auf die Entwürfe stützen, aber nicht
auf die definitiv vom Bundesrat verabschiedete Fassung, die bereits in den
nächsten drei Monaten erwartet wird.
Dennoch ist das Buch ein starkes Statement zu den Landschaften der Schweiz
zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Eines,
das zum Blättern und Lesen, aber auch
zum Aufbrechen, Wandern und Entdecken einlädt. l
29. März 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21
Sachbuch
Showbusiness Die Gewinnerin des Grand Prix d’Eurovision 2014 erzählt in ihrer Autobiografie von ihrem
steinigen Weg zum Erfolg und ihrer politischen Mission
NochistPhoenixnichtauferstanden
Conchita Wurst: Ich, Conchita. Meine
Geschichte. We are unstoppable.
LangenMüller, München 2015. 192 Seiten,
Fr. 29.90, E-Book 25.–.
Die bärtige Lady ist eigentlich eine Jahrmarktkuriosität aus jenen Tagen, in
denen man sich noch ohne Fernsehen an
Seltsamkeiten erfreuen musste. Dennoch passt Conchita Wurst, die Gewinnerin des letztjährigen Prix d’Eurovision,
in eine Zeit, in der die einen die Einführung geschlechtsneutraler Toiletten proklamieren, während andere Homosexualität noch immer als etwas Unnatürliches
verdammen. Es wäre aber falsch, den
Erfolg der von Tom Neuwirth geschaffenen Kunstfigur einzig ihrem Paradiesvogel-Dasein zuzuschreiben. Natürlich,
noch immer wird das Seltene bevorzugt,
der Unique Selling Point hat nichts von
seiner Bedeutung eingebüsst. Mittlerweile trägt das Ungewöhnliche aber ein
neues Gesicht: Die Authentizität. In
der durchchoreografierten Bühnenshow
des Gesangswettbewerbs waren der
Schmerz, der sich in Wursts Lied «Rise
like a Phoenix» ausdrückte, echt, gepaart
mit Freude über das Erreichte, und dafür
liebte das Publikum sie, denn solche Momente sind selten heutzutage, wo jeder
Provinzpolitiker einen PR-Berater hat.
Nun hat die Gefeierte mit dem absurden, aber eingängigen Namen ein Buch
geschrieben. «Ich, Conchita. Meine Geschichte», heisst der schlichte Titel, ergänzt durch den Zusatz «We are un-
GEORG HOCHMUTH
Von Malena Ruder
Conchita Wurst Hand
in Hand mit Jean Paul
Gaultier am Life Ball in
Wien, 31. Mai 2014.
stoppable», ein Schlachtruf, der etwas
naiv daherkommt in seinem Anglizismus. Für letzteren Gedanken schämt
man sich dann gleich wieder, denn wieso
ist es kindlich konnotiert, wenn man sich
bedingungslos einsetzt für mehr Toleranz, Liebe, kurz: eine bessere Welt?
Was sich ausbreitet auf 128 Textseiten
(der Rest sind Bilder) ist eine Mixtur aus
Lebensgeschichte und Pamphlet für eine
ebensolche. Erzählt wird in der ersten
Hälfte das Märchen (respektive das Musical, wie Wurst schreibt) vom hässlichen
Entlein, das zum schönen Schwan wird.
Die Jugend des Homosexuellen in einem
liebevollen Elternhaus im ländlichen Österreich wird überschattet von dem Gefühl, nicht in Ordnung zu sein. Neuwirth
wird geärgert, gequält, er leidet, da sind
«die kleinen Gemeinheiten, das Tuscheln
hinter dem Rücken, die Schimpfworte».
Leider fehlen Szenen, welche den Leser
an diesen Schmerz heranführen, alles
bleibt abstrakt, auf Distanz.
Hinter der bunten Hülle scheint sich
ein strebsamer Mensch zu verbergen;
mehrmals betont Wurst, wie wichtig
Fleiss und harte Arbeit ist: «Wer nach
oben will, muss morgens früh aufstehen.» Dieses lehrerhafte Gehabe vergrössert noch die Distanz zum Leser, die sich
leider durch das ganze Buch zieht, man
hat nie das Gefühl, der Person Conchita
Wurst wirklich nahezukommen, geschweige denn Tom Neuwirth.
Die Beziehung dieser beiden Persönlichkeiten, die in einem Menschen vereint sind, bleibt ebenso unbeleuchtet wie
die Charaktere seiner Freunde und die
der Familie; alle bleiben leere Hülsen.
Das Thema Liebe wird überhaupt nicht
behandelt.
Selbst der grosszügig angelegte Fototeil, eine Art gedrucktes Facebook-Album, das ein Drittel des Buches ausmacht, vermag es nicht, Nähe herzustellen. Dies liegt vor allem daran, dass Kinderbilder des jungen Neuwirth und Bilder von Conchita Wursts erfolgreichem
Leben vertreten sind, aber gerade die
ausführlich beschriebenen Teenagerjahre völlig fehlen; schade.
Es bleibt zu hoffen, dass Wurst in den
nächsten Jahren neben ihrem verdienstvollen Einsatz für Gleichberechtigung
die Zeit bleibt, ein Buch zu schreiben, das
es schafft, auch den Zauber ihrer Auftritte einzufangen. ●
Geschichte Zum 100. Jahrestag des Genozids hält Rolf Hosfeld ein Plädoyer für die Armenier
Und es war ein Völkermord
Rolf Hosfeld: Tod in der Wüste.
Der Völkermord an den Armeniern.
C. H. Beck, München 2015. 288 Seiten,
Fr. 34.90.
Von Geneviève Lüscher
Der Kulturhistoriker und Journalist Rolf
Hosfeld ist kein Unbekannter in Sachen
Armenien. Bereits 2005, 90 Jahre nach
Beginn der Deportationen in der Türkei,
hat er mit seinem Buch «Operation Nemesis» seine dezidierte Meinung zum
Massaker an den Armeniern kundgetan.
Nun doppelt er nach und beschreibt detailliert die historische Situation, die
zum Desaster führte.
Seit Jahrzehnten tobt unter Historikern – insbesondere türkischen und armenischen – ein Kampf um die Frage, ob
der Mord an den Armeniern eine bewusst
organisierte Vernichtungsaktion war, ein
Völkermord also, oder nicht. Für die Ar22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. März 2015
menier ist klar, dass sie unschuldige,
aber geplante Opfer des Regimes waren.
Die türkische Seite interpretiert die Deportationen als Antwort auf einen armenischen, von Russen und Briten unterstützten Aufstand gegen die Türkei. Tatsache ist, dass sich die Armenier in der
Osttürkei mit den 1877 einmarschierenden Russen gegen das Osmanische Reich
zusammentaten, das in diesem Krieg unterlag und grosse Verluste zu beklagen
hatte. Die Antwort der Türken – Deportation und Mord – war befeuert vom Nationalismus der Jungtürken und artete in
unvorstellbare Greuel aus.
Die meisten westlichen Historiker und
auch der Autor neigen heute zur armenischen Version, und eine ganze Reihe von
Staaten stuft sie offiziell als Völkermord
ein, nicht so die Schweiz. Die Türkei ihrerseits hat 2014 erstmals den Armeniern
ihr Beileid ausgesprochen, ohne aber
den Begriff «Genozid» zu verwenden.
Deportationen von unliebsamen Bevöl-
kerungsgruppen waren im 19./20. Jahrhundert gängige Praxis, die auch von
anderen Nationen betrieben wurde.
In der Türkei arteten diese aber in zügellose und ungehinderte Massaker aus.
Wer nicht brutal abgeschlachtet wurde,
den trieb man in die Wüste, wo ein Überleben unmöglich war. «Es war politischer
Vernichtungswille am Werk», schreibt
Hosfeld, dem schliesslich 1,1 Millionen
Armenier zum Opfer fielen. Der Genozid
sei der Endpunkt einer über Jahrzehnte
schwelenden Radikalisierung in der türkischen Nationsbildung gewesen.
Die Parteinahme des Autors ist eindeutig, bisweilen «parteiisch». Argumente gegen die These eines zentral gesteuerten Genozids werden kaum diskutiert.
Die drastischen Schilderungen der Säuberungen, der Pogrome, der Todesmärsche, Exekutionen und Abschlachtungen
sind in ihrer Wiederholung schier unerträglich und bisweilen fast zu viel des
Schlechten. ●
Geschichte Die Organisation Heer und Haus funktionierte während des Zweiten Weltkriegs als
schweizerischer Nachrichtendienst
UngefilterteStimmender
Aktivdienstgeneration
bereits aus den Stimmen der Aktivdienstgeneration. «Sie gab sich nicht
blind dem Vertrauen in die ‹Elite› hin,
sondern stellte Fragen und verlangte
ehrliche Antworten», schreibt der 1941
geborene Schoch.
Fragen stellten sich der Bevölkerung
vor allem nach dem Rückzug der Armee
ins Alpenreduit. Gab man damit nicht die
Städte und Frau und Kinder preis? Die
Bauern machten sich keine Illusionen,
wie ein Lehrer aus Amlikon meldete. Sie
sagten ihm: «Wenn wir angegriffen werden, so ist unser Mittelland sowieso verloren. Das Gebirge können wir vielleicht
halten, aber was nützen uns die Steine?»
Zum Helden avanciert in Schochs Darstellung der Chef des Aufklärungsdienstes, Korporal August R. Lindt. Ein muti-
Jürg Schoch: Mit Aug’ und Ohr für’s
Vaterland. Der Schweizer
Aufklärungsdienst von Heer & Haus im
Zweiten Weltkrieg. NZZ Libro,
Zürich 2015. 352 Seiten, Fr. 52.90.
Von Thomas Zaugg
Schauplätze Jane Austen – ein weiblicher Shakespeare
#### CREDIT
Im Spätsommer 1942 zeigte das Zürcher
Kino Urban die übliche Nazipropaganda.
Man sah tote Briten im Wasser liegen,
von den Wellen an Land gespült, mit zerquetschten Gesichtern, die Kamera
zoomte. Deutschland durfte die Schweiz
mit diesen Bildern überschwemmen, die
Zensur galt vornehmlich für hiesige Erzeugnisse. Das Kinopublikum habe sich
aber bald gewehrt, schrieb eine Vertrauensperson dem Schweizer Aufklärungsdienst Heer und Haus. «Assez!», schrie
ein Mann, das ganze Kino Urban schrie
mit, stampfte mit den Füssen, so dass die
nazistische Wochenschau unterbrochen
wurde.
Über solche Stimmungslagen rapportierten rund 7000 Vertrauensleute bei
Heer und Haus während des Krieges.
Bauern wie Näherinnen, Gewerkschafter
wie Rechtsanwälte meldeten nach Bern,
was ihnen im Alltag auffiel. Diese «Tätigkeitsberichte» hat der promovierte Historiker und einstige Bundeshauskorrespondent Jürg Schoch ausgewertet. Zu
allen wichtigen Ereignissen lässt Schoch
den Volksmund ungefiltert sprechen,
und das macht sein Buch so wertvoll. Im
Grunde handelt es sich um eine Geschichte der Schweiz im Zweiten Weltkrieg von unten.
Ob Hitler, wenn er komme, alle Frauen
nach dem Osten verschleppen wolle? Ob
jede Woche per Flugzeug zwei hohe
Deutsche nach Zürich kämen, um auf
dem Dolder gut und genug zu essen?
Allzu menschliche Mutmassungen trafen täglich ein. Manch einer denunzierte
auffällige Ausländer, denen sodann die
politische Polizei nachspürte. Angst und
Not kochten insbesondere den Deutschenhass hoch. Ein Garagist, der ein
Fahrzeug mit deutscher Nummer Probe
fuhr, schrieb: «Bedauerlich ist auch, dass
sogar Offiziere in Uniform sich gemeiner
Zurufe nicht enthalten können.»
Den Volkszorn belegen viele Meldungen rund um die 1940 wieder eingeführte Todesstrafe auf Landesverrat. Grausam gehässig etwa das Gerücht, die Verurteilten hätten sich «splitternackt» beugen müssen, «bis der Rumpf eine gerade
Linie bildete, dann seien sie von hinten
durch den ‹Arsch› erschossen worden».
Schoch hält sich jedoch nicht mit der Kritik an solchen Exzessen auf. Versöhnlich
ist sein Gesamturteil über das zivile Gesinnungskader: Vieles, was später die
68er am Verhalten der offiziellen Schweiz
im Zweiten Weltkrieg anprangern, raunt
ger, weitgereister NZZ-Korrespondent,
las Lindt dem katholisch-konservativen
Innenminister Etter regelmässig die liberalen Leviten. Im November 1943 rapportierte Lindt, die Handelspolitik gegenüber Deutschland betrachteten die
Schweizer «als unklug oder gar als unneutral». Unmenschlich erschien vielen
darüber hinaus die Grenzsperre gegen
die Juden.
Ein Gemeindekassier schrieb der Organisation Heer und Haus, was damals
wohl manche dachten: «Es ist begreiflich, dass die Flüchtlingswelle irgendwie
eingedämmt werden musste, aber die
anfänglich getroffenen Massnahmen widersprachen doch den Gesetzen der
Menschlichkeit, auch wenn es sich bloss
um Juden handelt.» l
Wer kennt sie nicht, Jane Austens Romane oder deren
Verfilmungen: «Pride and Prejudice» (Stolz und Vorurteil), «Northanger Abbey» (Die Abtei von Northanger),
«Sense and Sensibility» (Verstand und Gefühl) und wie
sie alle heissen. Die Schauplätze dieser Werke korrespondieren mit den Schauplätzen des Lebens der Autorin, das in einer eng umgrenzten Region in Südengland
stattgefunden hat. Der Bildband von Kim Wilson geht
diesen Erinnerungsorten nach und lässt uns teilhaben
am Leben der Autorin und dem ihrer Protagonistinnen.
Geboren 1775 in Steventon, Grafschaft Hampshire,
schrieb Austen dort auch die ersten Fassungen ihrer
berühmtesten Romane, das Pfarrhaus existiert aber
heute nicht mehr. 1801 zieht die Familie mit den unver-
heirateten Töchtern ins mondäne Bath, später nach
Southampton, dann nach Chawton (s. Bild; das Cottage
der Austens, gemalt vermutlich von der Schwester
Anne) und schliesslich nach Winchester, wo Jane Austen
1817 nur 42-jährig starb. Die Austens gehörten nie zur
Oberschicht, dennoch spielen die Romane in Herrenhäusern der jeweiligen Umgebung, wo sich der glamouröse Alltag des Landadels und des gehobenen Bürgertums um Nichtigkeiten drehte. Austen beobachtete
dieses Leben, in dessen Zentrum für die Frauen die alles
entscheidende Hochzeit stand, und fing es mit Schärfe,
Charme, Witz und feiner Ironie ein. Geneviève Lüscher
Kim Wilson: Auf den Spuren von Jane Austen.
Knesebeck, München 2015. 144 Seiten, Fr. 44.90.
29. März 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23
Sachbuch
Haushalt Die finnische Autorin Maria Antas schreibt ein pfiffiges Buch über das Putzen
Ein bisschen Dreck ist gesund
Maria Antas: Wisch und weg. Ein Buch über
das Putzen. Insel, Berlin 2015. 171 Seiten,
Fr. 27.90.
Von Berthold Merkle
Ein Buch über das Putzen. Auch das
noch! Doch das Thema ist nicht trist und
öde, sondern unterhaltsam, spannend
und richtig lustig – wenn es von einer
pfiffigen Autorin wie Maria Antas aufgewirbelt wird.
Die finnische Schriftstellerin ist
50-jährig, kann sich also noch daran erinnern, wie früher geputzt wurde. Als beim
wöchentlichen Grossputz die Böden gescheuert («Meine Güte, was mussten wir
Frauen im Laufe der Zeit knien und buckeln») und die Teppiche geklopft wur-
den. Bei der Autorin haben diese Kindheitserlebnisse aber offensichtlich kein
Trauma verursacht. Noch immer hat sie
Spass am Putzen: Sie unterwirft sich dem
Ritual, blickt hinterher zufrieden auf die
geleistete Arbeit und freut sich über den
frischen Duft, die glänzenden Fliesen
und die knisternde Bettwäsche.
Derart versiert in der Praxis, liegt es
für Maria Antas nahe, auch die theoretische Seite dieses rätselhaften Tuns zu erforschen. In Skandinavien gibt es dazu
reich gefüllte Archive mit Untersuchungen über das Putzen zu allen Zeiten. So
erzählt sie beiläufig eine reiche Kulturgeschichte, die mit Lappen und Scheuerpulver auch den gesellschaftlichen Wandel freilegt. Von den Vertreterinnen der
«Martha-Bewegung», die vor 100 Jahren
den Frauen die Hygiene beibrachten, zu
Meister Proper und seinen Kollegen. Die
psychologisch unterwanderten Werbespots schafften, was die guten alten
Volksaufklärerinnen nicht konnten:
Angst machen vor Schmutz, den man gar
nicht sieht. Die Bakterien sorgten dafür,
dass die Frau plötzlich um das Leben
ihrer Familie putzen musste. Für Antas
eine zutiefst schockierende Entwicklung. Denn der Putzwahn wird so krankhaft. Vielleicht, vermutet sie, hat auch
«die kurze Blütezeit des Teppichbodens»
mit der vermeintlichen Bedrohung durch
unsichtbare Bakterien zu tun.
Die Autorin lässt sich aber nicht beirren: «Ein bisschen Schmutz ist ganz einfach gesund.» Mit dieser Erkenntnis ist
das wunderbare Buch geworden, was
gutes Putzen sein soll: gründlich recherchiert, sauber geschrieben, glänzend. ●
Afghanistan Eine junge deutsche Reporterin zieht es an den Hindukusch
Den Krieg mit eigenen Augen sehen
Ronja von Wurmb-Seibel: Ausgerechnet
Kabul. 13 Geschichten vom Leben im
Krieg. DVA, München 2015. 256 Seiten,
Fr. 27.90, E-Book 17.90.
Von Victor Merten
Nach Afghanistan zu ziehen, um von
dort zu berichten, ist eine gehörig verrückte Idee. Ronja von Wurmb-Seibel hat
dies trotzdem getan. Die junge Journalistin kommt auf einer Reportage erstmals mit dem Land in Berührung, in das
die USA nach den Terroranschlägen vom
11. September 2001 einmarschierten. Danach kann sie nicht mehr loslassen und
reist zurück. Sie will hinter die Nachrichten vom Krieg der Regierung und ihrer
Verbündeten gegen die radikal-islamischen Taliban blicken. Sie will wissen,
was die 2014 abgezogenen Nato-Truppen
den Afghanen gebracht haben.
Gut ein Jahr hat von Wurmb-Seibel an
etlichen Orten im Land verbracht. Darüber schrieb sie vor allem für «Die Zeit»
und machte Dokumentarfilme. Und sie
verfasste den vorliegenden Erlebnisbericht. In lockerer, mitunter gar flapsiger
Sprache schildert die Reporterin ihre Erlebnisse und Eindrücke. Dabei erweist
sie sich als gute Beobachterin, die zu erzählen weiss. Sie lernt das einheimische
Dari verstehen und sprechen und geht zu
den Leuten. Dazu gehören Kinder und
Jugendliche, Frauen und Männer, afghanische und ausländische Soldaten, Diplomaten, Entwicklungshelfer und Ge-
schäftsleute, Minenräumer und Wächter, Daheimgebliebene und Rückkehrer.
Einige von ihnen werden Freunde.
Auch ohne Anschläge oder Kämpfe
miterlebt zu haben und trotz ihrer Sonderstellung als Gast, bekommt die mutige Frau eine Ahnung, was es heisst, im
Krieg zu leben. Von der Nachhaltigkeit
des ausländischen Truppeneinsatzes ist
sie heute wenig überzeugt. Nach dem
Rückzug der sowjetischen Besatzer 1989
und dem nachfolgenden Bürgerkrieg hat
Afghanistan nun den Abzug der Nato
hinter sich. Die Befürchtung, der Krieg
werde wieder aufflammen, hat sich zum
Glück nicht erfüllt. Doch ein Ende der
Gewalt ist auch nicht in Sicht. Nach
nichts aber sehnen sich die schwer gezeichneten Afghanen mehr. ●
Homosexualität Lebensgeschichten lesbischer Frauen in der Schweiz von 1940 bis heute
«Ich glaubte, ich sei nicht ganz normal»
Corinne Rufli: Seit dieser Nacht war ich wie
verzaubert. Frauenliebende Frauen über
siebzig erzählen. Hier und Jetzt,
Baden 2015. 256 Seiten, Fr. 39.90,
E-Book 27.90.
Von Gordana Mijuk
Heute gehen sie Händchen haltend
durch die Strassen, küssen sich an der
Seepromenade und gründen Familien:
Lesbische Frauen in der Schweiz sind
Teil der Gesellschaft, sichtbarer und
selbstbewusster als je zuvor.
Noch vor wenigen Jahrzehnten, war
dies anders. In der Schweiz der fünfziger
und sechziger Jahre waren Frauen Gattinnen, Mütter, Hausfrauen. Frauenlie24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. März 2015
bende Frauen existierten nicht – offiziell.
Wie sie damals lebten, fühlten, ob es
ihnen gelang, aus dem kleinbürgerlichen
Käfig auszubrechen, darüber weiss man
wenig. Historische Quellen gibt es kaum.
Die Aargauer Historikerin und Journalistin Corinne Rufli will dies ändern. In
ihrem Buch erzählen elf Frauen, die über
siebzig Jahre alt sind, ihre Lebensgeschichten. Der Oral History verpflichtet,
lässt Rufli sie frei erzählen; sie gewichten, selektionieren und bewerten selbst.
Herausgekommen sind aufwühlende,
beklemmende, traurige und schöne Geschichten, deren Ehrlichkeit fesselt. Sie
dokumentieren, wie die Frauen unter
ihrer Homosexualität litten, ohne auch
nur den Begriff lesbisch zu kennen. «Als
mir bewusst wurde, dass mich Frauen
sexuell anziehen, dachte ich, da ist etwas
mit mir physisch nicht in Ordnung. Aus
Angst davor ging ich nicht mehr zum
Arzt. Ich glaubte, ich sei nicht ganz normal», erzählt etwa Renate Winzert, 84.
Mit einer Frau war sie nie zusammen, zu
lange hatte sie ihre Gefühle unterdrückt.
Andere Frauen überwanden die Schikane und fanden in ihrer Partnerin die
Erfüllung: «Meine Liebe zu Karin machte
mich frei, endlich konnte ich die Frau
sein, die ich bin», erzählt Eva Schweizer,
74. «Ich hatte mir vorher jegliche Liebesfähigkeit abgesprochen.»
Corinne Rufli hat mit ihrem Buch ein
wertvolles
Zeitzeugnis
geschaffen,
indem sie eine Randgruppe aus dem Verborgenen holt und damit die Schweizer
Geschichte um ein Kapitel bereichert. ●
Liberalismus Der Philosoph Otfried Höffe stellt die Freiheit auf den Prüfstand
GrenzenderAutonomieinder
offenenGesellschaft
Otfried Höffe: Kritik der Freiheit. Das
Grundproblem der Moderne. C. H. Beck,
München 2015. 398 Seiten, Fr. 39.90.
Von Manfred Koch
Seit mehr als 30 Jahren ist Otfried Höffe
einer der tonangebenden politischen
Philosophen im deutschsprachigen
Raum. Seine Bücher kreisen um einen
Fragenkomplex: Wie ist politische Gerechtigkeit in der modernen Welt möglich? Wie weitgehend ist sie in den demokratischen Rechtsstaaten verwirklicht,
wie sehr ist sie durch die Gebrechen der
Moderne – Raubbau an der Natur, Auflösung des sozialen Zusammenhalts, Entfesselung unkontrollierbarer Märkte –
gefährdet?
Mit «Kritik der Freiheit» legt
Höffe nun eine Art Summe seiner
Überlegungen vor. Das Buch zielt
auf nicht weniger als eine «Neuvermessung der Moderne» im Blick auf
ihr gründendes Prinzip, die Freiheit.
Das Wort «Kritik» im Titel meint also,
wie bei Kant, ein genaues Unterscheiden und Abgrenzen: Welche
Freiheitsgewinne können wir seit
der Aufklärung verbuchen, welche
Verluste haben sich ergeben? Ein
ehrgeiziges Unternehmen, zumal
Höffe sich nicht hinter fachphilosophischem Vokabular verschanzt, sondern ein breiteres Publikum ansprechen
will. Erfreulicherweise schreibt dieser
Gelehrte – um es mit seinem Lieblingsphilosophen Kant zu sagen – «in der
Sprache der Menschen».
einen sinnvollen, friedlichen Gebrauch
der Freiheit. In Kants klassischer Formulierung: «Das Recht ist der Inbegriff der
Bedingungen, unter denen die Willkür
des einen mit der Willkür des anderen
nach einem allgemeinen Gesetze der
Freiheit zusammen vereinigt werden
kann.» Das wahrhaft freie Individuum ist
der Bürger eines Rechtsstaats, der die
durch Gesetze garantierten Freiheitsräume der anderen respektiert. Er ist, genauer, Bürger einer Demokratie, in der
die Gesetze, die ihn einschränken, durch
gemeinsame Willensbildung – idealerweise unter seiner Beteiligung und auch
mit seiner Zustimmung – zustande gekommen sind.
So weit das Modell, das natürlich nicht
einfach die dazugehörige Wirklichkeit
erzeugt. Thomas Jefferson, der Verfasser
der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung mit ihren Menschenrechtsartikeln, liess bekanntlich auf seinen
Plantagen Sklaven für sich schuften. Wie
steht es also mit der konkreten Gestaltung der Freiheit in der Moderne, wie
harmoniert sie mit der Forderung nach
einer gerechten Gesellschaft?
Gegen eine Ökodiktatur
Spezielle Paradoxie
Höffe beginnt mit einer anthropologischen Bestimmung. Die Freiheit ist «ein
Konstitutiv des Menschen», dasjenige,
das uns «aus dem Kontinuum der Natur
heraushebt». Die Moderne lässt sich
schlicht als die Epoche charakterisieren,
in der die Menschen aufgefordert sind,
von dieser Freiheit auch wirklich Gebrauch zu machen. Und zwar jeder Einzelne! Kants Diktum vom «Ausgang des
Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit» ist die berühmteste
Formulierung dieses Anspruchs, noch
energischer klingt er bei Rousseau:
«Der Freiheit entsagen heisst seiner Eigenschaft als Mensch, den Menschenrechten, selbst seiner Pflicht entsagen.»
Die Frage, wie die Freiheit jedes Einzelnen mit der Freiheit aller anderen zusammen bestehen kann, ist das Grundproblem der politischen Philosophie. Ihr Ausgangspunkt ist, so
Höffe, «eine spezielle Paradoxie: Die Freiheit ist um der Freiheit willen einzuschränken». Nur
die Einfügung in eine verbindliche Rechtsordnung ermöglicht
Immanuel Kant ist
das grosse Vorbild
von Otfried Höffe.
Denkmal des
Philosophen an
seinem Geburtsort
Königsberg (heute
Kaliningrad, RUS).
Höffe steht in der Tradition des Liberalismus, für den die Entfaltung der
freien und selbstverantwortlichen Person grundsätzlich Vorrang gegenüber
den Ansprüchen der Gemeinschaft hat.
Allerdings vertritt er einen «aufgeklärten
Liberalismus», in dessen Zentrum «der
einzelne, aber nicht vereinzelte Mensch»
steht. Der Staat ist demnach mehr als ein
blosser Ordnungsgarant für das vielfältige Treiben der Individuen. Er muss
auch Sozialstaat sein, um Chancengleichheit zu ermöglichen. Es gehört zu
seinen Aufgaben, seinen Bürgern die materiellen Mindestvoraussetzungen für
eine autonome Lebensgestaltung zur
Verfügung zu stellen. Als eingefleischter
Liberaler gibt Höffe dieser Überlegung
indessen nur wenig Raum; deutlich stärker gewichtet ist die Warnung, das Sozialstaatsprinzip zu überziehen und in
jenem paternalistischen Wohlfahrts- und
Bevormundungsstaat zu landen, von
dem die deutsche Linke träumt.
Wie Höffe die Linien des modernen
Freiheitsdenkens nachzeichnet und in
eine zeitgemässe politische Ethik überführt, ist durchwegs beeindruckend. Ob
man deshalb seiner Beurteilung der modernen Krisenphänomene folgt, sei dahingestellt. Auch hier argumentiert
Höffe als Liberaler, der, bei aller Sorge,
die riskanten Folgen menschlicher Willkür lieber in Kauf nimmt als eine zu weitgehende Ermächtigung des Gemeinwesens. Zwar plädiert er dafür, der hemmungslosen Naturausbeutung Einhalt zu
gebieten, weil damit eine massive Einschränkung der Freiheit künftiger Generationen verbunden sei. Dies dürfe
jedoch keinesfalls durch eine «Ökodiktatur» geschehen. Was die wirtschaftliche Freiheit angeht, bejaht Höffe
Konkurrenz und Gewinnstreben als
Antriebskräfte, hält aber angesichts der
Exzesse der Finanzindustrie regulierende Eingriffe für angebracht. Die Vorstellung, der Staat könne die Märkte beherrschen, bleibt für ihn jedoch ein «etatistischer Irrglaube». Unter dem Strich fällt
Höffes Bilanz positiv aus: Der Gewinn an
Freiheit(en) und Wohlstand überwiegt
die bedrohlichen Seiten, die eine lernfähige Menschheit im «offenen Prozess»
der Modernisierung noch meistern
könne. Hoffen wir es! l
29. März 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25
Sachbuch
Wirtschaftswissenschaft Ein Lehrbuch des früheren Nationalbank-Chefökonomen Kurt Schiltknecht
Politiker überschätzen ihr Wissen gewaltig
Kurt Schiltknecht: Wohlstand – kein Zufall.
Die ökonomischen Zusammenhänge.
NZZ Libro, Zürich 2015. 284 Seiten,
Fr. 41.90.
Von Urs Rauber
Der Titel suggeriert eine politische Streitschrift eines profilierten Ökonomen zur
Tagesaktualität. In Wirklichkeit legt der
ehemalige Chefökonom der Schweizerischen Nationalbank (SNB) und emeritierte Professor der Universität Basel, Kurt
Schiltknecht, ein Lesebuch zum Verständnis des Wirtschaftsgeschehens vor,
das eher einem Lehrbuch gleicht.
Der heutige Wirtschaftspublizist, bis
vor wenigen Jahren noch Mitglied der SP
Schweiz, ist äusserst differenziert in seiner Analyse, bezieht sich auf die neuste
Fachliteratur und bleibt stets massvoll
im Urteil.
Das in einfacher Sprache geschriebene, aufreizend nüchterne Wirtschaftsbrevier wird nur dort deutlich, wo es um
regulatorische Eingriffe von Politikern
und Behörden geht.
In 12 Kapiteln gut strukturiert, geht
das Buch von der Frage aus, ob die Wirtschaft Gesetze und Regulierungen brauche (was der Autor bejaht), erläutert danach die Geschichte und Funktion des
Geldes, der Produktion, des Arbeitsmarktes, der Banken und Finanzmärkte,
erklärt die Rolle der Steuern und der Fiskalpolitik, um mit einem Blick auf die
Krisen des 21. Jahrhunderts (Bankenkrise 2008, Eurokrise, Schuldenkrise) abzuschliessen. Schiltknecht ist jemand, der
fast ohne Fachjargon auskommt, man
spürt hinter dem Theoretiker den Praktiker, der in unzähligen Interviews, Referaten, auf Podien und in Zeitungsartikeln
gelernt hat, klar und anschaulich zu formulieren.
Kritisch äussert sich der liberale, freiheitlich orientierte Ökonom, wenn es um
staatliche Subventionierung, um Kontrolle aller möglichen wirtschaftlichen
Vorgänge (Mietzinsen, Preisbildung,
Lohnfestsetzung) geht, um Protektionis-
mus oder wenn die Politik der SNB
dreinreden möchte. «Die Vorstellung»,
schreibt er dann, «dass mithilfe von Beamten oder Vorschriften richtige und gerechte Preise festgelegt werden könnten,
ist unausrottbar.» Skeptisch gibt er sich
auch gegenüber Versuchen, mit steuerlichen Massnahmen ein gewünschtes Verhalten herbeizuführen.
Und deutlich wird der ehemalige Genosse, wenn es um die progressive Besteuerung nach dem Motto von Jean
Baptiste Colbert, Finanzminister unter
Ludwig XIV., geht: «Die Kunst der Besteuerung besteht darin, die Gans so zu
rupfen, dass man möglichst viel Federn
bei möglichst wenig Geschrei erhält.»
«Denn», so Schiltknecht, «eine übermässige Umverteilung führt zu einer Verlangsamung des Wirtschaftswachstums
und zu einer höheren Arbeitslosigkeit.»
Bei solch hektischen Aktivitäten spürt
man förmlich, was Schiltknecht in seinem Innersten empfindet: dass nämlich
Politiker ihr Wissen oft gewaltig überschätzen. Sein Wort in unser Ohr! ●
Das amerikanische Buch Ethel Payne, «First Lady» der schwarzen Presse
«Agitieren, agitieren, agitieren!» Mit
diesem Motto beschrieb Ethel Payne
(1911–1991) am Ende einer historischen
Laufbahn ihr Selbstverständnis als
afroamerikanische Journalistin. Geprägt hatte die Parole der geflohene
Sklave und Bürgerrechtler Frederick
Douglass im 19. Jahrhundert. Hundert
Jahre später begleitete Payne die
Kämpfe der schwarzen Amerikaner um
Gleichberechtigung und Anerkennung
von dem Bus-Boykott 1955 in Montgomery, Alabama, bis zu Jesse Jacksons
Präsidentschaftsbewerbung 1988. Wie
James McGrath Morris in seiner vielbeachteten Biografie Eye on the Struggle.
terin» verstand sie sich explizit nicht.
Auf Mediengeschichte spezialisiert,
zeigt Morris seine Qualität als Biograf,
indem er auch die negativen Folgen
dieser Haltung Paynes aufzeigt: Um die
moralischen Fundamente ihrer Agenda
zu schützen, ignorierte sie die Schwächen und Fehler schwarzer Leader von
Jesse Jackson bis zu dem kongolesischen Diktator Mobutu.
gen über die Situation schwarzer Soldaten und deren Kinder mit Japanerinnen
wurden 1949 vom «Chicago Defender»
abgedruckt und sorgten für enormes
Aufsehen. Das damals bedeutendste
Organ der schwarzen Presse in den USA
stellte Payne an und sandte die fleissige
und ehrgeizige Schreiberin bald darauf
als Korrespondentin nach Washington.
Gleichwohl war Payne keine engstirnige Person. Während sie als Symbol
schwarzer Errungenschaften mit Ehrungen überhäuft wurde, machten ihr
magere Gehälter noch die letzten Lebensjahre schwer. Dennoch war Payne
Freunden und Verwandten gegenüber
stets grosszügig. Speziell jungen Afroamerikanerinnen half sie mit ihrem
Netzwerk von Kontakten bei der Karriere. Zudem erkannte Payne nach
ihrer Reportagereise zu der BandungKonferenz der blockfreien Staaten im
April 1955 die Bedeutung von Befreiungsbewegungen der Dritten Welt für
die Kämpfe der Schwarzen in den USA.
So unternahm sie etwa in der Pressebegleitung von Aussenminister Henry
Kissinger viele Reisen nach Afrika.
Dort fiel Payne durch bohrende Fragen
zur Rassenpolitik der Eisenhower-Regierung auf, die ihr den Unmut von
«Ike» persönlich einbrachten. Laut Morris hat die Reporterin diese Fragen mit
dem Cheflobbyisten der Bürgerrechtsorganisation NAACP entwickelt. Payne
erklärte später, sie sei als Schwarze
selbst «Teil des Rassenproblems» und
schulde ihren Lesern einen engagierten,
für Gleichberechtigung agitierenden
Journalismus. Als «objektive Beobach-
Ihre grösste Leistung bestand laut Morris jedoch darin, dass sie und andere
«Agitatoren» die schwarze Presse überflüssig gemacht haben. Dank Pionieren
wie Payne entdeckten grosse Zeitungen, Radio und Fernsehen in den USA
ihre schwarzen Mitbürger als Thema,
Leser und Anzeigenkunden – aber auch
als talentierte Schreiber und Redaktoren. So leiten Paynes Nachfolger heute
die «New York Times». ●
Von Andreas Mink
Ethel Payne, the First Lady of the Black
Press (480 Seiten, Amistad Press – Harper Collins, Februar 2015) schildert,
hatte die Reporterin des «Chicago Defender» ein scharfes Auge für Neuigkeiten. So erkannte Payne sehr früh die
wachsende Bedeutung von Klerikern
wie Martin Luther King jr. für die anhin
von schwarzen Gewerkschaftern und
Aktivisten aus dem Norden dominierte
Bürgerrechtsbewegung.
In diesem Milieu war die Enkelin von
Sklaven in ihrer Heimatstadt Chicago
vor dem Zweiten Weltkrieg engagiert.
Eine professionelle Journalistin wurde
die früh als Schreibtalent erkannte
Payne erst als 40-Jährige. Als Frau und
Schwarze erschwerte ihr ein institutioneller Rassismus den Zugang zu einem
Studium. Stellen als Bibliothekarin und
Lehrerin an einer Anstalt für schwer erziehbare Mädchen liessen sie unbefriedigt. Erst ein zweijähriger Japan-Aufenthalt als Truppenbetreuerin lieferte
Payne die Chance für den Sprung in
den Journalismus. Ihre Aufzeichnun26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. März 2015
Von 1955 bis 1988
begleitete Ethel
Payne die Kämpfe
der Schwarzen um
Gleichberechtigung.
Hier mit einem
Soldaten in Vietnam
1967.
Autor James McGrath
Morris (unten).
Agenda
Musik als Bild Schweizer Rock in der Kunst
Agenda April 2015
Basel
Mittwoch, 8. April, 19 Uhr
Sherko Fatah: Der letzte Ort. Lesung,
Fr. 17.–. Literaturhaus, Barfüssergasse 3.
Info: Tel. 061 261 29 50.
Samstag, 11. April, 15 Uhr
Lisa Elsässer: Feuer ist eine seltsame
Sache. Lesung. Galerie Mäder, Claragraben 45. Tel. 061 691 89 47.
Mittwoch, 22. April, 20 Uhr
Alfred Bodenheimer: Das Ende vom Lied.
Lesung, Fr. 15.–. Thalia, Freie Strasse 32.
Vorverkauf: Tel. 061 264 26 55.
Bern
Mittwoch, 8., bis Samstag, 11. April
Aprillen, das Berner Lesefest im Schlachthaus. Mit Klaus Merz, Trix Niederhauser,
Melinda Nadj Abonji u.a. Festivalpass
Fr. 90.–. Schlachthaus. Rathausgasse 20.
Info: www.aprillen.ch.
Mit diesem schwergewichtigen Buch vollendet der
Herausgeber Lurker Grand seine Trilogie zur Rockmusik
in der Schweiz, die 2006 mit «Hot Love – Swiss Punk &
Wave 1976–1980» anhob und 2012 mit «Heute und danach – The Swiss Underground Music Scene of the 80s»
ihre Fortsetzung fand. Im abschliessenden, «Die Not hat
ein Ende» betitelten Band geht es dem Autor in erster
Linie um die Visualisierung der Rockmusik in der
Schweiz. Er hat unzählige Album-Covers, Konzertplakate, Flugblätter, Fanzines, Comics und Fotografien
gesammelt. Sie erzählen die Geschichte einer so faszi-
nierenden wie provokativen Subkultur, von einer anarchischen Avantgarde, die bis in unsere Gegenwart
weiterwirkt. Der Musikjournalist und Sammler Samuel
Mumenthaler bereichert das Werk mit substanziellen
Überlegungen; auch die Beiträge von Roland Fischbacher und Robert Lzicar sind lesenswert. Unsere Abbildung zeigt Plakate von Märt Infanger (2011) und
Beat-Man (1996). Manfred Papst
Lurker Grand, Samuel Mumenthaler: Die Not hat ein
Ende. The Swiss Art of Rock. Edition Patrick Frey,
Zürich 2015. 500 Seiten, Fr. 89.90.
Bestseller März 2015
Belletristik
Sachbuch
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
Martin Suter: Montecristo.
Diogenes. 320 Seiten, Fr. 33.90.
Milena Moser: Das Glück sieht immer anders aus.
Nagel & Kimche. 224 Seiten, Fr. 27.90.
Ian McEwan: Kindeswohl.
Diogenes. 224 Seiten, Fr. 29.90.
Cecelia Ahern: Das Jahr, in dem ich dich traf.
Fischer Krüger. 384 Seiten, Fr. 19.45.
Michel Houellebecq: Unterwerfung.
Dumont. 272 Seiten, Fr. 28.80.
Lori Nelson Spielman: Morgen kommt ein neuer
Himmel. Fischer Krüger. 368 Seiten, Fr. 19.45.
Sibylle Berg: Der Tag, als meine Frau einen Mann
fand. Hanser. 256 Seiten, Fr. 24.55.
Lucinda Riley: Die sieben Schwestern.
Goldmann. 544 Seiten, Fr. 29.90.
T. C. Boyle: Hart auf hart.
Hanser. 395 Seiten, Fr. 28.80.
John Grisham: Anklage.
Heyne. 512 Seiten, Fr. 33.90.
Karoline Arn: Elisabeth de Meuron von
Tscharner. Zytglogge. 320 Seiten, Fr. 36.90.
Giulia Enders: Darm mit Charme.
Ullstein. 288 Seiten, Fr. 22.85.
Wilhelm Schmid: Gelassenheit.
Insel. 118 Seiten, Fr. 10.95.
Pascal Voggenhuber: Zünde dein inneres Licht
an. Giger. 160 Seiten, Fr. 37.90.
Martin Werlen: Heute im Blick.
Herder. 192 Seiten, Fr. 23.90.
Duden. Die deutsche Rechtschreibung. 26. Aufl.
Bibliogr. Institut. 1216 Seiten, Fr. 32.20.
Guido M. Kretschmer: Eine Bluse macht noch
keinen Sommer. Edel. 288 Seiten, Fr. 23.70.
Benjamin Behnke, Kai Daniel Du: Trick 17 –
365 Alltagskniffe. Frech. 400 Seiten, Fr. 27.90.
Guinness World Records 2015.
Hoffmann und Campe. 256 Seiten, Fr. 25.40.
Hape Kerkeling: Der Junge muss an die frische
Luft. Piper. 320 Seiten, Fr. 24.55.
Erhebung Media Control® AG im Auftrag des SBVV; 17.3.2015. Preise laut Angaben von www.buch.ch.
Mittwoch, 22. April, 20 Uhr
Christian Schmid: «Näbenusse». Lesung,
Gratistickets im Vorverkauf. Stauffacher
Buchhandlungen, Neuengasse 25/37.
Info: Tel. 031 313 63 63.
Freitag, 24. April, 20 Uhr
Xiaolu Guo: Ich bin China.
Gespräch im Hotel Schweizerhof, Fr. 25.–. Vorverkauf
Stauffacher Buchhandlungen (siehe oben).
Zürich
Mittwoch, 1. April, 20 Uhr
Silvio Blatter: Wir zählen unsere Tage
nicht. Lesung, Fr. 25.–. Kaufleuten. Pelikanplatz 18. Karten: Tel. 044 225 33 77.
Dienstag, 7. April, 19.30 Uhr
Viktor Martinowitsch: Paranoia. Lesung,
Fr. 18.– inklusive Apéro. Literaturhaus,
Limmatquai 62. Info: Tel. 044 254 50 08.
Dienstag, 14. April, 20 Uhr
Peer Steinbrück:
Vertagte Zukunft.
Lesung, Fr. 28.–.
Kaufleuten (s. oben).
Donnerstag, 16. April, 19.30 Uhr
Iris Hanika: Wie der Müll geordnet wird.
Lesung, Fr. 18.–. Literaturhaus (s. oben).
Donnerstag, 16. April, 20 Uhr
Kurt Brandenberger: Marco Camenisch –
Lebenslänglich im Widerstand. Lesung,
Fr. 25.–. Theater Neumarkt, Neumarkt 5.
Karten: www.theaterneumarkt.ch.
Mittwoch, 22. April, 19.30 Uhr
Willi Wottreng: Lydia Welti-Escher –
Lady Shiva – Lülü. Lesung. PestalozziBibliothek Altstetten, Lindenplatz 4.
Bücher am Sonntag Nr. 4
erscheint am 26.4.2015
Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am
Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60
oder E-Mail [email protected]. Oder sind
– solange Vorrat – beim Kundendienst der NZZ,
Falkenstrasse 11, 8001 Zürich, erhältlich.
29. März 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27
Es geschah
am hellichten
Sonntag
Sie langweilten sich schrecklich. Dagegen helfen nur
10 Klassiker der Kriminalliteratur, zusammengefasst
auf 16 Seiten. Vom 29. März bis 31. Mai 2015 exklusiv
in der «NZZ am Sonntag» als kostenlose Beilage.
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<wm>10CFWKMQ6AIBAEX3Rk75YDkdLQEQtjT2Os_X9lsLOYZGczvVcP-NjafrajevGikkGjTgmWU13MAmKu8zWor5oYlbHg1wu0JIJjNgKKcWgSfgMZ4bnuF0S4xXdyAAAA</wm>
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Ausgabe Nr. 9
Ausgabe Nr. 10
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Der Doppelmord
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Die Frau in Weiss
Kompakt
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Der Hund von
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Dashiell Hammett
Der Malteser Falke
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Agatha Christie
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Orientexpress
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Namen und Adresse an
Nr. 880 (20 Rp./SMS) oder
unter nzz.ch/klassiker58
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Friedrich Glauser
Matto regiert
Kompakt
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Kompakt
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Raymond Chandler
Der grosse Schlaf
Patricia Highsmith
Der talentierte
Mr. Ripley
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Friedrich Dürrenmatt
Das Versprechen
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Truman Capote
Kaltblütig