Nr. 3 | 29. März 2015 NZZ am Sonntag Judas Amos Oz über Verrat in allen Variationen 4 Silvio Blatter Wir zählen unsere Tage nicht 6 Buchklubs Steigendes Interesse an Lesezirkeln 12 Marthe Gosteli Vorkämpferin des Frauenstimmrechts 16 Bücher am Sonntag Schweizer Geschichte Neu Neu Ein Volkskunde-Buch der Sonderklasse: Die Kulturgeschichte und kl Zur Zu Stärkung der Geistigen Landesverteidigung hörte der Aufklärungsve zugleich Regionalgeschichte des zu dienst dem Volk genau zu. Jetzt sind di Luzerner Mosts mit seinen heute Lu einige Hundert von Zehntausenden e umgenutzten Mostereien und den um dieser Rapporte einer breiten Leserdi bis zu 20 000 Obstbäumen in Megbi schaft zugänglich. Mit kritischen sc gen. Ein Muss für alle Geniesserge Erläuterungen des Autors. Er innen und Geniesser. in Jürg Schoch Heiri Scherer (Hrsg.) «Mit Aug’ und Ohr für’s Vaterland» Most Der Schweizer Aufklärungsdienst Kultur, Architektur, Kulinarik – von Heer & Haus im Zweiten das Erbe vom Vierwaldstättersee. Weltkrieg 2015. 216 S., 160 Abb., gebunden 2015. 352 S., 50 Abb., gebunden. Fr. 48.– / € 48.– Fr. 48.– / € 48.– <wm>10CAsNsja1NLU01DU3MLI0tQAAqx8FOw8AAAA=</wm> <wm>10CFWKMQ6DMBAEX3TW7h7nw7iM6FCKiN4Noub_VQJdihlppNm2HgUPr_W9r58eLRotoRbzHUVZ-ywVTNnhTIGx0CnKVf9-A1t1-Lgfgxtz8GfahOFV5TrOL0p6ty9yAAAA</wm> Neu Die Radionachrichten um 12.30 Uhr Di sind für Generationen ein Fixpunkt s Neu Mehr Me als 100 Jahre lang kämpften die Frauen für ihre politischen di des Tages. Kurt Witschi war jahrede Rechte. Mit ihrem Sieg 1971 an Re lang verantwortlich für die Sendunlan der Urne schrieben sie Geschichte. de gen. In diesem Buch zeichnet er ge Nur ignorierten diese die Historiker Nu die di Entwicklung der Nachrichten bis heute. bi im Rundfunk während der letzten 90 Jahren nach. Franziska Rogger «Gebt den Schweizerinnen ihre #Schweiz#Geschichte Kurt Witschi Geschichte!» Die Zeit: 12.30 Uhr Marthe Gosteli, ihr Archiv 90 Jahre Nachrichten im und der übersehene Kampf ums Schweizer Radio Frauenstimmrecht 2015. 232 S., 40 Abb., gebunden 2015. 396 S., 132 Abb., gebunden Fr. 38.– / € 38.– Fr. 48.– / € 48.– nzz-libro.ch Inhalt Lustvoller Streit um literarisches Kopfkino Nr. 3 | 29. März 2015 NZZ am Sonntag Judas Amos Oz über Verrat in allen Variationen 4 Silvio Blatter Wir zählen unsere Tage nicht 6 Buchklubs Steigendes Interesse an Lesezirkeln 12 Marthe Gosteli Vorkämpferin des Frauenstimmrechts 16 Bücher am Sonntag Amos Oz (S. 4). Illustration von André Carrilho «Uff», notiert eine Mitleserin in der Schlussrunde zu Sibylle Bergs neuem Roman «Der Tag, als meine Frau einen Mann fand». Es war das kürzestmögliche Fazit einer «frisch verliebten Mitdreissigerin», wie sie sich selbst bezeichnet. Sie habe mit dem Buch ihre liebe Mühe gehabt, besonders mit dem teils schroffen Stil, der polarisiere. Anderseits, so die Bloggerin, die seit vier Jahren im Twitter-Lesezirkel @tw_lesezirkel über ihre Lektüre schreibt, schaffe es Berg, Szenarien zu entwickeln, «dass das Kopfkino nach zwei Sätzen schon anspringt» und man die Bilder kaum vergesse. Was im 18. Jahrhundert der französische Salon war und im 19. das Lesekabinett, ist heute der Frauen-Literaturclub, die «book group» oder eben der TwitterLesezirkel. Lesen Sie dazu den vergnüglichen Reisebericht von Kathrin Meier-Rust durch Schweizer Lesegruppen (Seite 12). Kopfkino könnten auch der Roman «Judas» von Amos Oz (S. 4), Thomas Brussigs Schelmengeschichte über die fortlebende DDR (S. 10) oder die Biografie «Rilke und die Frauen» (S. 18) bieten. Und natürlich diese Relativsatz-Bücher, die Charles Lewinsky, wie immer glänzend, aufs Korn nimmt (S. 15). Übrigens: Relativsatz-Titel werden häufiger. Neben jenem von Sibylle Berg und den von Charles Lewinsky erwähnten finden sich in der vorliegenden Ausgabe zwei weitere. Da Ostern vor der Tür steht: Viel Spass bei der Titelsuche! Urs Rauber Belletristik Amos Oz: Judas Von Susanne Schanda 6 Silvio Blatter: Wir zählen unsere Tage nicht Von Martin Zingg 8 Jochen Beyse: Lawrence und wir Von Bruno Steiger Werner Spiess: Archiv der Träume Von Gerhard Mack 9 Eugène Dabit: Hotel du Nord Von Angelika Overath Alain Monnier: Die wunderbare Welt des Kühlschranks in Zeiten mangelnder Liebe Von Stefana Sabin 10 Thomas Brussig: Das gibt’s in keinem Russenfilm Von Klara Obermüller 11 Mascha Kaléko: «Liebst du mich eigentlich?» Von Charles Linsmayer Kurzkritiken Belletristik 11 Saphia Azzeddine: Mein Vater ist Putzfrau Von Regula Freuler Frank Schablewski: Havarie Von Manfred Papst Tex Rubinowitz: Irma Von Regula Freuler Jeffrey Yang: Yennecott Von Manfred Papst Reportage 12 Das musst Du lesen! Kathrin Meier-Rust erkundet das Phänomen und hat dazu mehrere Lesezirkel in der Schweiz besucht Kolumne 15 Charles Lewinsky Das Zitat von Arthur Schopenhauer SCHWEIZERISCHE NATIONALBIBLIOTHEK 4 1968 treten die Gegner des Frauenstimmrechts mit diesem Abstimmungsplakat an (S. 16). Kurzkritiken Sachbuch 15 Angelika Ramer: Osorno Feuer Von Urs Rauber Max Meyer: Köbi Siber Von Kathrin Meier-Rust Claudia Starke, Thomas Hess, Nadja Belviso: Das Patchwork Buch Von Kathrin Meier-Rust Martin Windrow: Die Eule, die gern aus dem Wasserhahn trank Von Geneviève Lüscher Sachbuch 16 Franziska Rogger: «Gebt den Schweizerinnen ihre Geschichte» Von Kathrin Alder 18 Heimo Schwilk: Rilke und die Frauen Von Claudia Schumacher 19 Orlando Figes: Hundert Jahre Revolution Von Victor Mauer 20 Raymond Beutler, Andreas Gerth: Naturerbe der Schweiz Von Sarah Fasolin Matthias Politycki: 42,195 Von Remo Geisser 21 Walter Mischel: Der Marshmallow-Test Von Michael Holmes 22 Conchita Wurst: Ich, Conchita Von Malena Ruder Rolf Hosfeld: Tod in der Wüste Von Geneviève Lüscher 23 JürgSchoch:MitAug’undOhrfürsVaterland Von Thomas Zaugg Kim Wilson: Auf den Spuren von Jane Austen Von Geneviève Lüscher 24 Maria Antas: Wisch und weg Von Berthold Merkle Ronja von Wurmb-Seibel: Ausgerechnet Kabul Von Victor Merten Corinne Rufli: Seit dieser Nacht war ich wie verzaubert Von Gordana Mijuk 25 Otfried Höffe: Kritik der Freiheit Von Manfred Koch 26 Kurt Schiltknecht: Wohlstand – kein Zufall Von Urs Rauber Das amerikanische Buch James McGrath Morris: Eye on the Struggle. Ethel Payne, the First Lady of the Black Press Von Andreas Mink Agenda 27 L. Grand, S. Mumenthaler: Die Not hat ein Ende Von Manfred Papst Bestseller März 2015 Belletristik und Sachbuch Agenda April 2015 Veranstaltungshinweise Chefredaktion Felix E.Müller (fem.) Redaktion Urs Rauber (ura., Leitung), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.) Ständige Mitarbeit Urs Altermatt, Urs Bitterli, Hildegard Elisabeth Keller, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Sandra Leis, Charles Lewinsky, Andreas Mink, Klara Obermüller, Angelika Overath, Martin Zingg Produktion Eveline Roth, Hanspeter Hösli (Art Director), Susanne Meures (Bildredaktion), Raffaela Breda (Layout), Korrektorat St.Galler Tagblatt AG Verlag NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich, Telefon 0442581111, Fax 0442617070, E-Mail: [email protected] 29. März 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3 Belletristik Roman In seinem jüngsten Roman erzählt der israelische Schriftsteller Amos Oz eine Entwicklungsgeschichte zum Thema Verrat in allen Variationen – ein Buch voller Liebe und Schmerz DurchsTalder TränenindieWüste Amos Oz: Judas. Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler. Suhrkamp, Berlin 2015. 335 S., Fr. 33.90, E-Book 25.–. Von Susanne Schanda Dieser Roman beginnt wie ein Wintermärchen und endet mit einem Anfang: «Er stand da und überlegte.» Doch der Reihe nach. Hauptfigur des jüngsten Romans von Amos Oz ist ein unansehnlicher, empfindsamer, zu Tränen und langen Vorträgen neigender 25-jähriger Student mit gekraustem Barthaar wie Stahlwolle und einer Schapka, einer russischen Fellmütze, auf dem Kopf; ein unglücklich Liebender, ein Asthmatiker, Sozialist und Atheist, der eine Arbeit über «Jesus in der Perspektive der Juden» schreibt. Seine Helden, die er auf Postern an den Wänden seines Zimmers aufmacht, sind bärtig wie er selbst, Che Guevara, die Brüder Castro und der Gekreuzigte in den Armen seiner Mutter. Es ist Anfang Dezember 1959 in der seit zehn Jahren geteilten Stadt Jerusalem. Schmuel Asch ist gerade von seiner Freundin verlassen worden und verzweifelt an seiner Forschungsarbeit. Als seine Eltern ihm aus Haifa schreiben, dass sie sein Studium nicht länger finanzieren können, beschliesst er, Jerusalem zu verlassen. Doch der Aufbruch verzögert sich, als er am Anschlagbrett der Uni eine Anzeige entdeckt, in der ein Student der Geisteswissenschaft gesucht wird, der einem alten behinderten Mann jeden Abend fünf Stunden für Gespräche zur Verfügung stehen und dafür eine kleine Entschädigung, Kost und Logis erhalten soll. Kurz entschlossen zieht er ein ins Haus und in die Welt von Gerschom Wald und dessen verwitweter Schwiegertochter Atalja. In der schönen, geheimnisvollen Frau, die fast doppelt so alt ist wie er, findet Schmuel ein Objekt der Sehnsucht und Begierde, in dem alten Spötter einen herausfordernden Gesprächspartner für seine Jesus-Judas-Thematik. 4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. März 2015 Amos Oz, der nach zahlreichen internationalen Auszeichnungen kürzlich den Siegfried-Lenz-Preis erhalten hat, ist wohl der wichtigste zeitgenössische Autor Israels und engagiert sich seit Jahrzehnten für einen Frieden im Nahen Osten. Ein Schriftsteller von Weltformat ist Amos Oz, weil er es versteht, die historischen Prozesse und grossen Fragen der Menschheit in den Seelen, Körpern und Gesichtern von einzelnen Figuren darzustellen. In seinem autobiografischen Opus magnum «Eine Geschichte von Liebe und Finsternis» hat der 1939 in Jerusalem geborene Autor von seiner aus Osteuropa nach Palästina eingewanderten Familie auf dem Hintergrund der britischen Mandatszeit und Staatsgründung Israels erzählt – mit dem Suizid der Mutter als prägendem Schock für den damals 12-Jährigen. Biblischer Urverräter Judas In «Judas» geht es um Verrat. Um den biblischen Urverräter. Schmuel Asch kritisiert in seiner Arbeit die christliche Überlieferung, die Judas als Verräter von Jesus darstellt. Judas sei dadurch zum Archetypus des Verräters geworden, ja zum Archetypus des Juden. Im Neuen Testament weist Schmuel Ungereimtheiten nach. So sei Judas ein wohlhabender und gebildeter Mann gewesen, der keine dreissig Silberlinge brauchte. Und wer sollte denn etwas zahlen für den Verrat an einem Mann, den in Jerusalem alle kannten? Judas Ischariot sei vielmehr der treueste Anhänger Jesu gewesen, der bis zuletzt an dessen Göttlichkeit geglaubt und zur Beweisführung die Kreuzigung in Jerusalem organisiert habe. Als Jesus starb, sei für Judas sein Lebenswerk zerbrochen, worauf er sich erhängt habe. Judas sei in Wirklichkeit der erste Christ, ohne den es keine Kreuzigung und somit gar kein Christentum gegeben hätte. Diese Ansichten sind nicht neu. Der Autor Amos Oz, der für sein friedenspolitisches Engagement wiederholt ange- griffen und als Verräter bezichtigt worden ist, stützt sich hier auf einschlägige Forschungsliteratur, zu der auch sein Grossonkel einen Beitrag geleistet hat: Joseph Gedalja Klausner, ein früher Zionist, hat mit seiner These, dass Jesus ein jüdischer Reformer gewesen und als überzeugter Jude gestorben sei, heftige Kritik ausgelöst – bei Juden ebenso wie bei Christen. Im Roman wird Verrat in unterschiedlichsten Variationen thematisiert und hinterfragt. Während Schmuel sich von seiner Geliebten verraten fühlt, sind es in der Weltpolitik die Erneuerer und Querdenker wie Lincoln in den USA, Sadat in der arabischen Welt und Gorbatschow in der Sowjetunion, die als Verräter denunziert wurden. In den Gesprächen erfährt Schmuel von Gerschom, dass Ataljas verstorbener Vater sich als einziger jüdischer Politiker gegen die Idee eines jüdischen Staates gestellt hatte. Für die revolutionäre Idee, sich mit den Arabern zu verbünden und mit ihnen zusammen die Briten aus dem Land zu werfen, war er als Araberfreund und Verräter beschimpft und von Ben Gurion entlassen worden. Nun ist es Schmuel, der die israelische Politik kritisiert und Gerschom widerspricht: «Mit dem Sinai-Feldzug hat Ihr Ben Gurion Israel zwei Kolonialmächten an den Schwanz gehängt, die zum Untergang verurteilt sind, Frankreich und England, und damit hat er den Hass der Araber auf Israel verstärkt und die Araber endgültig davon überzeugt, dass Israel ein Fremdkörper in dieser Region ist, ein Werkzeug des internationalen Imperialismus.» Voll Leidenschaft hält er dem alten Mann vor, dass keine militärische Macht der Welt einen Feind in einen Freund verwandeln könne; dass dies das existenzielle Problem Israels sei. Hinter den politischen Debatten kommt nur zögerlich die persönliche Tragödie zur Sprache, die Gerschom und Atalja verbindet. Micha war der einzige Sohn Gerschoms und ist im arabisch-israelischen Krieg, an dem er unbedingt teilnehmen wollte, 1948 gefallen; der Mann, mit dem Atalja ein Jahr verheiratet war und seit dessen Tod sie nicht mehr lieben kann. Den ganzen Winter verbringt Schmuel in dem von Schmerz und Trauer imprägnierten Haus. Dann teilt ihm Atalja eines Tages mit, dass es Zeit für ihn sei, zu gehen; sonst werde er noch versteinern wie sie selbst und ihr Schwiegervater. Er packt seinen Seesack und bricht auf Richtung Wüste, wo eine neue Stadt gebaut werden soll. Ein soziales Projekt der Stiftung Tosam www.tosam.ch Bei aller Tragik, Düsternis und Schwere wird dieser Roman immer wieder von einer merkwürdigen Heiterkeit gestreift. Das hat viel mit der liebevoll-spöttischen Zeichnung des Protagonisten zu tun. Etwa wenn Schmuel anfangs durch die verregneten Strassen Jerusalems streunt wie «ein schwindliger Bär, den man aus seinem Winterschlaf gerissen hatte»; oder wenn er träumt, dass Stalin ihn einen Judas schimpft. Oder wenn Gerschom Schmuel mitfühlend fragt: «Haben Sie, abgesehen von Ihrer Schwes- GETTYIMAGES Merkwürdig heiter Jüdische Familie beim Laubhüttenfest in der geteilten Stadt Jerusalem, um 1955, der Zeit, in der Amos Oz’ Roman spielt. ter und abgesehen von Lenin und Jesus, keinen anderen auf der Welt, der Ihnen nahesteht?» Manchmal drohen die Gespräche zwischen dem Studenten und dem alten, vom Leben gezeichneten Mann sich zu verselbständigen, und die Engführung der Judas-Thematik mit der Weltpolitik und der Geschichte Israels erscheint etwas forciert. Die stärksten Momente <wm>10CAsNsjY0MDAx1TUysjQwNQAA185kLA8AAAA=</wm> <wm>10CFXKoQ6AMAxF0S_q8l5LR8okmVsQBD9D0Py_YuAQ15zc1oonfK11O-peCEwuqgEfHp40rDAsaWaBkQr6QroysvL3C4YZrL-PwITspDhFrdPndJ_XAxErbe1yAAAA</wm> hat der Roman, wenn er ganz nah an seinem Protagonisten ist, dessen schüchterne Annäherungsversuche an Atalja schildert, sein Erröten, Schwitzen und seine Atemnot, sein Feuer beim Diskutieren mit dem Alten. Wie Schmuel in der winterlichen Abgeschiedenheit einen Reifungsprozess durchmacht, der ihn von Illusionen und Abhängigkeiten befreit, das tut weh – auch beim Lesen. l Über 45 000 bÜcher aus zweiter hand! Grösster Onlineshop der Schweiz Kontakt: [email protected] http://facebook.com/buchplanet.ch http://blog.buchplanet.ch http://www.twitter.com/buchplanet 29. März 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5 Belletristik Roman Der Zürcher Autor Silvio Blatter legt eine Generationenerzählung vor, die unspektakulär, doch eindringlich verschiedene Lebensentwürfe verhandelt Kühner Aufbruch an der Schwelle Silvio Blatter: Wir zählen unsere Tage nicht. Piper, München 2015. 291 Seiten, Fr. 29.90, E-Book 18.–. Von Martin Zingg Das Alter, hört man immer häufiger, sei eine grausame Angelegenheit. Philip Roth etwa, der amerikanische Romancier, sprach einmal vom Alter als einem «Massaker», andere wiederum meinen, es sei «nichts für Feiglinge». Leicht muss es wohl nicht sein, das zu betreten, was als «Alter» gilt – einmal abgesehen davon, dass es heute auch nicht mehr einfach ist, genau zu bestimmen, wo der Beginn des Alters überhaupt liegt. Sind Isa und Severin Lerch alte Menschen? Sie sind beide knapp über sechzig, und beide sind sie erfolgreich in ihren jahrzehntelang geübten Disziplinen: Isa ist eine gefeierte, äusserst beliebte Radiomoderatorin, Severin ist ein anerkannter Bildhauer mit einem imposanten Werk. Sie haben zwei Kinder, Sandra und Matthias, sowie zwei Enkelkinder, Lucie und Lars. Obschon sie unterschiedlichen Tagesrhythmen und Interessen folgen, sind Isa und Severin über all die Jahre zusammengeblieben. Isa ist viel unterwegs, sie moderiert Sendungen, trifft sich mit Menschen, geht einmal in der Woche mit ihrer Tochter schwimmen und liebt es, Kleider zu kaufen. Ihre beiden Kinder haben die Stimme ihrer Mutter seinerzeit öfter am Radio gehört als an der Bettkante. Severin wiederum ist gerne allein. Sein Atelierhaus hat er in einer aufgegebenen Kiesgrube, seit Jahrzehnten schon, und dort hält er auch einen Hund, den seine Frau nicht im gemeinsamen Haus haben will. Beziehungsgeschichten Das Personal von Silvio Blatters jüngstem Roman «Wir zählen unsere Tage nicht» scheint auf den ersten Blick weitgehend zufrieden. Sandra Lerch ist mit Rainer Flimm verheiratet, der als Geschäftsführer bei «Tonis Autowelt» arbeitet, einer Firma, die Fahrzeuge abwrackt. Sie selber betreibt mit «In & out» nebenher ein Antiquitätengeschäft, das gut läuft, und betreut den Sohn Lars. Ihr Bruder Matthias Lerch gibt ziemlich erfolgreich Kurse für Führungskräfte, Motto «Ohne Führung macht jeder, was er Isa Lerch im neuen Roman von Silvio Blatter soll ihren Platz am www.rowohlt-berlin.de <wm>10CAsNsja1NLU01DU3MDIzNgMAF9K7gQ8AAAA=</wm> Eine Frau, ein Haus und der Wald. Doris Knechts fesselnder Roman über Verlust und Neuanfang. 6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. März 2015 © Alexander Sehrbrock; shutterstock.com <wm>10CFXKoQ6AMAxF0S_q0tfSbmWSzC0Igp8haP5fkeEQV9zk9F4t8dfW9rMd1cIClFlcfU6S7FUjkherrAhh2AqILaJWfp4Y4co6piFWQgyAZCGRoebpue4XUy8YnXIAAAA=</wm> zum Alter will». Im Privatleben will er von Sprüchen dieses bescheidenen Kalibers allerdings nicht viel wissen. Mit Amelie, einer ambitionierten Sportlerin, hat er eine Tochter, Lucie. Lange sind die drei aber nicht zusammen, denn Amelie, die mehr an ihrem Sportclub hängt als an ihrem Partner, verlässt ihn schon bald mitsamt der Tochter. In kreisenden, gleichsam mahlenden Erzählbewegungen führt Silvio Blatter vor, wie die Familien ihren Alltag bewältigen. Nach und nach, in kleinen, präzis konturierten Häppchen, in Vor- und Rückblenden erfahren wir mehr aus dem Leben der Protagonisten. Und bald keimt der Verdacht, dass bei Lerchs und Flimms nicht alles zum Besten steht. Isa zum Beispiel ringt damit, dass sie ihren Platz am Radiomikrofon räumen soll, obschon sie beim Publikum so gut ankommt. Ihre Nachfolgerin steht schon bereit – und recherchiert ausgerechnet für eine Dokumentarsendung über ihre Vorgängerin. Und Severin klagt über eine «Krise der Skulptur» und muss erleben, wie seine Holzskulpturen in der abgelegenen Kiesgrube nächtlicherweise von «PaintballKriegern» bespritzt und beschädigt wer- Wir alle sind doch Lerchs Ist die Zeit von Isa und Severin Lerch nun doch vorbei? Vierzig Jahre lang ist alles gut gegangen, vierzig Jahre könnten genug sein. Noch sträuben sie sich aber dagegen, das Feld zu räumen. Severin, als er sein Atelier wegen eines geplanten Baggersees räumen soll, stellt sich lautstark quer, und Isa sieht sich bereits nach einem privaten Sender um, der sie nach ihrer Pensionierung weiterbeschäftigen könnte. Zwei, die ins Alter gekommen sind und nicht aufhören können, die nie genug haben, so sieht es aus. Aber den beiden Kindern, die doch jünger sind, geht es nicht viel besser, im Gegenteil. Matthias hat beruflich Erfolge, ist aber mit wachsender Verzweiflung hinter einer jungen Frau her, die von ihrer kosovarischen Sippe abgeschirmt wird. Und Sandra, inzwischen vierzig Jahre alt, kommt per Zufall dahinter, dass ihr Mann sie betrogen hat – mit Bar- bara, einer quirligen Frau, die kurzzeitig an den Grünliberalen interessiert war, für die Rainer bei den nächsten Wahlen kandidieren möchte. Spielt es eine Rolle, wo dieser Roman spielt? Irgendwo auf dem Lande. Der Ortsname, der einmal genannt wird, tut nichts zur Sache. Mit Stadt-Land-Gefälle hat kaum zu tun, was in diesem Roman alles passiert, wohl aber mit unterschiedlichen Lebensgefühlen. Isa und Severin Lerch nämlich, die «Alten», werden am Ende eine Lebensentscheidung treffen, die weitaus kühner ist als alles, was ihre Kinder an Lebensentwürfen je zu formulieren gewagt haben. Wie nebenbei blamieren sie jene Vorstellungen, die gerne mit älter werdenden Menschen verknüpft werden – und lassen die Tochter beim Ehetherapeuten zurück und den Sohn bei einer ziemlich dumpf wirkenden Brautschau. Silvio Blatter erzählt das alles in einem mit Absicht gedämpften Tonfall, ohne entlastende Pointen anzusteuern, mit sorgfältig gezirkelten Schnitten – und legt damit so manches frei von dem, was nicht nur Lerchs und Flimms verbergen müssen, um funktionieren zu können. l Foto: © Alberto Venzago Foto: © Richard Dubois Foto: © Bernard van Dierendonck * unverb. Preisempfehlung Mikrofon räumen . den. Es sind dieselben, mit denen sich Severin später in einer blutigen Nacht handfest anlegen wird und die ihn dann endgültig aus seinem Paradies vertreiben werden. <wm>10CAsNsja1NLU01DU3MDEwNgAATFQ-SQ8AAAA=</wm> <wm>10CFXKIQ6AMBBE0RNtM91h2y6VpK5BEHwNQXN_RYpDfPGT13u1gK-t7Wc7qrl5lIwFxJygOVW6h1SsggpFtBVuhC_MPy-IngiOaQQUxYCLqUSOAg3Pdb-bAZndcgAAAA==</wm> Kenneth Bonert Der Löwensucher Roman · Diogenes 800 Seiten, Leinen, sFr 36.90* Auch als E-Book Hast du das Zeug dazu, im Leben ein Löwe zu sein? Isaac, wildes, kluges Kind jüdischer Einwanderer in Südafrika, trifft in den späten 1930er Jahren eine schicksalhafte Entscheidung. Das Debüt eines geborenen Erzählers. Lukas Hartmann Auf beiden Seiten Roman · Diogenes 336 Seiten, Leinen, sFr 32.90* Auch als E-Book 1989 und 1990: Der Schweizer Journalist Mario reist kurz vor dem Mauerfall für eine Reportage nach Ostberlin. Was er noch nicht weiß: Der Kalte Krieg reicht auch bis in sein Leben und seine Familie hinein. Ein aktueller, hochspannender Thriller aus der Welt der Banker, Börsenhändler, Journalisten und Politiker. Martin Suter Montecristo Roman · Diogenes 320 Seiten, Leinen, sFr 32.90* Auch als E-Book und Hörbuch »Ein Meisterwerk der Desillusionierung.« Christopher Schmidt / Süddeutsche Zeitung, München 29. März 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7 Belletristik Erzählung Dem Berliner Jochen Beyse ist eine schräge Allegorie des menschlichen Seins gelungen WoFunzelndüster imWindeschwanken Jochen Beyse: Lawrence und wir. Diaphanes, Zürich-Berlin 2015. 110 Seiten, Fr. 14.90, E-Book 10.–. Von Bruno Steiger Mit der sich zusehends zum Kreis schliessenden «digitalen Wende» scheinen die alten tollen Fragen nach dem Wesen, dem Ort, der Bestimmung des Menschen beantwortet, für alle Zeit. Wer sich, sei’s aus Verzweiflung, sei’s aus Übermut, weiterhin auf die elementaren, mehr als komischen Rätsel unseres Seins verlas- sen möchte, ist bei Jochen Beyse bestens aufgehoben. Wir sind die, die da sind ... hier ... irgendwie ... vielleicht. So ungefähr liesse sich Beyses in bisher rund fünfzehn Prosawerken entfalteter poetisch-philosophischer Ansatz zusammenfassen. In seiner neuen Erzählung setzt er seine Reihe grandios schräger Allegorien über menschliches Sein als Sein von grundsätzlich Befangenen in eindrücklichster Weise fort. Auch dieses Buch steht weit ausserhalb all dessen, was als angesagt oder gar relevant bezeichnet werden könnte. Der Befund tut dem solitären Rang des 1949 geborenen, Musée d’Orsay Revue von Meisterwerken Edgar Degas hat viele junge Frauen bei der Toilette gemalt. Oft zeigte er sie in ungewöhnlichen Perspektiven und kühnen Verkürzungen. Viele von ihnen hielt er mit Pastellkreide fest, damit konnte er schnell arbeiten, und die Bilder bekamen mehr Tiefe. Der irische Maler Sean Scully hat das Pastell «Nach dem Bad (Frau sich den Nacken trocknend)», das gegen 1898 entstanden ist, ganz anders gesehen. Er fokussierte seinen Blick auf den Hintergrund mit seinem Wechsel von vertikalen Farbbahnen und machte daraus eine abstrakte Abfolge von Bändern, die durch zwei Elemente gestört wird, 8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. März 2015 welche wohl an die Frau erinnern. Degas’ Werk ist im Besitz des Musée d’Orsay in Paris und wurde von Werner Spiess mit rund 130 weiteren Papierarbeiten ausgewählt, um die Sammlung vorzustellen. Das Buch, das anlässlich einer Ausstellung erschienen ist (Albertina, Wien, bis 3.5.), versammelt Spitzenwerke von Courbet und Honoré Daumier bis zu Odilon Redon und Paul Cézanne, aber auch Reaktionen von Künstlern, Schriftstellern und Regisseuren von heute. Gerhard Mack Werner Spiess (Hrsg.): Archiv der Träume. Sieveking, München 2015. 344 Seiten, 224 Farbabb., Fr. 59.90. in Berlin lebenden Schriftstellers in keiner Weise Abbruch. Wer, was, wo und woran ist man bei Beyse, müssen auch bei seinem neuen Buch die Fragen lauten. Erzählt wird konsequent in der ersten Person Mehrzahl. «Wir» sind es, die als Zeit- oder Wanderarbeiter leben oder vegetieren; oder Zugegensein spielen, gebannt vom bläulichen Licht der elektronischen Gerätschaften in unseren Handflächen. Im mürben Schutz von zwei in allen Fugen krachenden «Kuppeln des Wissens» erstreckt sich ein ausgedehntes Gelände aus Bohrtürmen, Windrädern, Sendemasten, Technikmärkten, Lebensmitteldepots, in der Umgebung «oft alles voller Vieh». Dazwischen Zeltreihen, die ganze Zeltstädte in sich bergen, in der Dunkelheit eines Nebensatzes ist gar von einer «Frauenbaracke» die Rede. «Es gibt auch Zelte, wo Funzeln düstergelb im Wind schwanken. Die Schatten jagen sich dann wie Gespenster, die dem Leben hinterherhetzen.» Was heisst, was bedeutet das alles, ist die in vorbildlich stupidem Smalltalk immer neu formulierte Frage, die die Lagerbewohner umtreibt. Sie richtet sich letztlich an einen gewissen Lawrence, der eines Tages in der unterirdischen, hallengrossen Abortanlage auftauchte. «Er hat uns das Zeichen gegeben, so ist es allen vorgekommen», damals, als er in Erscheinung trat, «hier unten», dermassen laut mit seinen Stiefeln auf den gekachelten Boden aufschlagend, «dass jeder auf den Klosettschüsseln hochgefahren ist», noch immer keinen Blick von seiner offenen Hand wendend. Doch von Lawrence ist keine Antwort zu erwarten; er schweigt in göttlicher oder satanischer Erhabenheit. Dass Beyse diese nur dubios zu nennende Erlösergestalt, einen absoluten Mentor der übelsten Sorte, stets nur beiläufig erwähnt, ist ihm hoch anzurechnen. Umso eindrücklicher die Figur des alten Mannes, der sich Tag und Nacht an den Handlauf eines kinnhoch aus dem Erdreich ragenden Metallzylinders klammert, den Blick auf die blauen Hunde gerichtet, die zwischen den orange gekleideten Lagerwächtern umherschleichen. Beyses Prosa ist überreich an solch halluzinativen, dabei wunderbar stummen Bildern, und ebenso wunderbar ist seine Lust, sie alsogleich zurückzunehmen und in den Raum eines virtuellen, in Poesie überführten Deliriums zu stellen. Darin zeichnet sich eine hoch artistisch ausgespielte Unentschiedenheit ab, in welcher böser Ernst und nur beseligend zu nennender tiefschwarzer Witz sich durchdringen. Man ist geneigt, von einer visionär ausgerichteten Gegenmetaphysik zu sprechen, die zu schreiben nur Jochen Beyse imstande ist, in einer Diskretion, die über den heute weltumspannenden Imperialismus des Allzumenschlichen weit hinausragt. ● Roman Eugène Dabits Buch über ein legendäres Lokal liegt in neuer Übersetzung vor PariserHotelfürsozialesStrandgut Eugène Dabit: Hotel du Nord. Deutsch von Julia Schoch. Schöffling, Frankfurt a. M. 2015. 223 Seiten, Fr. 29.90, E-Book 19.90. Von Angelika Overath Emile Lecouvreur, ein ehemaliger Lastenkutscher, seine Frau Louise und ihr Sohn Maurice stehen im 10. Arrondissement am Quai de Jemmapes in der Nähe des Schleusenwärterhäuschens und warten auf den Makler. Mit geliehenem Geld wollen sie das heruntergekommene Hotel du Nord kaufen, eine Tat, die für sie gleichbedeutend ist mit der Hoffnung auf einen alles wendenden sozialen Aufstieg. Sie zögern, als sie bald durch die dunklen Gänge des Hauses gehen und in schmutzige Zimmer sehen. «Selbstverständlich wollen wir kein Stundenhotel», sagen sie ein wenig verlegen. Und das ist das Wohnhotel, das Flussschiffern, Rollkutschern, Näherinnen, gestrandeten Ehepaaren und all jenen eine Bleibe gibt, die dem bürgerlichen Blick als soziales Strandgut gelten, ja auch nicht. Den Mut ihrer Entscheidung feiert die kleine Familie in einer Kantine. Die vorsichtige Frage seiner Frau, ob man auch eine Suppe oder lieber einen Vorspeisenteller nehmen solle, übergeht Monsieur Lecouvreur und ruft: «Ober, dreimal Hirn!» Eugène Dabit (1898–1936) musste nicht dick auftragen, er kannte das Milieu zwischen proletarischem Stolz und kapitalistischem Abgrund gut genug, um die neuralgischen Punkte in zärtlichen Strichen nur anzudeuten. Billiger kann man auswärts nicht feierlich speisen. «Schweigend und beinahe überschwänglich essen sie. Das reichhaltige Mahl erfüllt ihre Sinne und überrascht ihren Geist.» «Hotel du Nord» erschien 1929. Es ist das autobiografische Debüt des Sohns Eine Legende noch heute: Das Hotel du Nord in Paris (Foto undatiert). eines Lastenfahrers und einer Putzfrau, die in den zwanziger Jahren das Hotel am Kanal kauften. Eugène Dabit arbeitete (und schrieb) dort als Nachtwächter. Im Unterschied zum Roman, an dessen Ende das Hotel durch Immobilienspekulanten abgerissen wird, steht das Haus heute noch und beherbergt ein Restaurant, das das Arbeiter-Paris der zwanziger Jahre feiert. Nicht zuletzt durch die sehr freie, melodramatische Verfilmung des Romans durch Marcel Carné ist es zu einer Pariser Legende geworden. Anders als der Film ist das Buch (in der schönen Neuübersetzung von Julia Schoch) nirgends sentimental. Wie Gaslaternen wirft es nur einen milden Schein auf das flüchtige Menschenleben und -lieben, das die Zimmer streift. Schon frühmorgens wird das Café zur Bühne für die Arbeiter des Viertels, die Buchhalter, Elektriker, Drucker, die Frauen aus den Lederwarenfabriken und Spinnereien, die Verkäuferinnen und Schreibkräfte, die mit einem kleinen Roten oder einem Milchkaffee ihren Tag beginnen. Da ist Renée, das Waisenmädchen vom Land, das schwanger von ihrem Fabrikschlosser verlassen wird und nach dem Tod ihres Kindes unter dem Einfluss der lebenslustigen Korsettmacherin Fernande in die Prostitution rutscht. Da ist Mimar, der Gepäckträger, der «mit der Sicherheit eines geistlosen, geilen Männchens» auf Frauenbeute lauert. Da ist der tuberkulöse Monsieur Ladevèze, den Louise noch im Krankenhaus besucht, oder der homosexuelle Adrien, dem sie hilft, sich als Carmen zu verkleiden. Da ist der Koch Marius Pluche, der im Zimmer Kaninchenragout kocht, und das Duo der nähenden Schwestern Delphine und Julie, «alte Mädchen», die «kleinkrämerisch und in ständiger Angst vor der Zukunft» sich das Leben vergällen. Rechtschaffen, mit der milden Toleranz von Menschen, die die Würde der Not kennen, bemühen sich Emile und Louise, ihr Hotel am Kanal auf Kurs zu halten, bis sie vor der neuen Zeit, den lukrativen Büroneubauten der «Cuir Moderne», weichen müssen. Am Ende sieht Louise über das Abrissareal, wo die hohen Baugerüste in den Himmel steigen: «Es ist, als hätte es das Hotel du Nord nie gegeben (...) Nichts davon wird übrig bleiben.» So feiert der Roman, als Totentanz, als Reigen, das unerhebliche Glück und Leid verlorener Tage. l Roman Gelungene und amüsante Verbindung von Nostalgie mit Sozialkritik Ein Kühlschrank kommt selten allein Alain Monnier: Die wunderbare Welt des Kühlschranks in Zeiten mangelnder Liebe. Aus dem Französischen von Lis Künzli. Arche, Hamburg 2015. 208 Seiten, Fr. 25.90, E-Book 16.–. Von Stefana Sabin Die Geschichte beginnt mit dem Kühlschrank, den sich Marie kauft und der «bereits kaputt ist, bevor er auch nur die mindeste Kühleinheit von sich gegeben hat». Von da an gerät Marie in die Fänge der Marketingabteilung eines Konzerns, des Beratungsdienstes von Zulieferfirmen, des Transportunternehmens und der Fernseh- und Zeitungsreporter. Während dieser Zeit, in der sie die wirkliche Liebe findet, den Hamster ihrer Freundin verliert, ihn dann fast verhungert in einem Kühlschrank entdeckt und sich mit ihrem Vater versöhnt – während dieser Zeit mehren sich die Kühlschränke in ihrer kleinen Toulouser Wohnung. Zuerst wird vom Hauptsitz der Firma aus ein Ersatz geliefert, der sich zu dem alten und dem neuen kaputten gesellt; dann veranlasst der Marketingdirektor der Vertragsfirma die Lieferung eines neuen Kühlschranks; dann schickt ihr der Vater den alten, ja antiken Kühlschrank des Grossvaters. Denn, so kommentiert der Erzähler, «wenn ein System, das nie in Gang kommt, sich einmal in Bewegung setzt, ist niemand da, der es stoppen könnte». Irgendwann sind es siebzehn, dann dreissig, dann so viele Kühlschränke, dass sie im Treppenhaus und auf der Strasse stehen – und Marie wird als progressive Künstlerin gefeiert, die in ihrer Kühlschrankinstallation der Konsumwelt den kritischen Spiegel vorhält. Am Ende kehrt Marie zu sich selbst und ihrer neuen Liebe zurück. Alain Monnier (*1954) studierte Ingenieurwissenschaften und arbeitet in der Umweltforschung. Er hat in elf Romanen und zwei Erzählsammlungen alltägliche Situationen ironisch dargestellt und Sozialkritik und Sozialnostalgie miteinander verwoben. Auch in diesem Roman gelingt ihm eine einfache und amüsante Geschichte, die die Hilflosigkeit des einzelnen Konsumenten gegenüber grossen Firmen artikuliert und die Medienwelt und die Kunstszene verlacht. l 29. März 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9 Belletristik Roman Thomas Brussig malt sich aus, wie das sozialistische Ostdeutschland ausgesehen hätte, hätte es nach 1990 weiter existiert – abgründig und witzig SchäubleistKanzler, unddieDDRlebtweiter Thomas Brussig: Das gibts in keinem Russenfilm. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2015. 382 Seiten, Fr. 28.90. E-Book 19.–. Mit «Helden wie wir» hat Thomas Brussig 1995 den lang ersehnten ersten Wenderoman geschrieben. 1999 folgte «Am kürzeren Ende der Sonnenallee». Beide Bücher wurden verfilmt. Beide erreichten ein breites Publikum und trugen wesentlich zum besseren Verständnis ostdeutscher Befindlichkeiten bei. Das Gleiche gilt auch für das Musical «Hinterm Horizont», das seit 2011 Abend für Abend über die Bühne des Stage-Theaters am Potsdamer Platz geht und die dramatischen Ereignisse rund um Udo Lindenbergs DDR-Konzert von 1983 noch einmal aufleben lässt. Und nun also wieder ein Roman. «Das gibts in keinem Russenfilm» heisst er, was so viel bedeutet wie: unwahrscheinlich, zu viel des Guten, zu schön, um wahr zu sein. Der Titel ist also eine Art Warnung. Und wem sie noch nicht genügt, der wird in einer kleinen Vorrede darauf hingewiesen, dass es sich auch bei Figuren mit bekannt klingenden Namen um Erfindungen des Autors handelt und dass, wer nach dem Wirklichkeitsgrad des Erzählten fragt, von diesem zur Antwort erhält: «Nö, dis hab ich mir bloss ausgedacht.» Ossi-Feeling beflügelt Ausgedacht hat sich der Autor Thomas Brussig in der Tat vieles – und handkehrum auch wieder nichts. «Das gibts in keinem Russenfilm» ist nämlich eine Art Autobiografie des «berühmten Schriftstellers Thomas Brussig», wie es im Klappentext heisst. Sie folgt getreu seinem Lebenslauf vom Tag seiner Geburt am 19. Januar 1964 in Ostberlin über Schulund Armeezeit bis hin zu dem Zeitpunkt, da er beschliesst, Schriftsteller zu werden. Bis zum Erscheinen seines ersten Romans «Wasserfarben» sollte es allerdings noch eine Weile dauern. 1991 war es dann schliesslich so weit: Deutschland ist seit einem Jahr wiedervereinigt und der Staat namens DDR endgültig Geschichte. Nicht so in Thomas Brussigs fiktiver Autobiografie. Hier existiert die DDR weiter. Das Buch mit dem seltsamen Titel ist ein kontrafaktischer Roman. Er funktioniert nach dem Prinzip: Was wäre, wenn… Das beflügelt die Phantasie, hat aber auch seine Tücken. Denn, so fragt sich der Autor nicht zu Unrecht, «wozu die Zeit mit etwas vergeuden, das erkennbar Unsinn ist?». Die Erklärung, warum er es tut, liefert Brussig im Roman gleich selbst: Er – oder besser: sein Ich-Erzähler – braucht das 10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. März 2015 TIMELINE IMAGES Von Klara Obermüller Man kann sie förmlich riechen, die DDR, im Roman von Thomas Brussig. Grenzübergang Invalidenstrasse in Berlin, 1963. DDR-Feeling, um schreiben zu können. «Ohne die Reibung mit dem SED-Staat», sagt er einmal, «bin ich als Schriftsteller undenkbar. Ja, was wäre aus mir geworden, wenn es 1990 eine Einheit gegeben hätte? Vermutlich würde ich heute im Keller von Oliver Welke sitzen und mir FDP-Witze ausdenken.» Das ist zwar aus ironischer Distanz zur Romanfigur gesprochen, aber etwas Wahres ist gleichwohl dran. Brussig ist einer der erfolgreichsten deutschen Nachwende-Autoren geworden. Seinen Stoff jedoch bezieht er nach wie vor aus jenem Land, das es seit 1990 nicht mehr gibt. Wo beginnt die Fiktion? Die Idee, sich sein Leben unter DDR-Bedingungen noch einmal neu zu erzählen, hat deshalb etwas Logisches. Und Brussig betreibt sein Verwirrspiel auch mit Bravour. Vor allem zu Beginn der Lektüre muss man sich immer wieder kneifen und sich sagen, dass in Wirklichkeit alles ganz anders war: dass die Mauer fiel, dass die Einheit kam und dass es nie eine DDR gegeben hat, in der die Zensur fiel, das Reisen erlaubt war und der Kapitalismus eingeführt wurde unter der Führung der Partei. Dass dem Autor das Spiel gelingt, hat zum einen mit seinem Erzähltalent und zum andern mit seinen intimen Kenntnissen der DDR-Wirklichkeit zu tun. Man kann sie beim Lesen förmlich riechen, diese DDR, und man erkennt ihr Personal, ihre Institutionen, ihre Sprechweise wieder, als ob man eben erst dort gewesen wäre. Gleichzei- tig wirbelt der Autor reale Figuren und fiktive Ereignisse dermassen gekonnt durcheinander, dass man oft selbst nicht mehr weiss, wo die Wirklichkeit endet und die Fiktion beginnt. Brussig lässt sie alle aufmarschieren: Günter Schabowski und Egon Krenz, Christa Wolf und Heiner Müller, Lothar Bisky, Gregor Gysi, Sarah Wagenknecht, Oskar Lafontaine, Wolfgang Schäuble, Günter Grass, Maxim Biller und viele andere mehr. Nur, die Funktionen, Ämter, Werke und Taten, die er ihnen zuschreibt, sind völlig aus der Luft gegriffen. Da ist Schäuble Kanzler, da bekommt Biller den Büchner-Preis, und Simon Urban schreibt mit «Plan D» einen Roman über die Wiedervereinigung statt, wie Brussig hier, einen über das Fortbestehen der DDR. «Das gibts in keinem Russenfilm» ist im Grunde ein Schelmenroman und als solcher über weite Strecken höchst vergnüglich zu lesen. Mit der Zeit aber nutzt sich der Effekt ab, die Fiktionalisierungen werden vorhersehbar, und es stellt sich am Ende die Frage: Warum hat der Autor das Buch eigentlich geschrieben? Aus dem Bedürfnis, Ordnung in die Kommode seiner Erinnerungen zu bringen, wie er immer wieder behauptet? Oder doch vielleicht aus Sehnsucht nach einer Zeit, da Schriftsteller für das Schreiben ihrer Bücher mit Repressalien, Gefängnisstrafen und manchmal sogar mit dem Leben bezahlten? Thomas Brussig war nie ein Dissident, insgeheim wäre er aber vermutlich gern einer gewesen. ● Briefe Mascha Kaléko schreibt ihrem Mann Kurzkritiken Belletristik «Unsere Welt ist reif für die A-Bombe» Saphia Azzeddine: Mein Vater ist Putzfrau. Deutsch von Birgit Leib. Wagenbach, Berlin 2015. 128 S., Fr. 22.90, E-Book 15.90. Frank Schablewski: Havarie. Prosa. Rimbaud, Aachen 2015. 54 Seiten, Fr. 21.90. Paul gehört zu jenem Milieu, das man in den USA «White Trash» nennt: in prekären Verhältnissen lebend, doch nicht wegen Migrationshintergrund oder Hautfarbe, sondern einfach, weil man’s nicht schafft. Pauls Vater verdient seinen mickrigen Lohn mit Putzen, eine Schmach für den Teenager. Seine Mutter sieht nur fern, die Schwester ist ein Flittchen. Paul will eine andere Zukunft. Eine, in der er der schönen, aber unerreichbaren Priscilla würdig ist. In den Bibliotheken der fiktiven französischen Vorstadt, in denen er dem Vater nachts putzen hilft, eignet er sich schwierige Wörter wie «obskur» und «transzendent» an. Saphia Azzeddine, 1979 in Agadir geboren, aufgewachsen in Frankreich und heute in Genf wohnhaft, gelang mit ihrem 2009 im Original erschienenen Zweitling eine verdichtete Tragikomödie über jene Menschen der Banlieues, die unter dem medialen Radar liegen. Der deutsche Autor Frank Schablewski, Jahrgang 1965, stammt aus Hannover. Er hat an der Kunstakademie Düsseldorf studiert und als Lyriker wie als Essayist mit bildenden Künstlern und Musikern gearbeitet. Aus den Etymologien in verschiedenen Sprachen hat er eine so eigenwillige wie originelle ästhetische Theorie entwickelt. Nun legt er seinen ersten kleinen Prosaband vor. Er enthält drei ganz verschiedene, faszinierende und beklemmende Texte. «Innenstatt» erzählt in knappen, erratischen, parataktischen Sätzen von einem Mann, der Kinder missbraucht, verurteilt wird, ins Gefängnis kommt und von seinen Mitgefangenen drangsaliert wird. «Der mächtige Mann ist wendig», lesen wir zu Beginn. «Sein Stadtplan ist an den Strassen der Grundschulen fast durchgerissen, ein Kartenhaus.» Mehr braucht es nicht. Der Text zielt nicht auf den Effekt. Doch er ist nichts für schwache Nerven. Tex Rubinowitz: Irma. Mit Zeichnungen von Max Müller. Rowohlt, Berlin 2015. 240 Seiten, Fr. 28.90, E-Book 18.–. Jeffrey Yang: Yennecott. Gedicht. Deutsch von Beatrice Fassbender. Berenberg, Berlin 2015. 116 Seiten, Fr. 29.90. Letztes Jahr gewann Tex Rubinowitz den Ingeborg-Bachmann-Preis, jetzt liegt das Buch vor. «Irma» liest sich wie die Biografie eines sehr coolen Typen, was einerseits daran liegt, dass vieles in den 1980ern spielt. Zum anderen hat «Irma» maximale Ähnlichkeit mit Rubinowitz’ wilder Biografie, der ganz unjüdisch als Dirk Wesenberg (*1961) in Lüneburg aufgewachsen ist und seit 1984 als Cartoonist, Musiker, Autor in Wien lebt. Dennoch ist «Irma» keine waschechte Autobiografie, weil viele Namen und Daten knapp an der Realität vorbeigehen. Vielmehr sind das süffige Erzählungen aus dem Leben des Herrn Tex Rubinowitz, wahre wie erdichtete, und hoffentlich keine geklauten (er wurde im Herbst eines Plagiats bezichtigt); gespickt mit Boshaftigkeiten, die einmal billig (zu Herta Müller), ein anderes Mal lustig sind (zu Rainald Goetz). Der chinesisch-amerikanische Lyriker Jeffrey Yang, der 1974 in Kalifornien geboren wurde und als Lektor sowie als Übersetzer in New York lebt, ist uns 2012 erstmals aufgefallen: mit dem fabelhaften zweisprachigen Gedichtzyklus «Ein Aquarium». Das bildungsgesättigte Werk überzeugte durch Musikalität, sprachliche Schönheit und subtilen Humor – im Original wie in der Übersetzung von Beatrice Fassbender. Nun widmet der Verlag Jeffrey Yang eine weitere zweisprachige Publikation: Das in freien Rhythmen gehaltene Langgedicht «Yennecott» ist eine von Long Island ausgehende Reise zu den Ursprüngen der USA. Es handelt von den europäischen Siedlern wie von der nordamerikanischen Urbevölkerung – und verbindet Mythen, Sagen, Geschichte und die Schicksale Einzelner zu einem faszinierenden Gewebe, das poetisch betört und inhaltlich überrascht. Mascha Kaléko: «Liebst du mich eigentlich?» Briefe an ihren Mann. dtv, München 2015. 158 Seiten, Fr. 16.90. Von Charles Linsmayer «Mascha Kaléko / Dichterin / Gattin des Musikologen / Chemjo Vinaver» steht auf dem Grab der Autorin des Lyrischen Stenogrammhefts von 1933 im jüdischen Friedhof Zürich-Friesenberg. Wer wissen will, was es mit der aussergewöhnlichen Liebe auf sich hatte, wird in Mascha Kalékos Briefen an ihren Mann fündig, die Gisela Zoch-Westphal unter dem Titel «Liebst du mich eigentlich?» herausgebracht hat. Der Titel evoziert die vier Buchstaben LDME, mit denen die Dichterin die 1956 aus Hamburg, Berlin, Ascona und Rom an ihren Mann in Amerika geschickten Briefe beendet. Es sind Briefe einer erstmals nach Europa zurückgekehrten Emigrantin, in der die Uniformen unliebsame Erinnerungen wecken, die so Schreckliches formuliert wie «Unsere Welt ist reif für die A-Bombe, die ganze Welt ist wieder neonazistisch», und die dann doch darum betet, «dass es uns vergönnt sein möge, hier mal zu leben», als es in Berlin «zum Wildwerden ist vor echtem Frühling». Der ständige Kampf, ein Zimmer für sieben Mark zu finden, die Begegnung mit der allmählich wieder Tritt fassenden deutschen Presse, die Beschreibung der Mahlzeiten und der Gäste bei offiziellen Empfängen – all das ergibt auf eindrückliche Weise jenes historische Bild deutscher Befindlichkeiten, von dem die Herausgeberin im einfühlsamen Nachwort spricht. Das Bewegendste aber ist die Art und Weise, wie die Beziehung zwischen Mascha und ihrem Chemjolein in den Briefen fassbar wird. Die sich allmählich steigernde Sehnsucht, als sie allein in Berlin ist und sich Sorgen um Mann und Sohn in Amerika macht, bis der sehnlichst Erwartete dann tatsächlich eine Zeitlang mit ihr in Deutschland lebt und die Briefe, die nach seiner Rückkehr nach Amerika gehen, davon handeln, dass das Zusammensein unter einem unguten Stern stand und sie den Geliebten bittet: «Verzeih mir, dass ich so ein Ekel war!» Aber gerade in ihrer Brüchigkeit erhält diese Liebe und damit auch das Gefühlsleben von Mascha Kaléko etwas Authentisches, unmittelbar Berührendes, das der flotten Berliner Stilisiertheit ihrer Gedichte etwas tief Beseeltes gegenüberstellt. Regula Freuler Regula Freuler Manfred Papst Manfred Papst 29. März 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11 Reportage Jahrzehntealt oder ganz neu, physisch präsent oder online, privat oder öffentlich als Tweet – Lesezirkel sind in der Schweiz zwar wenig sichtbar, doch es gibt immer mehr davon. Und sie sind meist weiblich. Kathrin Meier-Rust hat einige von ihnen besucht Dasmusst Dulesen! «Und dieses Buch hat den Buchpreis bekommen?» «Bei Seite 120 hab ich aufgehört.» «Es hat mich richtig aggressiv gemacht.» «Man kann doch nicht einfach so drauflos assoziieren, das ist eine Zumutung!» Die Empörung gilt dem Roman Kruso von Lutz Seiler, nun knallt das Buch auf den Tisch. Vier Frauen haben sich an diesem Abend im gemütlichen Wohnzimmer einer Zürcher Altwohnung eingefunden – eine Psychotherapeutin, eine Sozialarbeiterin, eine Buchhalterin und eine Richterin – der Rotwein steht bereit und eine Schale mit frischen Datteln. Dass man sich gut und schon lange kennt, hat schon die herzliche Begrüssung gezeigt. Die Sache begann als Frauenstamm von Müttern mit kleinen Kindern vor 22 Jahren, irgendwann wurde daraus ein Literaturstamm: «Wir wollten etwas Lustvolles zusammen machen.» Lustvoll ist es allemal, wie sich die Unlust an «Kruso» über eine Stunde lang Luft macht, mit gezücktem Kindle, um grausliche Textstellen vorzulesen. Vergeblich plädiert Jeannette für etwas Milde – sie ist die einzige, die das Buch zu Ende gelesen hat. Das Fazit fällt knallhart aus: ein typisches Kritikerbuch. Nun endlich greift man entspannt zum Glas. Gemeinsam über Bücher reden 12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. März 2015 Social reading Doris Moser will die Lesegruppen jedoch nicht numerisch, sondern analytisch erforschen: Drei private Laien-Lesegruppen sollen genau beobachtet und mit vergleichbaren online-Leseforen verglichen werden: «Es geht darum, mal reinzuschauen, was es eigentlich ist, das es interessant macht, in organisierter Weise über Bücher zu reden; sei dies face to face oder virtuell». Social reading heisst der online geführte Austausch über Texte in Foren, Blogs oder speziel- Lesegruppen sind eine Art Untergrund-Phänomen, ein unsichtbares, unterirdisches Wurzelgeflecht des Kulturlebens, das sich immer mehr ausbreitet. len Plattformen wie Goodreads, Readmill, Lovelybooks. Generell sei dieser Austausch weniger strukturiert als in der physisch präsenten Lesegruppe, erklärt Doris Moser, und er gehe auch selten über die Bewertung der Lektüre hinaus. Dafür können sich frei von der Begrenzung durch Ort und Zeit stärker spezialisierte Lesekreise bilden. Da wird dann zum Beispiel ein schwieriges Werk wie «Der bleiche König» aus dem Nachlass von David Foster Wallace über Monate von ausgewählten Autoren und Kritikern gelesen und kommentiert. Sogar twittern kann man über Bücher. Der Hashtag #Lesezirkel hat 381 Followers. Gegründet vom IT-Fachmann Patrick Seemann und der Informationsspezialistin Seraina Scherer schliesst er mit Der Tag, als meine Frau einen Mann fand von Sibylle Berg gerade die 36. monatliche Leserunde ab. Gelesen wird in wöchentlichen Etappen, für die Teilnahme gilt deshalb nur eine Regel: «Nicht spoilern», will heissen, Handlung nicht verraten, während andere noch am Lesen sind. Die Diskussion sei mit 140 Zeichen natürlich nicht tiefschürfend, sagt Seemann, aber das sei auch nicht das Ziel. «Es geht darum, regelmässig zu lesen, auch Bücher, die man alleine nicht gelesen hätte.» Schlag drei Uhr treffen sich an einem Mittwochnachmittag eine Handvoll Pensionierte in Wettingen. Sie können sich das ja leisten am heiteren Werktag. Gastgeberin Rosemarie offeriert ein Glas Wasser, doch dann geht’s gleich zur Sache – den Kaffee gibt es erst danach. Die fünf Frauen und ein Mann haben sich sorgfältig vorbereitet: Ihre Exemplare von Ali Smith: How to be both sind gespickt mit bunten Klebebuchzeichen, da und dort werden sauber getippte Notizen hervorgezogen. Diskutiert wird in bestem Englisch – neben den drei Frauen aus Australien, den USA und England sind zwei ▲ Szenenwechsel. Im weiten weissen Wohnzimmer in Oberwil AG stossen sieben Frauen zunächst mit einem Cüpli darauf an, dass sie es alle geschafft haben, heute Abend dabei zu sein. Bei berufstätigen Müttern ist das nicht selbstverständlich. Marina liegt auf dem Sofa, sie hat Rückenprobleme, und zeigt zur allgemeinen Heiterkeit zwei entzweigerissene Hälften von Jojo Moyes: Ein ganzes halbes Jahr. Das dicke Paperback war im Liegen zu schwer für die Hände. Das Buch sei ihr von einer Freundin empfohlen worden: «Das musst du lesen», erzählt die Juristin Elvira. Die Freundin hatte recht, alle Frauen haben das Buch mit Vergnügen verschlungen, eine auf Englisch, die andere auf Deutsch, die eine als E-Book, die andere auf Papier. «Ein bisschen Hollywood-Kitsch ist es ja schon», gibt Marina zu bedenken. Doch reihum ist man sich einig: Man konnte den Roman nicht weglegen, man musste ihn einfach in einem Zug zu Ende lesen. Genau dies war das Ziel, als sie sich vor einigen Monaten zu einer Lesegruppe zusammengetan haben: wieder Literatur lesen, auch wenn frau wirklich gar keine Zeit dafür hat. Lesegruppen sind eine Art Untergrund-Phänomen, ein unsichtbares, da unterirdisches Wurzelgeflecht des Kulturlebens, das sich nicht nur physisch, sondern auch virtuell ausbreitet und dessen Grösse, wenn überhaupt, nur über sporadische Bohrungen erahnt werden kann. Beginnt man mit diesen Bohrungen, findet man das Geflecht allerdings schnell: Jede zweite im Bekanntenkreis liest in einer Gruppe oder kennt jemanden, der dies tut. Wie viele Lesegruppen gibt es? Für den deutschsprachigen Raum existieren keine Zahlen, erklärt die Germanistin Doris Moser von der Universität Klagenfurt, die gerade eine Studie zum Phänomen Lesegruppe beginnt. Anders in den angelsächsischen Ländern, wo Book Clubs, wie sie hier heissen, seit längerem wissenschaftlich beobachtet werden. Es zeigte sich dabei, dass ihre Zahl notorisch unterschätzt wird. Als die Soziologin Elizabeth Long beschloss, sich für eine genaue Untersuchung auf die Stadt Houston in Texas zu konzentrieren, ging sie von etwa einem Dutzend Lesegruppen aus – fand dann aber in kurzer Zeit 121. In den USA wird die Gesamtzahl der Book Clubs heute auf 500000 geschätzt. Auch für Grossbritannien, wo Book Clubs seit der Jahrhundertwende einen regelrechten Boom erleben, liegt eine Hochrechnung vor: 50 000 Lesegruppen soll es im Jahr 2002 gegeben haben. Als das billigste aller Kulturförderungsmittel erkannt, werden sie von staatlicher Seite gefördert – die BBC brachte sogar eine Sitcom namens «the BOOK group» –, und auch die Verlage haben das kommerzielle Potenzial längst erkannt: Liebend gerne liefern sie allerlei Bonusmaterial, zum Beispiel in Form von «Questions for Book Clubs», die in vielen englischen Romanen gleich mit abgedruckt werden. Tausende von Lesezirkeln treffen sich regelmässig in Schweizer Wohnstuben und diskutieren – zum Beispiel «Der Vorleser» von Bernhard Schlink. Illustration von Andreas Gefe. 29. März 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13 Reportage Schweizer Englischlehrer an diesem Nachmittag dabei. Man liest genau, beachtet Wortspiele, In terpunktion, Typographie: «Look at this, page 245». Die Gruppe schätzt das Anspruchsvolle des Buches, auch wenn viele Rätsel ungelöst bleiben. Und dann bemerkt Gastgeberin Rose marie en passant, dass dies ihre liebste Lese gruppe sei. Ihre liebste? Tatsächlich, sie liest in vier Book Clubs: «I am an avid reader.» Wo bleiben die Männer? Warum so viele Frauen, wo bleiben die lesenden Männer? Ob französischer Salon im 18. Jahr hundert, ob Lesekabinett im 19. Jahrhundert, ob amerikanische White Womens Reading Groups – Lesezirkel waren in den vergangenen 200 Jahren oft der einzige Ort, an dem sich Frau en als denkende Wesen erfahren und betätigen konnten. Das ist heute nicht mehr so – und den noch sind Lesegruppen weitgehend weiblich geblieben. Von den privaten Gruppen in Gross britannien sind 80 Prozent vollständig weiblich, weitere 10 Prozent zu 90 Prozent weiblich. Im Gesamtdurchschnitt verzeichnet die Untersu chung einen Männeranteil von 5 Prozent. Die Zürcher Sehhilfe ist eine Organisation der Blindenfürsorge. Emsig wird heute der grosse runde Tisch vorbereitet: Stühle müssen her, Tas sen auf den Tisch, Kekse, die Zuckerdose – jede der älteren Frauen, die eintreffen, hilft mit. Da dauert es schon ein Weilchen, bis jede einen frei en Stuhl gefunden hat und alle begrüsst sind. Bis Renate Hody fragt: Wollen wir jetzt weiterlesen? Der Buchtitel erweist sich hier als Programm: Die Leiterin liest aus Der Vorleser von Bernhard Schlink, weil sie als einzige in dieser Gruppe selbst lesen kann. Alle sieben Teilnehmerinnen sind stark sehbehindert. Hody liest einige Sei ten – dann wird diskutiert. Ausgehend vom Vater des jungen «Vorlesers» wird die Diskussion lebhaft, schweift weit ab zur eigenen Kindheit: «Der Abstand zwischen Eltern und Kinder war früher viel grösser als heute.» «Wir waren acht Kinder.» «Ich wusste doch nichts über meine El tern.» Soll ich weiterlesen, fragt Renate Hody, es ist schon etwas hartes Brot. Ja, die Zuhörerinnen wollen das harte Brot, denn der Kuchen steht auf dem Tisch. Alle betagten Teilnehmerinnen Was lesen Lesegruppen? Zeitgenössische Belletristik inklusive Krimis steht an erster Stelle, dann folgt die klassische Literatur. Beim Sachbuch sind es Biografien. In England erleben Lesezirkel seit der Jahrhundertwende einen Boom. Hier die BBC-Sitcom «the BOOK group». hören daheim auch Hörbücher. Doch die Lese gruppe sei immer eine besondere Freude. «Es ist einfach persönlicher, wenn jemand vorliest», heisst es von allen Seiten. Zudem kennt man sich seit zehn Jahren, es gibt viel zu erzählen. Viele Lesegruppen betonen, wie wichtig nebst den Büchern auch das soziale Element ist. Mit Leitung oder ohne – dieser Unterschied teilt Lesezirkel in zwei Gruppen: private Lese gruppen sind zahlreicher, aber mit etwa vier bis acht Teilnehmerinnen kleiner. Sie treffen sich meist reihum, in Wohnzimmern. Bei geleiteten Lesezirkeln liegt die Teilnehmerzahl mit 15 bis 25 Personen höher, und sie finden in öffentli chen Räumen statt, in Bibliotheken, Buchläden, Gemeindesälen. Begreifen, was uns ergreift Wie eine Lesegruppe kunstvoll zu leiten ist – dafür gibt es inzwischen mancherlei Ratgeber und Leitfäden, und sogar Kurse: Hardy Ruoss, ehemals Literaturkritiker beim Schweizer Radio und Fernsehen, erteilt diese (im Auftrag der Schweizerischen Arbeitsgruppe der Bibliothe ken) für Bibliothekarinnen: «Sie sollen ermutigt werden, Lesegruppen zu gründen und zu lei ten», erzählt Ruoss. Er tut dies ganz praxisnah, indem er jeweils vier bis fünf Teilnehmerinnen als Lesezirkel über vorher bestimmte Bücher diskutieren lässt. «Das Hauptproblem von LaienLesegruppen besteht darin, dass meist nur über die Handlung eines Romans gesprochen wird, allenfalls noch über das eigene Erleben: «Ich fand das Buch spannend», erzählt Ruoss. Das werde aber bald einmal langweilig. «Hier muss ein Leiter dann im Text einhaken: Wo genau hat es mich ge packt, wo genervt? Er muss die Aufmerksamkeit darauf lenken, wie ein Buch gemacht ist. Schliesslich besteht der Mehrwert von Literatur gegenüber blossem Lesefutter gerade darin: in der Machart.» Es gelte, mit dem berühmten Wort des Literaturprofessors Emil Staiger, «zu begrei fen, was uns ergreift». Lesegruppen erzählen gerne und stolz, was sie gelesen haben. Oft wird sorgfältig Buch ge führt über die gelesene Literatur – «eine Art Selbstvergewisserung» nennt es Germanistin Doris Moser. Und Elizabeth Long schreibt: «Wenn wir sind, was wir essen, so sind Lese gruppen, was sie lesen: Es ist das Herz ihrer Identität als Gruppe.» Auch deshalb, vermutet sie, freuen sich die meisten Lesegruppen über Interesse von aussen. Auch in der Schweiz: Von zehn angefragten Lesezirkeln wollten nur zwei keinen Besuch. Und was lesen diese Gruppen so alles? Auch dazu gibt es Hinweise aus England. An erster Stelle steht eindeutig die zeitgenössi sche Belletristik inklusive Krimis, an zweiter die klassische Literatur. Science Fiction, historische Romane, Gedichte und Theaterstücke sind da gegen nachrangig. Wenn Sachbücher gelesen werden, dann meist Biografien. Eine Lesegruppe der besonderen Art bringt ungeniert alle Kategorien an einem Abend zu sammen. Die sechs Freunde treffen sich seit 13 Jahren alle sechs Wochen zu einem Ge sprächsabend samt gutem Essen und Wein zu einem vorher bestimmten Thema: Visionen, Treue, Angst, Missverständnis. Jede und jeder bringt einen literarischen Text zum Thema mit und liest daraus eine Passage vor. «Das ist immer sehr facettenreich, man lernt viele Bücher ken nen, die man selbst nie lesen wollte – bei mir ist es zum Beispiel die Gattung Science Fiction», er zählt Alex aus München. Am Schluss des Abends wird das Thema fürs nächste Mal bestimmt, diesmal lautet es «die Fremde». «Und dann geht man nach Hause, stellt sich vor den eigenen Bücherschrank und überlegt.» ● Zürich Basel Bederstrasse 4 Güterstrasse 137 Bern Länggassstrasse 46 <wm>10CAsNsjY0MDAx1TUyMjIzsgAAkStyvg8AAAA=</wm> <wm>10CAsNsjY0MDAx1TUyMjIztAQAxEhY4g8AAAA=</wm> <wm>10CAsNsjY0MDAx1TUysjQwMQEAjzsSMg8AAAA=</wm> <wm>10CAsNsjY0MDAx1TUyMjIzsgAAkStyvg8AAAA=</wm> 100‘000 antiquarische Bücher buecher-brocky.ch 14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. März 2015 Luzern Aarau Ruopigenstrasse 18 <wm>10CFXKIQ7DQAxE0RN5NTNeb-MaVmFRQVW-JArO_VHasoL_0du2ioZfj_X5Xl9FoIdJGloqcrS8eTF7W5KFpAT2O9IRoOPPG5jD4fNrDGnU_FxpwUmhnftxAYCSdmhyAAAA</wm> <wm>10CFXKIQ6AMAwF0BN16W-7jlJJ5giC4GcImvsrAg7x3FvXrIU_S9-OvieYrZKIOCJreImmibAyBZKbqDBshkuFTorfJ0a4so73EDcSHXASI7UR3sp9Xg82ZWsHcgAAAA==</wm> <wm>10CFWKMQoDMQwEXySzWkt2dCqDO5MiXO_mSJ3_VzHXpRgYhpkzveDmOV7neKcC5kIGzNLDC3tLDZbuLUFWQv1AsLux4e8XaLSKuvZjohTawkMqtu9m5Xt9fi0-0d5yAAAA</wm> <wm>10CFXKoQ4CMRRE0S96zcy8TkupJOs2Kwi-hqD5f8WCQ9xcc_Z9uuDXbTse230SqA5JTZfp4aLeJodK93mwC6xXKq1q488HOFoi19cEEeyLiqyRXqcu7-frA2AIQV9yAAAA</wm> Kunst Kinder Hel vetika Freihofweg 2 Sport Politik Literatur Hobby Reisen Kochen u.v.m. Kolumne LUKAS MAEDER Charles LewinskysZitatenlese Der Autor Charles Lewinsky arbeitet in den verschiedensten Sparten. Sein letzter Roman «Kastelau» ist im Verlag Nagel & Kimche erschienen. Nachahmung fremder Eigenschaften und Eigentümlichkeiten ist viel schimpflicher als das Tragen fremder Kleider: denn es ist das Urteil der eigenen Wertlosigkeit, von sich selbst ausgesprochen. Kurzkritiken Sachbuch Angelika Ramer: Osorno Feuer. Persönlichkeit wirkt – 13 Porträts. Offizin, Zürich 2014. 95 Seiten, Fr. 47.90. Max Meyer: Köbi Siber. Abenteuer mit Dinosauriern. Wartmann Natürlich, Oberengstringen 2014. 280 S., Fr. 37.90. Im Vulkan Osorno im chilenischen Patagonien fand die Schaffhauser Organisationsberaterin Angelika Ramer ihre Vision: das innere Feuer, das ausserordentliche Menschen beseelt. Solche Menschen stellt sie in ihrem elegant gestalteten Bändchen vor: Prominente wie den ehemaligen Flüchtlingsdelegierten Peter Arbenz, die Clownin Gardi Hutter, Mineralwasserproduzentin Gabriela Manser oder den Wirtschaftsanwalt Peter Nobel. Aber auch weniger bekannte wie die Luzerner Stilprofilerin Irène Wüest oder Miss Moneypenny-Chefredaktorin Stefanie Zeng. Es sind wohltuend kurze, aber auch sehr wohlwollende Porträts. Sieht man davon ab, dass die Osorno-Metapher von der Autorin gelegentlich überstrapaziert wird, lernt man doch ein Dutzend Personen kennen, die sich ihrer Lebensaufgabe mit Leidenschaft, Inspiration und Hingabe widmen und so Vorbild für andere werden. Sympathisch. Schon als Schüler sammelte Köbi Siber Steine. Nach einem Studienjahr in den USA reist er als Einkäufer für die Mineralienhandlung seines Vaters durch die Welt. Er erkennt das kommerzielle Potenzial von Fossilien und beginnt selbst in den Badlands von South Dakota zu graben. Er studiert Lehrbücher der Paläontologie, heiratet (mehrmals) und wird Vater von vier Töchtern. Er sucht, findet, präpariert und verkauft die verschiedensten Fossilien, schliesslich auch Dinosaurier, die er wiederum solange sucht, findet und verkauft, bis der Traum vom eigenen Museum in Aathal wahr wird. Ein Klassenkamerad aus der Primarschule erzählt diese erstaunliche Biografie des heute 73-Jährigen, der es vom Autodidakten zum Ehrendoktor der Universität Zürich gebracht hat. Manchmal etwas zu ausführlich, doch die Wildwest-Dino-Gräber-Geschichten sind einfach hinreissend! Claudia Starke, Thomas Hess, Nadja Belviso: Das Patchwork Buch. Beltz, Weinheim 2015. 345 Seiten, Fr. 27.90. Martin Windrow: Die Eule, die gern aus dem Wasserhahn trank. Hanser, München 2015. 317 Seiten, Fr. 29.90, E-Book 23.–. Dieser Ratgeber für Patchworkfamilien erzählt zunächst die äusserlich triviale, aber innerlich komplexe Geschichte von Lars und Beate, ihren beiden Ex-Partnern und ihren insgesamt vier Kindern. Es ist eine Kunstgeschichte: zusammengesetzt aus Fällen, häufigen Problemen und Mustern, die die beiden Familientherapeuten Claudia Starke und Thomas Hess aus ihrer Arbeit kennen. Die Geschichte wird deshalb immer wieder «angehalten», mit einem Kommentar versehen – um sie dann in einer Alternativvariante weiterzuerzählen. Gleichzeitig wird auf theoretische Informationen und therapeutische Empfehlungen verwiesen, die den zweiten Teil des Buches ausmachen. Ein Ratgeber der anderen, überzeugenden Art also, für die grossen Herausforderungen, vor der jede Stief- und Patchworkfamilie steht und an denen über die Hälfte von ihnen scheitern. Schon das Umschlagbild entzückt: Ein Waldkauz sitzt da im Badezimmer und blickt uns mit riesigen Kulleraugen an. Das ist Mumble. Der Militärhistoriker Martin Windrow beschreibt die 15 Jahre, die er mit diesem im wahrsten Sinn des Wortes kauzigen Haustier verbracht hat. Liebevoll, mit britischem Humor schildert der Exzentriker, wie er Mumble grossgezogen hat und wie sich die beiden aneinander gewöhnten, was nicht immer einfach war. Von waghalsigen Flugmanövern in der Wohnung ist die Rede, von missglückten Landungen auf rutschigen Oberflächen, von der Jagd auf Schnürsenkel und Papierkugeln und vom grossen Schmusebedürfnis des Raubvogels. Auch wenn der Autor seinen gefiederten Hausfreund bisweilen allzusehr vermenschlicht, ist die Geschichte dieser innigen Beziehung zwischen Mensch und Tier berührend. Arthur Schopenhauer Wenn Sie, wie ich, die «NZZ am Sonntag» am liebsten beim gemütlichen Sonntagsbrunch lesen, dann haben Sie jetzt bestimmt auch Zeit für ein kleines Quiz. Also dann: Welchen der folgenden Buchtitel gibt es nicht wirklich, und ich habe ihn nur zum Zweck dieser Glosse erfunden? a) «Die alte Dame, die ihren Hut nahm und untertauchte»; b) «Der 50-Jährige, der nach Indien fuhr und über den Sinn des Lebens stolperte»; c) «Der Schriftsteller, der dachte, sein Roman würde sich besser verkaufen, wenn er auch wie alle andern einen Relativsatz in den Buchtitel einbaute». Na? Ich wünschte ja, alle drei Titel wären nur Ausgeburten meiner kranken Fantasie, aber die ersten beiden liegen tatsächlich in den Buchhandlungen. Die «Relativsatz im Titel»-Seuche ist ausgebrochen und bis jetzt hat die Wissenschaft noch kein Heilmittel dagegen gefunden. Die Typhoid Mary dieser Epidemie, also derjenige, der alle andern angesteckt hat, war wohl der schwedische Autor Jonas Jonasson. Wenn er gewusst hätte, was für Folgen das haben würde, hätte er seinen sympathischen Erstlingsroman vielleicht gar nicht geschrieben. Oder er hätte ihn anders genannt. «Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand» wurde ein internationaler Grosserfolg. Und das Nachfolgebuch, «Die Analphabetin, die rechnen konnte», verkauft sich auch nicht schlecht. Seither ist das Virus nicht zu stoppen. In den Verlagen gibt es wahrscheinlich schon eigene Spezialisten, die nichts zu tun haben als die Titelvorschläge der hauseigenen Autoren zu verrelativsatzen. «Wie soll Ihr Büchlein heissen, Herr Goethe? ‹Die Leiden des jungen Werther›? Da müssen wir schon noch etwas dran tun, wenn die Buchhändler ihr Werk direkt neben die Kasse legen sollen.» Und, wer weiss, vielleicht hätte ja «Der Werther, der zu jung war und daran litt», noch viel mehr Erfolg gehabt. Vielleicht hätten sich nach der Lektüre auch nicht liebeskranke junge Leute reihenweise umgebracht, sondern nur feinsinnige Ästheten, die es nicht ertragen, wenn eine so sinnlose Modewelle die Titelliste der Neuerscheinungen überrollt. PS: Vielleicht ist ja auch Oliver Sacks an allem schuld. Er schrieb «Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte». Aber Sacks ist wenigstens Arzt und weiss, dass das Ganze eine Seuche ist. Urs Rauber Kathrin Meier-Rust Kathrin Meier-Rust Geneviève Lüscher 29. März 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15 Sachbuch Frauenstimmrecht Die Berner Historikerin Franziska Rogger ordnet die Geschichte der Schweizer Frauenbewegung neu ein und würdigt eine ihrer bedeutendsten Persönlichkeiten: Marthe Gosteli LangerKampf umgleicheRechte Von Kathrin Alder Die Geschichte der Schweizer Frauen ist eine Geschichte des Scheiterns – und zwar im doppelten Sinne. Bis ihnen der männliche Souverän und die Stände 1971 endlich das Stimm- und Wahlrecht gewährten, wurde ihnen dieses zuvor auf kommunaler, kantonaler und eidgenössischer Ebene zigmal verwehrt. Die Schweizerinnen mussten in ihrem Kampf um Gleichberechtigung mehr Niederlagen einstecken, als sie Erfolge feiern durften. Ebenso scheiterte die historische Aufarbeitung dieser leidvollen Beharrlichkeit, schreibt Autorin Franziska Rogger in ihrem neusten Buch. Den Schweizer Frauen sei ihre Geschichte bis heute unterschlagen worden. Es sei der Geschichtsschreibung in der Schweiz nicht gelungen, das Kernstück des Frauenkampfs – die Erlangung der politischen Gleichberechtigung – in einen grösseren Kontext zu stellen. Vielmehr habe sie den Erfolg von 1971 aufgrund einer eingeschränkten Wahl der Quellen zu sehr der 68er, bzw. der neuen Frauengeneration zugeschrieben. Tatsächlich aber war es die sogenannte «Arbeitsgemeinschaft der schweizerischen Frauenverbände für die politischen Rechte der Frau», die in der heissen Phase mit dem Bundesrat 16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. März 2015 verhandelte und Geld, Kontakte und Medienpräsenz beschaffte. Bei ihr liefen die Fäden zusammen. Rogger belegt dies sorgfältig und als eine der ersten mit schriftlichen Zeugnissen aus dem Archiv zur Geschichte der Schweizer Frauenbewegung. Die Gründerin des Archivs, Marthe Gosteli, präsidierte damals die «Arbeitsgemeinschaft» und zählt heute zu den bedeutendsten Frauenrechtlerinnen der Schweiz. Als solche ist sie Leitfigur sowie Dreh- und Angelpunkt des Buches. 1917 kam sie auf dem Landgut Altikofen zur Welt, dort, wo sich heute das Archiv befindet. Sie wurde hineingeboren in eine Familie bäuerlicher Grossgrundbesitzer, der Vater war Grossrat und Kirchgemeindepräsident, der Grossvater mütterli- cherseits stellte 1907 in Bolligen die erste Sekundarlehrerin ein. Doch nicht nur die Männer prägten Gosteli. Ihre Familiengeschichte ist voll von starken Frauenfiguren: Da war eine Urgrossmutter, die als weibliche Gutsherrin ihren Hof 28 Jahre selbst bewirtschaftete und dazu Stumpen rauchte. Da war aber auch ihre Mutter, «eine Revoluzzerin, die sich für ihr Geld wehrte und Konfrontationen mit dem Eherecht nicht aus dem Weg ging, sondern auf ihr Recht pochte», so Gosteli. Ihre Mutter habe sie gelehrt, selbständig zu denken. Engagierte Schwestern ORNELLA CACACE Franziska Rogger: «Gebt den Schweizerinnen ihre Geschichte!». Marthe Gosteli, ihr Archiv und der übersehene Kampf ums Frauenstimmrecht. NZZ Libro, Zürich 2015. 395 Seiten, Fr. 52.90. Marthe Gosteli (*1917), die Grande Dame der Schweizer Frauenbewegung (Foto 2013). Selbständig Denken lehrten Gosteli aber auch ihre Lehrerinnen in der Sekundarschule der Neuen Mädchenschule in Bern, darunter Louise Grütter und Helene Stucki, beide überzeugte Frauenrechtlerinnen. Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs beendete einen London-Aufenthalt vorzeitig, doch ihre erlangten Englischkenntnisse ermöglichten Gosteli eine Anstellung beim Informationsdienst der amerikanischen Botschaft. Marthe und ihre Schwester waren die ersten Gosteli-Frauen, die sich aus der über Jahrhunderte hinweg gebildeten patriarchalischen Sippenstruktur herauslösten und ihren Lebensunterhalt selbst bestritten. Nach dem Tod ihres Vaters 1957 verwaltete sie das Altikofengut vornehmlich alleine, die kränkliche Mutter war dazu nicht mehr in der Lage. 1949 trat Gosteli dem Berner Stimmrechtsverein bei. Es war der Beginn ihres politischen Kampfes für die Rechte der Frauen, der bereits seit Anfang des zwan- An der Schweizerischen Ausstellung für Frauenarbeit (SAFFA) 1928 in Bern demonstrierten viele Kämpferinnen gegen das schleichende Tempo bei der Einführung des Frauenstimmrechts. GOSTELI ARCHIV zigsten Jahrhunderts im Gang war. Alle europäischen Länder, mit Ausnahme von Liechtenstein und der Schweiz, liessen ihre Frauen wählen, alle Vorstösse, die dies in der Schweiz ändern sollten, waren gescheitert. Zu dieser Zeit spaltete sich die Schweizer Frauenbewegung erstmals in zwei Lager: Die einen waren der Ansicht, die politische Gleichberechtigung liesse sich über die Neuinterpretation der Bundesverfassung einfacher erreichen. Gosteli und der Berner Frauenstimmrechtsverein gehörten nicht dazu. Dort war man überzeugt, dass der männliche Souverän die politische Gleichberechtigung nur dann akzeptiert, wenn er sie selbst gewährt. Zwei rivalisierende Lager Die Spannungen zwischen den beiden Lagern sollten auch später immer wieder aufkommen. Hinzu kamen die jungen Frauen der 68er-Bewegung, denen das Ganze viel zu langsam vonstatten ging und die gegen die «Verkalkung der Älteren» aufbegehrten. Ihre Aktionen waren gegen das «Establishment» gerichtet, laut und publikumswirksam, doch ver- störten sie so manch gut situierten Mann und riefen Trotzreaktionen hervor. Dies wiederum erschwerte die Arbeit von Gosteli und den übrigen «Stimmrechtlerinnen», die auf kluges Verhandeln und stetiges Lobbying setzten. Zwar war dieser Weg langwierig und mit dem nationalen Nein 1959 folgte eine weitere schmerzvolle Niederlage. Doch Gosteli, die seit 1965 im Vorstand des Schweizerischen Frauenstimmrechtsverbandes agierte, sollte recht behalten. Als der Druck zur Unterzeichnung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), die auch den Frauen politische Rechte vorbehaltlos zugestand, stieg, war die Zeit reif: Die «wirksamste unblutige Revolution aller Zeiten» fand im November 1971 ein Ende. Die Historikerin und Archivarin Franziska Rogger übt in ihrem neusten Buch Kritik an der eigenen Zunft und deckt einen Missstand auf, den sie sogleich selbst zu beheben versucht. Es gelingt ihr. «Ohne Gleichberechtigung in der Geschichte keine Gleichberechtigung in der Zukunft», diesen Leitspruch von Marthe Gosteli nimmt sie sich zu Herzen und ordnet die Geschichte der Schweizer Frauen neu ein. Man verzeiht ihr deshalb, wenn diese Geschichte zuweilen etwas bernlastig erscheint. Die Dreiteilung des Buches erlaubt es, die Geschichte der Frauen aus unterschiedlichen Perspektiven und in unterschiedlichen Formen darzustellen. Frei von politischen Ideologien zeichnet Rogger im ersten Teil den beschwerlichen und zermürbenden Kampf der Frauen nach, der schliesslich im Erhalt der politischen Gleichstellung gipfelte. Parallel dazu zeigt sie im zweiten, biografischen Teil Martha Gostelis Leben auf und beschreibt im dritten, wie sie sich aus dem engen Familienbund löst und zur eigenständigen und engagierten Frauenrechtlerin entwickelt. Gerade hier wünscht man sich allerdings bisweilen etwas mehr Nähe. Wie stark haderte Gosteli mit den vielen Niederlagen? Litt sie mitunter auch unter ihrem Entscheid, nicht zu heiraten? Wie machten ihr die Gräben innerhalb der Frauenbewegung zu schaffen? Diese Fragen werden zwar angeschnitten, aber nicht abschliessend beantwortet. l 29. März 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17 Sachbuch Biografie Im Leben von Rainer Maria Rilke (1875–1926) drehte sich viel um die Liebe FlitterwochenimSanatorium Heimo Schwilk: Rilke und die Frauen. Biogafie eines Liebenden. Piper, München 2015. 336 Seiten, Fr. 34.90. Von Claudia Schumacher Die Mutter: eine Psychose auf zwei schönen Beinen. Der Vater: ein brav geschnürtes Bündel aus schwachen Nerven. In der Wüste zwischen den beiden wächst ein Sohn heran, der es zu Weltruhm bringt: Rainer Maria Rilke. Der neuen Biografie des schwäbischen Journalisten und Autors Heimo Schwilk zufolge führte die elterliche Prägung den Dichter in ein Leben, in dem er eigentlich nur eines suchte und doch immer wieder sabotierte. In seinem Buch erzählt Schwilk, der mit Biografien von Hermann Hesse und Ernst Jünger bekannt wurde, das unstete Dasein Rilkes entlang den vielen Frauen, deren Herzen oder Geldbeutel er gewann. Neben der Mutter und der Künstlergattin gab es unzählige Ersatzmütter, Gönnerinnen und Geliebte. Tagebücher und Briefe, die der Biografie zugrunde liegen, belegen die Beziehungen umfangreich. Die Kapitel des Buches sind mit den Namen der Frauen und ihrer Funktion im Leben Rilkes überschrieben: «Lou Andreas-Salomé – Geliebte, Lehrerin, Übermutter» oder «Marie von Thurn und Taxis – Bewunderin, Gönnerin, Mahnerin». In diesem Rahmen legt Schwilk eine Künstlerseele blank, die zwischen Zyklen aus Glücksrausch, Krankheit und Psychosen einen Schaffensegoismus betreibt, der wohl eine Art sublimiertes Imponiergehabe darstellt. Gleichzeitig muss jede Frau hinter der Kunst zurück treten. Drei der vielen sind zentral: die Mutter Sophie Rilke, die Femme fatale Lou Andreas-Salomé und die Bildhauerin und Malerin Clara Westhoff, die den Dichter heiratete. Die Mutter ist die Person, die ihn früh zum Schreiben ermutigt. Eine überreizte Hochbegabte, die selbst im Leben scheitert und ihren Ehrgeiz sowie PLAYGROUND MEDIA PRODUCTIONS präsentiert Das Ehepaar Clara Westhoff und Rainer Maria Rilke um 1900. Die beiden trennten sich bald, weil Rilke die Verantwortung für die gemeinsame Tochter nicht übernehmen wollte. die Neigung zu Hochmut und Fall auf den kleinen Rilke überträgt. Er wird ihren glühenden Glauben in seine Person später bei älteren Gönnerinnen suchen, denen er sich in der Korrespondenz als «Sohn» widmet. Die zweite wichtige Frau, Lou Andreas-Salomé, gab ihm erst den Namen, unter dem er bekannt wurde. Die Schriftstellerin stand auch mit Nietzsche und Freud in Beziehung und war von Rilkes Liebesschwüren nicht beeindruckt wie andere. Im Gegenteil fühlte sie sich zunehmend davon abgestossen. Sie strafte den fast 15 Jahre jüngeren Liebhaber, der eigentlich auf René getauft worden war, mit dem prosaischeren Namen Rainer für seine Extravaganz ab. Schliesslich trennt sie sich von ihm. Doch sie wacht weiter über ihn und mahnt ihn an Pflichten, wenn er sich oder seine Familie durch Flatterhaftigkeit in Schwierigkeiten bringt. Auch zwischen Rilke und seiner Ehefrau Clara Westhoff bleibt zeitlebens eine Bindung bestehen, obwohl bereits die Flitterwochen wegen seiner schwachen Konstitution im Sanatorium verbracht werden. Doch mit der Geburt der Tochter Ruth beginnt das Paar, getrennt zu leben. Rilke flieht die Verantwortung als Vater und spottet später über die Tochter, die nicht mehr als ein bürgerliches Leben will. Darin besteht vielleicht die eigentliche Tragik des Rilkeschen Liebeslebens. Er lehnt die einzige Frau, deren Liebe er sich naturgemäss hätte fast sicher sein können, rigoros ab. Schwilk interpretiert psychologisch schlüssig und verzichtet angesichts der Verletzungen, die Rilke seinem Umfeld durch emotionale Unreife zufügt, weitgehend auf Moralin. Dennoch geht die grosse Empathie für Rilke mitunter in eine Nähe über, die zu viel werden kann. So gross Schwilks Einfühlungsvermögen hinsichtlich Rilke ist, so klein erscheint es für die Frauen in Sätzen wie: «Sie wussten, dass die Liebe vor allem den Liebenden beschenkt, der Schmerz aber auch etwas Heilsames hat.» Rilkes Tochter nahm sich schliesslich das Leben. ● «Was würdest du tun, wenn du nur noch ein Jahr zu leben hättest?» N E B E L E D N ZU E <wm>10CAsNsja1NLU01DU3MDYzNAcAZuc2fA8AAAA=</wm> <wm>10CFWKOwqAQAwFT5QlyTOJcUvZTizEfhux9v6Vn06YKQZmWaoV_pzburetWloKBcMl3igaXiW1hHllKJTFJhkwmqf9dmJJB6O_CzFI0WUgxEMPSLmO8wa176QacQAAAA==</wm> Ein F CA PA C E B E R n o ilm v 10. Zurich Film Festival PUBLIKUMSPREIS 2014 NIAN mit PEDRO LENZ DIMITRI FRANZ HOHLER KURT AESCHBACHER NIK HARTMANN u.a. Ab 16. April im Kino 18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. März 2015 In Zusammenarbeit mit Russland Die sowjetische Geschichte war kein Daueraufstand. Was sie war und was sie ausmachte, erzählt Orlando Figes in einer kompakten Darstellung DieRevolutionfrisstihreKinder Phase anschloss. Sie begann mit Chruschtschows Geheimrede, dauerte Jahrzehnte und endete, wie sie begonnen hatte: Die Partei verlor ihre Autorität, ihre Einheit und den Glauben an sich selbst. Der Schwerpunkt liegt auf den ersten beiden Phasen, die letzte wird kurz, wenn auch prägnant skizziert. Orlando Figes: Hundert Jahre Revolution. Russland und das 20. Jahrhundert. Hanser, München 2015. 384 Seiten, Fr. 39.90, E-Book 28.90. Von Victor Mauer Revolutionen mögen die «Dampfmaschinen der Geschichte» (Karl Marx) sein. Das Joch der Tyrannei haben sie nach den Worten George Bernard Shaws jedoch meist auf eine andere Schulter gewälzt. Auf keine Revolution lässt sich diese Feststellung so treffend anwenden wie auf die russische Oktoberrevolution des Jahres 1917. Knapp hundert Jahre nach den Russland und die Welt verändernden Ereignissen legt Orlando Figes eine analytisch dichte und wunderbar lesbare Geschichte Sowjetrusslands vor. Wer mit dem Werk des am Birkbeck College in London lehrenden Historikers vertraut ist, wird bei der Lektüre an jene wegweisenden Studien erinnert, die der Autor in den letzten Jahrzehnten zur Epoche der russischen Revolution ebenso wie zum Leben in Stalins Sowjetunion vorgelegt hat. Nahtlos verschmelzen Erzählung und Analyse zu einem grossen Ganzen. Die Klammer bilden dabei zwei Revolutionen: jene von 1917, die nach Jahren der Inkubation unter gezielter Anwendung von Gewalt von unten herbeigeführt wurde; und eine zweite, die, ursprünglich als Reform und Rückbesinnung auf die Grundlagen der Revolution von 1917 konzipiert, 1991 ganz und gar ungewollt als Revolution von oben in den Kollaps der Sowjetunion mündete, gerade weil die politisch Verantwortlichen auf die Ausübung von Gewalt verzichteten, als ihnen die Kontrolle entglitt. Erfolg eines Gescheiterten Ein russisches Plakat von 1920 zeigt Revolutionsführer W. I. Lenin (1870– 1924). Die russische Bildlegende bezieht sich auf Karl Marx: «Ein Gespenst geht um in Europa, das Gespenst des Kommunismus.» Die Komplexität der Ereignisse reduziert Figes auf das Wesentliche, ohne die widerstreitenden Interessen der Akteure im Wechselspiel zwischen realen und vermeintlichen Sachzwängen, Gewolltem und Gewordenem unzulässig zu vereinfachen. So weist eben keine gerade Linie von der Hungersnot der Bauern im Südosten 1891 über die revolutionäre Krise 1905 zur Doppelrevolution 1917, als im Februar eine auf den Strassen gemachte Revolution zu einer in den Salons gebildeten Regierung führte, um acht Monate später durch eine grundlegende soziale Revolution abgelöst zu werden. Vielmehr räumt Figes mit dem Mythos auf, wonach die Wurzeln des zaristischen Zusammenbruchs in der Unzufriedenheit der Bauern oder in der Arbeiterbewegung gelegen hätten. Stattdessen betont er den wachsenden Konflikt zwischen einer dynamischen öffentlichen Kultur und einer verknöcherten Autokratie. Am Ende sei der bolschewistische Aufstand kein heldenhafter Kampf der Massen, sondern derart überschaubar gewesen, dass die «Erstürmung» des Winterpalais eher einer «polizeilichen Einvernahme» geglichen habe. Wenn die Kapitel zur ersten Phase analytisch zu den überzeugendsten gehören, dann befassen sich jene der zweiten Phase mit den dunkelsten Facetten der sowjetischen Geschichte: der Kollektivierung, den Arbeitslagern, dem Grossen Terror. Die Revolution frass ihre Kinder. Verführung und Gewalt wurden zum Signum einer ganzen Epoche. Denn ohne die Zehntausenden, die wie der ehemalige Komsomol-Angehörige und spätere Dissident Lew Kopelew meinten, mit ihren brutalen Aktionen gegen die Bauern «eine historisch notwendige Tat» zu vollbringen, hätten Stalin und seine ihm bis weit über den Tod hinaus in hündischem Gehorsam ergebenen Gefolgsleute wie Wjatscheslaw Molotow ihre wahnhafte Mission nicht erfüllen können. Die Unfähigkeit des Volkes, einen realen Wandel herbeizuführen, hatte ihren Ursprung in den dreissiger Jahren. Um zu überleben, hatte der gewöhnliche Bürger gelernt, stumm zu bleiben und die Obrigkeit nicht in Frage zu stellen. Ausschlaggebend für den Zusammenbruch von 1991 war deshalb die Art und Weise, mit der sich das Regime von der Spitze her auflöste. So gesehen, erscheint das abschliessende Urteil über Michail Gorbatschow nur auf Anhieb paradox: Als an seinen eigenen Plänen Gescheiterter wird er für immer eine bedeutende historische Figur bleiben. Mit seiner Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert erklärt Orlando Figes uns nicht nur die Vergangenheit. Er hilft uns auch, die Grundlagen für das heutige Abdriften des Landes in eine Autokratie besser zu verstehen. l INTERFOTO Kontinuitäten und Brüche Deshalb, wie Titel und Einleitung insinuieren, von einer Dauerrevolution zu sprechen, ist wenig zielführend. Schliesslich folgten dem revolutionären Aufbruch Phasen der Konsolidierung, der Reformen und – unter dem grauen Funktionär Breschnew, der, wie Figes selbst betont, so gar nichts Revolutionäres an sich hatte – der Restauration. Dass die Revolution von 1917 und ihre Prinzipien, vom Einparteienstaat als Inbegriff der Diktatur des Proletariats über das Staatseigentum an den Produktionsmitteln bis hin zur Vorherrschaft kollektiver Interessen, jahrzehntelang als Selbstvergewisserung, als Rechtfertigung und nicht zuletzt als disziplinierender Faktor herhalten mussten, ändert daran nichts. Im Gegenteil, dem Autor erlauben sie, Kontinuitätslinien und –brüche umso klarer herauszuarbeiten. Figes unterteilt seine Geschichte in drei Phasen. Der Periode der Revolution und des Bürgerkriegs folgte die Ära der brutalen Machtsicherung, der sich schon wenige Jahre nach Stalins Tod die letzte 29. März 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19 ANDREAS GERTH, NATURERBE DER SCHWEIZ, HAUPT-VERLAG 2015 Sachbuch Naturerbe Die 162 vom Bund geschützten Gebiete unseres Landes – beschrieben und in prächtigen Bildern vorgestellt SoschönistdieSchweiz Raymond Beutler, Andreas Gerth: Naturerbe der Schweiz. Die Landschaften und Naturdenkmäler von nationaler Bedeutung. Haupt, Bern 2015. 392 Seiten, Fr. 84.90. Von Sarah Fasolin Ist das wirklich in der Schweiz? Mehr als einmal stellt man sich diese Frage, wenn man die Bilder im Buch «Naturerbe der Schweiz. Die Landschaften und Naturdenkmäler von nationaler Bedeutung» betrachtet. Das muss doch in Kanada Morgennebel über dem Burgäschisee, südwestlich von Herzogenbuchsee. sein, denkt man, oder in Schottland oder in Island. Nein, es ist der Breccaschlund in den Freiburger Voralpen, das Chaltenbrunnenmoor im Berner Oberland oder das Laggintal im Wallis. 162 Landschaften stellen die Autoren, der Geograf und Raumplaner Raymond Beutler und Landschaftsfotograf Andreas Gerth auf knapp 400 Seiten vor. Es sind die Gebiete des «Bundesinventars der Landschaften und Naturdenkmäler von nationaler Bedeutung» (BLN), die vom Bund zwischen 1977 und 1998 als schützenswert definiert wurden. Nebst den Klassikern wie dem Rheinfall oder dem Matterhorn lernt der Leser wenig bekannte Ecken des Landes kennen. Die Breggiaschlucht im Tessin mit ihren rot gestreiften Felsbrocken. Die Wässermatten im Oberaargau. Oder wer hat schon einmal etwas vom Reich des Perückenstrauchs auf den Bergij-Platten im Wallis gehört? Es ist das erste Mal, dass sämtliche BLN-Objekte der Schweiz in einer Publikation beschrieben und abgebildet werden. Und schon nach den ersten Seiten ist klar, worum es hier geht: Nicht darum, die unter der Zersiedelung veränderte Landschaft der Schweiz zu beklagen, Gesellschaft Marathonlauf ist zu einem Massenphänomen der globalisierten Welt geworden Erkenntnisse in Turnschuhen Matthias Politycki: 42,195. Warum wir Marathon laufen und was wir dabei denken. Hoffmann und Campe, Hamburg 2015. 320 Seiten, Fr. 29.90, E-Book 18.90. Von Remo Geisser Jetzt sind sie wieder unterwegs. In London, Boston, Wien – und auch in Zürich. Die grössten Städtemarathons ziehen bis zu 50000 Sportlerinnen und Sportler an. Was bewegt all diese Leute, einem Vorbild nachzueifern, der laut Mythos am Ende seines Laufes tot zusammenbrach? Es war der Meldeläufer Pheidippides, der 490 vor Christus von Marathon nach Athen rannte, um vom Sieg über die Perser zu berichten. Als Wettkampf wurde der Marathon an den ersten Olympischen Spielen der Neuzeit 1896 in Athen eingeführt, eine Massenbewegung ist er erst seit den 1980er Jahren. Ungezählte Laufbücher befassen sich mit dem Training oder erklären, an wel20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. März 2015 chen abgelegenen Orten es zusätzlich zu den 42,195 Laufkilometern noch besondere Erlebnisse gibt. Am Nordpol zum Beispiel, in der Sahara oder auf der Chinesischen Mauer. Nur selten widmen sich aber Literaten dem Thema. Matthias Politicky hat es getan. Warum? Wahrscheinlich, weil Laufen für ihn genauso Bestandteil des Lebens ist wie Schreiben. Seit 40 Jahren läuft er, seit 40 Jahren schreibt er. Und immer wieder wurde er gefragt: Warum? Er diskutierte darüber mit Laufkameraden, und einmal kam während eines langen Trainings folgende These auf: Wer sich mit dem Laufen beschäftige, nämlich all dem, was man als Randparameter dieses Sports bezeichnen könne, der beschäftige sich unweigerlich mit der Befasstheit des Menschen schlechthin, des Menschen in der postmodernen Eventgesellschaft. Das ist ein Thema, das Politicky auch in seinen Romanen aufgreift. Sein Marathon-Buch gliedert er in 42,195 Kapitel. Das ist nicht gerade origi- nell und wirkt zu Beginn langatmig. Je mehr man sich aber in den Text einliest, desto mehr begreift man, dass die Struktur den Marathon realitätsnah abbildet. Denn auch Laufen ist langatmig, und man durchlebt abwechselnd Demut, Ärger, Euphorie, Zweifel, Angst. Aber nie darf man das Ziel aus den Augen verlieren. «Wenn der Startschuss fällt, beginnt das Rennen deines Lebens», schreibt Politicky. Und: «Wer heute stehen bleibt, setzt sich morgen hin (…), ist übermorgen tot.» Auf dem Weg ins Ziel erzählt der Schriftsteller von Freuden und Leiden des Trainings, von Verführungen des Marketings, das mit immer neuen Schuhen, Hightech-Kleidungsstücken und Pülverchen Wunder verspricht. Er schreibt von Erfahrungen an Rennen in verschiedenen Ländern, aber auch von der Auseinandersetzung mit sich selbst und der Welt. «Sobald man sich nicht mehr auf den Parcours konzentrieren muss, geht der Lauf konsequent nach innen. Alles Überflüssige bleibt auf der Strecke – man kommt stets als ein anderer zurück.» Nur selten verweist Politicky auf die Gemeinsamkeiten von Laufen und Schreiben. «So wie man beim Laufen en passant alle möglichen Probleme verarbeitet, wachtraumhafte Phantasien auslebt, spontan Ideen entwickelt, so kommen auch beim Schreiben die besten Einfälle ganz unversehens und beiläufig.» Dass es trotzdem eine Strategie braucht, erlebte der Autor mit dem Roman «Samarkand Samarkand», an dem er wiederholt scheiterte, bis er ihn nach Jahrzehnten endlich doch auf dem Papier hatte. «Man darf einen Marathon in der Euphorie nicht zu schnell beginnen, auf der Strasse nicht und am Schreibtisch erst recht nicht.» «42,195» ist keine Anleitung zum Bücherschreiben und auch keine zum Marathonlaufen. Aber das Buch kann Läufern helfen, sich selber besser zu begreifen – und Nichtläufern eine Ahnung davon geben, warum Leute Tag für Tag ihre Sportschuhe schnüren. l Verhalten Der klinische Psychologe Walter Mischel sieht die Resultate seines berühmten Süssigkeiten-Tests Jahrzehnte später bestätigt WieKinderSelbstdisziplin erlernen Walter Mischel: Der Marshmallow-Test. Willensstärke, Belohnungsaufschub und die Entwicklung der Persönlichkeit. Siedler, München 2015. 346 Seiten, Fr. 37.90, E-Book 24.90. Von Michael Holmes Ein Marshmallow ist das Symbol für eines der wichtigsten und berühmtesten Experimente in der Geschichte der Sozialwissenschaften. Ab 1968 legten Psychologen der Stanford University 562 Vier- und Fünfjährigen einen Marshmallow oder eine andere Süssigkeit auf einen Tisch und stellten sie vor die Wahl: eine Leckerei gleich oder zwei Leckereien später. Durch einen Einwegspiegel beobachteten die Forscher, wie die Kinder die Geduldsprobe zu meistern versuchten, sobald sie allein waren. Videos der Tests auf YouTube sind zutiefst bewegend und zum Schreien komisch. Kinder führten Selbstgespräche, erfanden Spiele und Lieder, schlossen die Augen oder steckten sich die Faust in den Mund. Die Wissenschafter identifizierten Strategien, mit denen Kinder der Versuchung widerstehen und viele frustrierende Minuten auf einem Stuhl ausharren konnten. Aber die erstaunlichsten Resultate sollten sie erst viele Jahre später erhalten, als sie die Probanden erneut aufsuchten. Denn die im Vorschulalter gemessene Fähigkeit zum Belohnungsaufschub besass eine unerwartet starke und weitreichende Vorhersagekraft für den Erfolg und das Wohlbefinden im späteren Leben. Der Versuchsleiter Walter Mischel, heute an der Columbia University, schildert in seinem faszinierenden und faktenreichen Buch «Der MarshmallowTest» den genauen Ablauf der Studie, seine grosse Überraschung über die Ergebnisse sowie die Diskussionen über deren Interpretation. Der Test wurde auch in Trinidad, Chile, Boston und der New Yorker Bronx sowie in Dutzenden Varianten durchgeführt. Statistiker haben gewaltige Datenmengen unter die Lupe genommen. Fest steht: Jugendliche, die als Kinder im Marshmallow-Test gut abgeschnitten hatten, waren nach Einschätzung von Eltern, Lehrern und Psychologen konzentrierter, stressresistenter, sozialer und friedfertiger. Im Beim MarshmallowTest geht es um Impulskontrolle: Soll ich gleich zugreifen oder lieber warten? Studierfähigkeitstest erreichten sie 210 Punkte mehr. Als Erwachsene hatten sie mehr Selbstachtung und einen niedrigeren Body-Mass-Index. Sie konsumierten weniger Drogen und liessen sich weniger häufig scheiden. Mischel hält die Selbstkontrolle für die «Leitkompetenz» der emotionalen Intelligenz und stellt eine schlichte Theorie vor, welche deren enormen Einfluss auf sämtliche Lebensbereiche umfassend erklären soll. Dieser zufolge konkurrieren zwei eng miteinander verwobene Gehirnsysteme um Einfluss auf unser Verhalten. Das heisse System sei emotional, reflexhaft und impulsiv. Das kühle System ermögliche rationales, umsichtiges, planvolles Handeln. Hirnforschungen zeigen, dass die Amygdala und der neofrontale Kortex die Zentren des heissen und kühlen Systems bilden. Wer sich von einem System beherrschen lasse, könne kein erfüllendes und erfolgreiches Leben führen. In den Experimenten fanden die erfolgreichsten Kandidaten Wege, die Wirkung der sinnlichen Reize zu verringern. Wenn die Forscher die Süssigkeiten verdeckten oder Kinder dazu ermunterten, sich mit lustigen Gedanken abzulenken, warteten diese etwa zehnmal länger. Wenn sie den Kindern rieten, sich die Leckereien in einem Bilderrahmen vorzustellen, hielten diese sogar 18-mal länger durch. Auch der Gedanke, was ein Erwachsener an ihrer Stelle tun würde, verlängerte die Wartezeiten. Mischel fordert ein Bildungs- und Erziehungssystem, in dem jedes Kind eine tiefgreifende Charakterbildung erhält. Er hat Schulen besucht, die Kinder aus der Armut holen, indem sie deren emotionale Intelligenz stärken. Ausserdem verrät er viele nützliche Tipps und Tricks, wie wir die Impulskontrolle in jedem Alter fördern können. Dieses bedeutende Werk zeigt, dass wir uns immer neu entscheiden können, ob wir den Marshmallow gleich geniessen oder lieber warten. l GETTYIMAGES sondern das, was ist und erhalten werden soll, zu zelebrieren. Die Fotos sind bei Postkartenwetter und stets so aufgenommen, dass weder Masten noch Hochspannungsleitungen den Himmel durchschneiden. Kaum eine Strasse ist darauf, geschweige denn ein Mensch oder ein Auto. Nur Wälder, Weiden, Flüsse, Ufer, da und dort ein Gebäude. Die Bilder wirken fast zu perfekt. Doch abgesehen von vier Fotos, bei denen er ein Kabel oder einen Pfosten herausretuschiert habe, habe er die Landschaften so angetroffen, sagt Andreas Gerth. Die Texte beschreiben die Charakteristiken der einzelnen Gebiete und schaffen es trotz ihrer Kürze, auch Historisches, Geologisches oder Biologisches mit einzubeziehen. Man erfährt, dass die Libelle «Gelbe Keiljungfer» in Mitteleuropa nur am Hochrhein vorkommt. Oder wie die Erdpyramiden im Val Sinestra entstanden sind. Dass Raymond Beutler die Landschaften, abgesehen von drei kleinen Ausnahmen, alle selber zu Fuss erkundet hat, schlägt sich in den Texten nieder. Anschaulich und für ein breites Publikum verständlich fasst er in Worte, was es vor Ort jeweils zu sehen gibt. Der Erscheinungstermin des Buches hingegen überrascht. Denn seit 2006 arbeitet das Bundesamt für Umwelt an einer Überarbeitung des BLN. Die Objekte werden neu beschrieben, die Eigenschaften und Schutzziele der einzelnen Landschaften präziser formuliert. Für seine Texte konnte sich Autor Beutler zwar auf die Entwürfe stützen, aber nicht auf die definitiv vom Bundesrat verabschiedete Fassung, die bereits in den nächsten drei Monaten erwartet wird. Dennoch ist das Buch ein starkes Statement zu den Landschaften der Schweiz zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Eines, das zum Blättern und Lesen, aber auch zum Aufbrechen, Wandern und Entdecken einlädt. l 29. März 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21 Sachbuch Showbusiness Die Gewinnerin des Grand Prix d’Eurovision 2014 erzählt in ihrer Autobiografie von ihrem steinigen Weg zum Erfolg und ihrer politischen Mission NochistPhoenixnichtauferstanden Conchita Wurst: Ich, Conchita. Meine Geschichte. We are unstoppable. LangenMüller, München 2015. 192 Seiten, Fr. 29.90, E-Book 25.–. Die bärtige Lady ist eigentlich eine Jahrmarktkuriosität aus jenen Tagen, in denen man sich noch ohne Fernsehen an Seltsamkeiten erfreuen musste. Dennoch passt Conchita Wurst, die Gewinnerin des letztjährigen Prix d’Eurovision, in eine Zeit, in der die einen die Einführung geschlechtsneutraler Toiletten proklamieren, während andere Homosexualität noch immer als etwas Unnatürliches verdammen. Es wäre aber falsch, den Erfolg der von Tom Neuwirth geschaffenen Kunstfigur einzig ihrem Paradiesvogel-Dasein zuzuschreiben. Natürlich, noch immer wird das Seltene bevorzugt, der Unique Selling Point hat nichts von seiner Bedeutung eingebüsst. Mittlerweile trägt das Ungewöhnliche aber ein neues Gesicht: Die Authentizität. In der durchchoreografierten Bühnenshow des Gesangswettbewerbs waren der Schmerz, der sich in Wursts Lied «Rise like a Phoenix» ausdrückte, echt, gepaart mit Freude über das Erreichte, und dafür liebte das Publikum sie, denn solche Momente sind selten heutzutage, wo jeder Provinzpolitiker einen PR-Berater hat. Nun hat die Gefeierte mit dem absurden, aber eingängigen Namen ein Buch geschrieben. «Ich, Conchita. Meine Geschichte», heisst der schlichte Titel, ergänzt durch den Zusatz «We are un- GEORG HOCHMUTH Von Malena Ruder Conchita Wurst Hand in Hand mit Jean Paul Gaultier am Life Ball in Wien, 31. Mai 2014. stoppable», ein Schlachtruf, der etwas naiv daherkommt in seinem Anglizismus. Für letzteren Gedanken schämt man sich dann gleich wieder, denn wieso ist es kindlich konnotiert, wenn man sich bedingungslos einsetzt für mehr Toleranz, Liebe, kurz: eine bessere Welt? Was sich ausbreitet auf 128 Textseiten (der Rest sind Bilder) ist eine Mixtur aus Lebensgeschichte und Pamphlet für eine ebensolche. Erzählt wird in der ersten Hälfte das Märchen (respektive das Musical, wie Wurst schreibt) vom hässlichen Entlein, das zum schönen Schwan wird. Die Jugend des Homosexuellen in einem liebevollen Elternhaus im ländlichen Österreich wird überschattet von dem Gefühl, nicht in Ordnung zu sein. Neuwirth wird geärgert, gequält, er leidet, da sind «die kleinen Gemeinheiten, das Tuscheln hinter dem Rücken, die Schimpfworte». Leider fehlen Szenen, welche den Leser an diesen Schmerz heranführen, alles bleibt abstrakt, auf Distanz. Hinter der bunten Hülle scheint sich ein strebsamer Mensch zu verbergen; mehrmals betont Wurst, wie wichtig Fleiss und harte Arbeit ist: «Wer nach oben will, muss morgens früh aufstehen.» Dieses lehrerhafte Gehabe vergrössert noch die Distanz zum Leser, die sich leider durch das ganze Buch zieht, man hat nie das Gefühl, der Person Conchita Wurst wirklich nahezukommen, geschweige denn Tom Neuwirth. Die Beziehung dieser beiden Persönlichkeiten, die in einem Menschen vereint sind, bleibt ebenso unbeleuchtet wie die Charaktere seiner Freunde und die der Familie; alle bleiben leere Hülsen. Das Thema Liebe wird überhaupt nicht behandelt. Selbst der grosszügig angelegte Fototeil, eine Art gedrucktes Facebook-Album, das ein Drittel des Buches ausmacht, vermag es nicht, Nähe herzustellen. Dies liegt vor allem daran, dass Kinderbilder des jungen Neuwirth und Bilder von Conchita Wursts erfolgreichem Leben vertreten sind, aber gerade die ausführlich beschriebenen Teenagerjahre völlig fehlen; schade. Es bleibt zu hoffen, dass Wurst in den nächsten Jahren neben ihrem verdienstvollen Einsatz für Gleichberechtigung die Zeit bleibt, ein Buch zu schreiben, das es schafft, auch den Zauber ihrer Auftritte einzufangen. ● Geschichte Zum 100. Jahrestag des Genozids hält Rolf Hosfeld ein Plädoyer für die Armenier Und es war ein Völkermord Rolf Hosfeld: Tod in der Wüste. Der Völkermord an den Armeniern. C. H. Beck, München 2015. 288 Seiten, Fr. 34.90. Von Geneviève Lüscher Der Kulturhistoriker und Journalist Rolf Hosfeld ist kein Unbekannter in Sachen Armenien. Bereits 2005, 90 Jahre nach Beginn der Deportationen in der Türkei, hat er mit seinem Buch «Operation Nemesis» seine dezidierte Meinung zum Massaker an den Armeniern kundgetan. Nun doppelt er nach und beschreibt detailliert die historische Situation, die zum Desaster führte. Seit Jahrzehnten tobt unter Historikern – insbesondere türkischen und armenischen – ein Kampf um die Frage, ob der Mord an den Armeniern eine bewusst organisierte Vernichtungsaktion war, ein Völkermord also, oder nicht. Für die Ar22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. März 2015 menier ist klar, dass sie unschuldige, aber geplante Opfer des Regimes waren. Die türkische Seite interpretiert die Deportationen als Antwort auf einen armenischen, von Russen und Briten unterstützten Aufstand gegen die Türkei. Tatsache ist, dass sich die Armenier in der Osttürkei mit den 1877 einmarschierenden Russen gegen das Osmanische Reich zusammentaten, das in diesem Krieg unterlag und grosse Verluste zu beklagen hatte. Die Antwort der Türken – Deportation und Mord – war befeuert vom Nationalismus der Jungtürken und artete in unvorstellbare Greuel aus. Die meisten westlichen Historiker und auch der Autor neigen heute zur armenischen Version, und eine ganze Reihe von Staaten stuft sie offiziell als Völkermord ein, nicht so die Schweiz. Die Türkei ihrerseits hat 2014 erstmals den Armeniern ihr Beileid ausgesprochen, ohne aber den Begriff «Genozid» zu verwenden. Deportationen von unliebsamen Bevöl- kerungsgruppen waren im 19./20. Jahrhundert gängige Praxis, die auch von anderen Nationen betrieben wurde. In der Türkei arteten diese aber in zügellose und ungehinderte Massaker aus. Wer nicht brutal abgeschlachtet wurde, den trieb man in die Wüste, wo ein Überleben unmöglich war. «Es war politischer Vernichtungswille am Werk», schreibt Hosfeld, dem schliesslich 1,1 Millionen Armenier zum Opfer fielen. Der Genozid sei der Endpunkt einer über Jahrzehnte schwelenden Radikalisierung in der türkischen Nationsbildung gewesen. Die Parteinahme des Autors ist eindeutig, bisweilen «parteiisch». Argumente gegen die These eines zentral gesteuerten Genozids werden kaum diskutiert. Die drastischen Schilderungen der Säuberungen, der Pogrome, der Todesmärsche, Exekutionen und Abschlachtungen sind in ihrer Wiederholung schier unerträglich und bisweilen fast zu viel des Schlechten. ● Geschichte Die Organisation Heer und Haus funktionierte während des Zweiten Weltkriegs als schweizerischer Nachrichtendienst UngefilterteStimmender Aktivdienstgeneration bereits aus den Stimmen der Aktivdienstgeneration. «Sie gab sich nicht blind dem Vertrauen in die ‹Elite› hin, sondern stellte Fragen und verlangte ehrliche Antworten», schreibt der 1941 geborene Schoch. Fragen stellten sich der Bevölkerung vor allem nach dem Rückzug der Armee ins Alpenreduit. Gab man damit nicht die Städte und Frau und Kinder preis? Die Bauern machten sich keine Illusionen, wie ein Lehrer aus Amlikon meldete. Sie sagten ihm: «Wenn wir angegriffen werden, so ist unser Mittelland sowieso verloren. Das Gebirge können wir vielleicht halten, aber was nützen uns die Steine?» Zum Helden avanciert in Schochs Darstellung der Chef des Aufklärungsdienstes, Korporal August R. Lindt. Ein muti- Jürg Schoch: Mit Aug’ und Ohr für’s Vaterland. Der Schweizer Aufklärungsdienst von Heer & Haus im Zweiten Weltkrieg. NZZ Libro, Zürich 2015. 352 Seiten, Fr. 52.90. Von Thomas Zaugg Schauplätze Jane Austen – ein weiblicher Shakespeare #### CREDIT Im Spätsommer 1942 zeigte das Zürcher Kino Urban die übliche Nazipropaganda. Man sah tote Briten im Wasser liegen, von den Wellen an Land gespült, mit zerquetschten Gesichtern, die Kamera zoomte. Deutschland durfte die Schweiz mit diesen Bildern überschwemmen, die Zensur galt vornehmlich für hiesige Erzeugnisse. Das Kinopublikum habe sich aber bald gewehrt, schrieb eine Vertrauensperson dem Schweizer Aufklärungsdienst Heer und Haus. «Assez!», schrie ein Mann, das ganze Kino Urban schrie mit, stampfte mit den Füssen, so dass die nazistische Wochenschau unterbrochen wurde. Über solche Stimmungslagen rapportierten rund 7000 Vertrauensleute bei Heer und Haus während des Krieges. Bauern wie Näherinnen, Gewerkschafter wie Rechtsanwälte meldeten nach Bern, was ihnen im Alltag auffiel. Diese «Tätigkeitsberichte» hat der promovierte Historiker und einstige Bundeshauskorrespondent Jürg Schoch ausgewertet. Zu allen wichtigen Ereignissen lässt Schoch den Volksmund ungefiltert sprechen, und das macht sein Buch so wertvoll. Im Grunde handelt es sich um eine Geschichte der Schweiz im Zweiten Weltkrieg von unten. Ob Hitler, wenn er komme, alle Frauen nach dem Osten verschleppen wolle? Ob jede Woche per Flugzeug zwei hohe Deutsche nach Zürich kämen, um auf dem Dolder gut und genug zu essen? Allzu menschliche Mutmassungen trafen täglich ein. Manch einer denunzierte auffällige Ausländer, denen sodann die politische Polizei nachspürte. Angst und Not kochten insbesondere den Deutschenhass hoch. Ein Garagist, der ein Fahrzeug mit deutscher Nummer Probe fuhr, schrieb: «Bedauerlich ist auch, dass sogar Offiziere in Uniform sich gemeiner Zurufe nicht enthalten können.» Den Volkszorn belegen viele Meldungen rund um die 1940 wieder eingeführte Todesstrafe auf Landesverrat. Grausam gehässig etwa das Gerücht, die Verurteilten hätten sich «splitternackt» beugen müssen, «bis der Rumpf eine gerade Linie bildete, dann seien sie von hinten durch den ‹Arsch› erschossen worden». Schoch hält sich jedoch nicht mit der Kritik an solchen Exzessen auf. Versöhnlich ist sein Gesamturteil über das zivile Gesinnungskader: Vieles, was später die 68er am Verhalten der offiziellen Schweiz im Zweiten Weltkrieg anprangern, raunt ger, weitgereister NZZ-Korrespondent, las Lindt dem katholisch-konservativen Innenminister Etter regelmässig die liberalen Leviten. Im November 1943 rapportierte Lindt, die Handelspolitik gegenüber Deutschland betrachteten die Schweizer «als unklug oder gar als unneutral». Unmenschlich erschien vielen darüber hinaus die Grenzsperre gegen die Juden. Ein Gemeindekassier schrieb der Organisation Heer und Haus, was damals wohl manche dachten: «Es ist begreiflich, dass die Flüchtlingswelle irgendwie eingedämmt werden musste, aber die anfänglich getroffenen Massnahmen widersprachen doch den Gesetzen der Menschlichkeit, auch wenn es sich bloss um Juden handelt.» l Wer kennt sie nicht, Jane Austens Romane oder deren Verfilmungen: «Pride and Prejudice» (Stolz und Vorurteil), «Northanger Abbey» (Die Abtei von Northanger), «Sense and Sensibility» (Verstand und Gefühl) und wie sie alle heissen. Die Schauplätze dieser Werke korrespondieren mit den Schauplätzen des Lebens der Autorin, das in einer eng umgrenzten Region in Südengland stattgefunden hat. Der Bildband von Kim Wilson geht diesen Erinnerungsorten nach und lässt uns teilhaben am Leben der Autorin und dem ihrer Protagonistinnen. Geboren 1775 in Steventon, Grafschaft Hampshire, schrieb Austen dort auch die ersten Fassungen ihrer berühmtesten Romane, das Pfarrhaus existiert aber heute nicht mehr. 1801 zieht die Familie mit den unver- heirateten Töchtern ins mondäne Bath, später nach Southampton, dann nach Chawton (s. Bild; das Cottage der Austens, gemalt vermutlich von der Schwester Anne) und schliesslich nach Winchester, wo Jane Austen 1817 nur 42-jährig starb. Die Austens gehörten nie zur Oberschicht, dennoch spielen die Romane in Herrenhäusern der jeweiligen Umgebung, wo sich der glamouröse Alltag des Landadels und des gehobenen Bürgertums um Nichtigkeiten drehte. Austen beobachtete dieses Leben, in dessen Zentrum für die Frauen die alles entscheidende Hochzeit stand, und fing es mit Schärfe, Charme, Witz und feiner Ironie ein. Geneviève Lüscher Kim Wilson: Auf den Spuren von Jane Austen. Knesebeck, München 2015. 144 Seiten, Fr. 44.90. 29. März 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23 Sachbuch Haushalt Die finnische Autorin Maria Antas schreibt ein pfiffiges Buch über das Putzen Ein bisschen Dreck ist gesund Maria Antas: Wisch und weg. Ein Buch über das Putzen. Insel, Berlin 2015. 171 Seiten, Fr. 27.90. Von Berthold Merkle Ein Buch über das Putzen. Auch das noch! Doch das Thema ist nicht trist und öde, sondern unterhaltsam, spannend und richtig lustig – wenn es von einer pfiffigen Autorin wie Maria Antas aufgewirbelt wird. Die finnische Schriftstellerin ist 50-jährig, kann sich also noch daran erinnern, wie früher geputzt wurde. Als beim wöchentlichen Grossputz die Böden gescheuert («Meine Güte, was mussten wir Frauen im Laufe der Zeit knien und buckeln») und die Teppiche geklopft wur- den. Bei der Autorin haben diese Kindheitserlebnisse aber offensichtlich kein Trauma verursacht. Noch immer hat sie Spass am Putzen: Sie unterwirft sich dem Ritual, blickt hinterher zufrieden auf die geleistete Arbeit und freut sich über den frischen Duft, die glänzenden Fliesen und die knisternde Bettwäsche. Derart versiert in der Praxis, liegt es für Maria Antas nahe, auch die theoretische Seite dieses rätselhaften Tuns zu erforschen. In Skandinavien gibt es dazu reich gefüllte Archive mit Untersuchungen über das Putzen zu allen Zeiten. So erzählt sie beiläufig eine reiche Kulturgeschichte, die mit Lappen und Scheuerpulver auch den gesellschaftlichen Wandel freilegt. Von den Vertreterinnen der «Martha-Bewegung», die vor 100 Jahren den Frauen die Hygiene beibrachten, zu Meister Proper und seinen Kollegen. Die psychologisch unterwanderten Werbespots schafften, was die guten alten Volksaufklärerinnen nicht konnten: Angst machen vor Schmutz, den man gar nicht sieht. Die Bakterien sorgten dafür, dass die Frau plötzlich um das Leben ihrer Familie putzen musste. Für Antas eine zutiefst schockierende Entwicklung. Denn der Putzwahn wird so krankhaft. Vielleicht, vermutet sie, hat auch «die kurze Blütezeit des Teppichbodens» mit der vermeintlichen Bedrohung durch unsichtbare Bakterien zu tun. Die Autorin lässt sich aber nicht beirren: «Ein bisschen Schmutz ist ganz einfach gesund.» Mit dieser Erkenntnis ist das wunderbare Buch geworden, was gutes Putzen sein soll: gründlich recherchiert, sauber geschrieben, glänzend. ● Afghanistan Eine junge deutsche Reporterin zieht es an den Hindukusch Den Krieg mit eigenen Augen sehen Ronja von Wurmb-Seibel: Ausgerechnet Kabul. 13 Geschichten vom Leben im Krieg. DVA, München 2015. 256 Seiten, Fr. 27.90, E-Book 17.90. Von Victor Merten Nach Afghanistan zu ziehen, um von dort zu berichten, ist eine gehörig verrückte Idee. Ronja von Wurmb-Seibel hat dies trotzdem getan. Die junge Journalistin kommt auf einer Reportage erstmals mit dem Land in Berührung, in das die USA nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 einmarschierten. Danach kann sie nicht mehr loslassen und reist zurück. Sie will hinter die Nachrichten vom Krieg der Regierung und ihrer Verbündeten gegen die radikal-islamischen Taliban blicken. Sie will wissen, was die 2014 abgezogenen Nato-Truppen den Afghanen gebracht haben. Gut ein Jahr hat von Wurmb-Seibel an etlichen Orten im Land verbracht. Darüber schrieb sie vor allem für «Die Zeit» und machte Dokumentarfilme. Und sie verfasste den vorliegenden Erlebnisbericht. In lockerer, mitunter gar flapsiger Sprache schildert die Reporterin ihre Erlebnisse und Eindrücke. Dabei erweist sie sich als gute Beobachterin, die zu erzählen weiss. Sie lernt das einheimische Dari verstehen und sprechen und geht zu den Leuten. Dazu gehören Kinder und Jugendliche, Frauen und Männer, afghanische und ausländische Soldaten, Diplomaten, Entwicklungshelfer und Ge- schäftsleute, Minenräumer und Wächter, Daheimgebliebene und Rückkehrer. Einige von ihnen werden Freunde. Auch ohne Anschläge oder Kämpfe miterlebt zu haben und trotz ihrer Sonderstellung als Gast, bekommt die mutige Frau eine Ahnung, was es heisst, im Krieg zu leben. Von der Nachhaltigkeit des ausländischen Truppeneinsatzes ist sie heute wenig überzeugt. Nach dem Rückzug der sowjetischen Besatzer 1989 und dem nachfolgenden Bürgerkrieg hat Afghanistan nun den Abzug der Nato hinter sich. Die Befürchtung, der Krieg werde wieder aufflammen, hat sich zum Glück nicht erfüllt. Doch ein Ende der Gewalt ist auch nicht in Sicht. Nach nichts aber sehnen sich die schwer gezeichneten Afghanen mehr. ● Homosexualität Lebensgeschichten lesbischer Frauen in der Schweiz von 1940 bis heute «Ich glaubte, ich sei nicht ganz normal» Corinne Rufli: Seit dieser Nacht war ich wie verzaubert. Frauenliebende Frauen über siebzig erzählen. Hier und Jetzt, Baden 2015. 256 Seiten, Fr. 39.90, E-Book 27.90. Von Gordana Mijuk Heute gehen sie Händchen haltend durch die Strassen, küssen sich an der Seepromenade und gründen Familien: Lesbische Frauen in der Schweiz sind Teil der Gesellschaft, sichtbarer und selbstbewusster als je zuvor. Noch vor wenigen Jahrzehnten, war dies anders. In der Schweiz der fünfziger und sechziger Jahre waren Frauen Gattinnen, Mütter, Hausfrauen. Frauenlie24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. März 2015 bende Frauen existierten nicht – offiziell. Wie sie damals lebten, fühlten, ob es ihnen gelang, aus dem kleinbürgerlichen Käfig auszubrechen, darüber weiss man wenig. Historische Quellen gibt es kaum. Die Aargauer Historikerin und Journalistin Corinne Rufli will dies ändern. In ihrem Buch erzählen elf Frauen, die über siebzig Jahre alt sind, ihre Lebensgeschichten. Der Oral History verpflichtet, lässt Rufli sie frei erzählen; sie gewichten, selektionieren und bewerten selbst. Herausgekommen sind aufwühlende, beklemmende, traurige und schöne Geschichten, deren Ehrlichkeit fesselt. Sie dokumentieren, wie die Frauen unter ihrer Homosexualität litten, ohne auch nur den Begriff lesbisch zu kennen. «Als mir bewusst wurde, dass mich Frauen sexuell anziehen, dachte ich, da ist etwas mit mir physisch nicht in Ordnung. Aus Angst davor ging ich nicht mehr zum Arzt. Ich glaubte, ich sei nicht ganz normal», erzählt etwa Renate Winzert, 84. Mit einer Frau war sie nie zusammen, zu lange hatte sie ihre Gefühle unterdrückt. Andere Frauen überwanden die Schikane und fanden in ihrer Partnerin die Erfüllung: «Meine Liebe zu Karin machte mich frei, endlich konnte ich die Frau sein, die ich bin», erzählt Eva Schweizer, 74. «Ich hatte mir vorher jegliche Liebesfähigkeit abgesprochen.» Corinne Rufli hat mit ihrem Buch ein wertvolles Zeitzeugnis geschaffen, indem sie eine Randgruppe aus dem Verborgenen holt und damit die Schweizer Geschichte um ein Kapitel bereichert. ● Liberalismus Der Philosoph Otfried Höffe stellt die Freiheit auf den Prüfstand GrenzenderAutonomieinder offenenGesellschaft Otfried Höffe: Kritik der Freiheit. Das Grundproblem der Moderne. C. H. Beck, München 2015. 398 Seiten, Fr. 39.90. Von Manfred Koch Seit mehr als 30 Jahren ist Otfried Höffe einer der tonangebenden politischen Philosophen im deutschsprachigen Raum. Seine Bücher kreisen um einen Fragenkomplex: Wie ist politische Gerechtigkeit in der modernen Welt möglich? Wie weitgehend ist sie in den demokratischen Rechtsstaaten verwirklicht, wie sehr ist sie durch die Gebrechen der Moderne – Raubbau an der Natur, Auflösung des sozialen Zusammenhalts, Entfesselung unkontrollierbarer Märkte – gefährdet? Mit «Kritik der Freiheit» legt Höffe nun eine Art Summe seiner Überlegungen vor. Das Buch zielt auf nicht weniger als eine «Neuvermessung der Moderne» im Blick auf ihr gründendes Prinzip, die Freiheit. Das Wort «Kritik» im Titel meint also, wie bei Kant, ein genaues Unterscheiden und Abgrenzen: Welche Freiheitsgewinne können wir seit der Aufklärung verbuchen, welche Verluste haben sich ergeben? Ein ehrgeiziges Unternehmen, zumal Höffe sich nicht hinter fachphilosophischem Vokabular verschanzt, sondern ein breiteres Publikum ansprechen will. Erfreulicherweise schreibt dieser Gelehrte – um es mit seinem Lieblingsphilosophen Kant zu sagen – «in der Sprache der Menschen». einen sinnvollen, friedlichen Gebrauch der Freiheit. In Kants klassischer Formulierung: «Das Recht ist der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.» Das wahrhaft freie Individuum ist der Bürger eines Rechtsstaats, der die durch Gesetze garantierten Freiheitsräume der anderen respektiert. Er ist, genauer, Bürger einer Demokratie, in der die Gesetze, die ihn einschränken, durch gemeinsame Willensbildung – idealerweise unter seiner Beteiligung und auch mit seiner Zustimmung – zustande gekommen sind. So weit das Modell, das natürlich nicht einfach die dazugehörige Wirklichkeit erzeugt. Thomas Jefferson, der Verfasser der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung mit ihren Menschenrechtsartikeln, liess bekanntlich auf seinen Plantagen Sklaven für sich schuften. Wie steht es also mit der konkreten Gestaltung der Freiheit in der Moderne, wie harmoniert sie mit der Forderung nach einer gerechten Gesellschaft? Gegen eine Ökodiktatur Spezielle Paradoxie Höffe beginnt mit einer anthropologischen Bestimmung. Die Freiheit ist «ein Konstitutiv des Menschen», dasjenige, das uns «aus dem Kontinuum der Natur heraushebt». Die Moderne lässt sich schlicht als die Epoche charakterisieren, in der die Menschen aufgefordert sind, von dieser Freiheit auch wirklich Gebrauch zu machen. Und zwar jeder Einzelne! Kants Diktum vom «Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit» ist die berühmteste Formulierung dieses Anspruchs, noch energischer klingt er bei Rousseau: «Der Freiheit entsagen heisst seiner Eigenschaft als Mensch, den Menschenrechten, selbst seiner Pflicht entsagen.» Die Frage, wie die Freiheit jedes Einzelnen mit der Freiheit aller anderen zusammen bestehen kann, ist das Grundproblem der politischen Philosophie. Ihr Ausgangspunkt ist, so Höffe, «eine spezielle Paradoxie: Die Freiheit ist um der Freiheit willen einzuschränken». Nur die Einfügung in eine verbindliche Rechtsordnung ermöglicht Immanuel Kant ist das grosse Vorbild von Otfried Höffe. Denkmal des Philosophen an seinem Geburtsort Königsberg (heute Kaliningrad, RUS). Höffe steht in der Tradition des Liberalismus, für den die Entfaltung der freien und selbstverantwortlichen Person grundsätzlich Vorrang gegenüber den Ansprüchen der Gemeinschaft hat. Allerdings vertritt er einen «aufgeklärten Liberalismus», in dessen Zentrum «der einzelne, aber nicht vereinzelte Mensch» steht. Der Staat ist demnach mehr als ein blosser Ordnungsgarant für das vielfältige Treiben der Individuen. Er muss auch Sozialstaat sein, um Chancengleichheit zu ermöglichen. Es gehört zu seinen Aufgaben, seinen Bürgern die materiellen Mindestvoraussetzungen für eine autonome Lebensgestaltung zur Verfügung zu stellen. Als eingefleischter Liberaler gibt Höffe dieser Überlegung indessen nur wenig Raum; deutlich stärker gewichtet ist die Warnung, das Sozialstaatsprinzip zu überziehen und in jenem paternalistischen Wohlfahrts- und Bevormundungsstaat zu landen, von dem die deutsche Linke träumt. Wie Höffe die Linien des modernen Freiheitsdenkens nachzeichnet und in eine zeitgemässe politische Ethik überführt, ist durchwegs beeindruckend. Ob man deshalb seiner Beurteilung der modernen Krisenphänomene folgt, sei dahingestellt. Auch hier argumentiert Höffe als Liberaler, der, bei aller Sorge, die riskanten Folgen menschlicher Willkür lieber in Kauf nimmt als eine zu weitgehende Ermächtigung des Gemeinwesens. Zwar plädiert er dafür, der hemmungslosen Naturausbeutung Einhalt zu gebieten, weil damit eine massive Einschränkung der Freiheit künftiger Generationen verbunden sei. Dies dürfe jedoch keinesfalls durch eine «Ökodiktatur» geschehen. Was die wirtschaftliche Freiheit angeht, bejaht Höffe Konkurrenz und Gewinnstreben als Antriebskräfte, hält aber angesichts der Exzesse der Finanzindustrie regulierende Eingriffe für angebracht. Die Vorstellung, der Staat könne die Märkte beherrschen, bleibt für ihn jedoch ein «etatistischer Irrglaube». Unter dem Strich fällt Höffes Bilanz positiv aus: Der Gewinn an Freiheit(en) und Wohlstand überwiegt die bedrohlichen Seiten, die eine lernfähige Menschheit im «offenen Prozess» der Modernisierung noch meistern könne. Hoffen wir es! l 29. März 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25 Sachbuch Wirtschaftswissenschaft Ein Lehrbuch des früheren Nationalbank-Chefökonomen Kurt Schiltknecht Politiker überschätzen ihr Wissen gewaltig Kurt Schiltknecht: Wohlstand – kein Zufall. Die ökonomischen Zusammenhänge. NZZ Libro, Zürich 2015. 284 Seiten, Fr. 41.90. Von Urs Rauber Der Titel suggeriert eine politische Streitschrift eines profilierten Ökonomen zur Tagesaktualität. In Wirklichkeit legt der ehemalige Chefökonom der Schweizerischen Nationalbank (SNB) und emeritierte Professor der Universität Basel, Kurt Schiltknecht, ein Lesebuch zum Verständnis des Wirtschaftsgeschehens vor, das eher einem Lehrbuch gleicht. Der heutige Wirtschaftspublizist, bis vor wenigen Jahren noch Mitglied der SP Schweiz, ist äusserst differenziert in seiner Analyse, bezieht sich auf die neuste Fachliteratur und bleibt stets massvoll im Urteil. Das in einfacher Sprache geschriebene, aufreizend nüchterne Wirtschaftsbrevier wird nur dort deutlich, wo es um regulatorische Eingriffe von Politikern und Behörden geht. In 12 Kapiteln gut strukturiert, geht das Buch von der Frage aus, ob die Wirtschaft Gesetze und Regulierungen brauche (was der Autor bejaht), erläutert danach die Geschichte und Funktion des Geldes, der Produktion, des Arbeitsmarktes, der Banken und Finanzmärkte, erklärt die Rolle der Steuern und der Fiskalpolitik, um mit einem Blick auf die Krisen des 21. Jahrhunderts (Bankenkrise 2008, Eurokrise, Schuldenkrise) abzuschliessen. Schiltknecht ist jemand, der fast ohne Fachjargon auskommt, man spürt hinter dem Theoretiker den Praktiker, der in unzähligen Interviews, Referaten, auf Podien und in Zeitungsartikeln gelernt hat, klar und anschaulich zu formulieren. Kritisch äussert sich der liberale, freiheitlich orientierte Ökonom, wenn es um staatliche Subventionierung, um Kontrolle aller möglichen wirtschaftlichen Vorgänge (Mietzinsen, Preisbildung, Lohnfestsetzung) geht, um Protektionis- mus oder wenn die Politik der SNB dreinreden möchte. «Die Vorstellung», schreibt er dann, «dass mithilfe von Beamten oder Vorschriften richtige und gerechte Preise festgelegt werden könnten, ist unausrottbar.» Skeptisch gibt er sich auch gegenüber Versuchen, mit steuerlichen Massnahmen ein gewünschtes Verhalten herbeizuführen. Und deutlich wird der ehemalige Genosse, wenn es um die progressive Besteuerung nach dem Motto von Jean Baptiste Colbert, Finanzminister unter Ludwig XIV., geht: «Die Kunst der Besteuerung besteht darin, die Gans so zu rupfen, dass man möglichst viel Federn bei möglichst wenig Geschrei erhält.» «Denn», so Schiltknecht, «eine übermässige Umverteilung führt zu einer Verlangsamung des Wirtschaftswachstums und zu einer höheren Arbeitslosigkeit.» Bei solch hektischen Aktivitäten spürt man förmlich, was Schiltknecht in seinem Innersten empfindet: dass nämlich Politiker ihr Wissen oft gewaltig überschätzen. Sein Wort in unser Ohr! ● Das amerikanische Buch Ethel Payne, «First Lady» der schwarzen Presse «Agitieren, agitieren, agitieren!» Mit diesem Motto beschrieb Ethel Payne (1911–1991) am Ende einer historischen Laufbahn ihr Selbstverständnis als afroamerikanische Journalistin. Geprägt hatte die Parole der geflohene Sklave und Bürgerrechtler Frederick Douglass im 19. Jahrhundert. Hundert Jahre später begleitete Payne die Kämpfe der schwarzen Amerikaner um Gleichberechtigung und Anerkennung von dem Bus-Boykott 1955 in Montgomery, Alabama, bis zu Jesse Jacksons Präsidentschaftsbewerbung 1988. Wie James McGrath Morris in seiner vielbeachteten Biografie Eye on the Struggle. terin» verstand sie sich explizit nicht. Auf Mediengeschichte spezialisiert, zeigt Morris seine Qualität als Biograf, indem er auch die negativen Folgen dieser Haltung Paynes aufzeigt: Um die moralischen Fundamente ihrer Agenda zu schützen, ignorierte sie die Schwächen und Fehler schwarzer Leader von Jesse Jackson bis zu dem kongolesischen Diktator Mobutu. gen über die Situation schwarzer Soldaten und deren Kinder mit Japanerinnen wurden 1949 vom «Chicago Defender» abgedruckt und sorgten für enormes Aufsehen. Das damals bedeutendste Organ der schwarzen Presse in den USA stellte Payne an und sandte die fleissige und ehrgeizige Schreiberin bald darauf als Korrespondentin nach Washington. Gleichwohl war Payne keine engstirnige Person. Während sie als Symbol schwarzer Errungenschaften mit Ehrungen überhäuft wurde, machten ihr magere Gehälter noch die letzten Lebensjahre schwer. Dennoch war Payne Freunden und Verwandten gegenüber stets grosszügig. Speziell jungen Afroamerikanerinnen half sie mit ihrem Netzwerk von Kontakten bei der Karriere. Zudem erkannte Payne nach ihrer Reportagereise zu der BandungKonferenz der blockfreien Staaten im April 1955 die Bedeutung von Befreiungsbewegungen der Dritten Welt für die Kämpfe der Schwarzen in den USA. So unternahm sie etwa in der Pressebegleitung von Aussenminister Henry Kissinger viele Reisen nach Afrika. Dort fiel Payne durch bohrende Fragen zur Rassenpolitik der Eisenhower-Regierung auf, die ihr den Unmut von «Ike» persönlich einbrachten. Laut Morris hat die Reporterin diese Fragen mit dem Cheflobbyisten der Bürgerrechtsorganisation NAACP entwickelt. Payne erklärte später, sie sei als Schwarze selbst «Teil des Rassenproblems» und schulde ihren Lesern einen engagierten, für Gleichberechtigung agitierenden Journalismus. Als «objektive Beobach- Ihre grösste Leistung bestand laut Morris jedoch darin, dass sie und andere «Agitatoren» die schwarze Presse überflüssig gemacht haben. Dank Pionieren wie Payne entdeckten grosse Zeitungen, Radio und Fernsehen in den USA ihre schwarzen Mitbürger als Thema, Leser und Anzeigenkunden – aber auch als talentierte Schreiber und Redaktoren. So leiten Paynes Nachfolger heute die «New York Times». ● Von Andreas Mink Ethel Payne, the First Lady of the Black Press (480 Seiten, Amistad Press – Harper Collins, Februar 2015) schildert, hatte die Reporterin des «Chicago Defender» ein scharfes Auge für Neuigkeiten. So erkannte Payne sehr früh die wachsende Bedeutung von Klerikern wie Martin Luther King jr. für die anhin von schwarzen Gewerkschaftern und Aktivisten aus dem Norden dominierte Bürgerrechtsbewegung. In diesem Milieu war die Enkelin von Sklaven in ihrer Heimatstadt Chicago vor dem Zweiten Weltkrieg engagiert. Eine professionelle Journalistin wurde die früh als Schreibtalent erkannte Payne erst als 40-Jährige. Als Frau und Schwarze erschwerte ihr ein institutioneller Rassismus den Zugang zu einem Studium. Stellen als Bibliothekarin und Lehrerin an einer Anstalt für schwer erziehbare Mädchen liessen sie unbefriedigt. Erst ein zweijähriger Japan-Aufenthalt als Truppenbetreuerin lieferte Payne die Chance für den Sprung in den Journalismus. Ihre Aufzeichnun26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. März 2015 Von 1955 bis 1988 begleitete Ethel Payne die Kämpfe der Schwarzen um Gleichberechtigung. Hier mit einem Soldaten in Vietnam 1967. Autor James McGrath Morris (unten). Agenda Musik als Bild Schweizer Rock in der Kunst Agenda April 2015 Basel Mittwoch, 8. April, 19 Uhr Sherko Fatah: Der letzte Ort. Lesung, Fr. 17.–. Literaturhaus, Barfüssergasse 3. Info: Tel. 061 261 29 50. Samstag, 11. April, 15 Uhr Lisa Elsässer: Feuer ist eine seltsame Sache. Lesung. Galerie Mäder, Claragraben 45. Tel. 061 691 89 47. Mittwoch, 22. April, 20 Uhr Alfred Bodenheimer: Das Ende vom Lied. Lesung, Fr. 15.–. Thalia, Freie Strasse 32. Vorverkauf: Tel. 061 264 26 55. Bern Mittwoch, 8., bis Samstag, 11. April Aprillen, das Berner Lesefest im Schlachthaus. Mit Klaus Merz, Trix Niederhauser, Melinda Nadj Abonji u.a. Festivalpass Fr. 90.–. Schlachthaus. Rathausgasse 20. Info: www.aprillen.ch. Mit diesem schwergewichtigen Buch vollendet der Herausgeber Lurker Grand seine Trilogie zur Rockmusik in der Schweiz, die 2006 mit «Hot Love – Swiss Punk & Wave 1976–1980» anhob und 2012 mit «Heute und danach – The Swiss Underground Music Scene of the 80s» ihre Fortsetzung fand. Im abschliessenden, «Die Not hat ein Ende» betitelten Band geht es dem Autor in erster Linie um die Visualisierung der Rockmusik in der Schweiz. Er hat unzählige Album-Covers, Konzertplakate, Flugblätter, Fanzines, Comics und Fotografien gesammelt. Sie erzählen die Geschichte einer so faszi- nierenden wie provokativen Subkultur, von einer anarchischen Avantgarde, die bis in unsere Gegenwart weiterwirkt. Der Musikjournalist und Sammler Samuel Mumenthaler bereichert das Werk mit substanziellen Überlegungen; auch die Beiträge von Roland Fischbacher und Robert Lzicar sind lesenswert. Unsere Abbildung zeigt Plakate von Märt Infanger (2011) und Beat-Man (1996). Manfred Papst Lurker Grand, Samuel Mumenthaler: Die Not hat ein Ende. The Swiss Art of Rock. Edition Patrick Frey, Zürich 2015. 500 Seiten, Fr. 89.90. Bestseller März 2015 Belletristik Sachbuch 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Martin Suter: Montecristo. Diogenes. 320 Seiten, Fr. 33.90. Milena Moser: Das Glück sieht immer anders aus. Nagel & Kimche. 224 Seiten, Fr. 27.90. Ian McEwan: Kindeswohl. Diogenes. 224 Seiten, Fr. 29.90. Cecelia Ahern: Das Jahr, in dem ich dich traf. Fischer Krüger. 384 Seiten, Fr. 19.45. Michel Houellebecq: Unterwerfung. Dumont. 272 Seiten, Fr. 28.80. Lori Nelson Spielman: Morgen kommt ein neuer Himmel. Fischer Krüger. 368 Seiten, Fr. 19.45. Sibylle Berg: Der Tag, als meine Frau einen Mann fand. Hanser. 256 Seiten, Fr. 24.55. Lucinda Riley: Die sieben Schwestern. Goldmann. 544 Seiten, Fr. 29.90. T. C. Boyle: Hart auf hart. Hanser. 395 Seiten, Fr. 28.80. John Grisham: Anklage. Heyne. 512 Seiten, Fr. 33.90. Karoline Arn: Elisabeth de Meuron von Tscharner. Zytglogge. 320 Seiten, Fr. 36.90. Giulia Enders: Darm mit Charme. Ullstein. 288 Seiten, Fr. 22.85. Wilhelm Schmid: Gelassenheit. Insel. 118 Seiten, Fr. 10.95. Pascal Voggenhuber: Zünde dein inneres Licht an. Giger. 160 Seiten, Fr. 37.90. Martin Werlen: Heute im Blick. Herder. 192 Seiten, Fr. 23.90. Duden. Die deutsche Rechtschreibung. 26. Aufl. Bibliogr. Institut. 1216 Seiten, Fr. 32.20. Guido M. Kretschmer: Eine Bluse macht noch keinen Sommer. Edel. 288 Seiten, Fr. 23.70. Benjamin Behnke, Kai Daniel Du: Trick 17 – 365 Alltagskniffe. Frech. 400 Seiten, Fr. 27.90. Guinness World Records 2015. Hoffmann und Campe. 256 Seiten, Fr. 25.40. Hape Kerkeling: Der Junge muss an die frische Luft. Piper. 320 Seiten, Fr. 24.55. Erhebung Media Control® AG im Auftrag des SBVV; 17.3.2015. Preise laut Angaben von www.buch.ch. Mittwoch, 22. April, 20 Uhr Christian Schmid: «Näbenusse». Lesung, Gratistickets im Vorverkauf. Stauffacher Buchhandlungen, Neuengasse 25/37. Info: Tel. 031 313 63 63. Freitag, 24. April, 20 Uhr Xiaolu Guo: Ich bin China. Gespräch im Hotel Schweizerhof, Fr. 25.–. Vorverkauf Stauffacher Buchhandlungen (siehe oben). Zürich Mittwoch, 1. April, 20 Uhr Silvio Blatter: Wir zählen unsere Tage nicht. Lesung, Fr. 25.–. Kaufleuten. Pelikanplatz 18. Karten: Tel. 044 225 33 77. Dienstag, 7. April, 19.30 Uhr Viktor Martinowitsch: Paranoia. Lesung, Fr. 18.– inklusive Apéro. Literaturhaus, Limmatquai 62. Info: Tel. 044 254 50 08. Dienstag, 14. April, 20 Uhr Peer Steinbrück: Vertagte Zukunft. Lesung, Fr. 28.–. Kaufleuten (s. oben). Donnerstag, 16. April, 19.30 Uhr Iris Hanika: Wie der Müll geordnet wird. Lesung, Fr. 18.–. Literaturhaus (s. oben). Donnerstag, 16. April, 20 Uhr Kurt Brandenberger: Marco Camenisch – Lebenslänglich im Widerstand. Lesung, Fr. 25.–. Theater Neumarkt, Neumarkt 5. Karten: www.theaterneumarkt.ch. Mittwoch, 22. April, 19.30 Uhr Willi Wottreng: Lydia Welti-Escher – Lady Shiva – Lülü. Lesung. PestalozziBibliothek Altstetten, Lindenplatz 4. Bücher am Sonntag Nr. 4 erscheint am 26.4.2015 Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60 oder E-Mail [email protected]. Oder sind – solange Vorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11, 8001 Zürich, erhältlich. 29. März 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27 Es geschah am hellichten Sonntag Sie langweilten sich schrecklich. Dagegen helfen nur 10 Klassiker der Kriminalliteratur, zusammengefasst auf 16 Seiten. Vom 29. März bis 31. Mai 2015 exklusiv in der «NZZ am Sonntag» als kostenlose Beilage. <wm>10CAsNsja1NLU01DU3MDYyNgQADYhqoA8AAAA=</wm> <wm>10CFWKMQ6AIBAEX3Rk75YDkdLQEQtjT2Os_X9lsLOYZGczvVcP-NjafrajevGikkGjTgmWU13MAmKu8zWor5oYlbHg1wu0JIJjNgKKcWgSfgMZ4bnuF0S4xXdyAAAA</wm> Krimi-Klassiker Krimi-Klassiker Krimi-Klassiker Krimi-Klassiker Krimi-Klassiker Krimi-Klassiker Krimi-Klassiker Krimi-Klassiker Krimi-Klassiker Krimi-Klassiker Ausgabe Nr. 1 Ausgabe Nr. 2 Ausgabe Nr. 3 Ausgabe Nr. 4 Ausgabe Nr. 5 Ausgabe Nr. 6 Ausgabe Nr. 7 Ausgabe Nr. 8 Ausgabe Nr. 9 Ausgabe Nr. 10 Kompakt In Kooperation mit getAbstract Edgar Allan Poe Der Doppelmord in der Rue Morgue Kompakt In Kooperation mit getAbstract Wilkie Collins Die Frau in Weiss Kompakt In Kooperation mit getAbstract Arthur Conan Doyle Der Hund von Baskerville Kompakt In Kooperation mit getAbstract Dashiell Hammett Der Malteser Falke Kompakt In Kooperation mit getAbstract Agatha Christie Mord im Orientexpress 10 Ausgaben für nur Fr. 25.– SMS mit Keyword «NZZ58», Namen und Adresse an Nr. 880 (20 Rp./SMS) oder unter nzz.ch/klassiker58 Kompakt In Kooperation mit getAbstract Friedrich Glauser Matto regiert Kompakt In Kooperation mit getAbstract Kompakt In Kooperation mit getAbstract Raymond Chandler Der grosse Schlaf Patricia Highsmith Der talentierte Mr. Ripley In Kooperation mit: Kompakt In Kooperation mit getAbstract Friedrich Dürrenmatt Das Versprechen Kompakt In Kooperation mit getAbstract Truman Capote Kaltblütig
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