Nr. 4 | 26. April 2015 NZZ am Sonntag A. L. Kennedy Der letzte Schrei – eine Erzählung 4 Revolution Liebe und Sexualität der 68er 16 Lamya Kaddor Als Muslimin gegen den Islamismus 12 GleissendeWelt Siri Hustvedts Roman über eine Künstlerin 9 Bücher am Sonntag Schweizer Geschichte Neu Neu Ein Volkskunde-Buch der Sonderklasse: Die Kulturgeschichte und kl Zur Zu Stärkung der Geistigen Landesverteidigung hörte der Aufklärungsve zugleich Regionalgeschichte des zu dienst dem Volk genau zu. Jetzt sind di Luzerner Mosts mit seinen heute Lu einige Hundert von Zehntausenden e umgenutzten Mostereien und den um dieser Rapporte einer breiten Leserdi bis zu 20 000 Obstbäumen in Megbi schaft zugänglich. Mit kritischen sc gen. Ein Muss für alle Geniesserge Erläuterungen des Autors. Er innen und Geniesser. in Jürg Schoch Heiri Scherer (Hrsg.) «Mit Aug’ und Ohr für’s Vaterland» Most Der Schweizer Aufklärungsdienst Kultur, Architektur, Kulinarik – von Heer & Haus im Zweiten das Erbe vom Vierwaldstättersee. Weltkrieg 2015. 216 S., 160 Abb., gebunden 2015. 352 S., 50 Abb., gebunden. Fr. 48.– / € 48.– Fr. 48.– / € 48.– <wm>10CAsNsja1NLU01DU3MDUytQQAZfiA3Q8AAAA=</wm> <wm>10CAsNsja1NLU01DU3MLI0tQAAqx8FOw8AAAA=</wm> <wm>10CFWKoQ7DMAwFv8jR83McxwucyqqCajxkGt7_ozZjAwfudPs-vODHczte2zk8PVUCTs8lhdFGJwtqDBgbof5Aoitr8O8XaDaDzfUITNgm7hqiPq3W8n1_LsaegWVyAAAA</wm> <wm>10CFWKMQ6DMBAEX3TW7h7nw7iM6FCKiN4Noub_VQJdihlppNm2HgUPr_W9r58eLRotoRbzHUVZ-ywVTNnhTIGx0CnKVf9-A1t1-Lgfgxtz8GfahOFV5TrOL0p6ty9yAAAA</wm> Neu Die Radionachrichten um 12.30 Uhr Di sind für Generationen ein Fixpunkt s Neu Mehr Me als 100 Jahre lang kämpften die Frauen für ihre politischen di des Tages. Kurt Witschi war jahrede Rechte. Mit ihrem Sieg 1971 an Re lang verantwortlich für die Sendunlan der Urne schrieben sie Geschichte. de gen. In diesem Buch zeichnet er ge Nur ignorierten diese die Historiker Nu die di Entwicklung der Nachrichten bis heute. bi im Rundfunk während der letzten 90 Jahren nach. Franziska Rogger «Gebt den Schweizerinnen ihre #Schweiz#Geschichte Kurt Witschi Geschichte!» Die Zeit: 12.30 Uhr Marthe Gosteli, ihr Archiv 90 Jahre Nachrichten im und der übersehene Kampf ums Schweizer Radio Frauenstimmrecht 2015. 232 S., 40 Abb., gebunden 2015. 396 S., 132 Abb., gebunden Fr. 38.– / € 38.– Fr. 48.– / € 48.– nzz-libro.ch Inhalt Das ganze Spektrum zwischen Glück und Verderben A. L. Kennedy (S. 4). Illustration von André Carrilho Im Wochentakt erscheinen zurzeit Bücher über die Bedrohung durch den «Islamischen Staat» und seine mörderischen Verbündeten (in Syrien, im Irak, in Jemen, Nigeria, Kenia). Besorgnis bereitet auch die Unterdrückung der Meinungsfreiheit, sei’s in Saudi-Arabien, Ägypten, Pakistan oder in Tunesien. Stärker als zuvor – und das ist die gute Nachricht – wächst jedoch der Widerstand gegen fundamentalistische und totalitäre Tendenzen innerhalb des Islam. Ob über Dialog, wie ihn die liberale Muslimin Lamya Kaddor in Deutschland pflegt (Seite 12), oder durch mehr Konfrontation, wie sie Ayaan Hirsi Ali praktiziert (S. 21), ist zweitrangig. Die Kräfte, die den Islam von innen heraus erneuern wollen, wachsen. Die hochaktuelle Debatte beschäftigt auch uns. In ganz andere Gefilde entführen uns die «mit rüder Zärtlichkeit» erzählten intimen Geschichten von A. L. Kennedy (S. 4) und Andrzej Stasiuks literarische Reisen nach Osteuropa (S. 7). Oder der grosse, dunkle Roman aus der Färöer Inselwelt von Sólrún Michelsen (S. 8). Darin spiegeln sich die ewigen Themen der Literatur wie Begehren und Zerstören, Sehnsucht und Tod. Bücher zum Glück und zum Überleben finden Sie diesmal im SachbuchTeil. Mit dieser Nummer scheidet Geneviève Lüscher aus der Redaktion aus. Sie zieht für ein Jahr nach Griechenland und schreibt dort einen Wanderführer. Wir wünschen ihr herzlich alles Gute! Urs Rauber Belletristik A. L. Kennedy: Der letzte Schrei Von Judith Kuckart 6 Ismail Kadare: Die Schleierkarawane Von Stefana Sabin Gottfried Schatz: Postdoc Von Theres Lüthi 7 Andrzej Stasiuk: Der Stich im Herzen Von Sandra Leis 8 Sólrún Michelsen: Tanz auf den Klippen Von Verena Stössinger 9 Siri Hustvedt: Die gleissende Welt Von Regula Freuler Frits Gierstberg: European Portrait Photography since 1990 Von Gerhard Mack 10 Elisabeth Binder: Ein kleiner und kleiner werdender Reiter Von Charles Linsmayer 11 Leta Semadeni: Tamangur Von Angelika Overath 19 4 Kurzkritiken Belletristik 11 Christine Brand: Stiller Hass Von Regula Freuler Fil: Pullern im Stehn Von Manfred Papst Heinrich Detering: Wundertiere Von Manfred Papst Wilson Collison: Das Haus am Kongo Von Regula Freuler Porträt 12 Muslimische Anti-Islamistin Urs Rauber sprach mit Religionspädagogin Lamya Kaddor über einen liberalen Islam Kolumne 15 Charles Lewinsky Das Zitat von Hugo von Hofmannsthal 20 21 22 23 Patrick Leigh Fermor (rechts) und ein Kollege kurz vor der Entführungsaktion 1944 auf Kreta (S. 25). Kurzkritiken Sachbuch 15 Manuschak Karnusian: Unsere Wurzeln, unser Leben Von Urs Rauber Michael Schulte-Markwort: Burnout-Kids Von Kathrin Meier-Rust René Scheu: Weniger Staat, mehr Fernsehen Von Urs Rauber Noah Wilson-Rich: Die Biene Von Geneviève Lüscher Sachbuch 16 Peter-Paul Bänziger: Sexuelle Revolution? Karla Verlinden: Sexualität und Beziehungen bei den «68ern» Von Walter Hollstein 18 Paul Dolan: Absichtlich glücklich 24 25 26 Maike van den Boom: Wo gehts hier zum Glück? Von Michael Holmes Ljudmila Ulitzkaja: Die Kehrseite des Himmels Von Klara Obermüller Gabriele Krone-Schmalz: Russland verstehen Von Victor Mauer Samuel Scheffler: Der Tod und das Leben danach Von Angela Gutzeit Thomas Stauss: Frühe Spielwelten Von Kathrin Meier-Rust Ayaan Hirsi Ali: Reformiert euch! Von Urs Rauber Peter Dausend, Elisabeth Niejahr: Operation Röschen Ulrike Demmer, Daniel Goffart: Kanzlerin der Reserve Von Gerd Kolbe MaxOphüls:SpielimDasein Von Martin Walder Klaus Theweleit: Das Lachen der Täter: Breivik u.a. Von Sieglinde Geisel Ahron Bregman: Gesiegt und doch verloren Von Claudia Kühner Jürgen Goldstein: Georg Forster Von Janika Gelinek Patrick Leigh Fermor: Die Entführung des Generals Von Geneviève Lüscher Anton Tantner: Die ersten Suchmaschinen Von Monika Burri Das amerikanische Buch Brent Schlender, Rick Tetzeli: Becoming Steve Jobs Von Andreas Mink Agenda 27 Lothar Voetz: Der Codex Manesse Von Manfred Papst Bestseller April 2015 Belletristik und Sachbuch Agenda Mai 2015 Veranstaltungshinweise Chefredaktion Felix E.Müller (fem.) Redaktion Urs Rauber (ura., Leitung), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.) Ständige Mitarbeit Urs Altermatt, Urs Bitterli, Hildegard Elisabeth Keller, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Sandra Leis, Charles Lewinsky, Andreas Mink, Klara Obermüller, Angelika Overath, Martin Zingg Produktion Eveline Roth, Björn Vondras (Art Director), Susanne Meures (Bildredaktion), Manuela Klingler (Layout), Korrektorat St.Galler Tagblatt AG Verlag NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich, Telefon 0442581111, Fax 0442617070, E-Mail: [email protected] 26. April 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3 Belletristik Erzählungen Die Schottin A.L. Kennedy überzeugt mit 13 neuen Geschichten, in denen es um Liebe, Schuld und Obsession geht – aber auch um Politik. In jedem Fall haben sie nichts Gemütliches an sich Wassieschreibt, glaubenwirsofort A. L. Kennedy: Der letzte Schrei. Deutsch von Ingo Herzke. Hanser, München 2015. 201 Seiten, Fr. 28.90, E-Book 22.90. Von Judith Kuckart Sie hat Schärfe und Charme und stellt erzählend eine Intimität her, die nie peinlich, aber manchmal anstrengend ist. Was sie schreibt, glaube ich sofort. Ihren Figuren nehme ich jedes Gefühl, jede Absurdität ab. Denn sie stellen nichts dar, sondern sie sind. Selten reden sie dialogisch, sondern meistens in den eigenen Kopf hinein und sind dabei so ungebremst aufrichtig wie ihre Verfasserin A.L. Kennedy – nehme ich an. Alison Louise Kennedy, Jahrgang 1965, ist in Schottland geboren. Sie tritt bisweilen in Stand-up-Comedies auf und ist eine scharfe Kritikerin der britischen Regierung hinsichtlich des Irak-Kriegs. Worum geht es in den 13 Geschichten im neuen Erzählungsband «Der letzte Schrei» (Originaltitel «All the Rage»)? Mit rüder Zärtlichkeit Da ist ein Mann, der vögelt seine Putzfrau immer mittwochs, weil Mittwoch ist. Da ist ein Junge am Meer, der sich von seiner jungen, zärtlichen Hündin trennen muss, weil Vater und Mutter sich haben scheiden lassen. Da ist die Soldatin an einem traurigen Nachmittag in Blackpool, ausgeliefert irgendwelchen billigen Kirmesvergnügungen, einem trostlosen Wetter und dem Freund, den sie nicht mehr liebt, während sie ständig an ihren smarten Anwalt denken muss, der sie hasst. In Zypern, im Irak-Krieg, hat sie Spiele gespielt, mit Männern, die nackt waren – bis auf die Kapuzen. All diese Figuren in Kennedys Geschichten 4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. April 2015 sind an den Hüften miteinander verbunden, auch wenn sie nichts voneinander wissen. Was man haben will, das kriegt man nicht, und was man haben kann, das gefällt einem nicht. Das ist auch politisch, behaupte ich. A.L. Kennedy zieht mit rüder Zärtlichkeit hinein in die Mitte einer Situation, in die Mitte einer Person. Die nötigen Informationen über Figuren, die andere Autoren umständlich in ihren Text hinein basteln, liefert bei ihr der Moment, aus dem heraus sie sprechen. Mark hätte nicht gedacht, er würde einmal in Betracht ziehen, sich vor einen Zug zu werfen. Wie sich herausstellte, lag er damit falsch. So beginnt die titelgebende Erzählung «Der letzte Schrei». Er spielt nicht auf Frühjahrsneuheiten aus der Modebranche an. Es geht um den inneren Dauerschrei bei einer Trennung. Es geht um den letzten Schrei bei der Trennung vom eigenen Leben. Mark hat eine Frau, die ungern ihre Gleitsichtbrille aufsetzt. Sie meint, sie sehe damit aus wie ihre Mutter. Alt. Aber sie sieht nicht alt damit aus, sondern viel schlimmer, findet Mark. Manchmal denkt er an Selbstmord als Alternative zur Ehe. Er hat andere Frauen. Als er gerade vierzig geworden ist, angelt er sich eine zweiundzwanzigjährige Emily. Die Beziehung hat alle Ingredienzien, die auch die Autorin A.L. Kennedy zum Schreiben bewegen: Liebe, Schuld, Obsession, Politik. Ihren Mark führt Kennedy zweigleisig durch die Geschichte. Jemand, der ihm sehr nah ist, ihm fast auf der Schulter sitzt, berichtet aus der Perspektive der dritten Person. Mark selber schaltet sich als Ich, als kursiv gesetzter Originalton aus dem Innern seines Kopfes hinzu. So zwingen Er und Ich den Text in einen Dialog mit sich selbst. Das klingt kompliziert, ist es aber nicht. Eher ist es genial, wie nah durch Mehrstimmigkeit die Figur ihrem Leser kommt. Am Ende habe ich fast vergessen, dass ich lese, und stehe mit einer dritten, meiner eigenen Stimme, diesem Mark bei, wenn er seine Emily verliert an den politischen Kampf, an die Erotik der jugendlichen Anarchie, an ein verzweifeltes Mädchen – oder Linkssein, an spontane Unaufrichtigkeiten und den Alkohol. Von aussen betrachtet verliert Mark das Mädchen wegen seiner misstrauisch strafenden, bebrillten Ehefrau. Dann fährt der besagte Zug auf einem Bahnhof mit lauter Verspätungen durch, ein Zug oder Sog, mit dem sich die Luft verschliesst. Einsame Protagonistin Nichts Breites, Bräsiges, nichts gemütlich Behagliches, nichts, was Paul Nizon als «Teufelswerk» bezeichnen würde und damit jene Schriftstellerei meint, die sich mit Ohrensesselliteratur dem Publikum andient, – also nichts von all dem ist auch in einer der nächsten Erzählungen von A.L. Kennedy mit dem Titel «Baby Blue» zu finden. Eine ältere Frau will offenbar nicht mehr zu Hause sein. Sie hat sich getrennt, ahnt man, und ist in eine Landschaft mit viel Schnee gefahren. Hand in Hand mit ihrer Autorin sucht sie nach einer Haltung, wie sie das eigentliche Erzählen beginnen oder wo sie im Leben eigentlich weitermachen könnte. Die Rede ist von einer Schamschwelle. Im Leben und beim Schreiben. Während auf den ersten vier Seiten die Autorin eingesteht, dass das Schreiben der schönsten Anstrengung bedarf, wie die Liebe, landet ihre «wintersportliche Oma» in einem Sexkaufhaus. Mandy kommt und berät detailliert. Sie ULLSTEIN BILD scheint zu wissen, was ihre Kundinnen wünschen. Dann wird es peinlich. Denn Kondome mit Schokoladengeschmack haben nichts mit der Grunderfahrung der einsamen Protagonistin zu tun, die weiss, dass man bei der Liebe einander bis aufs Blut entkleidet und jeden Schutz verliert. Trotzdem, ich habe beim Lesen dieser Geschichte «Baby Blue» – Geschichte einer Trennung – gelacht und bin so durchlässig geworden für den letzten Satz, den A.L. Kennedy und die Figur sich für mich aufgespart haben. «Ich vermisse dich sehr.» Er hat mich getroffen, der Satz, als hätte ich ihn in dem Moment selber gesagt. ● Judith Kuckart ist Schriftstellerin und Regisseurin. Sie lebt in Zürich und Berlin. Zuletzt erschien ihr Roman «Wünsche» (2013). A.L. Kennedy stellt in ihren Erzählungen eine Intimität her, die nie peinlich, aber manchmal anstrengend ist (2012). Zürich Basel Bederstrasse 4 Güterstrasse 137 Bern Länggassstrasse 46 <wm>10CAsNsjY0MDAx1TUyMjIzsgAAkStyvg8AAAA=</wm> <wm>10CAsNsjY0MDAx1TUyMjIztAQAxEhY4g8AAAA=</wm> <wm>10CAsNsjY0MDAx1TUysjQwMQEAjzsSMg8AAAA=</wm> <wm>10CAsNsjY0MDAx1TUyMjIzsgAAkStyvg8AAAA=</wm> 100‘000 antiquarische Bücher buecher-brocky.ch Luzern Aarau Ruopigenstrasse 18 <wm>10CFXKIQ7DQAxE0RN5NTNeb-MaVmFRQVW-JArO_VHasoL_0du2ioZfj_X5Xl9FoIdJGloqcrS8eTF7W5KFpAT2O9IRoOPPG5jD4fNrDGnU_FxpwUmhnftxAYCSdmhyAAAA</wm> <wm>10CFXKIQ6AMAwF0BN16W-7jlJJ5giC4GcImvsrAg7x3FvXrIU_S9-OvieYrZKIOCJreImmibAyBZKbqDBshkuFTorfJ0a4so73EDcSHXASI7UR3sp9Xg82ZWsHcgAAAA==</wm> <wm>10CFWKMQoDMQwEXySzWkt2dCqDO5MiXO_mSJ3_VzHXpRgYhpkzveDmOV7neKcC5kIGzNLDC3tLDZbuLUFWQv1AsLux4e8XaLSKuvZjohTawkMqtu9m5Xt9fi0-0d5yAAAA</wm> <wm>10CFXKoQ4CMRRE0S96zcy8TkupJOs2Kwi-hqD5f8WCQ9xcc_Z9uuDXbTse230SqA5JTZfp4aLeJodK93mwC6xXKq1q488HOFoi19cEEeyLiqyRXqcu7-frA2AIQV9yAAAA</wm> Kunst Kinder Hel vetika Freihofweg 2 Sport Politik Literatur Hobby Reisen Kochen u.v.m. 26. April 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5 Belletristik Erzählungen Die drei neu übersetzten Geschichten des albanischen Autors Ismail Kadare spielen im Osmanischen Reich, zielen aber auf die Gegenwart ModelldertotalitärenHerrschaft Von Stefana Sabin Angefangen hat er als Lyriker, aber schon bald wechselte er die Gattung und schrieb Romane, die in historischer Verhüllung das totalitäre kommunistische Regime blossstellen und ihn in Europa berühmt machten: Ismail Kadare, 1936 in der südalbanischen Stadt Gjirokastra geboren. Zwar ist er politisch nicht unumstritten, denn als Parlamentsabgeordneter war er Teil des Systems, das er in seinem literarischen Werk – unter dem Schutz seiner europaweiten Bekanntheit – kritisierte. Auch seine Auswanderung nach Frankreich 1990 kam manchen so unverständlich vor wie sein Beharren auf der christlichen Identität Albaniens. Aber auch seine Kritiker begrüssten Kadares Rückkehr nach Albanien 1999, denn sie begriffen, dass sie die ganze albanische Literatur aufwertete. Seitdem hat Kadare mehrere renommierte Literaturpreise bekommen – den britischen Man Booker International Prize, den spanischen Premio Princesa de Asturias, den israelischen Jerusalem-Preis – und wird jedes Jahr wieder als Kandidat für den Nobelpreis gehandelt. In deutscher Übersetzung erschienen Werke von ihm zuerst im DDR-Verlag «Volk und Welt», dann im Zürcher Ammann Verlag und immer wieder im Frankfurter S. Fischer Verlag. Dieser hat nun einen Band mit drei längeren Erzählungen Ismail Kadares in einer vor- züglichen Neuübersetzung von Joachim Röhm aufgelegt. Alle drei Erzählungen spielen während der osmanischen Herrschaft. In «Das Geschlecht der Hankonen» wird die Geschichte der Stadt Gjirokastra als Familienchronik rekonstruiert und die oft unheilvolle Einmischung der osmanischen Zentralgewalt in die örtlichen Angelegenheiten vorgeführt. Um totalitäre Machtausübung geht es auch in der Erzählung «Der Festausschuss», die eine historische Episode verarbeitet: Der Sultan lädt alle albanischen Würdenträger zu einem grossen Fest ein und lässt sie von seinen Schergen niedermetzeln. INTERFOTO Ismail Kadare: Die Schleierkarawane. Aus dem Albanischen von Joachim Röhm. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2015. 207 Seiten, Fr. 29.90. Ein Redner schürt den Hass zwischen Christen und Muslimen im Balkan; Holzschnitt 1861. Aber es ist nicht die Bluttat, die im Mittelpunkt der Handlung steht, sondern die Befindlichkeit des hohen Palastbeamten, der die Vorbereitungen für das Fest zu überwachen hat und der zwischen Gehorsam, Angst und Zweifel wechselt. Und auch in der titelgebenden Erzählung «Die Schleierkarawane» wird die Ausübung der staatlichen Zentralgewalt beschrieben: Die «Verteilungsstelle» im Palast des Scheichs schickt eine Karawane mit «Gesichts- und Körperschleiern zur Verhüllung der Frauen» in die balkanischen Städte. Auf seinem Weg sieht der Karawanenführer zum ersten Mal Frauengesichter und ist Frauenblicken ausgesetzt – und zum ersten Mal in seinem Leben hinterfragt er einen Erlass des Sultans. «Es hatte Sonnen- und Mondfinsternisse gegeben, nun stand die dritte grosse Dunkelheit bevor: die Verfinsterung der Frauen», denkt er und ist kaum verwundert, als er verhaftet wird. Denn die Häscher des Sultans sind überall, haben überall ihre Informanten, bekommen alles mit und verzeihen nichts. In den Machtstrukturen des Osmanischen Reichs, hat Kadare einmal gesagt, lassen sich «sämtliche Mechanismen der totalitären Unterdrückung, vom römischen Imperium über Byzanz und die Mongolen bis hin zum Dritten Reich und dem Sowjetblock» erkennen. Wie in manchen seiner Romane fungiert das Osmanische Reich auch in diesen drei Erzählungen als Chiffre für einen totalitären zentralistischen Grossstaat. Aber es ist nicht so sehr der politische Gehalt, sondern es sind vielmehr die feinen Figurencharakterisierungen und die mitunter phantastischen Geschichten, die den anhaltenden Reiz dieser funkelnden Prosa ausmachen. ● Roman Der Biochemiker Gottfried Schatz zeichnet das Leben eines Postdoktoranden nach Krieg im Forschungsinstitut Gottfried Schatz: Postdoc . Styria premium, Wien 2014. 239 Seiten, Fr. 28.90, E-Book 18.90. Von Theres Lüthi Wer in New York verweilt, verliert seine Wurzeln und schlägt nur langsam neue. Für den 29jährigen Österreicher Antal von Némethy ist dies nicht weiter schlimm, da er sich seit jeher als Fremder fühlt. Als er im Jahr 1975 aus Wien als Postdoc nach New York kommt, um an einem Forschungsinstitut nach einem neuen Krebsmedikament zu suchen, scheint er sein Ziel erreicht zu haben. Doch der Fabrikantensohn, dem es an Geld, Aussehen und Intelligenz nicht mangelt, hadert auch in der Weltmetropole mit dem Leben. Während bei seinen 6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. April 2015 Forscherkollegen das wissenschaftliche Feuer hell brennt, ist es bei ihm nur am Glimmen. Das Forschungsinstitut entpuppt sich zudem als «menschenfeindliches Habitat», in dem der Institutsleiter verschiedene Forscher auf dasselbe Projekt ansetzt, ihnen aber verbietet, sich abzusprechen. «Forschung war für ihn kein Gemeinschaftswerk, sondern ein Krieg, in dem es nur einen Sieger und viele Besiegte gab.» Einzig in der Liebe beginnt bei Antal ein Feuer zu brennen. Doch als seine Geliebte, eine ungarische Forscherin, tot aufgefunden wird, beginnt für Antal eine Odyssee, die ihn zwischen New York, seiner heimatlichen Steiermark und Wien hin und her führt und immer mehr zu einer Suche nach sich selbst wird. «Er spürte, dass seit seiner Ankunft in New York etwas in ihm in Bewegung geraten war, das fortan nicht mehr zur Ruhe kommen und ihn entweder zerstören oder stärken würde.» Ein wiederkehrendes Pochen an seiner linken Schläfe signalisiert dem feinfühligen SchubertLiebhaber, dass ihn Ängste der Kindheit einholen. Gottfried Schatz, renommierter Biochemiker und langjähriger Professor am Biozentrum der Universität Basel, der mit seinen wissenschaftlichen Essays ein breites Publikum zu begeistern vermag, führt uns in seinem ersten Roman in die spannende, von Intrigen geprägte Welt der Wissenschaft. Die Sprache, in der die Geschehnisse beschrieben werden, ist elegant, und auch wenn den Dialogen zuweilen die psychologische Raffinesse abgeht, ist Schatz ein Buch gelungen, das den Leser und die Leserin von der ersten bis zur letzten Zeile packt. ● HOLLANDS HOOGTE / LAIF Geschichten Mit Andrzej Stasiuk reisen wir in vergessene Gegenden Osteuropas «IchliebedieseHässlichkeit» Andrzej Stasiuk: Der Stich im Herzen. Geschichten vom Fernweh. Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. Suhrkamp, Berlin 2015. 207 Seiten, Fr. 14.90, E-Book 10.–. Von Sandra Leis Er gehört zu den wichtigsten zeitgenössischen Schriftstellern Polens: Andrzej Stasiuk. Im Jahr 2000 wurde er auch im deutschsprachigen Raum bekannt mit der Übersetzung seines Erzählbandes «Die Welt hinter Dukla». Später folgten sein Debüt «Die Mauern von Hebron» (2003) und zuletzt «Kurzes Buch über das Sterben» (2013); in diesem kleinen feinen Buch beschwört er die Zartheit des Vergänglichen und erzählt vier Geschichten von Abschied und Tod. Stasiuk schreibt nicht nur Bücher – seit zwanzig Jahren verlegt er sie auch, zusammen mit seiner Frau Monika Sznajderman. Und er schreibt Literaturkritiken und Essays für die grossen polnischen Tageszeitungen, für «L’Espresso», die «Süddeutsche Zeitung», die «FAZ» und «Lettre International». All das klingt nach einem bestens vernetzten Grossstadtmenschen, dem Bildung bereits als Kind auf dem Silbertablett präsentiert worden ist. Doch Andrzej Stasiuk ist Autodidakt mit Grundschulabschluss. Er kam 1960 in einem Arbeiterviertel in Warschau zur Welt, war aktiv in der polnischen pazifistischen Oppositionsbewegung, desertierte aus dem Militär und sass dafür eineinhalb Jahre im Gefängnis. Zu Hause ist er seit vielen Jahren in einem Bergdorf in den Niederen Beskiden im südlichen Polen, wo er Schafe und Lamas züchtet. Gleichzeitig ist er ein Reisender, dem das Unterwegssein zur Lebensform geworden ist. «Es zieht mich (...) nach Osten. Ich kann es nicht ändern. Seit ich denken kann», schreibt Stasiuk in seinem neuen Buch «Der Stich im Herzen. Geschichten vom Fernweh». In 50 Kurzgeschichten nimmt er uns mit in wenig besiedelte und vergessene Gegenden an der polnisch-ukrainischen Grenze; er reist durch die sibirische Steppe, fährt bis nach China und in die Mongolei und durchquert die Wüste Gobi. Er beschreibt die Armut in Albanien und Rumänien und besucht das Dorf, in dem die Schriftstellerin und spätere Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller aufgewachsen ist. Er erzählt vom Mädchen, das Paul Celan liest und am Abend Nazi-Gesänge des betrunkenen Vaters hört, und er erzählt von der erwachsenen Frau, gegen die Ceausescu postum in gewisser Weise einen «vampirhaften Sieg» davongetragen habe. «Er hat sie gebissen und fürs ganze Leben gezeichnet.» Freiheit vor Korrektheit Und natürlich schreibt Stasiuk immer wieder über sein eigenes Land – über Polen. Die Geschichte «Ramsch aus Beton» beginnt so: «Ach, ich liebe die Hässlichkeit meines Landes.» Die alles beherrschende Farbe im Kommunismus war Grau, und als diese Herrschaft zu Ende war, hätten die Polen reflexartig ein Farbengeschäft aufgesucht. «Dementsprechend sieht jetzt mein Heimatland aus: als hätte ein Affe sich mit dem Pinsel ausgetobt.» Doch ihm, so Stasiuk, imponiere diese Eigenmächtigkeit, diese Freiheit von ästhetischer Korrektheit. Als ein Symbol für Polen beschreibt er die kaum befahrene Strasse Nr. 816: Sie beginnt, von Süden her betrachtet, in Zosin und endet in Terespol. Auf der einen, der westlichen Seite haben die Nationalsozialisten ihre Todesfabriken gebaut, die andere Strassenseite steht für den Kommunismus. Beides gehöre zu seinem Land, ebenso wie «unser ewig unschuldiges Polentum». Andrzej Stasiuk ist weder Chronist noch Reiseschriftsteller, er ist ein Beobachter auf Zeit, und er hat eine Vorliebe für die Peripherie. Die Metropolen wür- «Als hätte ein Affe sich mit dem Pinsel ausgetobt»: Plattenbauten faszinieren Andrzej Stasiuk (Katowice, Polen, 2005). den sich immer stärker angleichen: überall die gleichen Hotelketten, dieselbe Werbung, die gleichen Bankomaten, Biersorten, Parkuhren und dasselbe Repertoire in den Kinos. Bald werde man die Metropolen nur noch an ihren hoch geschätzten, toten Sehenswürdigkeiten unterscheiden können. Grandioser Stilist In einem Gespräch mit der «FAZ» sagte der Autor, dass ihn der Westen langweile. «Ich finde es spannender, an die russisch-chinesische Grenze zu fahren und auf der einen Seite zu sehen, wie der Kommunismus unsere wunderbare Erde verwüstet hat, und gleichzeitig auf die andere Seite, nach China, zu blicken und zu beobachten, wie die Welt in Zukunft aussehen wird.» Geordnet sind die Geschichten nach Jahreszeiten, und Andrzej Stasiuk entpuppt sich als grandioser Stilist des Wetters. Wenn etwas die Osteuropäer wirklich beherrsche, dann seien es die Wetterveränderungen, die Hoch- und Tiefdruckgebiete; Juli und August findet er eintönig, ausser es zieht ein Gewitter auf. Dafür schreibt er herrliche Oden an den Mai und an den September und überhaupt an das Naturwunder der Jahreszeiten, und man glaubt ihm aufs Wort, wenn er sagt, die Tropen würden ihn meteorologisch langweilen. Immer wieder schreibt Andrzej Stasiuk in seinen Büchern über Werden und Vergehen, über Abschied, Sterben und Verlust. Gegen Ende des Buches gibt er preis, warum er schreibt: «Das Schreiben bietet die Chance der Rückkehr.» Zu jedem Tag, jedem Sieg und jeder Niederlage. Indem er ein Ereignis zu einer Erzählung verdichtet, will er das Leben verdoppeln, verdreifachen, im besten Fall vervielfachen. Die Literatur wird ihm zum Multiplikator des Lebens. Gleichwohl hat er den Tod stets im Blick – gäbe es den Tod nicht, Andrzej Stasiuk hätte keinen Grund zu schreiben. ● 26. April 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7 Belletristik Roman Die färöische Autorin Sólrún Michelsen überzeugt mit einer beklemmenden Erzählung, die zwei Frauenschicksale in ihrer archaischen Inselheimat gestaltet VomRegenbogen hinterdenGitterstäben Sólrún Michelsen: Tanz auf den Klippen. Aus dem Färöischen von Inga Meincke. Unionsverlag, Zürich 2015. 160 Seiten, Fr. 29.90. Von Verena Stössinger Als Kind, fällt ihr später wieder ein, hat sie einmal «ein kleines Stück von einem Regenbogen entdeckt. Sie hatte versucht, es mit Zeigefinger und Daumen abzumessen. Es war nicht grösser als ein Ohrenkneifer.» Das «Gitter-Mädchen» ist eine der Hauptfiguren im Roman von Sólrún Michelsen. Es sah durch Gitterstäbe hindurch die Latten des Verschlags, in dem sie tagsüber eingesperrt war. Nachts war sie im Zimmer im Dachstock des elterlichen Hauses, weggesperrt auch hier – und den Grund wusste sie selbst: «Ich laufe weg.» Draussen spielten die anderen Kinder, und manchmal stellte sie sich dann aufs Fensterbrett – daran erinnert sich auch die gleichaltrige Ichfigur, die zu diesen «anderen» gehörte: «Sie zog das Unterhemd hoch und zeigte uns ihren Bauch. Manchmal zog sie auch die Unterhose runter. Das gab ein grosses Gejohle, bis ein Arm sie vom Fensterbrett herunterriss.» Sehnsucht und Tod Wir befinden uns in einem färöischen Dorf. Es sind die fünfziger Jahre, die Leute sind arm, die Tage klamm, die Regeln streng. Für alle – und doch sind die Leben der zwei Mädchen kaum zu vergleichen: Die Ichfigur ist integriert in Familie, Kameradenkreis und Nachbarschaft, wohingegen das «Gitter-Mädchen» geschlagen wird und einsam bleibt; dennoch entwickelt sich zwischen ihnen eine vorsichtige Nähe. Im ersten Teil des Romans, der wie ein Mosaik aus einzelnen Texten gefügt ist, sehen wir die beiden in ihrer Kindheit. Um sie herum die Leute vom Dorf: der Arbeitervater, der zäh um etwas höhere (Hunger-)Löhne kämpft; die abgearbeitete Mutter, die nach dem Kloeimerleeren draussen «An der schönen blauen Donau» murmelt und in Strümpfen vor sich hin tanzt; der lüsterne Fischer; der Kaufmann, der manchmal sogar Schulden erlässt, oder Fías Mann, der die neugeborenen Kätzchen umbringt. Dichte Bilder stellen sie uns vor Augen. Die Figuren sind scharf gezeichnet, ihre Taten werden jedoch nicht hinterfragt und auch von der Icherzählerin nicht gewertet. Das Eigensinnige wird ihnen belassen – es ist, ahnen wir, ihre Art, mit der harschen Realität überhaupt zurechtzukommen und mit ihren Sehnsüchten und Nöten. 8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. April 2015 Die kargen FäröerInseln bilden den Hintergrund für den dunkel leuchtenden Roman von Sólrún Michelsen. Hier die Küste von Gasadalur auf der Insel Vagar. Zuletzt, im dritten Teil, treffen sich die beiden «Mädchen» nach Jahren in einer Stadt im Ausland wieder. Die Ichfigur ist Studentin und sucht nach ihrem Weg ins Leben hinein, das «Gitter-Mädchen» dagegen scheint ihn schon gefunden zu haben. Sie ist auffallend attraktiv und spielt zwischen depressiven Abstürzen und Selbstzerstörungsattacken gnadenlos souverän mit Lebensentwürfen, Männern und Macht. Von der Vergangenheit will sie nichts mehr wissen, jede Erinnerung lähmt sie. Bei der letzten Begegnung der beiden ist sie aber sehr dünn, anhänglich und hat blaue Flecken am Arm – welcher Gewalt ist sie ausgesetzt? Oder nimmt sie Drogen? Bringt sie sich gar um? Der Text lässt vieles offen. Und er reichert im Mittelteil die Geschichte der beiden an mit zehn Bildern von gesellschaftlichen Aussenseitern. Bilder, die paarweise zusammengehören und dabei nach der Aussenperspektive (aus der Sicht der Ichfigur) in die jeweilige Innenperspektive wechseln. Sie zeigen den Jungen, der ganz allein übers Meer geschickt werden soll, um gesund zu werden; Samuel, der verzweifelt versucht, das «eine Bild» zu malen, das ihn erlösen kann, oder die alte Mutter, die ihre Tochter über den Tod hinaus nicht loslässt. Alle diese Figuren – das erschliesst die aufmerksame Lektüre zum Teil explizit – haben die Protagonistinnen mit geprägt und variieren das eigentliche Thema des Romans: Begehren und Zerstören; Sehnsucht und Tod. Sólrún Michelsen erzählt fast beiläufig, aber anschaulich und klar – selbst da, wo die «Mädchen» einen Ausflug ins Esoterische unternehmen. Man kann vieles in ihren Text hineinlesen, kann ihn auch psychologisieren und die beiden Figuren etwa als Hälften einer einzigen, gespaltenen Persönlichkeit sehen, aber das muss man nicht. Vielleicht sollte man eher etwas aus ihm herauslesen: Was es heissen kann, zum Beispiel, nur «ein kleines Stück von einem Regenbogen» im Himmel über sich zu haben. Hungrig nach Schreiben «Tanz auf den Klippen» ist ein äusserlich schmaler, dabei grosser, dunkel leuchtender Roman; schon jetzt ein Hauptwerk der jüngsten färöischen Literatur, übersetzt auch ins Dänische und Englische. Die 1948 geborene und bei Tórshavn aufgewachsene Autorin hat dafür einen langen Weg zurückgelegt. 1994 erschien ihr Erstling «Argjafrensar», leicht fiktionalisierte, muntere Kindheitsepisoden – in denen übrigens das «GitterMädchen» auch schon vorkommt und Ebba heisst –; danach kamen mehrere Kinderbücher und Erzählungen. «Tanz auf den Klippen» («Tema við slankum», 2007) war ihr erster Roman; seither sind Gedichte, Erzählungen und ein weiterer Roman erschienen. Jetzt, wo sie endlich Zeit dafür hat, schreibt sie viel – «ich hungerte richtig danach», sagt sie; jahrzehntelang war sie Mutter und Familienfrau gewesen und hat mit ihrem Mann eine Firma aufgebaut und geleitet. ● Roman Siri Hustvedts neues Buch handelt von einer Künstlerin, die sich gegen Frauenhass wehrt HarrietmöchtelieberHarrysein Siri Hustvedt: Die gleissende Welt. Aus dem Amerikanischen von Uli Aumüller. Rowohlt, Reinbek 2015. 491 Seiten, Fr. 33.90, E-Book 21.–. Von Regula Freuler «Es gibt viele Geschichten und ebenso viele Gründe, das Weibliche hinter sich zu lassen und das Männliche anzunehmen», notiert die Protagonistin von Siri Hustvedts neustem Roman «Die gleissende Welt». Die Gründe sind hinlänglich bekannt, und es dauerte lange genug, bis die Forderung nach geschlechtsunabhängiger Anerkennung – sei es in Form von Lohn, Ruhm oder einfach nur, in seiner Meinung ernst genommen zu werden – offen geäussert werden konnte. Wie sehr oder wie wenig der Forderung bis heute nachgekommen wurde, ist nach wie vor Gegenstand nicht nur von realpolitischen Diskussionen, sondern auch von fiktionalen Werken wie zum Beispiel Romanen. Mit der Littérature engagée ist es allerdings so eine Sache. Sie bewegt sich auf dem gefährlich schmalen Grad von Poesie und Anliegen. Die 60jährige amerikanische Schriftstellerin und Essayistin Siri Hustvedt macht diesen Balanceakt transparent – allerdings zulasten der Dichtkunst. Das Buch handelt von Harriet Burden, einer Künstlerin in New York, die ein Leben im Schatten verbracht hat: in jenem ihres 22 Jahre älteren Ehemannes, des erfolgreichen Kunsthändlers Felix Lord, der sie sowohl mit Männern wie mit Frauen betrog, während sie zu Hause die beiden Kinder aufzog und sich immer wieder Stunden für eigene Interessen (die Philosophie, die Kunst) stahl. Es sind Jahre des konstanten Scheiterns, denn in der New Yorker Kunstszene galt sie als kleines Licht, und an gesellschaftlichen Anlässen war sie ihrem Mann nicht die distinguierte Gattin, sondern ein mit philosophischen Theorien um sich werfender Trampel. Als Felix stirbt, nimmt Harriet – von engsten Freunden Harry genannt, was zu ihrer hünenhaften Gestalt passt – die Kunst wieder ernsthaft auf. Und sie hat einen Plan: Sie schlüpft in die Maske von drei Künstlern, die Harriets Werke als ihre eigenen ausgeben. Und siehe da: Auf einmal sind die Galeristen und Kritiker begeistert. Doch einer der drei Künstler, ein Mann namens Rune, beansprucht ebenfalls die Autorschaft auf einige der Werke. Harriet Burden steht erneut vor dem Problem, dass man sie nicht ernst nimmt. «Die gleissende Welt» ist eine Kombination unterschiedlicher Textsorten: Tagebuchnotizen, Interviews und Berichte von verschiedenen Figuren, allesamt fiktional, ausser natürlich die Namen der erwähnten Geistesgrössen (u.a. hat Siri Hustvedt selbst einen Cameo-Auftritt). Die ebenfalls fiktionale Herausgeberschaft namens I.V. Hess versucht aufgrund von Text- und Zeitzeugen herauszufinden, wie es sich in der Causa Rune tatsächlich verhält. Doch offenbar existieren keine eindeutigen Beweise, und so stirbt Harriet Burden, ohne ihr Maskenspiel ordentlich gewonnen zu haben. Das klingt nach einer an sich spannenden Ausgangslage, von der aus sich über viele Aspekte eines Frauenlebens nachdenken liesse. Doch Hustvedt, die sich schon mehrfach mit dieser Thematik befasst hat, dreht sich diesmal im Kreis. Nun könnte man einwenden, dass genau das Harriet Burdens Leben widerspiegelt. Aber man würde es schon gerne auf weniger platte Weise lesen. Zwei Beispiele. Das Buch beginnt mit dem unoriginellen Satz: «Alle intellektuellen und künstlerischen Unterfangen (...) schneiden in der Meinung der Menge besser ab, wenn die Menge weiss, dass sie hinter dem grossen Werk oder dem grossen Schwindel einen Schwanz und ein Paar Eier ausmachen kann.» Daneben muss man viel verwuselten oder gar tautologischen Kitsch über sich ergehen lassen: «Die Erinnerung beginnt sich selbst aus der Wolke des Nichtwissens herauszubilden. Das Formlose nimmt Form an, und bald gibt es eine erstickte Artikulation – ahnungsvoll und bedeutsam.» Siri Hustvedt erweist sich als brillante Erfinderin fiktionaler Charaktere, die sie mit realen verknüpft. Aber mit der Sprache, die sie Harriet Burden verleiht, unterminiert sie die Glaubwürdigkeit und Fähigkeit ihrer Protagonistin. Und sie langweilt die Leserin. ● Porträts Wie Familien sich inszenieren Würden wir uns so fotografieren lassen? Jane Hamlyn und James Lingwood haben sich 2001 mit ihren drei Kindern zum Familienporträt am Esstisch versammelt. Besonders glücklich schauen sie nicht drein. Jane sitzt in der Mitte, sie hält den Alltag vermutlich zusammen und zeigt, wie viel Kraft sie das kostet. Sie hält sich an der Hand ihres Sohnes ebenso sehr fest, wie dieser ihre Nähe sucht. Thomas Struth stellt es den Porträtierten meist frei, wie sie sich positionieren wollen, und bestimmt hinterher, wie er diese Konstellation festhalten will. «Jede Familie ist wie ein epischer Roman von Thomas Mann», sagt der Fotograf aus der Düsseldorfer Schule; seine Fotografien seien «Momentaufnahmen eines unsicheren Friedens». Mit seinen Porträts von Familien aus vielen Kulturen lässt er Unterschiede und Ähnlichkeiten aufscheinen. Solche verdeutlicht ein Band, der der europäischen Porträtfotografie seit 1990 gewidmet ist. In den Einzel-, Paar- und Gruppenporträts wird das Bedürfnis nach Selbstinszenierung zur Signatur eines Zeitalters. Gerhard Mack Frits Gierstberg (Hrsg.): European Portrait Photography since 1990. Prestel 2015. 240 S., 200 Abb., Fr. 79.90. 26. April 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9 Belletristik Roman In ihrem neuen Buch erinnert sich Elisabeth Binder an ihre dörfliche Kindheit. Poetisch dicht evoziert sie das Leben einer Thurgauer Fabrikantenfamilie DerunvergleichlicheGeschmack desPausenbrots Elisabeth Binder: Ein kleiner und kleiner werdender Reiter. Spuren einer Kindheit. Amato-Verlag, Unterstammheim 2015. 200 Seiten, Fr. 29.–. Die Sehenswürdigkeiten Roms in «Der Nachtblaue» von 2000, der Zürcher Sommer am Bellevue in der «Sommergeschichte» von 2004, die herbstliche Melancholie der Lagunen Venedigs in «Orfeo» von 2007, ein Bergeller Dorf voll absonderlicher Gestalten in «Der Wintergast» von 2010: Zu Elisabeth Binders ersten vier Romanen fügten die Schauplätze jeweils einen Interesse heischenden, strukturierenden und stimulierenden Aspekt hinzu. Schon in «Der Nachtblaue» taucht aber auch der Gedanke auf, einmal einen Roman über einen Ort zu schreiben, dem alles äusserlich Spektakuläre fehlt und der mittels der Kraft der Erinnerung dennoch zu einer gewissen, wenn auch eher sublimen, seelischen Bedeutung gelangen würde. Die Protagonistin will in Rom nämlich die Distanz finden, die sie für einen Roman über das Dorf ihrer Kindheit braucht. Mit «Ein kleiner und kleiner werdender Reiter» legt Elisabeth Binder zehn Jahre später nun ein solches Buch vor und ist sich bewusst, dass sie sich nicht mehr auf die Berühmtheit des Schauplatzes stützen kann: «Gewöhnlicher als dieses Dorf, wo ich ohne Unterbruch aufgewachsen bin, langweiliger als meine Herkunft aus diesem Dorf konnte überhaupt nichts sein.» Dennoch verbindet etwas diesen Roman mit den früheren: das Flanieren, das Spazieren, das Herumgehen, das für diese Erzählerin ganz offenbar die bewegliche Struktur ist, aus der heraus sie ihre Geschichten in zyklischer Bewegung entwickelt. Archäologin ihrer selbst Das Dorf B., wo die Autorin ihre Kindheit verbrachte, hat sie jahrzehntelang nicht wieder betreten, die Verwandten sind weggezogen, und so gerät sie, als sie es zwei Jahre lang wieder regelmässig aufsucht, wie eine Archäologin in eigener Sache in einen völlig fremd gewordenen Ort. Es kommen einem Ida Bindschedlers «Turnachkinder» in den Sinn bei dieser Thurgauer Fabrikantenfamilie in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts: der Vater, der eine Fabrik leitet, wo ihn die Kinder im Büro aufsuchen dürfen, der Haushalt mit den vier Töchtern in einem Haus am Dorfrand, die gehobene Lebenssituation, die Begegnung mit der Natur und Landschaft. Vieles wird anschaulich neu evoziert: die Festlichkeit der Sonntagmorgen, das Pausenbrot, die Schulweihnacht, die Kalligrafiestunde, 10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. April 2015 KEYSTONE Von Charles Linsmayer Der Rundgang der Icherzählerin im Dorf ihrer Kindheit weckt Erinnerungen an eine Frau, die sich Velo fahrend emanzipierte; Sonntagsausflug im Thurgau (1938). die erste Verliebtheit, aber unrelativiert, eins zu eins, aus der Sicht des Kindes selbst, wie Ida Bindschedler das 110 Jahre zuvor noch konnte, vermag die Autorin nur ganz selten und bruchstückhaft zu erzählen. Getragen ist die Darstellung vielmehr von den Beobachtungen und Reflexionen der durch ihr Kindheitsdorf flanierenden Erwachsenen, die immer wieder etwas von früher aufblitzen lässt, aber nie völlig vom Zustand abstrahiert, den sie vorfindet, von der Situation ein halbes Jahrhundert später, wo vom ehemaligen Zauber, wenn überhaupt, nur noch ganz kümmerliche Reste vorhanden sind. Man begegnet beeindruckenden Figuren in diesem Buch: dem «Jägerfreund», der dem Mädchen die Schönheit des Waldes erschliesst, der Frau Näf, die sich Velo fahrend emanzipiert, der Frau mit den Apollo-Hündchen, die einer geheimnisvollen kynologisch-antikisierenden Dimension des Buches angehört, handelt es sich bei dem Freund, mit dem zusammen die Erzählerin die Kinderheimat durchwandert, doch, wie man erst ganz am Schluss errät, um einen Hund aus dem apollinischen Griechenland! Eindrückliche Vaterfigur Im Mittelpunkt aber steht unangefochten der Vater, der schon im Titel Erwähnung findet. Sein früher Tod, als die spätere Erzählerin gerade einmal acht Jahre zählt, ist eines der erschütterndsten Kapitel des Buches, da «brach eine Welt zu- sammen». Dennoch ist er aus den Vorstellungen der Tochter fast ganz verschwunden, und sie fragt sich ernsthaft, ob sie zu ihm «womöglich gar keine richtige Beziehung hatte?» Es ist dann aber nicht das Dorf, das ihn ihr wieder näher bringt. Es sind die Briefe, die er als junger Mann seiner Verlobten schrieb, und es sind die dunklen, schmerzlichen Seiten, die ihn noch am ehesten präsent machen: die latenten Depressionen, die sich dem Kind einmal ganz plötzlich offenbarten, als es ihn weinend auf der Kellertreppe fand. Schon denkt sie daran, sich Zugang zu den Krankenakten zu verschaffen, als sie auf einmal weiss, wie sie sich dem Vater am schönsten nähern kann: «War er nicht doch am sichersten da zu finden, wo sein Bild noch immer eingeprägt sein musste: in mir?» So hat der Rundgang durch den Ort der Kindheit letztlich gezeigt, dass die eigentliche, wirklich verlässliche Auskunft über das Vergangene und über Menschen, die uns lieb waren, nicht an einem bestimmten Ort zu finden ist, sondern in dem, was unsere Erinnerung davon festgehalten hat. Diese Erinnerung aber ist es andererseits auch, die einem Ort wie diesem Kindheitsdorf jenseits alles äusserlich Spektakulären etwas zu vermitteln vermag, was trotz allem einen eigenwilligen Zauber auf einen ausübt und den Reiter, der sich immer weiter entfernt, zu einer unvergesslichen Gestalt macht. ● Roman Die rätoromanische Autorin Leta Semadeni schreibt über ein wenig idyllisches Engadin Träume aus Teer Kurzkritiken Belletristik Christine Brand: Stiller Hass. Kriminalroman. Landverlag, Langnau 2015. 464 Seiten, Fr. 30.90. Fil: Pullern im Stehn. Die Geschichte meiner Jugend. Rowohlt, Reinbek 2015. 288 Seiten, Fr. 15.90, E-Book 11.–. Da ist sie wieder, die forsche, von ihrem Beruf als Fernsehreporterin beseelte Milla Nova. Derart beseelt, dass sie sich schon in den letzten beiden Kriminalromanen der «NZZ am Sonntag»-Redaktorin Christine Brand in brenzlige Situationen manövriert hat. Diesmal ist sie zufälligerweise selbst dabei, als im Bundeshaus eine Bombendrohung eingeht. Sie richtet sich gegen den Grünliberalen Konrad Sutter. Es handelt sich um einen Fehlalarm, aber kurz darauf wird der populäre Politiker auf unschöne Weise aus dem Leben befördert. Milla Novas Freund Sandro Bandini, nun bei der Bundespolizei tätig, ermittelt. Als Spuren zu einem Kinderpornoring auftauchen und ein rätselhafter Suizid geschieht, kann es die Vollblutjournalistin nicht lassen, Informationen von Sandro für ihre Sendung zu verwenden. Ein spannender Schmöker, wie stets bei Christine Brand mit sozialkritischer Färbung. Der Comiczeichner und Bühnenkünstler Fil, der 1966 als Philip Tägert in Berlin Tegel geboren wurde, erzählt in seinem ersten Roman die Geschichte seiner Jugend: frech, witzig, unbekümmert, burlesk und mit viel Selbstironie. Was passiert, ist allerdings gar nicht lustig: Fil wächst im Märkischen Viertel auf, einem Beton-Ghetto, wird gemobbt, läuft weg von zu Hause, fliegt von der Schule, säuft, kifft, ist unglücklich verliebt und stets in akuter sexueller Not, gerät in die Psychiatrie und soll von Hippie-Sozialarbeitern auf einem Nordsee-Segler resozialisiert werden. Doch er behauptet sich, indem er sich selbst nicht weniger spöttisch betrachtet als seine Umwelt. Und natürlich ist er ein verkappter Romantiker. Mitunter erinnert er an Salingers «Fänger im Roggen». Fils Sprache ist einfach, direkt und explizit. Nichts für empfindsame Seelen, für Pubertierende jeden Alters jedoch ein Heidenspass. Heinrich Detering: Wundertiere. Gedichte. Wallstein, Göttingen 2015. 94 Seiten, Fr. 29.90, E-Book 18.90. Wilson Collison: Das Haus am Kongo. Roman. Louisoder, München 2015. 258 Seiten, Fr. 25.40, E-Book 12.–. Heinrich Detering, Professor für Literatur an der Universität Göttingen und Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, ist ein Poeta doctus – aber einer, der das Leichte liebt. Das verbindet ihn mit Hans Magnus Enzensberger. Gewiss: Seine Lyrik ist bildungsgesättigt und lässt oftmals klassisches Formbewusstsein aufblitzen. Doch sie ist nie gestelzt. Vielmehr erinnert sie in ihrem beiläufigen Duktus an chinesische Tuschzeichnungen. Thematisch höchst vielfältig steht Naturlyrik neben Reiseimpressionen, Philosophie neben Technikgeschichte. Deterings Verse sind von Neugier und Staunen geprägt. Wie schon in den Bänden «Schwebstoffe» (2004), und «Wrist» (2009) beweist der umtriebige Forscher, Lehrer und Herausgeber, dass er auch Momente des Innehaltens und der Selbstvergessenheit kennt. Deshalb kann er so anmutig schreiben. Als Wilson Collisons Roman 1934 erschien, waren exotische Kulissen beliebt. Karen Blixen schrieb «Jenseits von Afrika», als «Lady of the Tropics» brachte Hedy Lamarr die Männer um den Verstand, Hemingway schoss Grosswild in Kenya. Der Amerikaner Collison (1893– 1941), der mit «Up in Mabel’s Room» (1919) und «Red Dust» (1932) sowohl Broadway wie Hollywood romantische Stoffe geliefert hatte, legt mit «Das Haus am Kongo» eine Ménage à quatre vor: Die kesse Dolly mit dem losen Mundwerk und der Beau Bill ziehen als Trickbetrügerduo durch die Kolonien. Als ihr Schiff am Kongo strandet, finden sie beim jungen Arzt Warwick und seiner schönen, aber einsamen Frau Aline Unterschlupf. Es kommt, wie es kommen muss: zum Paartausch. Wer Schmonzetten aus Hollywoods goldenem Zeitalter liebt, wird mit diesem Buch glücklich. Leta Semadeni: Tamangur. Rotpunktverlag, Zürich 2015. 143 Seiten, Fr. 26.90, E-Book 18.90. Von Angelika Overath Tamangur ist eine Moorlandschaft im Unterengadin, über die sich Europas höchstgelegener Arvenwald erstreckt. Für die Romanen wurde er zum Symbol für den Kampf um ihre Sprache und Kultur. Tamangur ist aber auch ein mythischer Ort, das Paradies der toten Jäger. In diesen Echoraum stellt die Lyrikerin Leta Semadeni (die ihre Gedichte auf Romanisch und Deutsch schreibt) ihren ersten Roman. Der Text ist ein kühner Gegenentwurf zu jeder Engadin-Idylle. In 73 intensiven Kurzkapiteln handelt er vom Leben der eigensinnigen Grossmutter und ihrer kleinen Enkelin. Beide haben auf ihre Weise am Tod zu tragen. Die Grossmutter hat den Grossvater verloren, den wunderbaren Jäger mit den seidenen Füssen und den grossen Händen: so gross, dass ihre schönen Brüste hineinpassten. Und das Kind hätte auf den kleinen Bruder aufpassen sollen, aber unversehens wurde er im Fluss davongetragen. Als es später fragt, wohin der Fluss fliesse, sagt die Grossmutter: ins Schwarze Meer. Die Witwe und das von den Eltern verstossene Mädchen bilden mit Hund Chan nun eine kleine Familie. In ihrer Wirklichkeit gelten Erinnerung und Imagination mehr als äusserliche Fakten. Träume sind intensiv wie der Teer, den das Kind vom warmen Asphalt aufnimmt und kaut. Der Weg vom Birnbaum vor dem Haus zum Avocadobaum in Südamerika, wo die Grossmutter einst lebte, ist ein Wimpernschlag; der blonde Zopf der rennenden Frau im Fernsehen wird zum blonden Schopf des Bruders in den Wellen. Das Dorf ist ein Figurenkabinett: mit der unhöflichen Ziege, die die Miene des Friseurs hat, dem schwulen Kaminfeger, der wie die Frau Doktor über die Grenze nach Österreich fährt (sie geht billig einkaufen, er zu einem Liebhaber), der Schneiderin mit den Krokodilsäuglein, die Geschichten stiehlt, oder dem zierlichen Kasimir, der seine Seele mit Rotwein putzen muss. Und vor allem ist da Else, die in der Alpenrose Elvis (Presley, versteht sich!) kennen- und liebengelernt hat. Und ihn nun gern in seinem glitzernden Tarnanzug zur Grossmutter mitbringt, etwa an Weihnachten, wo dann alle zusammen den grossen gefüllten Karpfen essen und zur Schallplatte tanzen. Tamangur ist eine Dorfgeschichte, berührend, ohne kitschig zu sein, witzig, ohne Überheblichkeit. Die Empathie für die Vielfalt des kleinen Lebens überträgt sich als ein Glück auf die Leser. ● Regula Freuler Manfred Papst Manfred Papst Regula Freuler 26. April 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11 Porträt Die Religionspädagogin Lamya Kaddor ist eine der einflussreichsten Musliminnen Deutschlands. Sie vertritt einen liberalen Islam und bekämpft latenten Islamhass ebenso wie den islamistischen Fundamentalismus. Urs Rauber hat die engagierte Mittlerin in Leipzig getroffen Muslimische Anti-Islamistin Wenn Lamya Kaddor in einer Diskussionsrunde sitzt, fasst sie sich kurz. Doch was sie zu sagen hat, kommt beim Publikum hörbar gut an. So auch an diesem Abend im März in der Sächsischen Akademie der Wissenschaften in Leipzig. Der Saal ist überfüllt, das Podium – wie häufig beim Thema Islam – von älteren deutschen Herren besetzt, vier an der Zahl, alle als «Experten» vorgestellt. Jeder äussert sich wortreich zu einer Frage, die ihn kaum existenziell betrifft, und zu einer Glaubensgemeinschaft, der er selbst nicht angehört. «Was passiert in der arabischen Welt?» heisst die Veranstaltung der Leipziger Buchmesse. Als einzige Person, die einen unmittelbaren, doppelten Bezug zum Thema hat, sitzt Lamya Kaddor in der Runde: Die 37-jährige Deutsche ist Tochter syrischer Einwanderer und gläubige Muslimin. Und sie hat Schüler unterrichtet, die – zu ihrem Schrecken – in den Dschihad nach Syrien gezogen sind. Als die Rede auf den IS, den «Islamischen Staat», kommt, seufzt Kaddor und bittet die vier Nichtmuslime, doch nun endlich vom «soge- Lamya Kaddor Lamya Kaddor, 1978 in Westfalen (D) als Kind syrischer Einwanderer geboren, ist deutsche muslimische Religionslehrerin, Islamwissenschafterin und Buchautorin. Sie präsidiert den von ihr 2010 mitgegründeten Liberal-Islamischen Bund und lebt in Duisburg. Der breiteren Öffentlichkeit wurde sie bekannt mit den Publikationen «Der Koran für Kinder und Erwachsene» (C. H. Beck, München 2008), «Muslimisch, weiblich, deutsch! Mein Weg zu einem zeitgemässen Islam» (C. H. Beck 2010) und «Der Islam für Kinder und Erwachsene» (C. H. Beck 2012). Ihr neustes Buch «Zum Töten bereit. Warum deutsche Jugendliche in den Dschihad ziehen» ist soeben in zweiter Auflage erschienen (Piper, München 2015. 251 Seiten, Fr. 21.15, E-Book 12.90). Frau mit voller Agenda Die junge Frau im rostroten Wolljäckchen und mit viel Silberschmuck ist nicht nur optisch ein Farbtupfer in der Männerrunde, sie unterläuft auch sonst manches Genderklischée: Sie äussert sich knapp, wo die Experten ausufern, bleibt kühl, wo sich moralisch Aufrechte empören, und bringt ihre dosierte Botschaft mit Charme, Witz und Nachdruck in die Debatte ein. Heute, im voll besetzten Saal in Leipzig, ist wieder so ein Moment: «Wissen Sie», sagt sie lachend, «jetzt spiele ich die Lehrerin, das ist meine Paraderolle.» Und zieht damit flugs das Publikum auf ihre Seite. Lamya Kaddor ist in Deutschland eine bekannte Persönlichkeit. 2010 wurde sie von der paneuropäischen Organisation Cedar als eine der zehn «Muslim Women of Influence» ausgezeichnet. Sie ist Trägerin der «Integrationsmedaille der Bundesregierung» und erhielt im Februar 2015 die «Nick-Knatterton-Ehrenmütze» des Bundes Deutscher Kriminalbeamter. Indem sie sich gegen die Radikalisierung von Jugendlichen einsetze, habe sie besondere Verdienste in der Kriminalitätsbekämpfung erworben. Die Frau hat einen gefüllten Terminkalender. Zwei Stunden vor ihrem Auftritt in der Sächsischen Akademie trifft sie in einem Hotel in der Leipziger Innenstadt ein. Fährt ins Zimmer hoch und gibt dem SWR ein verabredetes Telefoninterview zum neuen Kopftuchurteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts: Sie bejaht die Aufhebung des Kopftuchverbots an Schulen – allerdings nicht aus religiöser, sondern aus libera- «Ich bezeichne mich als Berufsmuslimin. Entweder ich schreibe oder ich lese oder ich spreche über das Thema. Aber ich bin nicht besonders fromm, einfach normal.» ler Sicht. Dann setzt sie sich dem Schweizer Journalisten in der Hotellobby gegenüber, löffelt eine Curry-Pilzsuppe und bemerkt: «Fangen Sie ruhig schon mal an. Ich bin da ganz entspannt. Ich mach das ab und zu.» Ihre tiefe wohlklingende Stimme würde man eher einer 50-jährigen Managerin oder einer reifen Radiomoderatorin zuordnen als einer jungen Hauptschullehrerin aus dem Ruhrpott. Managerin? Im Grunde genommen ist Lamya Kaddor genau das: eine Managerin des Dialogs zwischen Muslimen und Nichtmuslimen. Sie unterrichtet seit 2003 Islamkunde, seit 2014 islamischen Religionsunterricht für 13- bis 17-Jährige an einer Hauptschule in Dinslaken (Nordrhein-Westfalen), tritt regelmässig im «Forum am Freitag» des ZDF auf, schreibt Bücher, ist eine gefragte Referentin und Politikberaterin, präsidiert den Liberal-Islamischen Bund, beantwortet als eine Art muslimische Briefkastentante Mails besorgter Mitbürger und schreibt an ihrer Dissertation. Koran als Leitfaden Na ja, wehrt sie ab, das Letztere komme schon etwas zu kurz: «Sicher, ich schlafe wenig, doch viele dieser Tätigkeiten bündeln sich halt in meiner Person und überschneiden sich.» Sie habe 16-Stunden-Arbeitstage. Doch dafür werde es ihr nie langweilig. Und dann hat sie auch noch zwei Kinder im Vorschulalter. Das Multitasking macht ihr offensichtlich Spass. «Ich bezeichne mich als Berufsmuslimin», scherzt sie, «entweder ich schreibe oder ich lese oder ich spreche über das Thema.» Der Weg zur «Berufsmuslimin» war nicht unbedingt vorgezeichnet. Lamya kam 1978 in ▲ 12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. April 2015 nannten Islamischen Staat» zu sprechen. «Dieser Staat ist kein islamischer Staat, er ist ein Staat der Terroristen! Wir dürfen ihre Argumentation nicht übernehmen, wir Muslime anerkennen den IS nicht als islamischen Staat.» Fertig. Punkt. Ähnlich hat sie vor ein paar Wochen Frank Plasberg in seiner ARD-Talkshow «Hart, aber fair» korrigiert, als er wiederholt von Muslimen und Deutschen sprach. «Herr Plasberg», wandte sie ein, «wir sind deutsche Muslime oder muslimische Deutsche. Beides zusammen, nicht das Eine oder das Andere.» Bis der Starmoderator lernt und sich vor laufender Kamera entschuldigt. DOMINIK ASBACH / LAIF «Das Kopftuch schützt nicht vor männlichen Übergriffen, für den Schutz sorgen in Deutschland Recht und Gesetz», sagt die liberale Muslimin Lamya Kaddor (28.1.2015). 26. April 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13 Porträt Schüler ziehen in den Dschihad Von den Fundamentalisten der eigenen Community fühlt sie sich bedrängt, weil diese ständig die Deutungshoheit gerade auch beim Thema Frauen für sich beanspruchen. «Immer sind es Männer, die über uns urteilen.» Sie kämpft für einen zeitgemässen Islam (ohne Scharia und religiösen Monopolanspruch), der sich in eine pluralistische Gesellschaft einfüge. Dazu brauche es den innerislamischen Dialog, besonders mit der schweigenden Mehrheit der Muslime, die sich zwischen liberal und konservativ einordnen würde. Auch ihre Eltern seien eher konservativ, würden nicht alles befürworten, was sie vertrete. «Doch da ich ihre Tochter bin, sagen sie: Du gehörst zu uns.» Vor ein paar Jahren hat Kaddor mit Rabeya Müller vom Liberal-Islamischen Bund das Projekt «Muslim 3.0» entwickelt, das heute unter dem Namen «Extrem out – Gemeinsam gegen Salafismus» weitergeführt wird: Muslimische und Nichtmuslimische Jugendliche mit labiler Persönlichkeitsstruktur werden während sechs bis acht Wochen von Sozialarbeitern, Soziologinnen und Künstlern an religiöse Fragen herangeführt, erst in Gesprächsrunden, dann in Workshops. Am Schluss setzen die Teilnehmer das Erlernte kreativ um in Gesang, Tanz oder Theater und präsentieren es der Öffentlichkeit. Auch wenn der Erfolg solcher Projekte naturgemäss kaum messbar ist, gibt sich Kaddor überzeugt, dass auf diesem Weg gefährdete Jugendliche ge- «Wir dürfen den Schreihälsen auf beiden Seiten nicht das Feld überlassen», fordert Lamya Kaddor. Damit meint sie die Salafisten genauso wie die Pegida-Anhänger. 14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. April 2015 YAVUZ ARSLAN / IMAGETRUST ▲ Westfalen als drittes Kind syrischer Eltern zur Welt, die vor ihrer Geburt nach Deutschland ausgewandert waren. Als Kind sei sie frech und vorwitzig gewesen, ein «ewiger Quälgeist», der die Eltern und andere Autoritäten stets mit Fragen nervte. Als sie nach dem Abitur beschloss, Islamwissenschaften zu studieren, sei das eine reine Bauchentscheidung gewesen. «Ich war nie besonders gläubig oder fromm, einfach normal halt.» Dieses Normalsein macht gerade die Aussergewöhnlichkeit der Lamya Kaddor aus. Ein Kopftuch trägt sie nicht, «da es mich weder beschützt vor männlichen Übergriffen – für den Schutz sorgen in Deutschland Recht und Gesetz – und da ich nicht mehr erkannt werden muss.» Ursprünglich war das Kopftuch eingeführt worden, um Musliminnen als ehrenwerte und freie Frauen von kopftuchlosen Sklavinnen zu unterscheiden. Doch sie nehme die ursprüngliche Schutzfunktion des Kopftuchs ernst und verzichte auf aufreizende Kleidung (z.B. bauchfreie Tops oder Decolletés). Auch der Koran sei für sie als liberale Muslimin ein Leitfaden. Aber kein Glaubensbrevier, dessen Wortlaut man immer noch wie vor 1400 Jahren auslegen müsse. Lamya Kaddor ist zwar eine liberale, doch keine laue Muslimin. Engagiert führt sie ihren Zweifrontenkrieg: gegen Fundamentalisten und Traditionalisten innerhalb der islamischen Gemeinschaft sowie gegen Islamfeinde und gegen Islamkritiker in der nichtmuslimischen Gesellschaft Deutschlands. Sie versteht sich als Mittlerin zwischen Extrempositionen. «Wir dürfen den Schreihälsen auf beiden Seiten nicht das Feld überlassen», fordert sie entschieden. Lamya Kaddor unterrichtet islamischen Religionsunterricht für 13- bis 17-Jährige an einer Hauptschule in Dinslaken (Nordrhein-Westfalen). Ihr Ziel ist, die Schüler gegen fundamentalistisches Denken zu stärken. genüber salafistischer Verführung und Anwerbung gestärkt würden. Wie ein Schlag habe es sie getroffen, als sie 2013 erfuhr, dass eine Handvoll ihrer ehemaligen Schüler nach Syrien ausgereist sei, um sich dort an Aktionen der islamistischen Terrorgruppen zu beteiligen. Sie waren in Deutschland von Salafisten rekrutiert worden, die ihnen versprachen, was sie im bisherigen Leben vergeblich gesucht hatten: Respekt, Orientierung und Zusammenhalt. «Ich habe das als persönliches Versagen wahrgenommen,» sagt die Pädagogin. Immer wieder habe sie sich gefragt, ob sie etwas falsch gemacht habe. Immerhin seien vier desillusioniert zurückgekehrt, einer aber sei geblieben und lebe nun im sogenannten Islamischen Staat, wo er eine Frau und zwei Kinder habe. «Das ist bitter und frustrierend.» Wenn Lamya Kaddor über die Anziehungskraft radikaler Islamisten spricht, über das Verlorensein und die Gewaltbereitschaft junger Männer, die Ausgrenzungserfahrungen von Migranten und über die starke Sehnsucht vieler Menschen nach einfachen Antworten, dann spürt man das Feuer der Leidenschaftlichen ebenso wie die glasklare Analyse der Pädagogin, die mit beiden Beinen im Alltag steht. Kaddors Mission ist zugleich ihre Überzeugung: «Ich bin sicher, der Islam wird im 21. Jahrhundert ankommen.» Die andere Front, an der Kaddor kämpft, ist die Gleichgültigkeit der Mehrheitsgesellschaft: die Abwehr, der Hass, die Feindschaft gegenüber Muslimen. Dabei ist es weniger der offene Islamhass, der rasch aufzudecken sei, sondern die latente Islamfeindlichkeit, die ein Zerrbild ihrer Religion vermittle. Fast mehr als über Pegida, die «Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes», und Neonazis kann sie sich über die scheinbar Wohlmeinenden aufregen, bei denen sie sich manchmal wie im Zoo vorkomme. So, wenn sie hört: «Schau mal, wie gut die Frau Kaddor Deutsch spricht.» Diesen entgegne sie dann: «Sie sprechen aber auch sehr gut Deutsch!» Oder wenn sie gefragt werde: «Ach, du wurdest nicht gezwungen, ein Kopftuch zu tragen?» Oder: «Ich finde das ja komisch, dass du deine Kinder so erziehst, dass sie kein Schweinefleisch essen dürfen.» Es sind solche angeblich besorgten Äusserungen, sogar aus dem Freundeskreis, die dem Islam permanent eine Rückständigkeit unterstellen. Dass der Islam nur problemorientiert gesehen und mit Überfremdungsangst gekoppelt werde, ärgert die Muslimin mächtig. Vor allem auch, weil dieses von aussen herangetragene Vorurteil innerhalb des Islams die Opferhaltung verstärke, den ohnehin vorhandenen Minderwertigkeitskomplex unter zugewanderten Muslimen. Kaddor spricht von einer weit verbreiteten «islamischen Depression», die traditionalistischen Kräften Vorschub leiste. Die Mehrheitsgesellschaft müsse Andersgläubige akzeptieren und anerkennen, dass viele Muslime Deutsche seien wie sie selbst. Anderseits sollten die Muslime in Deutschland stärker zivilgesellschaftlich aktiv werden: «Wir müssen uns als Teil des Ganzen begreifen und auch einen Teil der Verantwortung übernehmen.» Dialog statt Konfrontation Wie brutal die innerislamische Auseinandersetzung und der Zusammenprall der Kulturen in das Leben von Lamya Kaddor einbricht, macht ein kurzes Gespräch im Taxi deutlich, das uns nach dem Interview zur Abendveranstaltung führt. Mit einer Beiläufigkeit, die einen Zuhörer sprachlos macht, erzählt Kaddor auf die Frage, wie es ihren Eltern gehe, dass ihr Vater vor fünf Tagen gerade einen schrecklichen Unfall erlitten habe. Er war kurz zuvor nach Syrien gereist, um dort seine Verwandten zu besuchen. Letzten Sonntag erfolgte ein Luftangriff auf das Nachbarhaus der Kaddors, das sich direkt an der türkischen Grenze befindet und offenbar das Kommando der Nusra beherbergt hat. Die NusraFront ist ein Al-Kaida-Ableger in Syrien, der an der Seite des IS kämpft. Lamya Kaddors Vater wurde von Granatsplittern getroffen und lebensgefährlich verletzt. Er hatte Glück im Unglück, weil just zwei seiner Neffen anwesend waren, der eine Chirurg, der andere Anästhesist, die ihn vor Ort unverzüglich ärztlich versorgen konnten. (Drei Wochen später wird mir die Tochter mitteilen, dass ihr Vater nach Deutschland gebracht und dort operiert worden sei; er sei nun auf dem Weg der Besserung.) Lamya Kaddor – die Pädagogin, die Mittlerin, die Betroffene. Anders als radikale Islamkritikerinnen wie etwa Necla Kelek und Ayaan Hirsi Ali sucht sie nicht die Konfrontation, sondern den Dialog mit den Fundamentalisten. Dass ihr Spagat gelingen möge, hoffen viele. Ein Podiumsteilnehmer in Leipzig spricht aus, was in der Luft liegt: «Es müsste viel mehr Lamya Kaddors geben, dann wären wir in Deutschland ein Stück weiter.» l Kolumne Charles LewinskysZitatenlese LUKAS MAEDER Mit den Gedanken ist es wie mit den Melodien, es gibt die kurzen geringen – und die langen schönen; die besten aber sind wie Kugelblitze und enthalten die Welt im Ganzen. Der Autor Charles Lewinsky arbeitet in den verschiedensten Sparten. Sein letzter Roman «Kastelau» ist im Verlag Nagel & Kimche erschienen. Kurzkritiken Sachbuch Manuschak Karnusian: Unsere Wurzeln, unser Leben. Stämpfli, Bern 2015. 143 Seiten, Fr. 34.–. Michael Schulte-Markwort: Burnout-Kids. Wie Leistung unsere Kinder überfordert. Patloch, München 2015. 268 S., Fr. 29.90. Im April 1915 begannen in der Türkei die Verfolgung, Vertreibung und Ermordung von Tausenden Armenierinnen und Armeniern. Der Genozid, dem 800000 bis 1,5 Millionen Menschen zum Opfer fielen, ist Teil des kollektiven Gedächtnisses ihrer Nachkommen geblieben. Sie leben heute verstreut über die Welt, darunter auch 6000 in der Schweiz. Die armenischstämmige Schweizer Journalistin Manuschak Karnusian zeichnet zwölf anrührende Porträts von Landsleuten, deren Familiennamen meist auf -ian enden: von der Archäologin über den Komponisten und Geheimagenten bis zur ETH-Konfliktforscherin. Es sind auch kulturelle Zeugnisse eines der ältesten christlichen Völker, die von Dolma (in Weinblätter gerollter Reis mit Pinienkernen) und armenischer Musik, von Schach und Fussball erzählen. Der schön illustrierte Band bringt uns eine ausserordentlich kultivierte Gemeinschaft näher. Ausgebrannte Kinder? Lange war Michael Schulte-Markwort skeptisch, allzu effekthascherisch, zu sehr im Trend der wuchernden psychiatrischen Diagnosen bei Kindern erschien ihm das. Auch mochte er nicht einstimmen in den Chor der «Kinder-Schwarzseher», denn er hält die heutigen Kinder für sozial kompetent, reflektiert und leistungsorientiert. Doch dann habe sich das Phänomen so unwiderlegbar gezeigt, dass der Kinderund Jugendpsychiater vom Hamburger Universitätsklinikum heute keine Zweifel mehr hat: Die Erschöpfungsdepression ist bei den Kindern angekommen, und sie breitet sich aus. Ungewöhnlich sorgfältig geht er dem Befund Burnout bei Kindern und Jugendlichen nach, illustriert ihn mit ausgewählten Fallbeispielen, ergründet seine vielfachen Ursachen und erklärt die gängige Behandlung mit Psychotherapie und allenfalls Antidepressiva. René Scheu (Hrsg.): Weniger Staat, mehr Fernsehen. Service sans public? NZZ Libro, Zürich 2015. 232 Seiten, Fr. 22.–. Noah Wilson-Rich: Die Biene. Geschichte, Biologie, Arten. Haupt, Bern 2015. 224 Seiten, Fr. 39.90. Am 14. Juni stimmen wir über die Einführung einer Mediensteuer für alle anstelle der bisherigen Billag-Gebühr ab, die nur effektive Radio- und Fernsehkonsumenten belastet. Zu dieser Debatte publiziert René Scheu, Herausgeber des «Schweizer Monats», einen Sammelband. Zwar will das Buch «kein Plädoyer für die Abschaffung der SRG» sein, doch nehmen fast alle Beiträge das faktische Monopol des Fernsehens aufs Korn. Karl Lüönd, Gerhard Pfister, Kurt W. Zimmermann, Pierre Bessard und andere geisseln, dass der Service public von jenen definiert werde, die das Programm des konkurrenzlos agierenden Staatssenders machen. Noch radikaler tönen die Stimmen aus dem Kreis der Digital Natives, die der nationalen «feierabendlichen Entspannungsübung» vor dem TV-Gerät nichts mehr abgewinnen können. Provokativ, intelligent und anregend. Wieder ein schön aufgemachtes Buch aus dem Haupt-Verlag in Bern. Diesmal ist es eine Entdeckungsreise in die Welt der Bienen. Nicht nur Tier- und Gartenfreunde können hier vieles lernen, auch Imker kommen auf ihre Kosten. Die Biene ist eines der ältesten Haustiere, und der Mensch profitiert seit Jahrtausenden sowohl vom Honig wie vom Wachs, ganz abgesehen von der ganzen Bestäubungsarbeit, welche die emsigen kleinen Insekten ganz nebenbei leisten. Die Bestände gehen jedoch weltweit in beängstigendem Masse zurück, viele Hummelarten sind bereits ausgestorben. Veränderte Landnutzungen könnten ein Grund sein, Agrochemikalien und mechanisierte Anbaumethoden. In China beispielsweise müssen viele Obstplantagen bereits von Hand bestäubt werden. Ob der Mensch wirklich auf die Biene verzichten kann? Hugo von Hofmannsthal Letzte Warnung: Wenn mich noch einmal, und sei es nur ein einziges Mal, jemand fragt, wo ich denn meine Ideen hernehme, dann werde ich anfangen zu schreien. Wenn es jemand tut, der selber von Ideen lebt und es deshalb besser wissen müsste, werde ich sogar würgen. Und wenn es wieder mal ein Kulturjournalist ist, der mir die Frage stellt, werde ich ihm die Kehle aufschlitzen und mit seinem Blut die einzige Antwort an die Wand schreiben, die es auf diese Frage geben kann: Ich weiss es nicht. ICH WEISS ES NICHT! ICH WEISS ES NICHT! Und ich bin sicher: Wenn ich dann wegen Mordes vor Gericht stehe, wird man mir mildernde Umstände zubilligen. «Als man ihm die Frage zum hundertsten Mal stellte», wird mein Verteidiger sagen, «da ist er noch ganz friedlich geblieben. Beim fünfhundertsten Mal», wird er sagen, «ist er schweigend aus dem Saal gegangen und hat erst auf der Strasse angefangen zu toben. Aber beim tausendsten Mal…» Und der Richter wird verständnisvoll mit dem Kopf nicken. «Notwehr», wird er sagen. «Die ganz natürliche Reaktion auf eine unerträgliche Provokation.» Und dann wird er mich, damit dem Gesetz Genüge getan ist, zu einer Geldbusse von zwei Franken fünfzig verurteilen. Und die wird er mir erst noch leihen. Denn wir wissen nun mal nicht, wo wir unsere Ideen herhaben. Und noch schlimmer: Wir wollen es gar nicht wissen. Wir haben sogar Angst, uns nur Gedanken darüber zu machen. Es könnte sonst passieren, dass wir nie mehr welche haben. Ein Tausendfüssler darf auch nicht darüber nachdenken, in welcher Reihenfolge er seine Beine auf den Boden stellt. Weil er sonst nur noch dauernd auf der Schnauze landet. (Falls Tausendfüssler etwas haben, das man als Schnauze bezeichnen kann.) Hat die Auster notiert, wann das Sandkorn angespült wurde, aus dem sie Jahre später eine Perle machte? Weiss der Hund, in welcher Sekunde ihn der Floh gebissen hat? Können Sie haargenau sagen, wo Sie sich Ihren Schnupfen eingefangen haben? Wir wissen es nicht. Deshalb, bitte, bitte, bitte: Wenn Sie zu einer Lesung kommen und Ihnen jemand das Mikrofon für die Fragen aus dem Publikum reicht, fragen Sie mich nicht, wo ich meine Ideen herhabe. Ich schreie so ungern. Und würgen macht mir schon gar keinen Spass. Anmerkung der Redaktion: Das war wieder eine lustige Glosse, Herr Lewinsky. Wo nehmen Sie bloss die Ideen her? Urs Rauber Urs Rauber Kathrin Meier-Rust Geneviève Lüscher 26. April 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15 Sachbuch Sexualität Zwei Bücher beleuchten – aus einer frauenzentrierten Optik – den Wandel von Erotik und Geschlechterbeziehungen als Folge von 1968 MussSexpolitisch korrektsein? Peter-Paul Bänziger u. a. (Hrsg.): Sexuelle Revolution? Zur Geschichte der Sexualität im deutschsprachigen Raum seit den 1960er Jahren. Transcript, Bielefeld 2015. 373 Seiten, Fr. 36.90. Karla Verlinden: Sexualität und Beziehungen bei den «68ern». Erinnerungen ehemaliger Protagonisten und Protagonistinnen. Transcript, Bielefeld 2015. 465 Seiten, Fr. 53.90, E-Book 51.90. Von Walter Hollstein In einer amerikanischen Kleinstadt stellt sich ein frisch zugezogenes Ehepaar seinen Nachbarn vor. «Und das ist Betty, meine Partnerin», sagt der Ehemann. «Aha», ist die Antwort, «in welcher Branche sind sie denn Partner?» In der Tat stossen hier zwei unterschiedliche Auffassungen von Liebe aufeinander. Die althergebrachte von den zwei Liebenden und die moderne von den zwei Partnern. Der Soziologe Rainer Paris kommentiert: «Wenn die Liebenden früherer Zeiten sich heute ‹Partner› nennen (vom Unwort ‹Beziehung› ganz zu schweigen), ist dies von weitreichender Bedeutung. Es verschiebt den Akzent von den Affekten und Leidenschaften auf den gemeinsamen Sachbezug.» Das hat weitreichende Folgen, die bislang nur unzureichend bedacht wurden. Zum Beispiel für die Sexualität. Diesem Thema widmen sich zwei Neuerscheinungen: ein Sammelband, den unter anderen Peter-Paul Bänziger von der Universität Basel herausgegeben hat, und eine Monografie der Kölner Jugendtherapeutin Karla Verlinden. Beide Bücher erklären die sechziger Jahre und vor allem das Umbruchsjahr 1968 als Zeitenwende in der Sexualität. Verlinden notiert: «Die ‹68erInnen› politisierten Sexualität auf besondere Weise, indem sie diese mit dem Ziel, eine neue Gesellschaft und einen neuen Menschen hervorzubringen, verknüpften». Die Autorin geht diesem Zielpunkt in vier langen Interviews mit ehemaligen 68ern nach. Diese Gespräche sind – wenn auch mühsam zu lesen – vom Ergebnis her vor allem deshalb interessant, weil sie die «Revolutionäre» von einst zu doch sehr ernüchternden Schlussfolgerungen führen: Die sexuelle Befreiung gelang allenfalls in Ansätzen und auch nur temporär. Die angestrebte Synthese zwischen öffentlichem und privatem Leben konnte nicht hergestellt werden. Sexuelle Tabus wurden nur annähernd aufgelöst, «monogame Besitzansprüche» an die Partner in der Praxis gar nicht. Feministischer Blick GETTYIMAGES Die 68er Revolution verändert das Lebensgefühl einer Generation: HippieMusikergruppe zieht Ende der 60er Jahre in den USA herum. 16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. April 2015 Trotz solcher Befunde darf man das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Verlinden konstatiert völlig zu Recht: «Das ‹68erInnen›-Konstrukt von ‹befreiter Sexualität› wirkte sich nachhaltig auf individuelle Lebensentwürfe und –modelle, soziale Prozesse, Einstellungen zu Geschlechterbildern und Beziehungsstrukturen aus.» Mit anderen Worten, der Aufbruch von 1968 hinterliess nachhaltige Spuren in unserem Verständnis und Erleben von Sexualität. Das ist auch der Tenor des Bandes, den Peter-Paul Bänziger herausgegeben hat. Franz X. Eder fasst in seinem Beitrag über «Die lange Geschichte der ‹Sexuellen Revolution› in Westdeutschland (1950er bis 198oer Jahre)» zusammen: «Innerhalb eines Jahrzehnts wurden der vor- und aussereheliche ‹Sex› und die homosexuellen Beziehungen ‹befreit›, die Pornographie ermöglicht, das rigide Sexualstrafrecht entschärft und die konservative Moral entrümpelt.» Das Spektrum in diesem Band ist weiter gefasst und historischer als bei Verlinden. Es geht um die Darstellung der Sexualaufklärungsbücher, die «Pornowelle», technische Sexualobjekte, die Sexualpolitik der Kirchen. Unter dem originellen Titel «Der ausdiskutierte Orgasmus» wird die Innovation der Beziehungsgespräche thematisiert, ferner das Verhältnis von sexueller Revolution und Frauenbewegung, die Zeitgeschichte der SZ PHOTO Love, Peace and Rock’n’Roll: Textilfreie Abkühlung am Music-Festival vom 26. bis 30. August 1970 auf der Isle of Wight (Hampshire). Homosexualität um Aids, HIV und deren Konsequenzen für die Sexualität. Das eröffnet ein spannendes Panorama. Einschränkend ist, dass sich beide Bücher nicht nur ausgesprochen frauenfreundlich geben, sondern ihre Optik ziemlich exklusiv auch frauenzentriert ist. Das mag nach den langen Jahrhunderten des Androzentrismus verständlich sein; wissenschaftlich ist solche Parteilichkeit nicht unbedingt. So fallen denn auch Diagnosen unter den Tisch, die inzwischen zu den Topoi des sexualwissenschaftlichen Diskurses gehören. Zum Beispiel, dass in Deutschland sechs Millionen Männer impotent sind. Oder dass die Zurückhaltung im sexuellen Begehren primär ein Männerproblem zu sein scheint. Amerikanische Psychologen wie etwa Helen Smith sprechen gar vom «männlichen Sexstreik». Verwunderlich ist das nach den Ausfällen eines bestimmten Feminismus nicht so sehr. Alice Schwarzer argumentierte einst (und im Übrigen auch heute), dass die Sexualität «der Angelpunkt der Frauenfrage» sei. In und mit der Sexualität «fallen die Würfel. Hier liegen Unterwerfung, Schuldbewusstsein und Männerfixierung von Frauen verankert. Hier steht das Fundament der männlichen Macht und der weiblichen Ohnmacht.» Sexualität mit einem Mann wird als etwas Schreckliches beschrieben. «Viele empfinden ihre sexuellen Kontakte mit dem Ehemann oder Freund als Prostitution.» Die männliche Sexualität «dient als Exerzierplatz zum Einüben weiblichen Verhaltens – wie Selbstlosigkeit, Unterwerfung, Minderwertigkeit, das dann in anderen Lebensbereichen ertragbringend von der Männergesellschaft eingesetzt werden kann». Ambivalente Revolution Je deutlicher sich die lesbische Fraktion innerhalb der feministischen Bewegung artikulierte, desto verschärfter wurde der Kampf gegen die Heterosexualität. Andrea Dworkin bezeichnete den Penis als «Waffe» und männliches Unterdrückungsinstrument. Da sich für solche Aussagen weder bei Männern noch bei Frauen eine empirische Basis finden liess, wurden sie einfach in den Stand des Axioms erhoben, und ein Axiom ist ja bekanntermassen unwiderlegbar: «Die Aversion der Frauen gegen den Penis und gegen Sexualität», dekretierte Dworkin, muss «als Weigerung der Frauen» gewertet werden, «dem wichtigsten Werkzeug männlicher Aggression gegen Frauen zu huldigen». Eine Kritik an solchen Verwerfungen sucht man in beiden Büchern vergeblich. Nur Dagmar Herzog zeigt etliche «Ambivalenzen» der sexuellen Revolution und deutet – mit Verweis auf Theodor W. Adorno – auch an, dass das Sexuelle wohl auch jenseits des «Sauberen» sein Leben entfaltet. Solches zu thematisieren ist aber wohl in unseren Zeiten der Political Correctness nicht gerade opportun. Das demonstriert vor allem Verlinden bis in die Sprache hinein. Dabei löst sie auch feststehende Begriffe wie Studentenbewegung in «Studierendenbewegung» auf und «68er» in «68erInnen». Was ihrem selbstverständlich korrekten Welt- und Liebesbild nicht entspricht, kanzelt sie ab – nicht zuletzt mit feministischen Theoremen, die erst weit nach 68 entstanden sind – und verteilt ihren Protagonisten schulmeisterlich Zensuren. So sei doch an Sigmund Freud erinnert, der mit Nachdruck darauf hinweist, dass die Genitalien die Entwicklung der menschlichen Körperform zur Schönheit nicht mitgemacht haben; sie seien tierisch geblieben. «So ist auch die Liebe im Grunde genommen heute ebenso animalisch, wie sie es von je her war.» ● Walter Hollstein ist emeritierter Professor für politische Soziologie und hat mehrere Bücher zu Genderfragen publiziert. 26. April 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17 Sachbuch Psychologie Zwei Bücher untersuchen, in welchen Ländern welche Faktoren für das Glück verantwortlich sind Schweizer betonendie Freiheit Paul Dolan: Absichtlich glücklich. Wie unser Tun das Fühlen verändert. Pattloch, München 2015. 320 Seiten, Fr. 29.90, E-Book 19.–. Maike van den Boom: Wo gehts denn hier zum Glück? Meine Reise durch die 13 glücklichsten Länder der Welt und was wir von ihnen lernen können. Fischer, Frankfurt a. M. 2015. 352 Seiten, Fr. 29.90, E-Book 18.–. Fröhliche Menschen aus aller Welt: Die meisten bezeichnen Glück als das höchste Lebensziel. Die Wissenschaft vom Glück beginnt die Welt zu verändern. Viele Millionen Menschen sowie zahlreiche Regierungen und Unternehmen lassen sich von Ergebnissen aus der Glücksforschung zu Neuerungen inspirieren. In der Begeisterung wird jedoch oft vergessen, dass die meisten Glücksstudien auf den Antworten auf eine vage Frage basieren: Wie zufrieden sind Sie mit Ihrem Leben insgesamt? Wie entscheiden wir, ob die Neuausrichtung ganzer Gesellschaften an Glückszahlen nicht ebenso einseitig wäre wie die Fixierung auf Wirtschaftswachstum? Zwei lehrreiche Bücher erkunden das Glück auf neuen Wegen. Paul Dolan, Verhaltenswissenschafter an der London School of Economics, präsentiert in seinem bedeutenden Pionierwerk «Absichtlich glücklich» einen Forschungsansatz, mit dem er die Wirkung von Alltagsaktivitäten auf das Glück analysiert. Er belegt, dass Einschätzungen der Lebenszufriedenheit von Unwägbarkeiten wie den zuvor gestellten Fragen abhängen. Er zieht detaillierte Befragungen vor, bei denen die Teilnehmer den vergangenen Tag in Abschnitte unterteilen und Angaben zu den Gefühlen während verschiedener Aktivitäten machen. Sie schärfen den Blick für die Entstehung einer positiven Grundstimmung. Dolan betrachtet Freude und Sinnhaftigkeit als «zwei separate, jedoch gleichermassen beteiligte Komponenten unseres Glücks». Erhebungen in den USA und Deutschland unterstreichen die Notwendigkeit, beide Dimensionen des Wohlbefindens unter die Lupe zu nehmen. So erlebten die meisten Befragten ihre Arbeit eher sinn- als freudvoll. Fernsehen machte wesentlich mehr Freude. Ehrenamtliche Tätigkeiten erreichten hohe Punktwerte in beiden Bereichen. Fast alle Aktivitäten brachten in Gesellschaft mehr Sinn und Freude. In einer Umfrage sahen etwa gleich viele der Befragten Freude und Sinn als 18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. April 2015 GETTYIMAGES Von Michael Holmes den wichtigsten Massstab für ihr Lebensglück. Der Autor rät Hedonisten und Sinnsuchern, die Extreme zu vermeiden und ein Gleichgewicht zu suchen. «Am glücklichsten sind Sie, wenn Sie ein Verhältnis zwischen Freude und Sinnhaftigkeit hergestellt haben, das Ihnen entspricht.» Studien zufolge verbessern sowohl Freude als auch Sinnhaftigkeit die Gesundheit, die Arbeitsproduktivität und die Beziehungsfähigkeit. Mit leuchtenden Augen Dolan hilft Regierungen und Grosskonzernen, das Leiden und den Verdruss ihrer Bürger und Arbeiter zu verringern. Er verrät zahlreiche nützliche Tipps und Tricks, wie wir «unser Umfeld gezielt so gestalten, dass unsere Aufmerksamkeit automatisch ausgerichtet wird». Er ermuntert uns, unsere Tage mit Aktivitäten zu füllen, die wir als genussreich, erholsam oder lohnend empfinden, und Ablenkungen zu vermeiden, so dass wir mit ganzem Herzen bei der Sache sind. «Wo geht’s denn hier zum Glück?» heisst ein fröhliches, fesselndes und oft weises Buch der Deutsch-Niederländerin Maike van den Boom. Sie hat diese Frage zahlreichen Menschen in den dreizehn glücklichsten Ländern der Erde gestellt. Basis ihrer Wahl war die umfassendste Datenbank zur Glücksforschung, die World Database of Happiness in Rotterdam unter der Leitung des Soziologieprofessors Ruut Veenhoven. Manager und Müllsammler, Glücksexperten und Auslandsdeutsche standen vor ihrer Kamera, meist mit einem breiten Lachen und leuchtenden Augen. Sie war überrascht, wie oft sie die gleichen unspektakulären Antworten erhielt. Fast alle Interviewpartner nannten das Glück als höchstes Lebensziel und unterstrichen ihre tiefe Verbundenheit mit Familie und Freunden. Aber nicht überall waren die gleichen Faktoren ausschlaggebend. Die meisten Skandinavier hielten den sozialen Zusammenhalt für den Glücksfaktor Nummer eins. Schweizer betonten die Freiheit, Australier die Gelassenheit und Kanadier die Toleranz. Auch vier lateinamerikanische Länder erreichten Topwerte in den Glücksumfragen. Costaricaner, Mexikaner, Panamaer und Kolumbianer machten ihre Lebensfreude für diese erstaunlichen Erfolge verantwortlich. Zudem erhielt die Glückstouristin van den Boom Ratschläge für das Glücksentwicklungsland Deutschland, das nur auf Platz 29 kommt. So empfahl eine alleinerziehende Slumbewohnerin aus Costarica, das Zusammensein mit geliebten Menschen intensiv zu geniessen. Extreme Unterschiede Die Autorin zählt die grosszügigen Wohlfahrtsstaaten der Skandinavier zu den Hauptgründen für deren Spitzenpositionen. Aber wie lässt sich das ebenfalls hervorragende Abschneiden von marktorientierten Ländern wie der Schweiz, Australien und Kanada erklären? Gegen ihre These, dass allgemeines Vertrauen und Gleichheit von höchster Bedeutung seien, sprechen die extremen Ungleichheiten und niedrigen Vertrauensniveaus in allen vier lateinamerikanischen Ländern, deren Glück in kleinen Gemeinschaften zu gedeihen scheint. Beider Bücher lassen hoffen, dass wir mit Hilfe der Glücksforschung lebensund liebenswertere Gemeinwesen errichten können. ● Memoiren Zu ihrem 70. Geburtstag hat Ljudmila Ulitzkaja Erinnerungen und Reflexionen publiziert, die nun auf Deutsch vorliegen Liebevoll,heiterundgelassen Von Klara Obermüller Vor fünf Jahren ist die russische Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja an Krebs erkrankt. Die Aufzeichnungen aus der Zeit der Behandlung in Israel stehen jetzt am Ende ihres neuen Buches, das Texte unterschiedlichster Gattung und Thematik zu einem Ganzen fügt. Vielleicht, so denkt man, wenn man es weglegt, hätte man es von diesem Ende her lesen sollen: aus der Sicht einer Frau, die weiss, dass sie auf Abruf lebt und sich rückblickend noch einmal ihres Daseins vergewissert. In Russland ist das Buch 2012, am Vorabend von Ulitzkajas 70. Geburtstag, erschienen. In diesem Alter scheint es naheliegend, Bilanz zu ziehen und sich zu fragen, wie man wurde, was man ist. Die Nähe des Todes verleiht diesem Bedürfnis zusätzliche Dringlichkeit. So hat sich Ljudmila Ulitzkaja denn auf Spurensuche begeben und hat zwar nicht Memoiren, aber doch autobiografische Texte geschrieben, die sie als eine Art «Kosmogonie» ihrer Persönlichkeit verstanden wissen möchte. Ausgehend von Erinnerungsgegenständen und alten Fotos zeichnet sie ihre Familiengeschichte nach. Aus der «Summe der gelesenen Bücher» leitet sie geistige Prägungen ab. In der Begegnung mit ihr nahestehenden Menschen schält sie das geheime Muster heraus, das ihrem Leben zugrunde liegt. Formal enthält der Band Erinnerungen, Reflexionen, Reportagen und Tagebuchnotizen, einiges davon in Zeitungen, darunter auch die NZZ, publiziert, das meiste jedoch unveröffentlicht und in der Absicht geschrieben, sich Rechenschaft über das eigene Leben zu geben. Inhaltlich fügen sich die recht heterogenen Kapitel zum reich facettierten Porträt einer Frau, die ob der Hinwendung zum Privaten die gesellschaftspolitischen Zusammenhänge nie aus den Augen verliert. Ljudmila Ulitzkaja, die sich selbst eine «russische Schriftstellerin jüdischer Herkunft und christlicher Prägung» nennt, kann ihre Biografie nicht anders denn KEYSTONE Ljudmila Ulitzkaja: Die Kehrseite des Himmels. Hanser, München 2015. 224 Seiten, Fr. 34.90, E-Book 23.–. Ljudmila Ulitzkaja versteht ihre Biografie als Teil der russischen Tragödien des 20. Jahrhunderts. Basilius Kathedrale auf dem Roten Platz in Moskau. als Teil der russischen Tragödien des 20. Jahrhunderts begreifen. All ihre Vorfahren waren Juden. Pogrome, Zwangsrekrutierungen, Lagerhaft und Verfolgung sind dem Familiengedächtnis unlöschbar eingeschrieben und haben auch in der Persönlichkeit der Autorin Spuren hinterlassen. Nicht zufällig befasste sie sich in ihrem letzten Roman «Das grüne Zelt» mit den unterschiedlichen Formen von Anpassung und Widerstand während der Sowjetzeit. Und folgerichtig wendet sie sich jetzt in ihrem nächsten Romanprojekt der Lebensgeschichte ihres Grossvaters Jakow Ulitzki zu, der Jahre seines Lebens in sowjetischen Straflagern zugebracht hat. Zwischen diesen Polen, zwischen russischer Politik und russischem Alltag, bewegen sich auch die Texte ihres jüngsten Buches. Liebevoll schildert sie darin die Menschen, aber auch die vielen kleinen Dinge, die ihr in ihrem Leben lieb gewesen sind. Unerschrocken ergreift sie Partei gegen das gegenwärtige russische Regime, das sie für «selbstmörderisch und gefährlich» hält. Heiter und gelassen schliesslich blickt sie auf ihr eigenes Dasein, das ihr nach vorläufig überstandener Krankheit als ein einziges grosses Geschenk erscheint. «Die Kehrseite des Himmels» ist kein in sich geschlossenes Werk. Es ist die eindringliche Stimme der Autorin, die den darin enthaltenen Texten ihre innere Konsistenz verleiht. Es ist ihre ebenso klare wie einfühlsame Sprache, die im scheinbar Fragmentarischen das grosse Ganze eines reichen Lebens aufscheinen lässt. ● Russland Eine ehemalige ARD-Korrespondentin schwärmt kritiklos von Wladimir Putin Spielen auf der Klaviatur antiwestlicher Vorurteile Gabriele Krone-Schmalz: Russland verstehen. Der Kampf um die Ukraine und die Arroganz des Westens. C.H. Beck, München 2015. 176 Seiten, Fr. 21.15, E-Book 13.–. Von Victor Mauer «Iz ognjá da v pólymja» (vom Feuer in die Flamme) lautet ein russisches Sprichwort, das den Gesamteindruck des Bändchens der ehemaligen ARD-Journalistin treffend umschreibt. Denn schon nach wenigen Seiten ahnt der Leser, dass er vom Regen in die Traufe kommt. Dabei gibt Krone-Schmalz vor, Russland zu verstehen. Doch statt zu verstehen und zu erklären, spielt sie auf der Klaviatur antiwestlicher Ressentiments und gefällt sich in der Rolle der Chefanwältin des Kremls. Aufbau und Argumentation offenbaren die Methode: eine im Interesse der These gelenkte Selektion. Mit herablassender Selbstgerechtigkeit und gesinnungsstarker Ahnungslosigkeit verbarrikadiert Krone-Schmalz sich in ihrer eigenen Welt. In dieser Welt ist Wladimir Putin «ein Glück», weil er «sein Land nach vorne bringen möchte» und sich zudem «für das Schicksal seiner immerhin 25 Millionen Landsleute ausserhalb der russischen Grenzen verantwortlich fühlt», vom Westen aber «keine Chance auf einen unbelasteten Neuanfang bekam». In dieser Welt war die Krim schon immer «ureigenes russisches Land», die Annexion der Halbinsel also «keine Landnahme, sondern Notwehr unter Zeitdruck». In dieser Welt tobt im Donbass ein «innerukrainischer Bürgerkrieg» und nicht etwa ein von Russland angefachter Krieg zwischen zwei souveränen Staaten. Was all das mit der wie ein Mantra vor sich hergetragenen journalistischen «Be- rufsethik» – dem Bemühen um Differenzierung – zu tun hat, bleibt dem geneigten Leser verborgen. Denn dann müsste die Autorin ein System erklären, in dem die Macht der Lüge regiert und die Ohnmacht des Faktischen mit Händen greifbar ist. Stattdessen redet sie dem Recht des Stärkeren das Wort und stellt ein Grundprinzip der internationalen Ordnung in Frage: nämlich die territoriale Integrität. Wer aus der Welt der Gabriele KroneSchmalz wieder auftaucht und nebenbei den selbstverliebten Rückgriff auf eigene Vorträge und Veröffentlichungen, den an Walter Ulbricht angelehnten Politsprech («Fakt ist»), die ungezählten Interpunktionsfehler und den von erstaunlicher intellektueller Schlichtheit gekennzeichneten Schlussappell unbeschadet überstanden hat, greift am besten zu Puschkin: «Lasst uns von unserer Bildung schweigen! / Wir haben ihre Hülle nur / Von ihrem Kerne keine Spur!» ● 26. April 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19 Sachbuch Philosophie Ist für ein Individuum das Überleben der Menschheit wichtiger ist als sein eigenes? Genau das versucht ein Gedankenexperiment zu beweisen DerMenschdenktübersichhinaus Samuel Scheffler: Der Tod und das Leben danach. Suhrkamp, Berlin 2015. 153 Seiten, Fr. 29.90, E-Book 21.–. Von Angela Gutzeit Jeder von uns wird sterben, aber was nach uns kommt, ist uns keineswegs egal. Der amerikanische Philosoph Samuel Scheffler hat diese These in seinem Buch «Der Tod und das Leben danach» in einem ganz anderen Sinn, als der Titel suggeriert, zum Ausgangspunkt eines interessanten Gedankenexperiments ge- nommen. «Stellen Sie sich vor», so schreibt er, «Sie wüssten, dass die Erde 30 Tage nach Ihrem Tod – wobei Ihr eigenes Leben von normaler Dauer wäre – durch eine Kollision mit einem riesigen Asteroiden vollständig zerstört würde. Welchen Einfluss hätte dieses Wissen auf die Einstellungen, die Sie im Laufe Ihres restlichen Lebens haben werden?» Seine These lautet: Wir würden das Interesse an allen Projekten und Tätigkeiten verlieren, die über den Tag hinausreichen. Aber diese Depression würde nicht nur deshalb eintreten, weil die Menschen, die wir kennen und lieben, Spielwelten Automaten und Zauberspiegel Sie könnte fast online gehen, diese Bildtafel aus einem Versandkatalog für Spielzeuge von 1803. Über 600 Spielartikel enthielt der Bestelmeier-Katalog des Nürnberger Galanteriewarenhändlers Georg Hieronimus Bestelmeier, den auch Goethe benutzte, als er seinen Enkeln zu Weihnachten einen Zauberkasten bestellte. Peter Friedrich Catel aus Berlin hatte bereits 1790 den allerersten illustrierten Katalog mit rund 400 Spielzeugen herausgebracht. «Physikalische Belustigungen» nannte man die Globen und Planetarien, Automaten, Zauberspiegel und Elektrisiermaschinen, die Kindern 20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. April 2015 Naturphänomene nahebringen sollten. Der Geograf und Spielzeugsammler Thomas Stauss stellt in seinem Prachtband die beiden Pioniere des Versandhandels vor mitsamt der enormen Vielfalt der damals aufblühenden Spielzeugproduktion. Ein Bildkatalog stellt darüber hinaus 60 Spielobjekte im Detail vor. Kathrin Meier-Rust Thomas Stauss: Frühe Spielwelten – Zur Belehrung und Unterhaltung. Die Spielwarenkataloge von Peter Friedrich Catel (1747–1791) und Georg Hieronimus Bestelmeier (1764–1829). Librum Publishers & Editors, Hochwald 2015. 446 Seiten, Fr. 85.–. nach unserem eigenen normalen Ableben einen plötzlichen und gewaltsamen Tod sterben würden, sondern vor allen Dingen deshalb, weil das Projekt Menschheit dann am Ende wäre. Wir könnten uns über unseren eigenen Tod hinaus in keine fortdauernde soziale Welt mehr einschreiben. Unser Tun, unsere Werte, unsere Traditionen, ja, unsere Geschichte wären schlagartig, also auch rückwirkend, sinnentleert. In der bewährten Tradition des kontrafaktischen philosophischen Gedankenspiels wendet der 64jährige Professor für Philosophie und Recht an der New York University seinen Betrachtungsgegenstand hin und her. Das macht die Lektüre dieses schmalen, dreiteiligen Buches, das auf drei Vorlesungen beruht, zu einer sehr anspruchsvollen, hin und wieder etwas spitzfindigen, aber auch immer wieder vergnüglichen Angelegenheit. Vor allen Dingen dann, wenn Scheffler sein Gedankenexperiment mit hypothetischen Szenarien aus Romanen und Filmen stützt. P. D. James’ Roman «Im Land der leeren Häuser» von 1993 ist so ein Beispiel. In dieser dystopischen Geschichte ist die Menschheit unfruchtbar geworden. Zwar stirbt niemand vorzeitig oder gewaltsam, aber die Lebenden versinken angesichts des bevorstehenden Aussterbens der Spezies in Agonie und Negativismus. Nun könnte man gegen diese Annahme den religiösen Menschen ins Feld führen, der an das Weiterleben nach dem Tod glaubt und deshalb immerhin davon ausgehen kann, nach einer Katastrophe im Jenseits seine Lieben putzmunter wiederzusehen. Abgesehen davon, dass Scheffler diese Haltung für sich als irrelevant wertet, will er doch auch im Glauben an das ewige Leben eine zutiefst menschliche Eigenart erkennen: Die Erwartung einer gerechteren und faireren Welt im Jenseits zeige den Menschen als Lebewesen, das über individualistische und egozentrische Interessen hinausdenkt, und sage viel darüber aus, so Scheffler, was für uns Menschen im Diesseits von Bedeutung sei. Den Bezugsrahmen bilde letztlich immer eine in die Zukunft gedachte Menschheit. Deshalb sei der einzelne Mensch, ob religiös oder nicht, unbedingt an ihrem Erhalt interessiert – über seinen eigenen Tod hinaus. Die Gedankenakrobatik des Philosophen zum Wesen der Spezies Mensch ist aufregend zu verfolgen, enthält aber einen Widerspruch, den auch Scheffler nicht zu lösen vermag. Wenn wir uns doch vor Katastrophen, die die Menschheit auslöschen könnten, so sehr fürchten, und wenn es so sein sollte, dass das vorhersehbare Ende der Menschheit unser gesamtes Wertesystem ad absurdum führen würde – warum legen wir dann keine grössere Bereitschaft an den Tag, unser Überleben als Spezies zu sichern? ● Religion Ayaan Hirsi Ali fordert den Islam zu einer Reformation auf UnterstütztdieDissidenten! Ayaan Hirsi Ali: Reformiert euch! Warum der Islam sich ändern muss. Knaus, München 2015. 302 Seiten, Fr. 24.90, E-Book 19.90. Ein soziales Projekt der Stiftung Tosam www.tosam.ch Ayaan Hirsi Ali war schon immer eine kraftvolle Erscheinung. Weltweit bekannt wurde sie mit dem Bestseller «Ich klage an» (2006), einer vehementen Kritik an der weiblichen Genitalverstümmelung, deren Opfer sie selbst als Kind geworden war. In weiteren Büchern wie «Mein Leben, meine Freiheit» (2007) und «Ich bin eine Nomadin» (2010) richtete sie ihren Fokus verstärkt auf den Westen, dem sie vorwarf, die Fehlentwicklungen in der muslimischen Welt durch einen falsch verstandenen Multikulturalismus zu verharmlosen. Seit dem Mord am niederländischen Filmemacher Theo van Gogh, mit dem zusammen sie den Film «Submission» (Unterwerfung) realisiert hatte, stand sie zeitweise unter Polizeischutz. Heute lebt sie in den USA, wo sie mit dem Historiker Niall Ferguson verheiratet ist und einen Sohn hat. Auch im neusten Buch «Reformiert euch», das zeitgleich in den USA und in Deutschland erscheint, bleibt die muslimische «Häretikerin», wie sie sich nennt, bei ihrem Thema. Schärfer denn je kritisiert sie freiheits- und frauenfeindliche, antisemitische, homophobe und gewaltbereite Tendenzen innerhalb des Islams. Und aufrüttelnd ruft sie zur Aufklärung, ja zu einer «Reformation» des Islam auf – so wie das Christentum sie durch Luther und Co. erlebt hat. Erschreckend wirkt nicht nur ihre schier endlose Aufzählung islamistischer Attentate in nichtmuslimischen Staaten bis zum Überfall auf «Charlie Hebdo» im Januar 2015, sondern auch der zahlreichen – im Westen kaum bekannten – blutrünstigen Aktionen gegen dissidente Muslime in Pakistan, Saudi-Arabien, Bangladesh, im Irak und in Iran: Auspeitschungen, Steinigungen, Enthauptungen, Hand- und Fussabhackungen. Hirsi REUTERS Von Urs Rauber Trotz düsterer Entwicklungen glaubt Ayaan Hirsi Ali an eine grundlegende Erneuerung des Islam. Hier Kämpfer der islamistischen Ansar Dine im Nordosten Malis (Juni 2012). Ali verwahrt sich gegen die Schutzbehauptung, dass Intoleranz und Gewalt nichts mit dem «friedlichen» Islam zu tun hätten. Nein, findet sie, der Kern des Islam enthalte auch das fundamentalistische, gewalttätige Gedankengut. Solange sich diese Religion nicht wie das Judenund das Christentum von ihrem schrecklichen Teil verabschiedet habe und sie Kritiker und Dissidenten weiterhin physisch mundtot mache, sei sie nicht im 21. Jahrhundert angekommen. Nach Hirsi Ali zerfällt der Islam in drei Gruppen: die militanten Fundamentalisten oder «Medina-Muslime», die die gewaltsame Durchsetzung der Scharia als religiöse Pflicht betrachten; sie machen gegen drei Prozent der Gläubigen aus. Die zweite Gruppe, die «Mekka-Muslime», die die grosse Mehrheit bilden, bestehen aus glaubenstreuen und frommen Muslimen. Die dritte Gruppe, die muslimischen Dissidenten oder «Reform-Muslime», ist ebenfalls sehr klein und wird von lautstarken Islamisten weltweit bedroht, verfolgt oder gar zum Schweigen gebracht. Die Autorin identifiziert fünf Bereiche, in denen der Islam reformiert werden müsse: die wörtliche Auslegung des <wm>10CAsNsjY0MDAx1TUysjQwNQAA185kLA8AAAA=</wm> <wm>10CFXKrQ6AMAxF4Sfqcu_aDsokmSMIgp8haN5f8eMQx5x8y1I94Wtu6962SsBccg7488OT6lAZmlhYYbQM-oRRS6aXHxcwikL7SwQmtI5R1IXag5au47wBdvwFxXEAAAA=</wm> Korans und Mohammeds Status als Halbgott; die Ausrichtung auf das Leben nach dem Tod statt auf das Leben vor dem Tod; der Anspruch der Scharia als umfassendes Rechtssystem; die soziale Kontrolle, mit der Muslime eigene Anhänger auf Linie halten; die Notwendigkeit den Dschihad (heiligen Krieg) zu führen. In fünf Kapiteln zeigt sie, die selbst einmal «Soldatin Gottes» war, wo die Schwierigkeiten, aber auch wo das Veränderungspotenzial liegt. Trotz aller düsteren Entwicklungen glaubt Hirsi Ali an die muslimische Reformation. Nicht zuletzt dank dem Internet, das «für die islamische Welt im 21. Jahrhundert das bewirkt, was die Erfindung des Buchdrucks im 16. Jahrhundert für das Christentum bewerkstelligte.» Sie würdigt namentlich muslimische Dissidenten im Westen wie Necla Kelek und Bassam Tibi in Deutschland und im Nahen Osten – so den in Saudiarabien ausgepeitschten Raif Badawi. Ihrem leidenschaftlichen Aufruf ist nichts beizufügen: «Die westliche Welt hat die Pflicht, die Dissidenten und Reformer, die sich der Bedrohung stellen, zu unterstützen und ihnen da, wo es notwendig ist, auch Schutz zu bieten.» ● Über 45 000 bÜcher aus zweiter hand! Grösster Onlineshop der Schweiz Kontakt: [email protected] http://facebook.com/buchplanet.ch http://blog.buchplanet.ch http://www.twitter.com/buchplanet 26. April 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21 Sachbuch Deutschland Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen pflegt einen unkonventionellen Politikstil. Wird die CDU-Frau die nächste Bundeskanzlerin? WiederVater,sodieTochter Peter Dausend, Elisabeth Niejahr: Operation Röschen. Das System von der Leyen. Campus, Frankfurt a. M. 2015. 240 Seiten, Fr. 29.90, E-Book 17.90. Ulrike Demmer, Daniel Goffart: Kanzlerin der Reserve. Der Aufstieg der Ursula von der Leyen. Berlin Verlag, Berlin 2015. 224 Seiten, Fr. 29.90, E-Book 17.90. Von Gerd Kolbe Auf den ersten Blick mag es merkwürdig erscheinen: Zwei Autorenpaare, jeweils eine Journalistin und ein Journalist der Wochenzeitschrift «Die Zeit» und des Magazins «Focus», haben sich zur selben Zeit kritisch mit der CDU-Politikerin Ursula von der Leyen auseinandergesetzt. Sollte etwa die Frau, die vor Jahresfrist plötzlich und unerwartet zur ersten deutschen Verteidigungsministerin aufstieg, «Kanzlerin der Reserve» sein? Schon die Fragestellung hat ihren Reiz. Die doppelte Autorschaft ist sinnvoll. Denn die 56-Jährige betätigte sich in Hannover und Berlin auf so vielen Fachgebieten, dass sich kein Journalist finden liesse, der sie ständig begleitet und beobachtet hätte. Demmer und Goffart vom «Focus» beginnen ihr Buch mit einer durchaus aufschlussreichen Schilderung des familiären Umfelds. Von der Leyens Vater Ernst Albrecht war Kabinettschef in der EWG-Kommission, dann Generaldirektor für Wettbewerb in Brüssel, und wurde schliesslich Ministerpräsident des Bundeslandes Niedersachsen. Vater und Mutter Albrecht brachten es auf sechs Kinder, das Ehepaar von der Leyen auf sieben. Vater und Tochter waren sich, wie sich in beiden Büchern nachlesen lässt, sehr ähnlich und eng verbunden. Demmer und Goffart verschweigen allerdings nicht, dass der Vater die Tochter mitunter nicht richtig ernst nahm. Beide pflegten und pflegen jedoch denselben Politikstil. ein Gerücht – lässt die Ministerin ihre Kinder auch schon einmal doubeln. Ihre Botschaft lautet konstant: Sehr her, die Berufstätigkeit der Frauen lässt sich sehr wohl mit der Mutterrolle vereinbaren. Die Konservativen in CDU und CSU runzeln die Stirn. Die «Zeit»-Journalisten Dausend und Niejahr stiessen im Ministerbüro auf ein Kleinkind, das über den Boden krabbelte. Welch ein Zufall: Papa ist der stellvertretende Adjutant der Ressortchefin. Wenn sie bei der Bundeswehr auftritt, dann belehrt der Presseoffizier die Fotografen gelegentlich: «Denken Sie daran, es geht um die besten Bilder.» Helmut Kohls langjähriger Arbeitsminister Norbert Blüm, der Repräsentant des Arbeitnehmerflügels der Christlichdemokraten, gab von der Leyen laut Dausend und Niejahr den Rat: «Such dir mehr Freunde, Mädchen. Am besten in der CDU.» Genützt hat es kaum. Denn immer wieder bringt die Politikerin Teile von Koalition, Partei und Lobby gegen sich auf. Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt wandte sich direkt an Angela Merkel: «Frau Bundeskanzlerin, stoppen Sie diese Frau!» Nie hatte sie Hemmungen, sozialdemokratische Ideen umzusetzen. Schon früh forderte sie den jetzt beschlossenen Mindestlohn. Mit grosszügigen Plänen zur steuerlichen Berücksichtigung von Kinderbetreuungskosten scheiterte sie allerdings. Sie hatte übersehen, dass in ihrem Steuermodell wohlhabende Eltern überproportional begünstigt wurden. Demmer und Goffart kommentieren: «Auf dem gefährlich glatten Parkett der Bundespolitik in Berlin rutschte die flotte Stürmerin aus der (niedersächsischen) Provinz gründlich aus.» Hoch gepokert Geliebt und gehasst, verehrt und verulkt: Ursula von der Leyen als Faschingssujet am Rosenmontag in Köln, 16. Februar 2015. 22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. April 2015 RAPHAEL STÖTZEL / SCHNEIDER - PRESS Permanentes Lächeln Vom Vater hat die Tochter ihr politisches Markenzeichen geerbt, das unermüdliche Lächeln und die Bereitschaft anzuecken. Öffentlichkeitsarbeit betreibt sie wie der Vater mit Hilfe der grossbürgerlich heilen Familie unter Einschluss von zwei Ziegen und einem Pony. Gelegentlich – so will es Beinahe hätte sie es sich, als sie in der CDU kämpferisch für die Frauenquote in Unternehmensspitzen eintrat, sogar mit der Bundeskanzlerin verscherzt. Doch die Verstimmung hielt nicht lange an. Merkel und von der Leyen, stellen die Buchautoren fest, brauchen und brauchten einander für die Modernisierung der CDU. Wer höher pokerte bei der Neubildung des Bundeskabinetts im vergangenen Herbst, Merkel oder von der Leyen, ist noch offen. Die Ministerin wollte hoch hinaus, die Kanzlerin offerierte ihr als erster Frau das Verteidigungsministerium, bekanntlich den Schleudersitz der Nation. Anfangs wollte die Ministerin auch dort mit familienpolitischen Themen punkten. Doch schnell hatte sie eingesehen, dass die Ukraine-Krise andere Antworten erfordert. Sie war eine der Ersten, die die Deutschen ermahnte, mehr Verantwortung in der Welt zu übernehmen, Auslandseinsätze der Bundeswehr inklusive. Der sozialdemokratische Aussenminister Frank-Walter Steinmeier war wütend. Die Zuständigkeit kann er ihr trotzdem nicht absprechen. Die Verteidigungsministerin ist seine Stellvertreterin im Bundeskabinett. Dausend und Niejahr sind sich einig: Endlich ist von der Leyen in ihrer Welt, auf der internationalen Bühne, angekommen. In Brüssel ist sie geboren, in London und Stanford hat sie gelebt. Englisch und Französisch spricht sie perfekt. An der Harvard-Universität brauchte sie keinen Dolmetscher. Doch kann sie auch Bundeskanzlerin werden? Noch drückt sie sich um eine Antwort. Angesichts von Rüstungsskandalen und Pannen ist bisher nur ein ehemaliger Verteidigungsminister auch Kanzler geworden: Helmut Schmidt. An den Fakten lässt sich nicht rütteln. Die beiden Bücher unterscheiden sich deshalb nur in der Schilderung einzelner Episoden und Begegnungen. Und wo es um die Zukunft geht, schliessen beide Autorengespanne ihre Biografien mit Kaffeesatzleserei auf hohem Niveau. ● Memoiren Schillernde Erinnerungen des grossen deutschen Regisseurs Max Ophüls (1902–1957) Max Ophüls: Spiel im Dasein. Eine Rückblende. Alexander, Berlin 2015. 310 Seiten, Fr. 35.90. Von Martin Walder Am Anfang war eine kleine Bitte: Vier, fünf Seiten Lebensbeschrieb und Filmografie, «you know, Max, the kind of thing», zuhanden der Presseabteilung. Die Produktionsfirma California Pictures hat 1945 dem arbeitslosen Emigranten Max Ophüls soeben eine Zukunft in Hollywood in Aussicht gestellt. Wenige Wochen später liefert dessen Sohn Marcel über 300 Seiten Text, ins Englische übersetzt, ab. Das Resultat ist unter dem Titel «Spiel im Dasein» die bis zum Kriegsende erzählte Rückblende eines der grössten deutschen Theater-, Film- und Rundfunkregisseure, der 1902 in Saarbrücken als Max Oppenheimer geboren wurde. Damit ist auch eine klassische Künstlerautobiografie der Emigration in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts angezeigt: Flucht 1933 aus Deutschland nach Frankreich und mit einem Abstecher 1940/41 in die Schweiz (Zürcher Schauspielhaus) nach Hollywood. Meilensteine im Kino werden zum Beispiel: «Die verkaufte Braut», die erste Tonfilmoper (mit Karl Valentin), «Liebelei», «Letter from an Unknown Woman», «La Ronde» (immer wieder Schnitzler, auch im Radio), zuletzt «Lola Montez». 1957 erlag Max Ophüls einem Herzlei- den; seine Frau Hilde hat die Vita für die Nachkriegszeit ergänzt. Die Memoiren, 1945 beendet und 1959 postum erschienen, sind jetzt zusammen mit einem Annex und Marcel Ophüls’ erstmals auf Deutsch publiziertem Kommentar neu greifbar. Ein multiples Lesevergnügen! Die Autobiografie ist ja beinah ein Genre, gesättigt von Geschichte und Geschichten, oft auch nur Geschichtchen, von Entbehrung und Leid, Überlebenswillen und Glück – bestenfalls. Hunderte klingender Namen passieren Revue, zu denen das erzählte Leben schicksalshaft gehört und die es, hübsches Paradox, singulär machen sollen. Das kann mühsam herauskommen. In Ophüls’ Erinnerungen und Gedanken findet sich derlei zwar auch – und sie sind doch viel mehr: die elegant funkelnde Rückblende eines unwiderstehlichen Erzählers und Performers nämlich, der sich rigoros weigert, das Spiel als Existenzform der Erfahrung des Schreckens zu opfern. Der Titel des Buchs ist programmatisch und nahe bei Shakespeare oder Calderon. Max Ophüls liebt und beherrscht die Pointe, aber nie, um sich am Ende in schrecklicher Künstlereitelkeit zu sonnen. Im Gegenteil lässt er seine Anekdoten ständig in lakonischer Anmut auf dem Boden des Menschlichen landen, das weiss, dass es erstens anders kommt, als es zweitens denkt. So sehr unterspielt Ophüls den bitteren Ernst der Zeit, dass dem Sohn ob der «fast systematischen Flucht in die Ironie und die Anekdote», ob solchem «Alibi INTERFOTO Rückblende mitCharme Filmregisseur Max Ophüls in einer Drehpause (undatierte Aufnahme, 50er Jahre). der Sorglosigkeit und einer gewissen romantischen Frivolität» auch etwas mulmig wird. Hat Marcel doch als Heranwachsender seinen Vater zu Hause pointiert als politischen Kopf wahrgenommen. Soweit vorgewarnt, verfallen wir dem leuchtenden Charme dieser Rückblende natürlich prompt, und lesen sie dann ein zweites Mal mit geschärftem Sensorium – munitioniert durch das Vorwort, und vor allem durch den Kommentar mit Erläuterungen und Richtigstellungen aus dem immensen Fundus, auf den der Herausgeber Helmut G. Asper als Autor einer grossen Ophüls-Biografie hat zurückgreifen können. Geschmälert wird die «Wahrheit» dieser Art Erinnerungen damit nicht, sie beginnt im Gegenteil zu schillern als das, was Autobiografie immer auch ist: Inszenierung. Max Ophüls macht sie so lustvoll wie besinnlich kenntlich als sein eigener, wunderbarer Regisseur. ● Psychologie Klaus Theweleits Buch über Massenmörder lässt die Lesenden ratlos zurück Killer, die sich als Retter sehen Klaus Theweleit: Das Lachen der Täter: Breivik u. a. Psychogramm der Tötungslust. Residenz, Salzburg 2015. 245 Seiten, Fr. 26.90, E-Book 11.90. Von Sieglinde Geisel «Dieses Buch ist zu einem grossen Teil gemacht aus Zeitung», bemerkt Klaus Theweleit im Schlusswort zu einem Buch, das man auch als kommentierten Reader bezeichnen könnte. Seitenlang werden Zeitungsartikel zu sämtlichen Massenmorden des 20. und 21. Jahrhunderts zitiert: von der Shoa über Kambodscha, die NSU und Anders Breivik bis zu Indonesien, Abu Ghraib, Ruanda und dem IS. Erst nach Hunderten von Seiten gelangt der Autor zu so etwas wie einer These über das «Lächeln oder Lachen als emblematisches Abzeichen des Killers». Die modernen Killer, so der Befund, verstecken ihre Untaten nicht, im Gegenteil: Sie stellen sie aus, «Mord als Feier», begleitet vom Gelächter der jubilierenden Täter. In diesem «allumfassenden Gelächter der Körperzerstörung» sieht Theweleit einen «Durchbruch in eine neue, ‹gesichertere› Körperlichkeit» sowie «eine Abwehr der eigenen Todesangst». Die Mörder sehen sich dabei keineswegs als krank, sondern als Weltenretter, als «Mörder höheren Rechts», wie etwa der lächelnde Killer Anders Breivik, der Norwegen und die westliche Welt vor dem «islamistischen Kulturmarxismus» retten wollte – der Massenmord an 77 Menschen sollte, nach seinen eigenen Worten, die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf sein 1500-Seiten-Manifest lenken. Was die modernen Massenmörder auszeichnet – und dies gilt für Selbst- mordattentäter des IS ebenso wie möglicherweise für den Germanwings-CoPiloten, der 149 Menschen in den Tod riss –, ist ihre erschreckende Normalität. Gerade dies jedoch sollte niemanden überraschen, so Klaus Theweleit: Die «Mordlust» gehöre zum «soldatischen Mann», wie er ihn selbst 1977 in seinem Werk «Männerphantasien» beschrieben hat. Das Töten diene der Spannungsabfuhr und stelle ein inneres Gleichgewicht wieder her. Wenn in einer Gesellschaft oder von einer Organisation «der Normalfall des Tötens» ausgerufen werde, verwandelten sich ganz normale Männer in Mörder. Das Rätseln über die Frage, warum dies so ist, überlässt der Kompilator Klaus Theweleit leider weitgehend dem Leser. Schade, macht er doch auf ein verstörendes Phänomen aufmerksam, das bisher kaum wahrgenommen worden ist. ● 26. April 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23 Sachbuch Palästina Der frühere israelische Artillerieoffizier Ahron Bregman zum Nahostkonflikt EineOrdnungsmachtdemontiertsich Ahron Bregman: Gesiegt und doch verloren. Israel und die besetzten Gebiete. Orell Füssli, Zürich 2015. 384 Seiten, Fr. 37.90. Israel hat gewählt, aber die Wähler waren vor keine reale Alternative gestellt. Vor allem hat keine der Parteien Stellung bezogen zur fundamentalen Frage, welche Zukunft ein Land hat, das diesseits der Grenze von 1967 demokratisch organisiert ist und jenseits davon ein Besatzungsstaat, der seit bald 50 Jahren über ein anderes Volk herrscht. Was das bedeutet, beschreibt der israelische Kriegswissenschafter und Nahost-Historiker Ahron Bregman in seinem Buch über die Besatzung von 1967 bis 2007, mit einer aktuellen Ergänzung bis heute. Bregman kennt die Innensicht. 1958 in Israel geboren, hat er Jahre als Offizier gedient und am Libanonkrieg 1982 teilgenommen. Weil er sich weigerte, als Reservist in den besetzten Gebieten zu dienen, zog er nach London. Dort lehrt er am King’s College und hat mehrere Bücher zum Nahostkonflikt verfasst. Nüchtern, aber anschaulich zeigt der Autor wie die Besetzung mit den Jahrzehnten immer gewalttätiger wurde, wie sich die politische Debatte in der israelischen Führung veränderte, zählt die trostlose Abfolge von Konferenzen und Abkommen auf, jede von ihnen eine vertane Chance für eine (Zweistaaten-)Lösung oder für einen Frieden mit Syrien. Bregman ist ein Kritiker der Besetzung, doch sein Ton bleibt sachlich. Ihm liegt fern, die palästinensische Seite reinzuwaschen. Deren Fehler beschreibt Bregman genauso, insbesondere des einstigen PLO-Führers Yassir Arafat. Doch die Hauptverantwortung KEYSTONE Von Claudia Kühner Blick auf Shufat, das palästinensische Flüchtlingslager in Ostjerusalem, umgeben von der israelischen Sicherheitsmauer (Dezember 2014). liegt in seinen Augen in Jerusalem. Derjenige, der eine neue Vision hatte, wurde ermordet: Yitzhak Rabin. Der Historiker hatte auch Zugang zu bisher unbekannten Geheimdienstinformationen. Sie offenbaren, wie man die andere Seite eingeschätzt hat und welche Schlüsse man für das eigene Vorgehen zog. Und wie Meinungsumfragen über politischen Mut siegten (Beispiel Ehud Barak). Es herrscht die allgemeine Tendenz, im Nahostkonflikt von den «beiden Seiten» zu sprechen, als ob sie gleichgewichtig wären. Sie sind es nicht, und Bregman betont dies eins ums andere Mal. Palästinenser sind in jeder Hinsicht unterlegen. Ihre blutige Gegenwehr, vor allem die Selbstmordattentate in den neunziger Jahren (denen stets der ebenso blutige Gegenschlag Israels folgte) wertet Bregman als Kampfmittel jener, die nicht über eine Armee verfügen. Doch hat der Terror die Lage der Palästinenser nur verschlimmert. Auf das israelische Besatzungskonto gehen bis heute Häuserzerstörungen, Misshandlungen, Vertreibungen, Sip- penhaft, Inhaftierung von Kindern – von den Kriegen mit Tausenden ziviler Opfer in Libanon und Gaza nicht zu sprechen. Der Geheimdienst etablierte ein Willkürsystem von Bewilligungen, Lizenzen, Ausweisen, um sich die Bevölkerung gefügig zu machen und Kollaborateure zu rekrutieren. Dazu kommt die Ausbeutung palästinensischer Arbeiter nach Bedarf. Die ökonomischen Gesichtspunkte der Besetzung werden bei Bregman leider nur angedeutet – ein Manko. Mit politischen Analysen – beispielsweise des politischen Gewichts der Siedlerbewegung – hält sich der Autor zurück Ohne das jahrzehntelange Nachgeben von Regierungen und Armee ist die Besetzung und der Unwille, sie zu beenden, schlicht nicht zu erklären. Bregman diskutiert auch nicht die Frage, was eine fortdauernde Besetzung hiesse: nämlich das Ende des Zionismus, dessen Grundgedanke ein demokratischer jüdischer Staat ist und nicht die Herrschaft über eine palästinensische Mehrheit. Und doch ist Bregman überzeugt davon, dass die Palästinenser eines Tages einen Staat haben werden. ● Reisejournal Ein Naturforscher berichtet von seinen Erlebnissen auf Cooks zweiter Weltumseglung Vom botanischen Zeichner zum Revolutionär Jürgen Goldstein: Georg Forster. Zwischen Freiheit und Naturgewalt. Matthes & Seitz, Berlin 2015. 244 Seiten, Fr. 34.90. Von Janika Gelinek 1772 bricht James Cook zu seiner zweiten Weltumsegelung auf. Drei Jahre lang ist er unterwegs: Von England in Richtung des südlichen Polarkreises, von wo er nach mühseligsten Versuchen in die Antarktis vordringt – weiter, als je ein Europäer vor ihm. Über die Osterinseln, Neuseeland, Tahiti und Südafrika kehrt er am 30. Juli 1775 nach England zurück. Mit an Bord war der damals erst 17-jährige Georg Forster (1754–1794), der 1777 seine bahnbrechende «Voyage around the world» vorlegt, in welcher er «ohne Rücksicht auf willkürliche Systeme, 24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. April 2015 bloss nach allgemeinen menschenfreundlichen Grundsätzen» seine «Entdeckungen in der Geschichte des Menschen, und in der Naturkunde überhaupt» darlegt. Damit beschrieb der junge Mann ohne höhere Bildung, ursprünglich als botanischer Zeichner angeheuert, unbewusst sein Lebensprogramm: Ohne Rücksicht auf willkürliche Systeme der eigenen Wahrnehmung vertrauend, den Menschen in seinen komplexen kulturellen und sozialen Zusammenhängen fest im Blick. Mit diesem Primat der Empirie vor jeder «Philosophie im Lehnstuhl» erklärt der Philosoph Jürgen Goldstein im vorliegenden Band auch Forsters Einsatz für die Mainzer Republik, die 1793 den Anschluss an das revolutionäre Frankreich versuchte, bevor sie von preussischen Truppen niedergeschlagen wurde. An- ders als bei Rousseau oder Kant, so Goldstein, resultiert Georg Forsters Gesellschaftsutopie aus eigener Erfahrung: «Aus dieser Differenz ergibt sich die unterschiedliche Radikalitätsbereitschaft zur Revolution.» Spannend und mit ausführlichen Zitaten schildert Goldstein Forsters grosse Reise, deren Eindrücke und Strapazen ihn ein Leben lang begleiten sollten. Doch statt sie als Nukleus seiner kulturkritischen Wahrnehmung in den Mittelpunkt zu stellen, wird Forsters geistige Entwicklung vom Reiseschriftsteller und Naturforscher zum Revolutionär rekonstruiert, was zwangsläufig eine Homogenität evoziert, die dem in sich widersprüchlichen Denken Forsters nicht gerecht wird. Von der Revolution durchdrungen und an ihr verzweifelnd, starb er 1794 einsam und verarmt in Paris. ● Zweiter Weltkrieg Dem britischen Geheimdienst gelang die spektakuläre Entführung eines deutschen Generals. Patrick Leigh Fermor leitete die Aktion und beschrieb sie später JamesBondaufKreta Patrick Leigh Fermor: Die Entführung des Generals. Dörlemann, Zürich 2015. 304 Seiten, Fr. 36.90, E-Book 22.90. Von Geneviève Lüscher Ein Bond-Girl wird man in dieser Agentengeschichte aus dem Zweiten Weltkrieg vergeblich suchen, es ist eine reine Männerstory, die der bekannte Reiseschriftsteller Patrick Leigh Fermor hier ausbreitet. Dafür hat sie den Vorteil, wahr zu sein. Erzählt – 1957 sogar verfilmt – wurde sie schon öfter, allerdings nie von Fermor selber, der die Aktion in den kretischen Bergen damals geleitet hatte. Patrick Leigh Fermor, geboren 1915 in London, hatte ein ungewöhnliches Leben. Nachdem er von etlichen Schulen geflogen war, beschloss er 1933, durch Europa nach Konstantinopel zu wandern. Er kam bis Athen und brauchte dazu vier Jahre. Seiner während der Wanderung erworbenen Sprach- und Ortskenntnisse wegen wurde der britische Nachrichtendienst auf ihn aufmerksam. Es war der Anfang seiner Abenteuer als Geheimagent und Kriegsheld. Nach dem Krieg liess er sich in Griechenland nieder und publizierte mit grossem Erfolg seine Reiseerlebnisse. Er starb 2011 in England. Strapaziöse Gewaltmärsche Erstaunlicherweise fand sich nun in seinem Nachlass ein Manuskript über seine berühmteste Tat, die Entführung des deutschen Generalmajors Heinrich Kreipe, das er aber nie ganz publiziert hatte. Es ist nun erstmals vollständig in deutscher Übersetzung erschienen, angereichert mit etlichen Kriegsberichten Fermors aus den Jahren 1942–1945. Das Buch schliesst mit dem Kapitel «Die Entführungsroute» von Chris und Peter White, die den strapaziösen Weg durch die kretischen Berge beschreiben, mit Tipps für Autofahrer, Busbenützer und Wanderer. Kreta war seit 1941 von den Deutschen besetzt. Kretische Partisanenverbände hatten sich in das unwegsame Gebirge zurückgezogen und fügten den Deutschen, in Zusammenarbeit mit dem britischen Geheimdienst, Nadelstiche zu, die mit grausamsten Vergeltungsmassnahmen an der Zivilbevölkerung beantwortet wurden. Verantwortlich für die Gemetzel war Generalleutnant FriedrichWilhelm Müller, der «Schlächter von Kreta». Der britische Geheimdienst beschloss, ihn zu entführen. Die von Fermor geleitetet Aktion startete am 4. Februar 1944 von Kairo aus. Eine Gruppe von Fallschirmspringern landete in den kretischen Bergen, wo sie von Partisanen empfangen wurden. Das Auskundschaften des Geländes und die Vorbereitungen dauerten Wochen. Unterdessen war allerdings Müller, dessen Abscheulichkeiten sogar den Deutschen Unter der Akropolis stossen die einstigen Feinde an: der britische Ex-Agent Patrick Leigh Fermor (links) und der deutsche Ex-Generalmajor Heinrich Kreipe beim Wiedersehen 1972. zu viel geworden waren, durch Heinrich Kreipe ersetzt worden, dennoch wurde am Plan festgehalten. Am 26. April, nachts, wurde der Wagen Kreipes von zwei verkleideten deutschen Soldaten, einer davon war Fermor, angehalten und mit dem General entführt. Detailliert beschreibt Fermor die Fahrt, auf der die Entführer 21 deutsche Kontrollposten passieren mussten! Schliesslich begann der Marsch durch die Berge. Der General sollte von der Nord- zur Südküste gebracht, dort von einem Boot aufgenommen und nach Kairo verfrachtet werden. Zusammen mit den Partisanen marschierte die Gruppe jeweils nachts von Unterschlupf zu Unterschlupf. Da die schwer gedemütigten Deutschen nach ihrem verlorengegangenen General suchten, mussten weite Umwege in Kauf genommen werden; die Männer waren 18 Tage im unwegsamen Gelände unterwegs. Der Bericht Fermors ist kein militärischer Rapport, sondern die Geschichte einer Annäherung: Entführer und Entführter lernten sich auf den bis 12-stündigen Gewaltmärschen, dem gemeinsamen Frieren, den kargen Mahlzeiten, dem reichlich fliessenden Raki näher kennen. Fermor berichtet berührend über den zunehmenden Respekt, zu dem beitrug, dass Kreipe kein Kriegsverbrecher war, nicht einmal ein überzeugter Nazi. Der General sei erstaunt gewesen über die Höflichkeit der Kreter und Briten, die sich um sein Wohlergehen bemühten, besonders als er eines Nachts vom Maultier gefallen war und sich eine Schulterverletzung zugezogen hatte. Wesentlich älter als seine Entführer nahmen ihn die körperlichen Strapazen stär- ker mit. Einen seltsamen Moment schildert Fermor, als sie eines Morgens die weissen Gipfel des Idagebirges vor sich sahen, und Kreipe selbstvergessen die Anfangszeile eines Horaz-Gedichtes auf Latein zitierte, und Fermor die restlichen Zeilen auswendig ergänzte. «Fünf Minuten lang war der Krieg verschwunden.» Grausame Rache Die Entführung gelang, die Gruppe erreichte die Südküste. General Kreipe wurde mit einem Boot ausser Landes gebracht. Über England gelangte er in ein Kriegsgefangenenlager nach Kanada. Weniger glimpflich verlief der «Husarenstreich», wie Kreipe die Aktion einmal nannte, für die Kreter. General Müller war zurückgekehrt und übte grausame Rache an den Bergdörfern. Dafür wurde er 1946 in Athen vor ein Kriegsgericht gestellt und hingerichtet. Ungeschoren kamen seine Untergebenen davon, kein deutsches Gericht sprach je eine Verurteilung für die Greuel der Wehrmacht auf Kreta aus. Patrick L. Fermor musste gewusst haben, welche Folgen seine Aktion haben würde. Dass er seinen Bericht über die Entführung nie publiziert hat, mag vielleicht ein Schuldgeständnis am Tod dieser Männer, Frauen und Kinder sein, die sterben mussten für eine spektakuläre Heldentat, die zwar erfolgreich war und die Partisanen moralisch unterstützt hatte, aber vom strategischen Standpunkt aus keinen Sinn mehr machte. Kreipe war ein unbedeutender Mann, Kreta ein Nebenschauplatz und die deutsche Niederlage absehbar. Dennoch verehren die Kreter Patrick L. Fermor bis heute als einen ihrer Kriegshelden. ● 26. April 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25 Sachbuch Informationsgeschichte Wie die frühneuzeitlichen Adressbüros und Fragämter funktionierten Suchen in der Zeit vor Google Anton Tantner: Die ersten Suchmaschinen. Adressbüros, Fragämter, IntelligenzComptoirs. Wagenbach, Berlin 2015. 173 Seiten, Fr. 29.90. Von Monika Burri Suchdienste, Informationsportale und Vermittlungsplattformen sind keine Erfindung des Internetzeitalters. Schon das frühneuzeitliche Adressbüro strebte einen organisierten Informationsaustausch an. Arbeits- und Unterkunftsvermittlung, Pfandleihen, Reisebegleitungen sowie der Verkauf von Waren aller Art gehörten zur Dienstleistungspalette des Bureau d’adresse, dessen Prototyp 1630 in Paris eröffnet wurde. Wer etwas suchen oder finden, kaufen oder verkaufen wollte, konnte sein Anliegen gegen Gebühr in ein Register ein- zu, die verstreuten Zeugnisse der meist privat geführten Auskunftsbüros zu einem plausiblen Unternehmensmodell zusammenzufügen. Am Beispiel des Auskunftscomptoirs skizziert er eine erhellende Geschichte frühneuzeitlicher Informations- und Registriertechniken. Die gespeicherten Daten weckten übrigens das Interesse der Obrigkeit, schon die analogen Suchdienste des Ancien Regime mussten zwischen Privacy und Kontrolle vermitteln. Um die Reichweite des Informationsaustausches zu optimieren, gaben die meisten Adressbüros Anzeigenblätter heraus. Das «Tagblatt der Stadt Zürich» oder die «Basler Nachrichten» sind aus Adressstuben des 18. Jahrhunderts hervorgegangen. Wenn also heutige Verlagshäuser ihr Portfolio mit digitalen Suchportalen und Tauschbörsen aufrüsten, liest sich das wie die Fortsetzung einer alten Unternehmenstradition. ● tragen lassen oder Auszüge aus dem Register erhalten. Der Gründer des ersten Adressbüros, der französische Arzt Théophraste Renaudot (1586–1653), verfolgte neben kommerziellen Interessen auch karitative Motive. Die Arbeitsvermittlung sollte der Armutsbekämpfung dienen, für städtische Unterschichten bot das Auskunftsbüro kostenlose medizinische Beratung an. Die Entstehung der Informationsbüros korrespondierte mit der Auflösung mittelalterlicher Beziehungsnetzwerke. Im 17. und 18. Jahrhundert entstanden in den meisten europäischen Metropolen Auskunfts- und Vermittlungsdienste nach Pariser Vorbild: die Offices of Intelligence in London, die Fragstuben in Wien, die Adresshäuser in Preussen, die Frag- und Kundschaftsämter der Habsburgermonarchie. Dem österreichischen Historiker Anton Tantner kommt nicht nur das Verdienst Das amerikanische Buch Steve Jobs – halb Genie, halb Despot Als Autoren von Becoming Steve Jobs (447 Seiten, Crown Business, März 2015) stehen Brent Schlender und Rick Tetzeli offenkundig unter Rechtfertigungsdruck. Der Einstieg in den Text wird durch Erörterungen der persönlichen Beziehung Schlenders zu dem Hightech-Pionier erschwert, der dann durchwegs «Steve» genannt wird. Nach einem Dutzend Seiten nennen die Autoren ihr Problem dann beim Namen: Nachdem der Apple-Gründer im Oktober 2011 einem Krebsleiden erlegen war, erschien wenig später die von ihm selbst autorisierte Lebensgeschichte aus der Hand Walter Isaacsons «Steve Jobs» (630 Seiten, Simon & Schuster, Oktober 2011). Damit demonstrieren Schlender und Tetzeli ihre lange Erfahrung als Experten für die Computer- und Unterhaltungsindustrie, die sie seit Jahrzehnten für Publikationen wie «Fortune» begleiten. Dennoch hält die amerikanische Kritik zu Recht fest, ihre Vorwürfe an 26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. April 2015 KEYSTONE Laut Schlender und Tetzeli zeichnet der voluminöse Weltbestseller ein «eindimensionales Bild» von Jobs, der sein Leben lang «halb Genie, halb Arschloch» geblieben sei. Deshalb legen sie ihr Buch als Gegenentwurf an. Wie der umständliche Untertitel «Die Evolution eines rücksichtslosen Emporkömmlings zu einer visionären Führungspersönlichkeit» signalisiert, bauen die Autoren auf das Modell des Entwicklungsromans und wollen die Vielschichtigkeit von Jobs freilegen. Dies gelingt ihnen speziell bei den schweren Jahren ihres Helden zwischen seinem Hinauswurf bei Apple 1985 und seiner Rückkehr als Retter 1997 auf unterhaltsame und detailreiche Weise. in seinen Orbit zog. Aber selbst nachdem ihm Innovationen wie das iPhone einen Platz im Olymp der Edisons und Fords gesichert hatten, blieb Jobs arrogant, launisch und rachsüchtig. Selbst engste Mitarbeiter hat er primär nach deren Nützlichkeit behandelt. Auch den Kontakt zu Schlender kappte Jobs abrupt, nachdem der Journalist krankheitshalber nicht mehr über die Hightech-Branche berichtete. Schlender und Tetzeli versuchen nicht, die Wurzeln dieser Distanziertheit freizulegen. Computerpionier Steve Jobs (1955–2011) stellt am 9. Januar 2007 das erste iPhone von Apple vor. Autor Brent Schlender (unten). Isaacson seien in keiner Weise gerechtfertigt. Tatsächlich weichen die Autoren in ihrer Darstellung von Jobs nur unwesentlich von Isaacson ab, dem erfolgreichsten Verfasser von Biografien in den USA (unter anderem zu Albert Einstein). Wie Schlender selbst erlebt hat, war Jobs zwar enorm lernfähig und hat während seines Exils von Apple zur Führung eines Konzerns notwendige Qualitäten wie Geduld und Disziplin entwickelt. Kombiniert mit technischem Weitblick und einem aussergewöhnlichen Sinn für Ästhetik und Nutzerfreundlichkeit, ermöglichte ihm dies eine einzigartige Laufbahn als Innovator und Unternehmer. Jobs war zudem ein erstklassiger Delegierter, dessen Sachverstand hochkarätige Spezialisten Isaacson wies dabei auf Jobs Kindheitserfahrung hin: Als unehelicher Sohn einer Amerikanerin und eines syrischen Gaststudenten gab ihn die Mutter nach der Geburt zur Adoption frei. Dennoch ist «Becoming Steve Jobs» lesenswert. Wer eine griffige und für Laien verständliche Darstellung der Evolution von Apple und der Computerbranche insgesamt sucht, wird hier gut bedient. Um die Jahrtausendwende herum erkannte Jobs, dass die rasanten Fortschritte der Technik die Digitalisierung der Lebenswelt ermöglichen könnten. Er und seine Expertenteams entwickelten dazu Geräte wie das iPhone, die heute den Alltag von Milliarden Menschen prägen. Damit gab Jobs jedermann für ein paar hundert Dollar Rechnerkapazitäten in die Hand, die vor 20 Jahren nur in den «Supercomputern» des Pentagons oder von Grosskonzernen verfügbar waren. Wünschenswert wäre in diesem Zusammenhang jedoch ein Blick auf die Schattenseiten dieser Entwicklung gewesen: Schliesslich kommt Apple zunehmend über die Abschöpfung von Nutzerdaten und monopolistisches Verhalten in die Kritik. ● Von Andreas Mink Agenda Minnesang Die Manesse-Handschrift Agenda Mai 2015 Basel Dienstag, 5. Mai, 19.30 Uhr Peter Wawerzinek: Schluckspecht. Lesung. Kulturhaus Bider & Tanner, Aeschenvorstadt 2. Gratiskarten: www.biderundtanner.ch. Dienstag, 12. Mai, 20 Uhr Shlomo Graber: Denn Liebe ist stärker als Hass. Lesung. Thalia, Freie Strasse 32. Gratiskarten: Tel. 061 264 26 55. Donnerstag, 21. Mai, 20 Uhr Kenneth Bonert: Der Löwensucher. Lesung, Fr. 17.–. Literaturhaus, Barfüssergasse 3. Info: Tel. 061 274 26 55. Bern UNIVERSITÄT HEIDELBERG Sonntag, 3. Mai, 11 Uhr Susanna Schwager: Freudenfrau. Lesung mit Musik. Ausstellungseintritt. Zentrum Paul Klee, Monument im Fruchtland 3. Info: Tel. 031 359 01 01. Der Codex Manesse ist die bedeutendste Handschrift mit Liedern des deutschen Mittelalters. Entstanden ist sie im frühen 14. Jahrhundert in Zürich. Heute liegt sie in einem Tresor der Heidelberger Universitätsbibliothek. Sie enthält neben den Liedern und Sprüchen nicht weniger als 137 ganzseitige Miniaturen, welche die Minnesänger bei ihren höfischen Aktivitäten zeigen. Die Blätter entzücken uns bis heute durch ihre Frische und Schönheit. Ein wunderbarer Geist der Frühe durchweht sie. Lothar Voetz, emeritierter Germanist an der Universität Heidelberg, ist ein eminenter Kenner der Manessischen Liederhandschrift. In einer neuen und reich illustrierten Monografie erklärt er die Entstehung, Geschichte und Erschliessung des Werks. Sein Buch ist gescheit und gründlich, richtet sich jedoch nicht in erster Linie an die Fachwissenschaft, sondern an ein Publikum interessierter Laien. Ein besonderes Anliegen von Lothar Voetz ist es, die planvolle Anlage des Werks hervorzuheben. Unsere beiden Bilder zeigen Heinrich Hetzbold von Weissensee auf der Jagd (links) und Wernher von Teufen mit einer Falknerin. Manfred Papst Lothar Voetz: Der Codex Manesse. Lambert Schneider, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2015. 176 Seiten, Fr. 99.90. Belletristik Sachbuch 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Jussi Adler-Olsen: Verheissung – Der Grenzenlose. DTV. 596 Seiten, Fr. 24.55. Lucinda Riley: Die sieben Schwestern. Goldmann. 544 Seiten, Fr. 25.40. Milena Moser: Das Glück sieht immer anders aus. Nagel & Kimche. 224 Seiten, Fr. 26.90. Lukas Hartmann: Auf beiden Seiten. Diogenes. 336 Seiten, Fr. 33.90. Cecelia Ahern: Das Jahr, in dem ich dich traf. Fischer Krüger. 384 Seiten, Fr. 21.90. Peter Bichsel: Über das Wetter reden. Suhrkamp. 150 Seiten, Fr. 28.90. Viveca Sten: Tod in stiller Nacht. Kiepenheuer & Witsch. 400 Seiten, Fr. 22.90. Ian McEwan: Kindeswohl. Diogenes. 224 Seiten, Fr. 29.90. John Grisham: Anklage. Heyne. 512 Seiten, Fr. 28.80. Dienstag, 26. Mai, 20 Uhr Arno Geiger: Selbstporträt mit Flusspferd. Lesung, Fr. 15.–. Stauffacher Buchhandlungen, Neuengasse 25/37. Reservation: Tel. 031 313 63 63. Solothurn Donnerstag, 14., bis Sonntag, 17. Mai 37. Solothurner Literaturtage. Programm unter www.literatur.ch. Bestseller April 2015 Martin Suter: Montecristo. Diogenes. 320 Seiten, Fr. 33.90. Mittwoch, 6. Mai, 19 Uhr Werner Bätzing: Zwischen Wildnis und Freizeitpark. Buchvernissage. Alpines Museum, Helvetiaplatz 4. Info: Tel. 031 350 04 40. Giulia Enders: Darm mit Charme. Ullstein. 288 Seiten, Fr. 22.85. Thomas Maissen: Schweizer Heldengeschichten. Hier + Jetzt. 240 Seiten, Fr. 29.90. Wilhelm Schmid: Gelassenheit. Insel. 118 Seiten, Fr. 12.90. Jean Ziegler: Ändere die Welt! Bertelsmann. 288 Seiten, Fr. 25.40. Mahtob Mahmoody: Endlich frei. Ehrenwirth. 416 Seiten, Fr. 24.55. Walter Mischel: Der Marshmallow-Test. Siedler. 400 Seiten, Fr. 32.20. Kurt Lauber: Matterhorn, Bergführer erzählen. Droemer/Knaur. 304 Seiten, Fr. 31.90. Pascal Voggenhuber: Zünde dein inneres Licht an. Giger. 160 Seiten, Fr. 37.90. Karoline Arn: Elisabeth de Meuron von Tscharner. Zytglogge. 320 Seiten, Fr. 36.90. Duden. Die deutsche Rechtschreibung. 26. Aufl. Bibliogr. Institut. 1216 Seiten, Fr. 37.90. Erhebung Media Control® AG im Auftrag des SBVV; 14.4.2015. Preise laut Angaben von www.buch.ch. Zürich Freitag, 8. Mai, 22 Uhr 3. Zürcher Kriminalnacht mit Monika Mansour, Michèle Minelli, Raphael Zehnder. Fr. 35.–. Theater Rigiblick, Germaniastr. 99. Res.: Tel. 044 361 80 51. Montag, 11. Mai, 18.30 Uhr Martin Walker: Provokateure. Lesung mit Gastmahl, Fr. 92.–. Bistro Le Puy, Forchstr. 211. Res.: Tel. 044 380 48 08. Dienstag, 19. Mai, 20 Uhr Joseph O’Connor: Die wilde Ballade vom lauten Leben. Lesung, Fr. 25.–. Kaufleuten. Pelikanplatz 18. Karten: Tel. 044 225 33 77. Dienstag, 26. Mai, 19.30 Uhr Davide Longo: Der Fall Bramard. Lesung, Fr. 18.– inklusive Apéro. Literaturhaus, Limmatquai 62. Info: Tel. 044 254 50 08. Bücher am Sonntag Nr. 5 erscheint am 31.5.2015 Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60 oder E-Mail [email protected]. Oder sind – solange Vorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11, 8001 Zürich, erhältlich. 26. April 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27 Warum Sie Napoleon Ihre Parkbusse verdanken. Jetzt am Kiosk. Das neue Magazin der NZZ. Verstehen, wie Napoleon den Code civil schuf und damit die Rechtsprechung unseres Landes bis zum heutigen Tag beeinflusste. Mit «NZZ Geschichte» haben Sie es in der Hand – ein vielseitiges Magazin, das die Vergangenheit beleuchtet und die Gegenwart erhellt. Mit einem überraschenden Themenmix und Beiträgen von namhaften Historikern und Denkern unserer Zeit. nzz.ch/geschichte <wm>10CAsNsja1NLU01DU3MLMwMQcAG84BPA8AAAA=</wm> <wm>10CFWKoQ6AMAwFv6jLa2m7jUkytyAIfoag-X_FhkOcuMu1VizgY6v7WY9i2TJThCeNU4JEL0kkYDiUXcC2skKQVNPvJ3D2BUufD0GJvbOOSpBu5uG57hf4Dzz-cgAAAA==</wm> t Jetziosk K am
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