NZZ am Sonntag - Neue Zürcher Zeitung

Nr. 4 | 26. April 2015
NZZ am Sonntag
A. L. Kennedy
Der letzte
Schrei – eine
Erzählung
4
Revolution
Liebe und
Sexualität
der 68er
16
Lamya Kaddor
Als Muslimin
gegen den
Islamismus
12
GleissendeWelt
Siri Hustvedts
Roman über
eine Künstlerin
9
Bücher
am Sonntag
Schweizer Geschichte
Neu
Neu
Ein Volkskunde-Buch der Sonderklasse: Die Kulturgeschichte und
kl
Zur
Zu Stärkung der Geistigen Landesverteidigung
hörte der Aufklärungsve
zugleich Regionalgeschichte des
zu
dienst dem Volk genau zu. Jetzt sind
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einige Hundert von Zehntausenden
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gen. Ein Muss für alle Geniesserge
Erläuterungen des Autors.
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innen
und Geniesser.
in
Jürg Schoch
Heiri Scherer (Hrsg.)
«Mit Aug’ und Ohr für’s Vaterland»
Most
Der Schweizer Aufklärungsdienst
Kultur, Architektur, Kulinarik –
von Heer & Haus im Zweiten
das Erbe vom Vierwaldstättersee.
Weltkrieg
2015. 216 S., 160 Abb., gebunden
2015. 352 S., 50 Abb., gebunden.
Fr. 48.– / € 48.–
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Neu
Die Radionachrichten um 12.30 Uhr
Di
sind
für Generationen ein Fixpunkt
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Neu
Mehr
Me als 100 Jahre lang kämpften
die Frauen für ihre politischen
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des Tages. Kurt Witschi war jahrede
Rechte. Mit ihrem Sieg 1971 an
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lang verantwortlich für die Sendunlan
der Urne schrieben sie Geschichte.
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die
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bis heute.
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im Rundfunk während der letzten
90 Jahren nach.
Franziska Rogger
«Gebt den Schweizerinnen ihre
#Schweiz#Geschichte
Kurt Witschi
Geschichte!»
Die Zeit: 12.30 Uhr
Marthe Gosteli, ihr Archiv
90 Jahre Nachrichten im
und der übersehene Kampf ums
Schweizer Radio
Frauenstimmrecht
2015. 232 S., 40 Abb., gebunden
2015. 396 S., 132 Abb., gebunden
Fr. 38.– / € 38.–
Fr. 48.– / € 48.–
nzz-libro.ch
Inhalt
Das ganze Spektrum
zwischen Glück und
Verderben
A. L. Kennedy
(S. 4).
Illustration von
André Carrilho
Im Wochentakt erscheinen zurzeit Bücher über die Bedrohung durch den
«Islamischen Staat» und seine mörderischen Verbündeten (in Syrien, im
Irak, in Jemen, Nigeria, Kenia). Besorgnis bereitet auch die Unterdrückung
der Meinungsfreiheit, sei’s in Saudi-Arabien, Ägypten, Pakistan oder in
Tunesien. Stärker als zuvor – und das ist die gute Nachricht – wächst jedoch
der Widerstand gegen fundamentalistische und totalitäre Tendenzen
innerhalb des Islam. Ob über Dialog, wie ihn die liberale Muslimin Lamya
Kaddor in Deutschland pflegt (Seite 12), oder durch mehr Konfrontation,
wie sie Ayaan Hirsi Ali praktiziert (S. 21), ist zweitrangig. Die Kräfte, die den
Islam von innen heraus erneuern wollen, wachsen. Die hochaktuelle
Debatte beschäftigt auch uns.
In ganz andere Gefilde entführen uns die «mit rüder Zärtlichkeit» erzählten
intimen Geschichten von A. L. Kennedy (S. 4) und Andrzej Stasiuks
literarische Reisen nach Osteuropa (S. 7). Oder der grosse, dunkle Roman
aus der Färöer Inselwelt von Sólrún Michelsen (S. 8). Darin spiegeln sich
die ewigen Themen der Literatur wie Begehren und Zerstören, Sehnsucht
und Tod.
Bücher zum Glück und zum Überleben finden Sie diesmal im SachbuchTeil. Mit dieser Nummer scheidet Geneviève Lüscher aus der Redaktion
aus. Sie zieht für ein Jahr nach Griechenland und schreibt dort einen
Wanderführer. Wir wünschen ihr herzlich alles Gute! Urs Rauber
Belletristik
A. L. Kennedy: Der letzte Schrei
Von Judith Kuckart
6 Ismail Kadare: Die Schleierkarawane
Von Stefana Sabin
Gottfried Schatz: Postdoc
Von Theres Lüthi
7 Andrzej Stasiuk: Der Stich im Herzen
Von Sandra Leis
8 Sólrún Michelsen: Tanz auf den Klippen
Von Verena Stössinger
9 Siri Hustvedt: Die gleissende Welt
Von Regula Freuler
Frits Gierstberg: European Portrait
Photography since 1990
Von Gerhard Mack
10 Elisabeth Binder: Ein kleiner und kleiner
werdender Reiter
Von Charles Linsmayer
11 Leta Semadeni: Tamangur
Von Angelika Overath
19
4
Kurzkritiken Belletristik
11 Christine Brand: Stiller Hass
Von Regula Freuler
Fil: Pullern im Stehn
Von Manfred Papst
Heinrich Detering: Wundertiere
Von Manfred Papst
Wilson Collison: Das Haus am Kongo
Von Regula Freuler
Porträt
12 Muslimische Anti-Islamistin
Urs Rauber sprach mit Religionspädagogin
Lamya Kaddor über einen liberalen Islam
Kolumne
15 Charles Lewinsky
Das Zitat von Hugo von Hofmannsthal
20
21
22
23
Patrick Leigh Fermor (rechts) und ein Kollege kurz vor
der Entführungsaktion 1944 auf Kreta (S. 25).
Kurzkritiken Sachbuch
15 Manuschak Karnusian: Unsere Wurzeln, unser
Leben
Von Urs Rauber
Michael Schulte-Markwort: Burnout-Kids
Von Kathrin Meier-Rust
René Scheu: Weniger Staat, mehr Fernsehen
Von Urs Rauber
Noah Wilson-Rich: Die Biene
Von Geneviève Lüscher
Sachbuch
16 Peter-Paul Bänziger: Sexuelle Revolution?
Karla Verlinden: Sexualität und Beziehungen bei
den «68ern»
Von Walter Hollstein
18 Paul Dolan: Absichtlich glücklich
24
25
26
Maike van den Boom: Wo gehts hier zum Glück?
Von Michael Holmes
Ljudmila Ulitzkaja: Die Kehrseite des Himmels
Von Klara Obermüller
Gabriele Krone-Schmalz: Russland verstehen
Von Victor Mauer
Samuel Scheffler: Der Tod und das Leben danach
Von Angela Gutzeit
Thomas Stauss: Frühe Spielwelten
Von Kathrin Meier-Rust
Ayaan Hirsi Ali: Reformiert euch!
Von Urs Rauber
Peter Dausend, Elisabeth Niejahr: Operation
Röschen
Ulrike Demmer, Daniel Goffart: Kanzlerin der
Reserve
Von Gerd Kolbe
MaxOphüls:SpielimDasein
Von Martin Walder
Klaus Theweleit: Das Lachen der Täter:
Breivik u.a.
Von Sieglinde Geisel
Ahron Bregman: Gesiegt und doch verloren
Von Claudia Kühner
Jürgen Goldstein: Georg Forster
Von Janika Gelinek
Patrick Leigh Fermor: Die Entführung des
Generals
Von Geneviève Lüscher
Anton Tantner: Die ersten Suchmaschinen
Von Monika Burri
Das amerikanische Buch
Brent Schlender, Rick Tetzeli: Becoming
Steve Jobs
Von Andreas Mink
Agenda
27 Lothar Voetz: Der Codex Manesse
Von Manfred Papst
Bestseller April 2015
Belletristik und Sachbuch
Agenda Mai 2015
Veranstaltungshinweise
Chefredaktion Felix E.Müller (fem.) Redaktion Urs Rauber (ura., Leitung), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.)
Ständige Mitarbeit Urs Altermatt, Urs Bitterli, Hildegard Elisabeth Keller, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Sandra Leis, Charles Lewinsky, Andreas Mink, Klara Obermüller,
Angelika Overath, Martin Zingg Produktion Eveline Roth, Björn Vondras (Art Director), Susanne Meures (Bildredaktion), Manuela Klingler (Layout), Korrektorat St.Galler Tagblatt AG
Verlag NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich, Telefon 0442581111, Fax 0442617070, E-Mail: [email protected]
26. April 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3
Belletristik
Erzählungen Die Schottin A.L. Kennedy überzeugt mit 13 neuen Geschichten, in denen es um Liebe,
Schuld und Obsession geht – aber auch um Politik. In jedem Fall haben sie nichts Gemütliches an sich
Wassieschreibt,
glaubenwirsofort
A. L. Kennedy: Der letzte Schrei. Deutsch
von Ingo Herzke. Hanser, München 2015.
201 Seiten, Fr. 28.90, E-Book 22.90.
Von Judith Kuckart
Sie hat Schärfe und Charme und stellt erzählend eine Intimität her, die nie peinlich, aber manchmal anstrengend ist.
Was sie schreibt, glaube ich sofort. Ihren
Figuren nehme ich jedes Gefühl, jede Absurdität ab. Denn sie stellen nichts dar,
sondern sie sind. Selten reden sie dialogisch, sondern meistens in den eigenen
Kopf hinein und sind dabei so ungebremst aufrichtig wie ihre Verfasserin
A.L. Kennedy – nehme ich an.
Alison Louise Kennedy, Jahrgang
1965, ist in Schottland geboren. Sie tritt
bisweilen in Stand-up-Comedies auf und
ist eine scharfe Kritikerin der britischen
Regierung hinsichtlich des Irak-Kriegs.
Worum geht es in den 13 Geschichten im
neuen Erzählungsband «Der letzte
Schrei» (Originaltitel «All the Rage»)?
Mit rüder Zärtlichkeit
Da ist ein Mann, der vögelt seine Putzfrau immer mittwochs, weil Mittwoch
ist. Da ist ein Junge am Meer, der sich von
seiner jungen, zärtlichen Hündin trennen muss, weil Vater und Mutter sich
haben scheiden lassen. Da ist die Soldatin an einem traurigen Nachmittag in
Blackpool, ausgeliefert irgendwelchen
billigen Kirmesvergnügungen, einem
trostlosen Wetter und dem Freund, den
sie nicht mehr liebt, während sie ständig
an ihren smarten Anwalt denken muss,
der sie hasst. In Zypern, im Irak-Krieg,
hat sie Spiele gespielt, mit Männern, die
nackt waren – bis auf die Kapuzen. All
diese Figuren in Kennedys Geschichten
4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. April 2015
sind an den Hüften miteinander verbunden, auch wenn sie nichts voneinander
wissen. Was man haben will, das kriegt
man nicht, und was man haben kann,
das gefällt einem nicht. Das ist auch politisch, behaupte ich.
A.L. Kennedy zieht mit rüder Zärtlichkeit hinein in die Mitte einer Situation, in
die Mitte einer Person. Die nötigen Informationen über Figuren, die andere Autoren umständlich in ihren Text hinein
basteln, liefert bei ihr der Moment, aus
dem heraus sie sprechen.
Mark hätte nicht gedacht, er würde
einmal in Betracht ziehen, sich vor einen
Zug zu werfen. Wie sich herausstellte, lag
er damit falsch. So beginnt die titelgebende Erzählung «Der letzte Schrei». Er
spielt nicht auf Frühjahrsneuheiten aus
der Modebranche an. Es geht um den inneren Dauerschrei bei einer Trennung.
Es geht um den letzten Schrei bei der
Trennung vom eigenen Leben. Mark hat
eine Frau, die ungern ihre Gleitsichtbrille
aufsetzt. Sie meint, sie sehe damit aus
wie ihre Mutter. Alt. Aber sie sieht nicht
alt damit aus, sondern viel schlimmer,
findet Mark. Manchmal denkt er an
Selbstmord als Alternative zur Ehe. Er
hat andere Frauen. Als er gerade vierzig
geworden ist, angelt er sich eine zweiundzwanzigjährige Emily.
Die Beziehung hat alle Ingredienzien,
die auch die Autorin A.L. Kennedy zum
Schreiben bewegen: Liebe, Schuld, Obsession, Politik. Ihren Mark führt Kennedy zweigleisig durch die Geschichte.
Jemand, der ihm sehr nah ist, ihm fast
auf der Schulter sitzt, berichtet aus der
Perspektive der dritten Person. Mark selber schaltet sich als Ich, als kursiv gesetzter Originalton aus dem Innern seines
Kopfes hinzu. So zwingen Er und Ich den
Text in einen Dialog mit sich selbst. Das
klingt kompliziert, ist es aber nicht. Eher
ist es genial, wie nah durch Mehrstimmigkeit die Figur ihrem Leser kommt.
Am Ende habe ich fast vergessen, dass
ich lese, und stehe mit einer dritten, meiner eigenen Stimme, diesem Mark bei,
wenn er seine Emily verliert an den politischen Kampf, an die Erotik der jugendlichen Anarchie, an ein verzweifeltes
Mädchen – oder Linkssein, an spontane
Unaufrichtigkeiten und den Alkohol.
Von aussen betrachtet verliert Mark das
Mädchen wegen seiner misstrauisch
strafenden, bebrillten Ehefrau. Dann
fährt der besagte Zug auf einem Bahnhof
mit lauter Verspätungen durch, ein Zug
oder Sog, mit dem sich die Luft verschliesst.
Einsame Protagonistin
Nichts Breites, Bräsiges, nichts gemütlich Behagliches, nichts, was Paul Nizon
als «Teufelswerk» bezeichnen würde
und damit jene Schriftstellerei meint, die
sich mit Ohrensesselliteratur dem Publikum andient, – also nichts von all dem ist
auch in einer der nächsten Erzählungen
von A.L. Kennedy mit dem Titel «Baby
Blue» zu finden. Eine ältere Frau will offenbar nicht mehr zu Hause sein. Sie hat
sich getrennt, ahnt man, und ist in eine
Landschaft mit viel Schnee gefahren.
Hand in Hand mit ihrer Autorin sucht sie
nach einer Haltung, wie sie das eigentliche Erzählen beginnen oder wo sie im
Leben eigentlich weitermachen könnte.
Die Rede ist von einer Schamschwelle.
Im Leben und beim Schreiben.
Während auf den ersten vier Seiten
die Autorin eingesteht, dass das Schreiben der schönsten Anstrengung bedarf,
wie die Liebe, landet ihre «wintersportliche Oma» in einem Sexkaufhaus.
Mandy kommt und berät detailliert. Sie
ULLSTEIN BILD
scheint zu wissen, was ihre Kundinnen
wünschen. Dann wird es peinlich. Denn
Kondome mit Schokoladengeschmack
haben nichts mit der Grunderfahrung
der einsamen Protagonistin zu tun, die
weiss, dass man bei der Liebe einander
bis aufs Blut entkleidet und jeden Schutz
verliert.
Trotzdem, ich habe beim Lesen dieser
Geschichte «Baby Blue» – Geschichte
einer Trennung – gelacht und bin so
durchlässig geworden für den letzten
Satz, den A.L. Kennedy und die Figur
sich für mich aufgespart haben. «Ich vermisse dich sehr.» Er hat mich getroffen,
der Satz, als hätte ich ihn in dem Moment
selber gesagt. ●
Judith Kuckart ist Schriftstellerin und
Regisseurin. Sie lebt in Zürich und
Berlin. Zuletzt erschien ihr Roman
«Wünsche» (2013).
A.L. Kennedy stellt in ihren Erzählungen eine Intimität her, die nie peinlich, aber manchmal anstrengend ist (2012).
Zürich
Basel
Bederstrasse 4
Güterstrasse 137
Bern
Länggassstrasse 46
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100‘000 antiquarische Bücher
buecher-brocky.ch
Luzern
Aarau
Ruopigenstrasse 18
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Kunst
Kinder
Hel vetika
Freihofweg 2
Sport
Politik
Literatur
Hobby
Reisen
Kochen
u.v.m.
26. April 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5
Belletristik
Erzählungen Die drei neu übersetzten Geschichten des albanischen Autors Ismail Kadare spielen im
Osmanischen Reich, zielen aber auf die Gegenwart
ModelldertotalitärenHerrschaft
Von Stefana Sabin
Angefangen hat er als Lyriker, aber schon
bald wechselte er die Gattung und
schrieb Romane, die in historischer Verhüllung das totalitäre kommunistische
Regime blossstellen und ihn in Europa
berühmt machten: Ismail Kadare, 1936 in
der südalbanischen Stadt Gjirokastra
geboren. Zwar ist er politisch nicht unumstritten, denn als Parlamentsabgeordneter war er Teil des Systems, das er in
seinem literarischen Werk – unter dem
Schutz seiner europaweiten Bekanntheit – kritisierte.
Auch seine Auswanderung nach
Frankreich 1990 kam manchen so unverständlich vor wie sein Beharren auf der
christlichen Identität Albaniens. Aber
auch seine Kritiker begrüssten Kadares
Rückkehr nach Albanien 1999, denn sie
begriffen, dass sie die ganze albanische
Literatur aufwertete. Seitdem hat Kadare
mehrere renommierte Literaturpreise
bekommen – den britischen Man Booker
International Prize, den spanischen Premio Princesa de Asturias, den israelischen Jerusalem-Preis – und wird jedes
Jahr wieder als Kandidat für den Nobelpreis gehandelt.
In deutscher Übersetzung erschienen
Werke von ihm zuerst im DDR-Verlag
«Volk und Welt», dann im Zürcher
Ammann Verlag und immer wieder im
Frankfurter S. Fischer Verlag. Dieser hat
nun einen Band mit drei längeren Erzählungen Ismail Kadares in einer vor-
züglichen Neuübersetzung von Joachim
Röhm aufgelegt.
Alle drei Erzählungen spielen während der osmanischen Herrschaft. In
«Das Geschlecht der Hankonen» wird die
Geschichte der Stadt Gjirokastra als Familienchronik rekonstruiert und die oft
unheilvolle Einmischung der osmanischen Zentralgewalt in die örtlichen Angelegenheiten vorgeführt. Um totalitäre
Machtausübung geht es auch in der Erzählung «Der Festausschuss», die eine
historische Episode verarbeitet: Der Sultan lädt alle albanischen Würdenträger
zu einem grossen Fest ein und lässt sie
von seinen Schergen niedermetzeln.
INTERFOTO
Ismail Kadare: Die Schleierkarawane.
Aus dem Albanischen von Joachim
Röhm. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2015.
207 Seiten, Fr. 29.90.
Ein Redner schürt den Hass zwischen Christen und Muslimen im Balkan;
Holzschnitt 1861.
Aber es ist nicht die Bluttat, die im Mittelpunkt der Handlung steht, sondern
die Befindlichkeit des hohen Palastbeamten, der die Vorbereitungen für das
Fest zu überwachen hat und der zwischen Gehorsam, Angst und Zweifel
wechselt. Und auch in der titelgebenden
Erzählung «Die Schleierkarawane» wird
die Ausübung der staatlichen Zentralgewalt beschrieben: Die «Verteilungsstelle»
im Palast des Scheichs schickt eine Karawane mit «Gesichts- und Körperschleiern
zur Verhüllung der Frauen» in die balkanischen Städte. Auf seinem Weg sieht der
Karawanenführer zum ersten Mal Frauengesichter und ist Frauenblicken ausgesetzt – und zum ersten Mal in seinem
Leben hinterfragt er einen Erlass des Sultans. «Es hatte Sonnen- und Mondfinsternisse gegeben, nun stand die dritte
grosse Dunkelheit bevor: die Verfinsterung der Frauen», denkt er und ist kaum
verwundert, als er verhaftet wird. Denn
die Häscher des Sultans sind überall,
haben überall ihre Informanten, bekommen alles mit und verzeihen nichts.
In den Machtstrukturen des Osmanischen Reichs, hat Kadare einmal gesagt,
lassen sich «sämtliche Mechanismen der
totalitären Unterdrückung, vom römischen Imperium über Byzanz und die
Mongolen bis hin zum Dritten Reich und
dem Sowjetblock» erkennen. Wie in
manchen seiner Romane fungiert das Osmanische Reich auch in diesen drei Erzählungen als Chiffre für einen totalitären zentralistischen Grossstaat. Aber es
ist nicht so sehr der politische Gehalt,
sondern es sind vielmehr die feinen Figurencharakterisierungen und die mitunter phantastischen Geschichten, die
den anhaltenden Reiz dieser funkelnden
Prosa ausmachen. ●
Roman Der Biochemiker Gottfried Schatz zeichnet das Leben eines Postdoktoranden nach
Krieg im Forschungsinstitut
Gottfried Schatz: Postdoc . Styria
premium, Wien 2014. 239 Seiten,
Fr. 28.90, E-Book 18.90.
Von Theres Lüthi
Wer in New York verweilt, verliert seine
Wurzeln und schlägt nur langsam neue.
Für den 29jährigen Österreicher Antal
von Némethy ist dies nicht weiter
schlimm, da er sich seit jeher als Fremder
fühlt. Als er im Jahr 1975 aus Wien als
Postdoc nach New York kommt, um an
einem Forschungsinstitut nach einem
neuen Krebsmedikament zu suchen,
scheint er sein Ziel erreicht zu haben.
Doch der Fabrikantensohn, dem es an
Geld, Aussehen und Intelligenz nicht
mangelt, hadert auch in der Weltmetropole mit dem Leben. Während bei seinen
6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. April 2015
Forscherkollegen das wissenschaftliche
Feuer hell brennt, ist es bei ihm nur am
Glimmen. Das Forschungsinstitut entpuppt sich zudem als «menschenfeindliches Habitat», in dem der Institutsleiter
verschiedene Forscher auf dasselbe Projekt ansetzt, ihnen aber verbietet, sich
abzusprechen. «Forschung war für ihn
kein Gemeinschaftswerk, sondern ein
Krieg, in dem es nur einen Sieger und
viele Besiegte gab.»
Einzig in der Liebe beginnt bei Antal
ein Feuer zu brennen. Doch als seine Geliebte, eine ungarische Forscherin, tot
aufgefunden wird, beginnt für Antal eine
Odyssee, die ihn zwischen New York, seiner heimatlichen Steiermark und Wien
hin und her führt und immer mehr zu
einer Suche nach sich selbst wird. «Er
spürte, dass seit seiner Ankunft in New
York etwas in ihm in Bewegung geraten
war, das fortan nicht mehr zur Ruhe
kommen und ihn entweder zerstören
oder stärken würde.» Ein wiederkehrendes Pochen an seiner linken Schläfe
signalisiert dem feinfühligen SchubertLiebhaber, dass ihn Ängste der Kindheit
einholen.
Gottfried Schatz, renommierter Biochemiker und langjähriger Professor am
Biozentrum der Universität Basel, der
mit seinen wissenschaftlichen Essays ein
breites Publikum zu begeistern vermag,
führt uns in seinem ersten Roman in die
spannende, von Intrigen geprägte Welt
der Wissenschaft. Die Sprache, in der die
Geschehnisse beschrieben werden, ist
elegant, und auch wenn den Dialogen
zuweilen die psychologische Raffinesse
abgeht, ist Schatz ein Buch gelungen, das
den Leser und die Leserin von der ersten
bis zur letzten Zeile packt. ●
HOLLANDS HOOGTE / LAIF
Geschichten Mit Andrzej Stasiuk reisen wir in vergessene Gegenden Osteuropas
«IchliebedieseHässlichkeit»
Andrzej Stasiuk: Der Stich im Herzen.
Geschichten vom Fernweh. Aus dem
Polnischen von Renate Schmidgall.
Suhrkamp, Berlin 2015. 207 Seiten,
Fr. 14.90, E-Book 10.–.
Von Sandra Leis
Er gehört zu den wichtigsten zeitgenössischen Schriftstellern Polens: Andrzej
Stasiuk. Im Jahr 2000 wurde er auch im
deutschsprachigen Raum bekannt mit
der Übersetzung seines Erzählbandes
«Die Welt hinter Dukla». Später folgten
sein Debüt «Die Mauern von Hebron»
(2003) und zuletzt «Kurzes Buch über
das Sterben» (2013); in diesem kleinen
feinen Buch beschwört er die Zartheit
des Vergänglichen und erzählt vier Geschichten von Abschied und Tod.
Stasiuk schreibt nicht nur Bücher – seit
zwanzig Jahren verlegt er sie auch,
zusammen mit seiner Frau Monika
Sznajderman. Und er schreibt Literaturkritiken und Essays für die grossen polnischen Tageszeitungen, für «L’Espresso»,
die «Süddeutsche Zeitung», die «FAZ»
und «Lettre International». All das klingt
nach einem bestens vernetzten Grossstadtmenschen, dem Bildung bereits als
Kind auf dem Silbertablett präsentiert
worden ist. Doch Andrzej Stasiuk ist
Autodidakt mit Grundschulabschluss. Er
kam 1960 in einem Arbeiterviertel in
Warschau zur Welt, war aktiv in der polnischen pazifistischen Oppositionsbewegung, desertierte aus dem Militär und
sass dafür eineinhalb Jahre im Gefängnis. Zu Hause ist er seit vielen Jahren in
einem Bergdorf in den Niederen Beskiden im südlichen Polen, wo er Schafe
und Lamas züchtet.
Gleichzeitig ist er ein Reisender, dem
das Unterwegssein zur Lebensform geworden ist. «Es zieht mich (...) nach
Osten. Ich kann es nicht ändern. Seit ich
denken kann», schreibt Stasiuk in seinem neuen Buch «Der Stich im Herzen.
Geschichten vom Fernweh». In 50 Kurzgeschichten nimmt er uns mit in wenig
besiedelte und vergessene Gegenden an
der polnisch-ukrainischen Grenze; er
reist durch die sibirische Steppe, fährt bis
nach China und in die Mongolei und
durchquert die Wüste Gobi. Er beschreibt
die Armut in Albanien und Rumänien
und besucht das Dorf, in dem die Schriftstellerin und spätere Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller aufgewachsen
ist. Er erzählt vom Mädchen, das Paul
Celan liest und am Abend Nazi-Gesänge
des betrunkenen Vaters hört, und er erzählt von der erwachsenen Frau, gegen
die Ceausescu postum in gewisser Weise
einen «vampirhaften Sieg» davongetragen habe. «Er hat sie gebissen und fürs
ganze Leben gezeichnet.»
Freiheit vor Korrektheit
Und natürlich schreibt Stasiuk immer
wieder über sein eigenes Land – über
Polen. Die Geschichte «Ramsch aus
Beton» beginnt so: «Ach, ich liebe die
Hässlichkeit meines Landes.» Die alles
beherrschende Farbe im Kommunismus
war Grau, und als diese Herrschaft zu
Ende war, hätten die Polen reflexartig ein
Farbengeschäft aufgesucht. «Dementsprechend sieht jetzt mein Heimatland
aus: als hätte ein Affe sich mit dem Pinsel
ausgetobt.» Doch ihm, so Stasiuk, imponiere diese Eigenmächtigkeit, diese Freiheit von ästhetischer Korrektheit.
Als ein Symbol für Polen beschreibt er
die kaum befahrene Strasse Nr. 816: Sie
beginnt, von Süden her betrachtet, in
Zosin und endet in Terespol. Auf der
einen, der westlichen Seite haben die Nationalsozialisten ihre Todesfabriken gebaut, die andere Strassenseite steht für
den Kommunismus. Beides gehöre zu
seinem Land, ebenso wie «unser ewig
unschuldiges Polentum».
Andrzej Stasiuk ist weder Chronist
noch Reiseschriftsteller, er ist ein Beobachter auf Zeit, und er hat eine Vorliebe
für die Peripherie. Die Metropolen wür-
«Als hätte ein
Affe sich mit dem
Pinsel ausgetobt»:
Plattenbauten
faszinieren Andrzej
Stasiuk (Katowice,
Polen, 2005).
den sich immer stärker angleichen: überall die gleichen Hotelketten, dieselbe
Werbung, die gleichen Bankomaten,
Biersorten, Parkuhren und dasselbe Repertoire in den Kinos. Bald werde man
die Metropolen nur noch an ihren hoch
geschätzten, toten Sehenswürdigkeiten
unterscheiden können.
Grandioser Stilist
In einem Gespräch mit der «FAZ» sagte
der Autor, dass ihn der Westen langweile. «Ich finde es spannender, an die russisch-chinesische Grenze zu fahren und
auf der einen Seite zu sehen, wie der
Kommunismus unsere wunderbare Erde
verwüstet hat, und gleichzeitig auf die
andere Seite, nach China, zu blicken und
zu beobachten, wie die Welt in Zukunft
aussehen wird.»
Geordnet sind die Geschichten nach
Jahreszeiten, und Andrzej Stasiuk entpuppt sich als grandioser Stilist des Wetters. Wenn etwas die Osteuropäer wirklich beherrsche, dann seien es die Wetterveränderungen, die Hoch- und Tiefdruckgebiete; Juli und August findet er
eintönig, ausser es zieht ein Gewitter auf.
Dafür schreibt er herrliche Oden an den
Mai und an den September und überhaupt an das Naturwunder der Jahreszeiten, und man glaubt ihm aufs Wort,
wenn er sagt, die Tropen würden ihn meteorologisch langweilen.
Immer wieder schreibt Andrzej Stasiuk in seinen Büchern über Werden und
Vergehen, über Abschied, Sterben und
Verlust. Gegen Ende des Buches gibt er
preis, warum er schreibt: «Das Schreiben
bietet die Chance der Rückkehr.» Zu
jedem Tag, jedem Sieg und jeder Niederlage. Indem er ein Ereignis zu einer Erzählung verdichtet, will er das Leben
verdoppeln, verdreifachen, im besten
Fall vervielfachen. Die Literatur wird
ihm zum Multiplikator des Lebens.
Gleichwohl hat er den Tod stets im Blick
– gäbe es den Tod nicht, Andrzej Stasiuk
hätte keinen Grund zu schreiben. ●
26. April 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7
Belletristik
Roman Die färöische Autorin Sólrún Michelsen überzeugt mit einer beklemmenden Erzählung, die zwei
Frauenschicksale in ihrer archaischen Inselheimat gestaltet
VomRegenbogen
hinterdenGitterstäben
Sólrún Michelsen: Tanz auf den Klippen.
Aus dem Färöischen von Inga Meincke.
Unionsverlag, Zürich 2015. 160 Seiten,
Fr. 29.90.
Von Verena Stössinger
Als Kind, fällt ihr später wieder ein, hat
sie einmal «ein kleines Stück von einem
Regenbogen entdeckt. Sie hatte versucht, es mit Zeigefinger und Daumen
abzumessen. Es war nicht grösser als ein
Ohrenkneifer.»
Das «Gitter-Mädchen» ist eine der
Hauptfiguren im Roman von Sólrún Michelsen. Es sah durch Gitterstäbe hindurch die Latten des Verschlags, in dem
sie tagsüber eingesperrt war. Nachts war
sie im Zimmer im Dachstock des elterlichen Hauses, weggesperrt auch hier –
und den Grund wusste sie selbst: «Ich
laufe weg.» Draussen spielten die anderen Kinder, und manchmal stellte sie sich
dann aufs Fensterbrett – daran erinnert
sich auch die gleichaltrige Ichfigur, die
zu diesen «anderen» gehörte: «Sie zog
das Unterhemd hoch und zeigte uns
ihren Bauch. Manchmal zog sie auch die
Unterhose runter. Das gab ein grosses
Gejohle, bis ein Arm sie vom Fensterbrett
herunterriss.»
Sehnsucht und Tod
Wir befinden uns in einem färöischen
Dorf. Es sind die fünfziger Jahre, die
Leute sind arm, die Tage klamm, die Regeln streng. Für alle – und doch sind die
Leben der zwei Mädchen kaum zu vergleichen: Die Ichfigur ist integriert in Familie, Kameradenkreis und Nachbarschaft, wohingegen das «Gitter-Mädchen» geschlagen wird und einsam
bleibt; dennoch entwickelt sich zwischen ihnen eine vorsichtige Nähe.
Im ersten Teil des Romans, der wie ein
Mosaik aus einzelnen Texten gefügt ist,
sehen wir die beiden in ihrer Kindheit.
Um sie herum die Leute vom Dorf: der
Arbeitervater, der zäh um etwas höhere
(Hunger-)Löhne kämpft; die abgearbeitete Mutter, die nach dem Kloeimerleeren
draussen «An der schönen blauen
Donau» murmelt und in Strümpfen vor
sich hin tanzt; der lüsterne Fischer; der
Kaufmann, der manchmal sogar Schulden erlässt, oder Fías Mann, der die neugeborenen Kätzchen umbringt. Dichte
Bilder stellen sie uns vor Augen. Die Figuren sind scharf gezeichnet, ihre Taten
werden jedoch nicht hinterfragt und
auch von der Icherzählerin nicht gewertet. Das Eigensinnige wird ihnen belassen – es ist, ahnen wir, ihre Art, mit der
harschen Realität überhaupt zurechtzukommen und mit ihren Sehnsüchten
und Nöten.
8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. April 2015
Die kargen FäröerInseln bilden den
Hintergrund für den
dunkel leuchtenden
Roman von Sólrún
Michelsen. Hier die
Küste von Gasadalur
auf der Insel Vagar.
Zuletzt, im dritten Teil, treffen sich die
beiden «Mädchen» nach Jahren in einer
Stadt im Ausland wieder. Die Ichfigur ist
Studentin und sucht nach ihrem Weg ins
Leben hinein, das «Gitter-Mädchen» dagegen scheint ihn schon gefunden zu
haben. Sie ist auffallend attraktiv und
spielt zwischen depressiven Abstürzen
und Selbstzerstörungsattacken gnadenlos souverän mit Lebensentwürfen,
Männern und Macht. Von der Vergangenheit will sie nichts mehr wissen, jede Erinnerung lähmt sie. Bei der letzten Begegnung der beiden ist sie aber sehr
dünn, anhänglich und hat blaue Flecken
am Arm – welcher Gewalt ist sie ausgesetzt? Oder nimmt sie Drogen? Bringt sie
sich gar um?
Der Text lässt vieles offen. Und er reichert im Mittelteil die Geschichte der
beiden an mit zehn Bildern von gesellschaftlichen Aussenseitern. Bilder, die
paarweise zusammengehören und dabei
nach der Aussenperspektive (aus der
Sicht der Ichfigur) in die jeweilige Innenperspektive wechseln. Sie zeigen den
Jungen, der ganz allein übers Meer geschickt werden soll, um gesund zu werden; Samuel, der verzweifelt versucht,
das «eine Bild» zu malen, das ihn erlösen
kann, oder die alte Mutter, die ihre Tochter über den Tod hinaus nicht loslässt.
Alle diese Figuren – das erschliesst die
aufmerksame Lektüre zum Teil explizit
– haben die Protagonistinnen mit geprägt
und variieren das eigentliche Thema des
Romans: Begehren und Zerstören; Sehnsucht und Tod.
Sólrún Michelsen erzählt fast beiläufig, aber anschaulich und klar – selbst da,
wo die «Mädchen» einen Ausflug ins Esoterische unternehmen. Man kann vieles
in ihren Text hineinlesen, kann ihn auch
psychologisieren und die beiden Figuren
etwa als Hälften einer einzigen, gespaltenen Persönlichkeit sehen, aber das muss
man nicht. Vielleicht sollte man eher
etwas aus ihm herauslesen: Was es heissen kann, zum Beispiel, nur «ein kleines
Stück von einem Regenbogen» im Himmel über sich zu haben.
Hungrig nach Schreiben
«Tanz auf den Klippen» ist ein äusserlich
schmaler, dabei grosser, dunkel leuchtender Roman; schon jetzt ein Hauptwerk der jüngsten färöischen Literatur,
übersetzt auch ins Dänische und Englische. Die 1948 geborene und bei Tórshavn aufgewachsene Autorin hat dafür
einen langen Weg zurückgelegt. 1994 erschien ihr Erstling «Argjafrensar», leicht
fiktionalisierte, muntere Kindheitsepisoden – in denen übrigens das «GitterMädchen» auch schon vorkommt und
Ebba heisst –; danach kamen mehrere
Kinderbücher und Erzählungen. «Tanz
auf den Klippen» («Tema við slankum»,
2007) war ihr erster Roman; seither sind
Gedichte, Erzählungen und ein weiterer
Roman erschienen. Jetzt, wo sie endlich
Zeit dafür hat, schreibt sie viel – «ich hungerte richtig danach», sagt sie; jahrzehntelang war sie Mutter und Familienfrau
gewesen und hat mit ihrem Mann eine
Firma aufgebaut und geleitet. ●
Roman Siri Hustvedts neues Buch handelt von einer Künstlerin, die sich gegen Frauenhass wehrt
HarrietmöchtelieberHarrysein
Siri Hustvedt: Die gleissende Welt. Aus
dem Amerikanischen von Uli Aumüller.
Rowohlt, Reinbek 2015. 491 Seiten,
Fr. 33.90, E-Book 21.–.
Von Regula Freuler
«Es gibt viele Geschichten und ebenso
viele Gründe, das Weibliche hinter sich
zu lassen und das Männliche anzunehmen», notiert die Protagonistin von Siri
Hustvedts neustem Roman «Die gleissende Welt». Die Gründe sind hinlänglich
bekannt, und es dauerte lange genug, bis
die Forderung nach geschlechtsunabhängiger Anerkennung – sei es in Form
von Lohn, Ruhm oder einfach nur, in seiner Meinung ernst genommen zu werden – offen geäussert werden konnte.
Wie sehr oder wie wenig der Forderung
bis heute nachgekommen wurde, ist
nach wie vor Gegenstand nicht nur von
realpolitischen Diskussionen, sondern
auch von fiktionalen Werken wie zum
Beispiel Romanen.
Mit der Littérature engagée ist es allerdings so eine Sache. Sie bewegt sich auf
dem gefährlich schmalen Grad von Poesie und Anliegen. Die 60jährige amerikanische Schriftstellerin und Essayistin Siri
Hustvedt macht diesen Balanceakt transparent – allerdings zulasten der Dichtkunst.
Das Buch handelt von Harriet Burden,
einer Künstlerin in New York, die ein
Leben im Schatten verbracht hat: in
jenem ihres 22 Jahre älteren Ehemannes,
des erfolgreichen Kunsthändlers Felix
Lord, der sie sowohl mit Männern wie
mit Frauen betrog, während sie zu Hause
die beiden Kinder aufzog und sich immer
wieder Stunden für eigene Interessen
(die Philosophie, die Kunst) stahl. Es sind
Jahre des konstanten Scheiterns, denn in
der New Yorker Kunstszene galt sie als
kleines Licht, und an gesellschaftlichen
Anlässen war sie ihrem Mann nicht die
distinguierte Gattin, sondern ein mit philosophischen Theorien um sich werfender Trampel. Als Felix stirbt, nimmt Harriet – von engsten Freunden Harry genannt, was zu ihrer hünenhaften Gestalt
passt – die Kunst wieder ernsthaft auf.
Und sie hat einen Plan: Sie schlüpft in die
Maske von drei Künstlern, die Harriets
Werke als ihre eigenen ausgeben. Und
siehe da: Auf einmal sind die Galeristen
und Kritiker begeistert. Doch einer der
drei Künstler, ein Mann namens Rune,
beansprucht ebenfalls die Autorschaft
auf einige der Werke. Harriet Burden
steht erneut vor dem Problem, dass man
sie nicht ernst nimmt.
«Die gleissende Welt» ist eine Kombination unterschiedlicher Textsorten: Tagebuchnotizen, Interviews und Berichte
von verschiedenen Figuren, allesamt fiktional, ausser natürlich die Namen der
erwähnten Geistesgrössen (u.a. hat Siri
Hustvedt selbst einen Cameo-Auftritt).
Die ebenfalls fiktionale Herausgeberschaft namens I.V. Hess versucht aufgrund von Text- und Zeitzeugen herauszufinden, wie es sich in der Causa Rune
tatsächlich verhält. Doch offenbar existieren keine eindeutigen Beweise, und so
stirbt Harriet Burden, ohne ihr Maskenspiel ordentlich gewonnen zu haben.
Das klingt nach einer an sich spannenden Ausgangslage, von der aus sich über
viele Aspekte eines Frauenlebens nachdenken liesse. Doch Hustvedt, die sich
schon mehrfach mit dieser Thematik befasst hat, dreht sich diesmal im Kreis.
Nun könnte man einwenden, dass genau
das Harriet Burdens Leben widerspiegelt. Aber man würde es schon gerne auf
weniger platte Weise lesen. Zwei Beispiele. Das Buch beginnt mit dem unoriginellen Satz: «Alle intellektuellen und künstlerischen Unterfangen (...) schneiden in
der Meinung der Menge besser ab, wenn
die Menge weiss, dass sie hinter dem
grossen Werk oder dem grossen Schwindel einen Schwanz und ein Paar Eier ausmachen kann.» Daneben muss man viel
verwuselten oder gar tautologischen
Kitsch über sich ergehen lassen: «Die Erinnerung beginnt sich selbst aus der
Wolke des Nichtwissens herauszubilden.
Das Formlose nimmt Form an, und bald
gibt es eine erstickte Artikulation – ahnungsvoll und bedeutsam.»
Siri Hustvedt erweist sich als brillante
Erfinderin fiktionaler Charaktere, die sie
mit realen verknüpft. Aber mit der Sprache, die sie Harriet Burden verleiht, unterminiert sie die Glaubwürdigkeit und
Fähigkeit ihrer Protagonistin. Und sie
langweilt die Leserin. ●
Porträts Wie Familien sich inszenieren
Würden wir uns so fotografieren lassen? Jane Hamlyn
und James Lingwood haben sich 2001 mit ihren drei
Kindern zum Familienporträt am Esstisch versammelt.
Besonders glücklich schauen sie nicht drein. Jane sitzt in
der Mitte, sie hält den Alltag vermutlich zusammen und
zeigt, wie viel Kraft sie das kostet. Sie hält sich an der
Hand ihres Sohnes ebenso sehr fest, wie dieser ihre
Nähe sucht. Thomas Struth stellt es den Porträtierten
meist frei, wie sie sich positionieren wollen, und bestimmt hinterher, wie er diese Konstellation festhalten
will. «Jede Familie ist wie ein epischer Roman von
Thomas Mann», sagt der Fotograf aus der Düsseldorfer
Schule; seine Fotografien seien «Momentaufnahmen
eines unsicheren Friedens». Mit seinen Porträts von
Familien aus vielen Kulturen lässt er Unterschiede und
Ähnlichkeiten aufscheinen. Solche verdeutlicht ein
Band, der der europäischen Porträtfotografie seit 1990
gewidmet ist. In den Einzel-, Paar- und Gruppenporträts
wird das Bedürfnis nach Selbstinszenierung zur Signatur eines Zeitalters. Gerhard Mack
Frits Gierstberg (Hrsg.): European Portrait Photography since 1990. Prestel 2015. 240 S., 200 Abb., Fr. 79.90.
26. April 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9
Belletristik
Roman In ihrem neuen Buch erinnert sich Elisabeth Binder an ihre dörfliche Kindheit. Poetisch dicht
evoziert sie das Leben einer Thurgauer Fabrikantenfamilie
DerunvergleichlicheGeschmack
desPausenbrots
Elisabeth Binder: Ein kleiner und
kleiner werdender Reiter. Spuren einer
Kindheit. Amato-Verlag, Unterstammheim 2015. 200 Seiten, Fr. 29.–.
Die Sehenswürdigkeiten Roms in «Der
Nachtblaue» von 2000, der Zürcher Sommer am Bellevue in der «Sommergeschichte» von 2004, die herbstliche
Melancholie der Lagunen Venedigs in
«Orfeo» von 2007, ein Bergeller Dorf voll
absonderlicher Gestalten in «Der Wintergast» von 2010: Zu Elisabeth Binders ersten vier Romanen fügten die Schauplätze
jeweils einen Interesse heischenden,
strukturierenden und stimulierenden
Aspekt hinzu. Schon in «Der Nachtblaue»
taucht aber auch der Gedanke auf, einmal einen Roman über einen Ort zu
schreiben, dem alles äusserlich Spektakuläre fehlt und der mittels der Kraft der
Erinnerung dennoch zu einer gewissen,
wenn auch eher sublimen, seelischen
Bedeutung gelangen würde. Die Protagonistin will in Rom nämlich die Distanz
finden, die sie für einen Roman über das
Dorf ihrer Kindheit braucht.
Mit «Ein kleiner und kleiner werdender Reiter» legt Elisabeth Binder zehn
Jahre später nun ein solches Buch vor
und ist sich bewusst, dass sie sich nicht
mehr auf die Berühmtheit des Schauplatzes stützen kann: «Gewöhnlicher als
dieses Dorf, wo ich ohne Unterbruch aufgewachsen bin, langweiliger als meine
Herkunft aus diesem Dorf konnte überhaupt nichts sein.» Dennoch verbindet
etwas diesen Roman mit den früheren:
das Flanieren, das Spazieren, das Herumgehen, das für diese Erzählerin ganz
offenbar die bewegliche Struktur ist, aus
der heraus sie ihre Geschichten in zyklischer Bewegung entwickelt.
Archäologin ihrer selbst
Das Dorf B., wo die Autorin ihre Kindheit
verbrachte, hat sie jahrzehntelang nicht
wieder betreten, die Verwandten sind
weggezogen, und so gerät sie, als sie es
zwei Jahre lang wieder regelmässig aufsucht, wie eine Archäologin in eigener
Sache in einen völlig fremd gewordenen
Ort. Es kommen einem Ida Bindschedlers «Turnachkinder» in den Sinn bei dieser Thurgauer Fabrikantenfamilie in den
fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts:
der Vater, der eine Fabrik leitet, wo ihn
die Kinder im Büro aufsuchen dürfen,
der Haushalt mit den vier Töchtern in
einem Haus am Dorfrand, die gehobene
Lebenssituation, die Begegnung mit der
Natur und Landschaft. Vieles wird anschaulich neu evoziert: die Festlichkeit
der Sonntagmorgen, das Pausenbrot, die
Schulweihnacht, die Kalligrafiestunde,
10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. April 2015
KEYSTONE
Von Charles Linsmayer
Der Rundgang der
Icherzählerin im Dorf
ihrer Kindheit weckt
Erinnerungen an eine
Frau, die sich Velo
fahrend emanzipierte;
Sonntagsausflug im
Thurgau (1938).
die erste Verliebtheit, aber unrelativiert,
eins zu eins, aus der Sicht des Kindes
selbst, wie Ida Bindschedler das 110
Jahre zuvor noch konnte, vermag die Autorin nur ganz selten und bruchstückhaft
zu erzählen. Getragen ist die Darstellung
vielmehr von den Beobachtungen und
Reflexionen der durch ihr Kindheitsdorf
flanierenden Erwachsenen, die immer
wieder etwas von früher aufblitzen lässt,
aber nie völlig vom Zustand abstrahiert,
den sie vorfindet, von der Situation ein
halbes Jahrhundert später, wo vom ehemaligen Zauber, wenn überhaupt, nur
noch ganz kümmerliche Reste vorhanden sind.
Man begegnet beeindruckenden Figuren in diesem Buch: dem «Jägerfreund»,
der dem Mädchen die Schönheit des Waldes erschliesst, der Frau Näf, die sich
Velo fahrend emanzipiert, der Frau mit
den Apollo-Hündchen, die einer geheimnisvollen kynologisch-antikisierenden
Dimension des Buches angehört, handelt
es sich bei dem Freund, mit dem zusammen die Erzählerin die Kinderheimat
durchwandert, doch, wie man erst ganz
am Schluss errät, um einen Hund aus
dem apollinischen Griechenland!
Eindrückliche Vaterfigur
Im Mittelpunkt aber steht unangefochten der Vater, der schon im Titel Erwähnung findet. Sein früher Tod, als die spätere Erzählerin gerade einmal acht Jahre
zählt, ist eines der erschütterndsten Kapitel des Buches, da «brach eine Welt zu-
sammen». Dennoch ist er aus den Vorstellungen der Tochter fast ganz verschwunden, und sie fragt sich ernsthaft,
ob sie zu ihm «womöglich gar keine richtige Beziehung hatte?»
Es ist dann aber nicht das Dorf, das ihn
ihr wieder näher bringt. Es sind die Briefe, die er als junger Mann seiner Verlobten schrieb, und es sind die dunklen,
schmerzlichen Seiten, die ihn noch am
ehesten präsent machen: die latenten
Depressionen, die sich dem Kind einmal
ganz plötzlich offenbarten, als es ihn
weinend auf der Kellertreppe fand.
Schon denkt sie daran, sich Zugang zu
den Krankenakten zu verschaffen, als sie
auf einmal weiss, wie sie sich dem Vater
am schönsten nähern kann: «War er nicht
doch am sichersten da zu finden, wo sein
Bild noch immer eingeprägt sein musste:
in mir?»
So hat der Rundgang durch den Ort
der Kindheit letztlich gezeigt, dass die
eigentliche, wirklich verlässliche Auskunft über das Vergangene und über
Menschen, die uns lieb waren, nicht an
einem bestimmten Ort zu finden ist,
sondern in dem, was unsere Erinnerung
davon festgehalten hat. Diese Erinnerung aber ist es andererseits auch, die
einem Ort wie diesem Kindheitsdorf jenseits alles äusserlich Spektakulären
etwas zu vermitteln vermag, was trotz
allem einen eigenwilligen Zauber auf
einen ausübt und den Reiter, der sich
immer weiter entfernt, zu einer unvergesslichen Gestalt macht. ●
Roman Die rätoromanische Autorin
Leta Semadeni schreibt über ein wenig
idyllisches Engadin
Träume aus Teer
Kurzkritiken Belletristik
Christine Brand: Stiller Hass.
Kriminalroman. Landverlag,
Langnau 2015. 464 Seiten, Fr. 30.90.
Fil: Pullern im Stehn. Die Geschichte
meiner Jugend. Rowohlt, Reinbek 2015.
288 Seiten, Fr. 15.90, E-Book 11.–.
Da ist sie wieder, die forsche, von ihrem
Beruf als Fernsehreporterin beseelte
Milla Nova. Derart beseelt, dass sie sich
schon in den letzten beiden Kriminalromanen der «NZZ am Sonntag»-Redaktorin Christine Brand in brenzlige Situationen manövriert hat. Diesmal ist sie zufälligerweise selbst dabei, als im Bundeshaus eine Bombendrohung eingeht. Sie
richtet sich gegen den Grünliberalen
Konrad Sutter. Es handelt sich um einen
Fehlalarm, aber kurz darauf wird der populäre Politiker auf unschöne Weise aus
dem Leben befördert. Milla Novas
Freund Sandro Bandini, nun bei der Bundespolizei tätig, ermittelt. Als Spuren zu
einem Kinderpornoring auftauchen und
ein rätselhafter Suizid geschieht, kann es
die Vollblutjournalistin nicht lassen, Informationen von Sandro für ihre Sendung zu verwenden. Ein spannender
Schmöker, wie stets bei Christine Brand
mit sozialkritischer Färbung.
Der Comiczeichner und Bühnenkünstler
Fil, der 1966 als Philip Tägert in Berlin
Tegel geboren wurde, erzählt in seinem
ersten Roman die Geschichte seiner Jugend: frech, witzig, unbekümmert, burlesk und mit viel Selbstironie. Was passiert, ist allerdings gar nicht lustig: Fil
wächst im Märkischen Viertel auf, einem
Beton-Ghetto, wird gemobbt, läuft weg
von zu Hause, fliegt von der Schule,
säuft, kifft, ist unglücklich verliebt und
stets in akuter sexueller Not, gerät in die
Psychiatrie und soll von Hippie-Sozialarbeitern auf einem Nordsee-Segler resozialisiert werden. Doch er behauptet
sich, indem er sich selbst nicht weniger
spöttisch betrachtet als seine Umwelt.
Und natürlich ist er ein verkappter Romantiker. Mitunter erinnert er an Salingers «Fänger im Roggen». Fils Sprache ist
einfach, direkt und explizit. Nichts für
empfindsame Seelen, für Pubertierende
jeden Alters jedoch ein Heidenspass.
Heinrich Detering: Wundertiere. Gedichte.
Wallstein, Göttingen 2015. 94 Seiten,
Fr. 29.90, E-Book 18.90.
Wilson Collison: Das Haus am Kongo.
Roman. Louisoder, München 2015.
258 Seiten, Fr. 25.40, E-Book 12.–.
Heinrich Detering, Professor für Literatur an der Universität Göttingen und Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, ist ein Poeta doctus –
aber einer, der das Leichte liebt. Das verbindet ihn mit Hans Magnus Enzensberger. Gewiss: Seine Lyrik ist bildungsgesättigt und lässt oftmals klassisches
Formbewusstsein aufblitzen. Doch sie ist
nie gestelzt. Vielmehr erinnert sie in
ihrem beiläufigen Duktus an chinesische
Tuschzeichnungen. Thematisch höchst
vielfältig steht Naturlyrik neben Reiseimpressionen, Philosophie neben Technikgeschichte. Deterings Verse sind von
Neugier und Staunen geprägt. Wie schon
in den Bänden «Schwebstoffe» (2004),
und «Wrist» (2009) beweist der umtriebige Forscher, Lehrer und Herausgeber,
dass er auch Momente des Innehaltens
und der Selbstvergessenheit kennt. Deshalb kann er so anmutig schreiben.
Als Wilson Collisons Roman 1934 erschien, waren exotische Kulissen beliebt.
Karen Blixen schrieb «Jenseits von Afrika», als «Lady of the Tropics» brachte
Hedy Lamarr die Männer um den Verstand, Hemingway schoss Grosswild in
Kenya. Der Amerikaner Collison (1893–
1941), der mit «Up in Mabel’s Room»
(1919) und «Red Dust» (1932) sowohl
Broadway wie Hollywood romantische
Stoffe geliefert hatte, legt mit «Das Haus
am Kongo» eine Ménage à quatre vor:
Die kesse Dolly mit dem losen Mundwerk und der Beau Bill ziehen als
Trickbetrügerduo durch die Kolonien.
Als ihr Schiff am Kongo strandet, finden
sie beim jungen Arzt Warwick und seiner
schönen, aber einsamen Frau Aline Unterschlupf. Es kommt, wie es kommen
muss: zum Paartausch. Wer Schmonzetten aus Hollywoods goldenem Zeitalter
liebt, wird mit diesem Buch glücklich.
Leta Semadeni: Tamangur.
Rotpunktverlag, Zürich 2015. 143 Seiten,
Fr. 26.90, E-Book 18.90.
Von Angelika Overath
Tamangur ist eine Moorlandschaft im
Unterengadin, über die sich Europas
höchstgelegener Arvenwald erstreckt.
Für die Romanen wurde er zum Symbol
für den Kampf um ihre Sprache und Kultur. Tamangur ist aber auch ein mythischer Ort, das Paradies der toten Jäger. In
diesen Echoraum stellt die Lyrikerin Leta
Semadeni (die ihre Gedichte auf Romanisch und Deutsch schreibt) ihren ersten
Roman. Der Text ist ein kühner Gegenentwurf zu jeder Engadin-Idylle.
In 73 intensiven Kurzkapiteln handelt
er vom Leben der eigensinnigen Grossmutter und ihrer kleinen Enkelin. Beide
haben auf ihre Weise am Tod zu tragen.
Die Grossmutter hat den Grossvater verloren, den wunderbaren Jäger mit den
seidenen Füssen und den grossen Händen: so gross, dass ihre schönen Brüste
hineinpassten. Und das Kind hätte auf
den kleinen Bruder aufpassen sollen,
aber unversehens wurde er im Fluss
davongetragen. Als es später fragt, wohin
der Fluss fliesse, sagt die Grossmutter:
ins Schwarze Meer. Die Witwe und das
von den Eltern verstossene Mädchen bilden mit Hund Chan nun eine kleine Familie. In ihrer Wirklichkeit gelten Erinnerung und Imagination mehr als äusserliche Fakten. Träume sind intensiv
wie der Teer, den das Kind vom warmen
Asphalt aufnimmt und kaut.
Der Weg vom Birnbaum vor dem Haus
zum Avocadobaum in Südamerika, wo
die Grossmutter einst lebte, ist ein Wimpernschlag; der blonde Zopf der rennenden Frau im Fernsehen wird zum blonden Schopf des Bruders in den Wellen.
Das Dorf ist ein Figurenkabinett: mit der
unhöflichen Ziege, die die Miene des Friseurs hat, dem schwulen Kaminfeger,
der wie die Frau Doktor über die Grenze
nach Österreich fährt (sie geht billig
einkaufen, er zu einem Liebhaber), der
Schneiderin mit den Krokodilsäuglein,
die Geschichten stiehlt, oder dem zierlichen Kasimir, der seine Seele mit Rotwein putzen muss. Und vor allem ist da
Else, die in der Alpenrose Elvis (Presley,
versteht sich!) kennen- und liebengelernt hat. Und ihn nun gern in seinem
glitzernden Tarnanzug zur Grossmutter mitbringt, etwa an Weihnachten, wo dann alle zusammen
den grossen gefüllten Karpfen essen
und zur Schallplatte tanzen.
Tamangur ist eine Dorfgeschichte, berührend, ohne kitschig zu sein, witzig,
ohne Überheblichkeit.
Die Empathie für die
Vielfalt des kleinen
Lebens
überträgt
sich als ein Glück auf
die Leser. ●
Regula Freuler
Manfred Papst
Manfred Papst
Regula Freuler
26. April 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11
Porträt
Die Religionspädagogin Lamya Kaddor ist eine der einflussreichsten Musliminnen Deutschlands.
Sie vertritt einen liberalen Islam und bekämpft latenten Islamhass ebenso wie den islamistischen
Fundamentalismus. Urs Rauber hat die engagierte Mittlerin in Leipzig getroffen
Muslimische
Anti-Islamistin
Wenn Lamya Kaddor in einer Diskussionsrunde
sitzt, fasst sie sich kurz. Doch was sie zu sagen
hat, kommt beim Publikum hörbar gut an. So
auch an diesem Abend im März in der Sächsischen Akademie der Wissenschaften in Leipzig.
Der Saal ist überfüllt, das Podium – wie häufig
beim Thema Islam – von älteren deutschen Herren besetzt, vier an der Zahl, alle als «Experten»
vorgestellt. Jeder äussert sich wortreich zu einer
Frage, die ihn kaum existenziell betrifft, und zu
einer Glaubensgemeinschaft, der er selbst nicht
angehört. «Was passiert in der arabischen Welt?»
heisst die Veranstaltung der Leipziger Buchmesse. Als einzige Person, die einen unmittelbaren,
doppelten Bezug zum Thema hat, sitzt Lamya
Kaddor in der Runde: Die 37-jährige Deutsche ist
Tochter syrischer Einwanderer und gläubige
Muslimin. Und sie hat Schüler unterrichtet, die
– zu ihrem Schrecken – in den Dschihad nach
Syrien gezogen sind.
Als die Rede auf den IS, den «Islamischen
Staat», kommt, seufzt Kaddor und bittet die vier
Nichtmuslime, doch nun endlich vom «soge-
Lamya Kaddor
Lamya Kaddor, 1978 in Westfalen (D) als Kind syrischer
Einwanderer geboren, ist
deutsche muslimische Religionslehrerin, Islamwissenschafterin und Buchautorin.
Sie präsidiert den von ihr
2010 mitgegründeten Liberal-Islamischen Bund und
lebt in Duisburg. Der breiteren Öffentlichkeit wurde sie
bekannt mit den Publikationen «Der Koran für Kinder und Erwachsene»
(C. H. Beck, München 2008), «Muslimisch, weiblich,
deutsch! Mein Weg zu einem zeitgemässen Islam»
(C. H. Beck 2010) und «Der Islam für Kinder und Erwachsene» (C. H. Beck 2012).
Ihr neustes Buch «Zum Töten bereit. Warum deutsche Jugendliche in den Dschihad ziehen» ist soeben
in zweiter Auflage erschienen (Piper, München 2015.
251 Seiten, Fr. 21.15, E-Book 12.90).
Frau mit voller Agenda
Die junge Frau im rostroten Wolljäckchen und
mit viel Silberschmuck ist nicht nur optisch ein
Farbtupfer in der Männerrunde, sie unterläuft
auch sonst manches Genderklischée: Sie äussert
sich knapp, wo die Experten ausufern, bleibt
kühl, wo sich moralisch Aufrechte empören,
und bringt ihre dosierte Botschaft mit Charme,
Witz und Nachdruck in die Debatte ein. Heute,
im voll besetzten Saal in Leipzig, ist wieder so
ein Moment: «Wissen Sie», sagt sie lachend,
«jetzt spiele ich die Lehrerin, das ist meine Paraderolle.» Und zieht damit flugs das Publikum
auf ihre Seite.
Lamya Kaddor ist in Deutschland eine bekannte Persönlichkeit. 2010 wurde sie von der
paneuropäischen Organisation Cedar als eine
der zehn «Muslim Women of Influence» ausgezeichnet. Sie ist Trägerin der «Integrationsmedaille der Bundesregierung» und erhielt im
Februar 2015 die «Nick-Knatterton-Ehrenmütze»
des Bundes Deutscher Kriminalbeamter. Indem
sie sich gegen die Radikalisierung von Jugendlichen einsetze, habe sie besondere Verdienste in
der Kriminalitätsbekämpfung erworben.
Die Frau hat einen gefüllten Terminkalender.
Zwei Stunden vor ihrem Auftritt in der Sächsischen Akademie trifft sie in einem Hotel in der
Leipziger Innenstadt ein. Fährt ins Zimmer hoch
und gibt dem SWR ein verabredetes Telefoninterview zum neuen Kopftuchurteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts: Sie bejaht die
Aufhebung des Kopftuchverbots an Schulen – allerdings nicht aus religiöser, sondern aus libera-
«Ich bezeichne mich als
Berufsmuslimin. Entweder ich
schreibe oder ich lese oder ich
spreche über das Thema. Aber
ich bin nicht besonders
fromm, einfach normal.»
ler Sicht. Dann setzt sie sich dem Schweizer
Journalisten in der Hotellobby gegenüber, löffelt eine Curry-Pilzsuppe und bemerkt: «Fangen
Sie ruhig schon mal an. Ich bin da ganz entspannt. Ich mach das ab und zu.» Ihre tiefe
wohlklingende Stimme würde man eher einer
50-jährigen Managerin oder einer reifen Radiomoderatorin zuordnen als einer jungen Hauptschullehrerin aus dem Ruhrpott.
Managerin? Im Grunde genommen ist Lamya
Kaddor genau das: eine Managerin des Dialogs
zwischen Muslimen und Nichtmuslimen. Sie
unterrichtet seit 2003 Islamkunde, seit 2014 islamischen Religionsunterricht für 13- bis 17-Jährige an einer Hauptschule in Dinslaken (Nordrhein-Westfalen), tritt regelmässig im «Forum
am Freitag» des ZDF auf, schreibt Bücher, ist
eine gefragte Referentin und Politikberaterin,
präsidiert den Liberal-Islamischen Bund, beantwortet als eine Art muslimische Briefkastentante Mails besorgter Mitbürger und schreibt an
ihrer Dissertation.
Koran als Leitfaden
Na ja, wehrt sie ab, das Letztere komme schon
etwas zu kurz: «Sicher, ich schlafe wenig, doch
viele dieser Tätigkeiten bündeln sich halt in meiner Person und überschneiden sich.» Sie habe
16-Stunden-Arbeitstage. Doch dafür werde es
ihr nie langweilig. Und dann hat sie auch noch
zwei Kinder im Vorschulalter. Das Multitasking
macht ihr offensichtlich Spass. «Ich bezeichne
mich als Berufsmuslimin», scherzt sie, «entweder ich schreibe oder ich lese oder ich spreche
über das Thema.»
Der Weg zur «Berufsmuslimin» war nicht unbedingt vorgezeichnet. Lamya kam 1978 in
▲
12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. April 2015
nannten Islamischen Staat» zu sprechen. «Dieser Staat ist kein islamischer Staat, er ist ein Staat
der Terroristen! Wir dürfen ihre Argumentation
nicht übernehmen, wir Muslime anerkennen
den IS nicht als islamischen Staat.» Fertig. Punkt.
Ähnlich hat sie vor ein paar Wochen Frank
Plasberg in seiner ARD-Talkshow «Hart, aber
fair» korrigiert, als er wiederholt von Muslimen
und Deutschen sprach. «Herr Plasberg», wandte
sie ein, «wir sind deutsche Muslime oder muslimische Deutsche. Beides zusammen, nicht das
Eine oder das Andere.» Bis der Starmoderator
lernt und sich vor laufender Kamera entschuldigt.
DOMINIK ASBACH / LAIF
«Das Kopftuch schützt nicht vor männlichen Übergriffen, für den Schutz sorgen in Deutschland Recht und Gesetz», sagt die liberale Muslimin Lamya Kaddor (28.1.2015).
26. April 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13
Porträt
Schüler ziehen in den Dschihad
Von den Fundamentalisten der eigenen Community fühlt sie sich bedrängt, weil diese ständig die Deutungshoheit gerade auch beim
Thema Frauen für sich beanspruchen. «Immer
sind es Männer, die über uns urteilen.» Sie
kämpft für einen zeitgemässen Islam (ohne
Scharia und religiösen Monopolanspruch), der
sich in eine pluralistische Gesellschaft einfüge.
Dazu brauche es den innerislamischen Dialog,
besonders mit der schweigenden Mehrheit der
Muslime, die sich zwischen liberal und konservativ einordnen würde. Auch ihre Eltern seien
eher konservativ, würden nicht alles befürworten, was sie vertrete. «Doch da ich ihre Tochter
bin, sagen sie: Du gehörst zu uns.»
Vor ein paar Jahren hat Kaddor mit Rabeya
Müller vom Liberal-Islamischen Bund das Projekt «Muslim 3.0» entwickelt, das heute unter
dem Namen «Extrem out – Gemeinsam gegen
Salafismus» weitergeführt wird: Muslimische
und Nichtmuslimische Jugendliche mit labiler
Persönlichkeitsstruktur werden während sechs
bis acht Wochen von Sozialarbeitern, Soziologinnen und Künstlern an religiöse Fragen herangeführt, erst in Gesprächsrunden, dann in Workshops. Am Schluss setzen die Teilnehmer das
Erlernte kreativ um in Gesang, Tanz oder Theater und präsentieren es der Öffentlichkeit. Auch
wenn der Erfolg solcher Projekte naturgemäss
kaum messbar ist, gibt sich Kaddor überzeugt,
dass auf diesem Weg gefährdete Jugendliche ge-
«Wir dürfen den Schreihälsen
auf beiden Seiten nicht das
Feld überlassen», fordert
Lamya Kaddor. Damit meint
sie die Salafisten genauso
wie die Pegida-Anhänger.
14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. April 2015
YAVUZ ARSLAN / IMAGETRUST
▲
Westfalen als drittes Kind syrischer Eltern zur
Welt, die vor ihrer Geburt nach Deutschland
ausgewandert waren. Als Kind sei sie frech und
vorwitzig gewesen, ein «ewiger Quälgeist», der
die Eltern und andere Autoritäten stets mit Fragen nervte. Als sie nach dem Abitur beschloss,
Islamwissenschaften zu studieren, sei das eine
reine Bauchentscheidung gewesen. «Ich war nie
besonders gläubig oder fromm, einfach normal
halt.»
Dieses Normalsein macht gerade die Aussergewöhnlichkeit der Lamya Kaddor aus. Ein
Kopftuch trägt sie nicht, «da es mich weder beschützt vor männlichen Übergriffen – für den
Schutz sorgen in Deutschland Recht und Gesetz
– und da ich nicht mehr erkannt werden muss.»
Ursprünglich war das Kopftuch eingeführt
worden, um Musliminnen als ehrenwerte und
freie Frauen von kopftuchlosen Sklavinnen zu
unterscheiden. Doch sie nehme die ursprüngliche Schutzfunktion des Kopftuchs ernst und
verzichte auf aufreizende Kleidung (z.B. bauchfreie Tops oder Decolletés). Auch der Koran sei
für sie als liberale Muslimin ein Leitfaden. Aber
kein Glaubensbrevier, dessen Wortlaut man
immer noch wie vor 1400 Jahren auslegen
müsse.
Lamya Kaddor ist zwar eine liberale, doch
keine laue Muslimin. Engagiert führt sie ihren
Zweifrontenkrieg: gegen Fundamentalisten und
Traditionalisten innerhalb der islamischen Gemeinschaft sowie gegen Islamfeinde und gegen
Islamkritiker in der nichtmuslimischen Gesellschaft Deutschlands. Sie versteht sich als Mittlerin zwischen Extrempositionen. «Wir dürfen
den Schreihälsen auf beiden Seiten nicht das
Feld überlassen», fordert sie entschieden.
Lamya Kaddor unterrichtet islamischen Religionsunterricht für 13- bis 17-Jährige an einer Hauptschule in Dinslaken
(Nordrhein-Westfalen). Ihr Ziel ist, die Schüler gegen fundamentalistisches Denken zu stärken.
genüber salafistischer Verführung und Anwerbung gestärkt würden.
Wie ein Schlag habe es sie getroffen, als sie
2013 erfuhr, dass eine Handvoll ihrer ehemaligen Schüler nach Syrien ausgereist sei, um sich
dort an Aktionen der islamistischen Terrorgruppen zu beteiligen. Sie waren in Deutschland von
Salafisten rekrutiert worden, die ihnen versprachen, was sie im bisherigen Leben vergeblich
gesucht hatten: Respekt, Orientierung und Zusammenhalt. «Ich habe das als persönliches
Versagen wahrgenommen,» sagt die Pädagogin.
Immer wieder habe sie sich gefragt, ob sie etwas
falsch gemacht habe. Immerhin seien vier desillusioniert zurückgekehrt, einer aber sei geblieben und lebe nun im sogenannten Islamischen
Staat, wo er eine Frau und zwei Kinder habe.
«Das ist bitter und frustrierend.»
Wenn Lamya Kaddor über die Anziehungskraft radikaler Islamisten spricht, über das Verlorensein und die Gewaltbereitschaft junger
Männer, die Ausgrenzungserfahrungen von Migranten und über die starke Sehnsucht vieler
Menschen nach einfachen Antworten, dann
spürt man das Feuer der Leidenschaftlichen
ebenso wie die glasklare Analyse der Pädagogin,
die mit beiden Beinen im Alltag steht. Kaddors
Mission ist zugleich ihre Überzeugung: «Ich
bin sicher, der Islam wird im 21. Jahrhundert ankommen.»
Die andere Front, an der Kaddor kämpft, ist
die Gleichgültigkeit der Mehrheitsgesellschaft:
die Abwehr, der Hass, die Feindschaft gegenüber Muslimen. Dabei ist es weniger der offene
Islamhass, der rasch aufzudecken sei, sondern
die latente Islamfeindlichkeit, die ein Zerrbild
ihrer Religion vermittle. Fast mehr als über Pegida, die «Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes», und Neonazis
kann sie sich über die scheinbar Wohlmeinenden aufregen, bei denen sie sich manchmal wie
im Zoo vorkomme. So, wenn sie hört: «Schau
mal, wie gut die Frau Kaddor Deutsch spricht.»
Diesen entgegne sie dann: «Sie sprechen aber
auch sehr gut Deutsch!» Oder wenn sie gefragt
werde: «Ach, du wurdest nicht gezwungen, ein
Kopftuch zu tragen?» Oder: «Ich finde das ja komisch, dass du deine Kinder so erziehst, dass sie
kein Schweinefleisch essen dürfen.»
Es sind solche angeblich besorgten Äusserungen, sogar aus dem Freundeskreis, die dem
Islam permanent eine Rückständigkeit unterstellen. Dass der Islam nur problemorientiert gesehen und mit Überfremdungsangst gekoppelt
werde, ärgert die Muslimin mächtig. Vor allem
auch, weil dieses von aussen herangetragene
Vorurteil innerhalb des Islams die Opferhaltung
verstärke, den ohnehin vorhandenen Minderwertigkeitskomplex unter zugewanderten Muslimen. Kaddor spricht von einer weit verbreiteten «islamischen Depression», die traditionalistischen Kräften Vorschub leiste. Die Mehrheitsgesellschaft müsse Andersgläubige akzeptieren
und anerkennen, dass viele Muslime Deutsche
seien wie sie selbst. Anderseits sollten die Muslime in Deutschland stärker zivilgesellschaftlich
aktiv werden: «Wir müssen uns als Teil des Ganzen begreifen und auch einen Teil der Verantwortung übernehmen.»
Dialog statt Konfrontation
Wie brutal die innerislamische Auseinandersetzung und der Zusammenprall der Kulturen in
das Leben von Lamya Kaddor einbricht, macht
ein kurzes Gespräch im Taxi deutlich, das uns
nach dem Interview zur Abendveranstaltung
führt. Mit einer Beiläufigkeit, die einen Zuhörer
sprachlos macht, erzählt Kaddor auf die Frage,
wie es ihren Eltern gehe, dass ihr Vater vor fünf
Tagen gerade einen schrecklichen Unfall erlitten
habe. Er war kurz zuvor nach Syrien gereist, um
dort seine Verwandten zu besuchen. Letzten
Sonntag erfolgte ein Luftangriff auf das Nachbarhaus der Kaddors, das sich direkt an der türkischen Grenze befindet und offenbar das Kommando der Nusra beherbergt hat. Die NusraFront ist ein Al-Kaida-Ableger in Syrien, der an
der Seite des IS kämpft.
Lamya Kaddors Vater wurde von Granatsplittern getroffen und lebensgefährlich verletzt. Er
hatte Glück im Unglück, weil just zwei seiner
Neffen anwesend waren, der eine Chirurg, der
andere Anästhesist, die ihn vor Ort unverzüglich
ärztlich versorgen konnten. (Drei Wochen später
wird mir die Tochter mitteilen, dass ihr Vater
nach Deutschland gebracht und dort operiert
worden sei; er sei nun auf dem Weg der Besserung.)
Lamya Kaddor – die Pädagogin, die Mittlerin,
die Betroffene. Anders als radikale Islamkritikerinnen wie etwa Necla Kelek und Ayaan Hirsi Ali
sucht sie nicht die Konfrontation, sondern den
Dialog mit den Fundamentalisten. Dass ihr Spagat gelingen möge, hoffen viele. Ein Podiumsteilnehmer in Leipzig spricht aus, was in der
Luft liegt: «Es müsste viel mehr Lamya Kaddors
geben, dann wären wir in Deutschland ein Stück
weiter.» l
Kolumne
Charles LewinskysZitatenlese
LUKAS MAEDER
Mit den Gedanken ist es
wie mit den Melodien, es
gibt die kurzen geringen –
und die langen schönen;
die besten aber sind wie
Kugelblitze und enthalten
die Welt im Ganzen.
Der Autor Charles
Lewinsky arbeitet in
den verschiedensten
Sparten. Sein letzter
Roman «Kastelau»
ist im Verlag Nagel &
Kimche erschienen.
Kurzkritiken Sachbuch
Manuschak Karnusian: Unsere Wurzeln,
unser Leben. Stämpfli, Bern 2015.
143 Seiten, Fr. 34.–.
Michael Schulte-Markwort: Burnout-Kids.
Wie Leistung unsere Kinder überfordert.
Patloch, München 2015. 268 S., Fr. 29.90.
Im April 1915 begannen in der Türkei die
Verfolgung, Vertreibung und Ermordung
von Tausenden Armenierinnen und Armeniern. Der Genozid, dem 800000 bis
1,5 Millionen Menschen zum Opfer fielen, ist Teil des kollektiven Gedächtnisses ihrer Nachkommen geblieben. Sie
leben heute verstreut über die Welt, darunter auch 6000 in der Schweiz. Die armenischstämmige Schweizer Journalistin Manuschak Karnusian zeichnet zwölf
anrührende Porträts von Landsleuten,
deren Familiennamen meist auf -ian
enden: von der Archäologin über den
Komponisten und Geheimagenten bis
zur ETH-Konfliktforscherin. Es sind auch
kulturelle Zeugnisse eines der ältesten
christlichen Völker, die von Dolma (in
Weinblätter gerollter Reis mit Pinienkernen) und armenischer Musik, von Schach
und Fussball erzählen. Der schön illustrierte Band bringt uns eine ausserordentlich kultivierte Gemeinschaft näher.
Ausgebrannte Kinder? Lange war Michael Schulte-Markwort skeptisch, allzu
effekthascherisch, zu sehr im Trend der
wuchernden psychiatrischen Diagnosen
bei Kindern erschien ihm das. Auch
mochte er nicht einstimmen in den Chor
der «Kinder-Schwarzseher», denn er hält
die heutigen Kinder für sozial kompetent, reflektiert und leistungsorientiert.
Doch dann habe sich das Phänomen so
unwiderlegbar gezeigt, dass der Kinderund Jugendpsychiater vom Hamburger
Universitätsklinikum heute keine Zweifel mehr hat: Die Erschöpfungsdepression ist bei den Kindern angekommen,
und sie breitet sich aus. Ungewöhnlich
sorgfältig geht er dem Befund Burnout
bei Kindern und Jugendlichen nach, illustriert ihn mit ausgewählten Fallbeispielen, ergründet seine vielfachen Ursachen und erklärt die gängige Behandlung mit Psychotherapie und allenfalls
Antidepressiva.
René Scheu (Hrsg.): Weniger Staat, mehr
Fernsehen. Service sans public? NZZ
Libro, Zürich 2015. 232 Seiten, Fr. 22.–.
Noah Wilson-Rich: Die Biene. Geschichte,
Biologie, Arten. Haupt, Bern 2015.
224 Seiten, Fr. 39.90.
Am 14. Juni stimmen wir über die Einführung einer Mediensteuer für alle anstelle der bisherigen Billag-Gebühr ab,
die nur effektive Radio- und Fernsehkonsumenten belastet. Zu dieser Debatte
publiziert René Scheu, Herausgeber des
«Schweizer Monats», einen Sammelband. Zwar will das Buch «kein Plädoyer
für die Abschaffung der SRG» sein, doch
nehmen fast alle Beiträge das faktische
Monopol des Fernsehens aufs Korn. Karl
Lüönd, Gerhard Pfister, Kurt W. Zimmermann, Pierre Bessard und andere geisseln, dass der Service public von jenen
definiert werde, die das Programm des
konkurrenzlos agierenden Staatssenders
machen. Noch radikaler tönen die Stimmen aus dem Kreis der Digital Natives,
die der nationalen «feierabendlichen
Entspannungsübung» vor dem TV-Gerät
nichts mehr abgewinnen können. Provokativ, intelligent und anregend.
Wieder ein schön aufgemachtes Buch
aus dem Haupt-Verlag in Bern. Diesmal
ist es eine Entdeckungsreise in die Welt
der Bienen. Nicht nur Tier- und Gartenfreunde können hier vieles lernen, auch
Imker kommen auf ihre Kosten. Die
Biene ist eines der ältesten Haustiere,
und der Mensch profitiert seit Jahrtausenden sowohl vom Honig wie vom
Wachs, ganz abgesehen von der ganzen
Bestäubungsarbeit, welche die emsigen
kleinen Insekten ganz nebenbei leisten.
Die Bestände gehen jedoch weltweit in
beängstigendem Masse zurück, viele
Hummelarten sind bereits ausgestorben.
Veränderte Landnutzungen könnten ein
Grund sein, Agrochemikalien und mechanisierte Anbaumethoden. In China
beispielsweise müssen viele Obstplantagen bereits von Hand bestäubt werden.
Ob der Mensch wirklich auf die Biene
verzichten kann?
Hugo von Hofmannsthal
Letzte Warnung:
Wenn mich noch einmal, und sei es
nur ein einziges Mal, jemand fragt, wo
ich denn meine Ideen hernehme, dann
werde ich anfangen zu schreien. Wenn
es jemand tut, der selber von Ideen lebt
und es deshalb besser wissen müsste,
werde ich sogar würgen. Und wenn es
wieder mal ein Kulturjournalist ist, der
mir die Frage stellt, werde ich ihm die
Kehle aufschlitzen und mit seinem Blut
die einzige Antwort an die Wand schreiben, die es auf diese Frage geben kann:
Ich weiss es nicht.
ICH WEISS ES NICHT!
ICH WEISS ES NICHT!
Und ich bin sicher: Wenn ich dann
wegen Mordes vor Gericht stehe, wird
man mir mildernde Umstände zubilligen. «Als man ihm die Frage zum hundertsten Mal stellte», wird mein Verteidiger sagen, «da ist er noch ganz friedlich geblieben. Beim fünfhundertsten
Mal», wird er sagen, «ist er schweigend
aus dem Saal gegangen und hat erst auf
der Strasse angefangen zu toben. Aber
beim tausendsten Mal…»
Und der Richter wird verständnisvoll
mit dem Kopf nicken. «Notwehr», wird
er sagen. «Die ganz natürliche Reaktion
auf eine unerträgliche Provokation.»
Und dann wird er mich, damit dem Gesetz Genüge getan ist, zu einer Geldbusse von zwei Franken fünfzig verurteilen.
Und die wird er mir erst noch leihen.
Denn wir wissen nun mal nicht, wo
wir unsere Ideen herhaben. Und noch
schlimmer: Wir wollen es gar nicht wissen. Wir haben sogar Angst, uns nur Gedanken darüber zu machen. Es könnte
sonst passieren, dass wir nie mehr welche haben. Ein Tausendfüssler darf auch
nicht darüber nachdenken, in welcher
Reihenfolge er seine Beine auf den
Boden stellt. Weil er sonst nur noch
dauernd auf der Schnauze landet.
(Falls Tausendfüssler etwas haben,
das man als Schnauze bezeichnen
kann.) Hat die Auster notiert, wann das
Sandkorn angespült wurde, aus dem sie
Jahre später eine Perle machte?
Weiss der Hund, in welcher Sekunde
ihn der Floh gebissen hat?
Können Sie haargenau sagen, wo Sie
sich Ihren Schnupfen eingefangen
haben?
Wir wissen es nicht.
Deshalb, bitte, bitte, bitte: Wenn Sie
zu einer Lesung kommen und Ihnen jemand das Mikrofon für die Fragen aus
dem Publikum reicht, fragen Sie mich
nicht, wo ich meine Ideen herhabe. Ich
schreie so ungern. Und würgen macht
mir schon gar keinen Spass.
Anmerkung der Redaktion: Das war wieder
eine lustige Glosse, Herr
Lewinsky. Wo nehmen
Sie bloss die Ideen her?
Urs Rauber
Urs Rauber
Kathrin Meier-Rust
Geneviève Lüscher
26. April 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15
Sachbuch
Sexualität Zwei Bücher beleuchten – aus einer frauenzentrierten Optik – den Wandel von Erotik und
Geschlechterbeziehungen als Folge von 1968
MussSexpolitisch
korrektsein?
Peter-Paul Bänziger u. a. (Hrsg.): Sexuelle
Revolution? Zur Geschichte der Sexualität
im deutschsprachigen Raum seit den
1960er Jahren. Transcript, Bielefeld 2015.
373 Seiten, Fr. 36.90.
Karla Verlinden: Sexualität und
Beziehungen bei den «68ern».
Erinnerungen ehemaliger Protagonisten
und Protagonistinnen. Transcript,
Bielefeld 2015. 465 Seiten, Fr. 53.90,
E-Book 51.90.
Von Walter Hollstein
In einer amerikanischen Kleinstadt stellt
sich ein frisch zugezogenes Ehepaar seinen Nachbarn vor. «Und das ist Betty,
meine Partnerin», sagt der Ehemann.
«Aha», ist die Antwort, «in welcher Branche sind sie denn Partner?» In der Tat
stossen hier zwei unterschiedliche Auffassungen von Liebe aufeinander. Die
althergebrachte von den zwei Liebenden
und die moderne von den zwei Partnern.
Der Soziologe Rainer Paris kommentiert:
«Wenn die Liebenden früherer Zeiten
sich heute ‹Partner› nennen (vom Unwort ‹Beziehung› ganz zu schweigen), ist
dies von weitreichender Bedeutung. Es
verschiebt den Akzent von den Affekten
und Leidenschaften auf den gemeinsamen Sachbezug.» Das hat weitreichende
Folgen, die bislang nur unzureichend
bedacht wurden. Zum Beispiel für die
Sexualität.
Diesem Thema widmen sich zwei
Neuerscheinungen: ein Sammelband,
den unter anderen Peter-Paul Bänziger
von der Universität Basel herausgegeben
hat, und eine Monografie der Kölner
Jugendtherapeutin Karla Verlinden.
Beide Bücher erklären die sechziger
Jahre und vor allem das Umbruchsjahr
1968 als Zeitenwende in der Sexualität.
Verlinden notiert: «Die ‹68erInnen› politisierten Sexualität auf besondere Weise,
indem sie diese mit dem Ziel, eine neue
Gesellschaft und einen neuen Menschen
hervorzubringen, verknüpften». Die Autorin geht diesem Zielpunkt in vier langen Interviews mit ehemaligen 68ern
nach. Diese Gespräche sind – wenn auch
mühsam zu lesen – vom Ergebnis her vor
allem deshalb interessant, weil sie die
«Revolutionäre» von einst zu doch sehr
ernüchternden Schlussfolgerungen führen: Die sexuelle Befreiung gelang allenfalls in Ansätzen und auch nur temporär.
Die angestrebte Synthese zwischen öffentlichem und privatem Leben konnte
nicht hergestellt werden. Sexuelle Tabus
wurden nur annähernd aufgelöst, «monogame Besitzansprüche» an die Partner
in der Praxis gar nicht.
Feministischer Blick
GETTYIMAGES
Die 68er Revolution
verändert das
Lebensgefühl einer
Generation: HippieMusikergruppe zieht
Ende der 60er Jahre in
den USA herum.
16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. April 2015
Trotz solcher Befunde darf man das Kind
nicht mit dem Bade ausschütten. Verlinden konstatiert völlig zu Recht: «Das
‹68erInnen›-Konstrukt von ‹befreiter Sexualität› wirkte sich nachhaltig auf individuelle Lebensentwürfe und –modelle,
soziale Prozesse, Einstellungen zu Geschlechterbildern und Beziehungsstrukturen aus.» Mit anderen Worten, der Aufbruch von 1968 hinterliess nachhaltige
Spuren in unserem Verständnis und Erleben von Sexualität.
Das ist auch der Tenor des Bandes, den
Peter-Paul Bänziger herausgegeben hat.
Franz X. Eder fasst in seinem Beitrag
über «Die lange Geschichte der ‹Sexuellen Revolution› in Westdeutschland
(1950er bis 198oer Jahre)» zusammen:
«Innerhalb eines Jahrzehnts wurden der
vor- und aussereheliche ‹Sex› und die
homosexuellen Beziehungen ‹befreit›,
die Pornographie ermöglicht, das rigide
Sexualstrafrecht entschärft und die konservative Moral entrümpelt.»
Das Spektrum in diesem Band ist weiter gefasst und historischer als bei Verlinden. Es geht um die Darstellung der
Sexualaufklärungsbücher, die «Pornowelle», technische Sexualobjekte, die
Sexualpolitik der Kirchen. Unter dem
originellen Titel «Der ausdiskutierte Orgasmus» wird die Innovation der Beziehungsgespräche thematisiert, ferner das
Verhältnis von sexueller Revolution und
Frauenbewegung, die Zeitgeschichte der
SZ PHOTO
Love, Peace and
Rock’n’Roll:
Textilfreie Abkühlung
am Music-Festival
vom 26. bis 30. August
1970 auf der Isle of
Wight (Hampshire).
Homosexualität um Aids, HIV und deren
Konsequenzen für die Sexualität. Das eröffnet ein spannendes Panorama.
Einschränkend ist, dass sich beide Bücher nicht nur ausgesprochen frauenfreundlich geben, sondern ihre Optik
ziemlich exklusiv auch frauenzentriert
ist. Das mag nach den langen Jahrhunderten des Androzentrismus verständlich sein; wissenschaftlich ist solche Parteilichkeit nicht unbedingt. So fallen
denn auch Diagnosen unter den Tisch,
die inzwischen zu den Topoi des sexualwissenschaftlichen Diskurses gehören.
Zum Beispiel, dass in Deutschland sechs
Millionen Männer impotent sind. Oder
dass die Zurückhaltung im sexuellen Begehren primär ein Männerproblem zu
sein scheint. Amerikanische Psychologen wie etwa Helen Smith sprechen gar
vom «männlichen Sexstreik».
Verwunderlich ist das nach den Ausfällen eines bestimmten Feminismus
nicht so sehr. Alice Schwarzer argumentierte einst (und im Übrigen auch heute),
dass die Sexualität «der Angelpunkt der
Frauenfrage» sei. In und mit der Sexualität «fallen die Würfel. Hier liegen Unterwerfung, Schuldbewusstsein und Männerfixierung von Frauen verankert. Hier
steht das Fundament der männlichen
Macht und der weiblichen Ohnmacht.»
Sexualität mit einem Mann wird als
etwas Schreckliches beschrieben. «Viele
empfinden ihre sexuellen Kontakte mit
dem Ehemann oder Freund als Prostitution.» Die männliche Sexualität «dient
als Exerzierplatz zum Einüben weiblichen Verhaltens – wie Selbstlosigkeit,
Unterwerfung, Minderwertigkeit, das
dann in anderen Lebensbereichen ertragbringend von der Männergesellschaft eingesetzt werden kann».
Ambivalente Revolution
Je deutlicher sich die lesbische Fraktion
innerhalb der feministischen Bewegung
artikulierte, desto verschärfter wurde
der Kampf gegen die Heterosexualität.
Andrea Dworkin bezeichnete den Penis
als «Waffe» und männliches Unterdrückungsinstrument.
Da sich für solche Aussagen weder bei
Männern noch bei Frauen eine empirische Basis finden liess, wurden sie einfach in den Stand des Axioms erhoben,
und ein Axiom ist ja bekanntermassen
unwiderlegbar: «Die Aversion der Frauen
gegen den Penis und gegen Sexualität»,
dekretierte Dworkin, muss «als Weigerung der Frauen» gewertet werden, «dem
wichtigsten Werkzeug männlicher Aggression gegen Frauen zu huldigen».
Eine Kritik an solchen Verwerfungen
sucht man in beiden Büchern vergeblich.
Nur Dagmar Herzog zeigt etliche «Ambivalenzen» der sexuellen Revolution und
deutet – mit Verweis auf Theodor W.
Adorno – auch an, dass das Sexuelle wohl
auch jenseits des «Sauberen» sein Leben
entfaltet.
Solches zu thematisieren ist aber
wohl in unseren Zeiten der Political Correctness nicht gerade opportun. Das demonstriert vor allem Verlinden bis in die
Sprache hinein. Dabei löst sie auch feststehende Begriffe wie Studentenbewegung in «Studierendenbewegung» auf
und «68er» in «68erInnen». Was ihrem
selbstverständlich korrekten Welt- und
Liebesbild nicht entspricht, kanzelt sie
ab – nicht zuletzt mit feministischen
Theoremen, die erst weit nach 68 entstanden sind – und verteilt ihren Protagonisten schulmeisterlich Zensuren.
So sei doch an Sigmund Freud erinnert, der mit Nachdruck darauf hinweist,
dass die Genitalien die Entwicklung der
menschlichen Körperform zur Schönheit
nicht mitgemacht haben; sie seien tierisch geblieben. «So ist auch die Liebe im
Grunde genommen heute ebenso animalisch, wie sie es von je her war.» ●
Walter Hollstein ist emeritierter Professor
für politische Soziologie und hat mehrere
Bücher zu Genderfragen publiziert.
26. April 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17
Sachbuch
Psychologie Zwei Bücher untersuchen, in
welchen Ländern welche Faktoren für das
Glück verantwortlich sind
Schweizer
betonendie
Freiheit
Paul Dolan: Absichtlich glücklich. Wie unser
Tun das Fühlen verändert. Pattloch,
München 2015. 320 Seiten, Fr. 29.90,
E-Book 19.–.
Maike van den Boom: Wo gehts denn hier
zum Glück? Meine Reise durch die 13
glücklichsten Länder der Welt und was
wir von ihnen lernen können. Fischer,
Frankfurt a. M. 2015. 352 Seiten,
Fr. 29.90, E-Book 18.–.
Fröhliche Menschen
aus aller Welt: Die
meisten bezeichnen
Glück als das höchste
Lebensziel.
Die Wissenschaft vom Glück beginnt die
Welt zu verändern. Viele Millionen Menschen sowie zahlreiche Regierungen und
Unternehmen lassen sich von Ergebnissen aus der Glücksforschung zu Neuerungen inspirieren. In der Begeisterung
wird jedoch oft vergessen, dass die meisten Glücksstudien auf den Antworten
auf eine vage Frage basieren: Wie zufrieden sind Sie mit Ihrem Leben insgesamt?
Wie entscheiden wir, ob die Neuausrichtung ganzer Gesellschaften an Glückszahlen nicht ebenso einseitig wäre wie
die Fixierung auf Wirtschaftswachstum?
Zwei lehrreiche Bücher erkunden das
Glück auf neuen Wegen.
Paul Dolan, Verhaltenswissenschafter
an der London School of Economics, präsentiert in seinem bedeutenden Pionierwerk «Absichtlich glücklich» einen Forschungsansatz, mit dem er die Wirkung
von Alltagsaktivitäten auf das Glück analysiert. Er belegt, dass Einschätzungen
der Lebenszufriedenheit von Unwägbarkeiten wie den zuvor gestellten Fragen
abhängen. Er zieht detaillierte Befragungen vor, bei denen die Teilnehmer den
vergangenen Tag in Abschnitte unterteilen und Angaben zu den Gefühlen während verschiedener Aktivitäten machen.
Sie schärfen den Blick für die Entstehung
einer positiven Grundstimmung.
Dolan betrachtet Freude und Sinnhaftigkeit als «zwei separate, jedoch gleichermassen beteiligte Komponenten unseres Glücks». Erhebungen in den USA
und Deutschland unterstreichen die Notwendigkeit, beide Dimensionen des
Wohlbefindens unter die Lupe zu nehmen. So erlebten die meisten Befragten
ihre Arbeit eher sinn- als freudvoll. Fernsehen machte wesentlich mehr Freude.
Ehrenamtliche Tätigkeiten erreichten
hohe Punktwerte in beiden Bereichen.
Fast alle Aktivitäten brachten in Gesellschaft mehr Sinn und Freude.
In einer Umfrage sahen etwa gleich
viele der Befragten Freude und Sinn als
18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. April 2015
GETTYIMAGES
Von Michael Holmes
den wichtigsten Massstab für ihr Lebensglück. Der Autor rät Hedonisten und
Sinnsuchern, die Extreme zu vermeiden
und ein Gleichgewicht zu suchen. «Am
glücklichsten sind Sie, wenn Sie ein Verhältnis zwischen Freude und Sinnhaftigkeit hergestellt haben, das Ihnen entspricht.» Studien zufolge verbessern
sowohl Freude als auch Sinnhaftigkeit
die Gesundheit, die Arbeitsproduktivität
und die Beziehungsfähigkeit.
Mit leuchtenden Augen
Dolan hilft Regierungen und Grosskonzernen, das Leiden und den Verdruss
ihrer Bürger und Arbeiter zu verringern.
Er verrät zahlreiche nützliche Tipps und
Tricks, wie wir «unser Umfeld gezielt so
gestalten, dass unsere Aufmerksamkeit
automatisch ausgerichtet wird». Er ermuntert uns, unsere Tage mit Aktivitäten zu füllen, die wir als genussreich, erholsam oder lohnend empfinden, und
Ablenkungen zu vermeiden, so dass wir
mit ganzem Herzen bei der Sache sind.
«Wo geht’s denn hier zum Glück?»
heisst ein fröhliches, fesselndes und oft
weises Buch der Deutsch-Niederländerin
Maike van den Boom. Sie hat diese Frage
zahlreichen Menschen in den dreizehn
glücklichsten Ländern der Erde gestellt.
Basis ihrer Wahl war die umfassendste
Datenbank zur Glücksforschung, die
World Database of Happiness in Rotterdam unter der Leitung des Soziologieprofessors Ruut Veenhoven. Manager
und Müllsammler, Glücksexperten und
Auslandsdeutsche standen vor ihrer Kamera, meist mit einem breiten Lachen
und leuchtenden Augen. Sie war überrascht, wie oft sie die gleichen unspektakulären Antworten erhielt. Fast alle
Interviewpartner nannten das Glück als
höchstes Lebensziel und unterstrichen
ihre tiefe Verbundenheit mit Familie und
Freunden. Aber nicht überall waren die
gleichen Faktoren ausschlaggebend. Die
meisten Skandinavier hielten den sozialen Zusammenhalt für den Glücksfaktor
Nummer eins. Schweizer betonten die
Freiheit, Australier die Gelassenheit und
Kanadier die Toleranz. Auch vier lateinamerikanische Länder erreichten Topwerte in den Glücksumfragen. Costaricaner, Mexikaner, Panamaer und Kolumbianer machten ihre Lebensfreude für
diese erstaunlichen Erfolge verantwortlich. Zudem erhielt die Glückstouristin
van den Boom Ratschläge für das
Glücksentwicklungsland Deutschland,
das nur auf Platz 29 kommt. So empfahl
eine alleinerziehende Slumbewohnerin
aus Costarica, das Zusammensein mit geliebten Menschen intensiv zu geniessen.
Extreme Unterschiede
Die Autorin zählt die grosszügigen Wohlfahrtsstaaten der Skandinavier zu den
Hauptgründen für deren Spitzenpositionen. Aber wie lässt sich das ebenfalls
hervorragende Abschneiden von marktorientierten Ländern wie der Schweiz,
Australien und Kanada erklären? Gegen
ihre These, dass allgemeines Vertrauen
und Gleichheit von höchster Bedeutung
seien, sprechen die extremen Ungleichheiten und niedrigen Vertrauensniveaus
in allen vier lateinamerikanischen Ländern, deren Glück in kleinen Gemeinschaften zu gedeihen scheint.
Beider Bücher lassen hoffen, dass wir
mit Hilfe der Glücksforschung lebensund liebenswertere Gemeinwesen errichten können. ●
Memoiren Zu ihrem 70. Geburtstag hat Ljudmila Ulitzkaja Erinnerungen und Reflexionen publiziert, die
nun auf Deutsch vorliegen
Liebevoll,heiterundgelassen
Von Klara Obermüller
Vor fünf Jahren ist die russische Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja an Krebs erkrankt. Die Aufzeichnungen aus der Zeit
der Behandlung in Israel stehen jetzt am
Ende ihres neuen Buches, das Texte unterschiedlichster Gattung und Thematik
zu einem Ganzen fügt. Vielleicht, so
denkt man, wenn man es weglegt, hätte
man es von diesem Ende her lesen sollen: aus der Sicht einer Frau, die weiss,
dass sie auf Abruf lebt und sich rückblickend noch einmal ihres Daseins vergewissert.
In Russland ist das Buch 2012, am Vorabend von Ulitzkajas 70. Geburtstag, erschienen. In diesem Alter scheint es naheliegend, Bilanz zu ziehen und sich zu
fragen, wie man wurde, was man ist. Die
Nähe des Todes verleiht diesem Bedürfnis zusätzliche Dringlichkeit. So hat sich
Ljudmila Ulitzkaja denn auf Spurensuche begeben und hat zwar nicht Memoiren, aber doch autobiografische Texte
geschrieben, die sie als eine Art «Kosmogonie» ihrer Persönlichkeit verstanden
wissen möchte. Ausgehend von Erinnerungsgegenständen und alten Fotos
zeichnet sie ihre Familiengeschichte
nach. Aus der «Summe der gelesenen Bücher» leitet sie geistige Prägungen ab. In
der Begegnung mit ihr nahestehenden
Menschen schält sie das geheime Muster
heraus, das ihrem Leben zugrunde liegt.
Formal enthält der Band Erinnerungen, Reflexionen, Reportagen und Tagebuchnotizen, einiges davon in Zeitungen, darunter auch die NZZ, publiziert,
das meiste jedoch unveröffentlicht und
in der Absicht geschrieben, sich Rechenschaft über das eigene Leben zu geben.
Inhaltlich fügen sich die recht heterogenen Kapitel zum reich facettierten Porträt einer Frau, die ob der Hinwendung
zum Privaten die gesellschaftspolitischen Zusammenhänge nie aus den
Augen verliert.
Ljudmila Ulitzkaja, die sich selbst eine
«russische Schriftstellerin jüdischer Herkunft und christlicher Prägung» nennt,
kann ihre Biografie nicht anders denn
KEYSTONE
Ljudmila Ulitzkaja: Die Kehrseite des
Himmels. Hanser, München 2015.
224 Seiten, Fr. 34.90, E-Book 23.–.
Ljudmila Ulitzkaja versteht ihre Biografie als Teil der russischen Tragödien
des 20. Jahrhunderts. Basilius Kathedrale auf dem Roten Platz in Moskau.
als Teil der russischen Tragödien des
20. Jahrhunderts begreifen. All ihre Vorfahren waren Juden. Pogrome, Zwangsrekrutierungen, Lagerhaft und Verfolgung sind dem Familiengedächtnis
unlöschbar eingeschrieben und haben
auch in der Persönlichkeit der Autorin
Spuren hinterlassen. Nicht zufällig befasste sie sich in ihrem letzten Roman
«Das grüne Zelt» mit den unterschiedlichen Formen von Anpassung und Widerstand während der Sowjetzeit. Und folgerichtig wendet sie sich jetzt in ihrem
nächsten Romanprojekt der Lebensgeschichte ihres Grossvaters Jakow Ulitzki
zu, der Jahre seines Lebens in sowjetischen Straflagern zugebracht hat. Zwischen diesen Polen, zwischen russischer
Politik und russischem Alltag, bewegen
sich auch die Texte ihres jüngsten Buches. Liebevoll schildert sie darin die
Menschen, aber auch die vielen kleinen
Dinge, die ihr in ihrem Leben lieb gewesen sind. Unerschrocken ergreift sie Partei gegen das gegenwärtige russische Regime, das sie für «selbstmörderisch und
gefährlich» hält. Heiter und gelassen
schliesslich blickt sie auf ihr eigenes Dasein, das ihr nach vorläufig überstandener Krankheit als ein einziges grosses Geschenk erscheint.
«Die Kehrseite des Himmels» ist kein
in sich geschlossenes Werk. Es ist die eindringliche Stimme der Autorin, die den
darin enthaltenen Texten ihre innere
Konsistenz verleiht. Es ist ihre ebenso
klare wie einfühlsame Sprache, die im
scheinbar Fragmentarischen das grosse
Ganze eines reichen Lebens aufscheinen
lässt. ●
Russland Eine ehemalige ARD-Korrespondentin schwärmt kritiklos von Wladimir Putin
Spielen auf der Klaviatur antiwestlicher Vorurteile
Gabriele Krone-Schmalz: Russland
verstehen. Der Kampf um die Ukraine und
die Arroganz des Westens. C.H. Beck,
München 2015. 176 Seiten, Fr. 21.15,
E-Book 13.–.
Von Victor Mauer
«Iz ognjá da v pólymja» (vom Feuer in die
Flamme) lautet ein russisches Sprichwort, das den Gesamteindruck des Bändchens der ehemaligen ARD-Journalistin
treffend umschreibt. Denn schon nach
wenigen Seiten ahnt der Leser, dass er
vom Regen in die Traufe kommt. Dabei
gibt Krone-Schmalz vor, Russland zu verstehen. Doch statt zu verstehen und zu
erklären, spielt sie auf der Klaviatur antiwestlicher Ressentiments und gefällt
sich in der Rolle der Chefanwältin des
Kremls.
Aufbau und Argumentation offenbaren die Methode: eine im Interesse der
These gelenkte Selektion. Mit herablassender Selbstgerechtigkeit und gesinnungsstarker Ahnungslosigkeit verbarrikadiert Krone-Schmalz sich in ihrer eigenen Welt. In dieser Welt ist Wladimir
Putin «ein Glück», weil er «sein Land
nach vorne bringen möchte» und sich
zudem «für das Schicksal seiner immerhin 25 Millionen Landsleute ausserhalb
der russischen Grenzen verantwortlich
fühlt», vom Westen aber «keine Chance
auf einen unbelasteten Neuanfang
bekam».
In dieser Welt war die Krim schon
immer «ureigenes russisches Land», die
Annexion der Halbinsel also «keine
Landnahme, sondern Notwehr unter
Zeitdruck». In dieser Welt tobt im Donbass ein «innerukrainischer Bürgerkrieg»
und nicht etwa ein von Russland angefachter Krieg zwischen zwei souveränen
Staaten.
Was all das mit der wie ein Mantra vor
sich hergetragenen journalistischen «Be-
rufsethik» – dem Bemühen um Differenzierung – zu tun hat, bleibt dem geneigten Leser verborgen. Denn dann müsste
die Autorin ein System erklären, in dem
die Macht der Lüge regiert und die Ohnmacht des Faktischen mit Händen greifbar ist. Stattdessen redet sie dem Recht
des Stärkeren das Wort und stellt ein
Grundprinzip der internationalen Ordnung in Frage: nämlich die territoriale
Integrität.
Wer aus der Welt der Gabriele KroneSchmalz wieder auftaucht und nebenbei
den selbstverliebten Rückgriff auf eigene
Vorträge und Veröffentlichungen, den an
Walter Ulbricht angelehnten Politsprech
(«Fakt ist»), die ungezählten Interpunktionsfehler und den von erstaunlicher
intellektueller Schlichtheit gekennzeichneten Schlussappell unbeschadet überstanden hat, greift am besten zu Puschkin: «Lasst uns von unserer Bildung
schweigen! / Wir haben ihre Hülle nur /
Von ihrem Kerne keine Spur!» ●
26. April 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19
Sachbuch
Philosophie Ist für ein Individuum das Überleben der Menschheit wichtiger ist als sein eigenes?
Genau das versucht ein Gedankenexperiment zu beweisen
DerMenschdenktübersichhinaus
Samuel Scheffler: Der Tod und das Leben
danach. Suhrkamp, Berlin 2015.
153 Seiten, Fr. 29.90, E-Book 21.–.
Von Angela Gutzeit
Jeder von uns wird sterben, aber was
nach uns kommt, ist uns keineswegs
egal. Der amerikanische Philosoph Samuel Scheffler hat diese These in seinem
Buch «Der Tod und das Leben danach» in
einem ganz anderen Sinn, als der Titel
suggeriert, zum Ausgangspunkt eines interessanten Gedankenexperiments ge-
nommen. «Stellen Sie sich vor», so
schreibt er, «Sie wüssten, dass die Erde
30 Tage nach Ihrem Tod – wobei Ihr eigenes Leben von normaler Dauer wäre –
durch eine Kollision mit einem riesigen
Asteroiden vollständig zerstört würde.
Welchen Einfluss hätte dieses Wissen auf
die Einstellungen, die Sie im Laufe Ihres
restlichen Lebens haben werden?»
Seine These lautet: Wir würden das Interesse an allen Projekten und Tätigkeiten verlieren, die über den Tag hinausreichen. Aber diese Depression würde
nicht nur deshalb eintreten, weil die
Menschen, die wir kennen und lieben,
Spielwelten Automaten und Zauberspiegel
Sie könnte fast online gehen, diese Bildtafel aus einem
Versandkatalog für Spielzeuge von 1803. Über 600
Spielartikel enthielt der Bestelmeier-Katalog des Nürnberger Galanteriewarenhändlers Georg Hieronimus
Bestelmeier, den auch Goethe benutzte, als er seinen
Enkeln zu Weihnachten einen Zauberkasten bestellte.
Peter Friedrich Catel aus Berlin hatte bereits 1790 den
allerersten illustrierten Katalog mit rund 400 Spielzeugen herausgebracht. «Physikalische Belustigungen»
nannte man die Globen und Planetarien, Automaten,
Zauberspiegel und Elektrisiermaschinen, die Kindern
20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. April 2015
Naturphänomene nahebringen sollten. Der Geograf
und Spielzeugsammler Thomas Stauss stellt in seinem
Prachtband die beiden Pioniere des Versandhandels vor
mitsamt der enormen Vielfalt der damals aufblühenden
Spielzeugproduktion. Ein Bildkatalog stellt darüber hinaus 60 Spielobjekte im Detail vor. Kathrin Meier-Rust
Thomas Stauss: Frühe Spielwelten – Zur Belehrung und
Unterhaltung. Die Spielwarenkataloge von Peter Friedrich Catel (1747–1791) und Georg Hieronimus
Bestelmeier (1764–1829). Librum Publishers & Editors,
Hochwald 2015. 446 Seiten, Fr. 85.–.
nach unserem eigenen normalen Ableben einen plötzlichen und gewaltsamen
Tod sterben würden, sondern vor allen
Dingen deshalb, weil das Projekt Menschheit dann am Ende wäre. Wir könnten
uns über unseren eigenen Tod hinaus in
keine fortdauernde soziale Welt mehr
einschreiben. Unser Tun, unsere Werte,
unsere Traditionen, ja, unsere Geschichte wären schlagartig, also auch rückwirkend, sinnentleert.
In der bewährten Tradition des kontrafaktischen philosophischen Gedankenspiels wendet der 64jährige Professor für Philosophie und Recht an der
New York University seinen Betrachtungsgegenstand hin und her. Das macht
die Lektüre dieses schmalen, dreiteiligen
Buches, das auf drei Vorlesungen beruht,
zu einer sehr anspruchsvollen, hin und
wieder etwas spitzfindigen, aber auch
immer wieder vergnüglichen Angelegenheit.
Vor allen Dingen dann, wenn Scheffler
sein Gedankenexperiment mit hypothetischen Szenarien aus Romanen und Filmen stützt. P. D. James’ Roman «Im Land
der leeren Häuser» von 1993 ist so ein
Beispiel. In dieser dystopischen Geschichte ist die Menschheit unfruchtbar
geworden. Zwar stirbt niemand vorzeitig
oder gewaltsam, aber die Lebenden versinken angesichts des bevorstehenden
Aussterbens der Spezies in Agonie und
Negativismus.
Nun könnte man gegen diese Annahme den religiösen Menschen ins Feld
führen, der an das Weiterleben nach dem
Tod glaubt und deshalb immerhin davon
ausgehen kann, nach einer Katastrophe
im Jenseits seine Lieben putzmunter
wiederzusehen.
Abgesehen davon, dass Scheffler diese
Haltung für sich als irrelevant wertet,
will er doch auch im Glauben an das
ewige Leben eine zutiefst menschliche
Eigenart erkennen: Die Erwartung einer
gerechteren und faireren Welt im Jenseits zeige den Menschen als Lebewesen,
das über individualistische und egozentrische Interessen hinausdenkt, und sage
viel darüber aus, so Scheffler, was für
uns Menschen im Diesseits von Bedeutung sei. Den Bezugsrahmen bilde letztlich immer eine in die Zukunft gedachte
Menschheit. Deshalb sei der einzelne
Mensch, ob religiös oder nicht, unbedingt an ihrem Erhalt interessiert – über
seinen eigenen Tod hinaus.
Die Gedankenakrobatik des Philosophen zum Wesen der Spezies Mensch ist
aufregend zu verfolgen, enthält aber
einen Widerspruch, den auch Scheffler
nicht zu lösen vermag. Wenn wir uns
doch vor Katastrophen, die die Menschheit auslöschen könnten, so sehr fürchten, und wenn es so sein sollte, dass das
vorhersehbare Ende der Menschheit
unser gesamtes Wertesystem ad absurdum führen würde – warum legen wir
dann keine grössere Bereitschaft an den
Tag, unser Überleben als Spezies zu sichern? ●
Religion Ayaan Hirsi Ali fordert den Islam zu einer Reformation auf
UnterstütztdieDissidenten!
Ayaan Hirsi Ali: Reformiert euch! Warum
der Islam sich ändern muss. Knaus,
München 2015. 302 Seiten, Fr. 24.90,
E-Book 19.90.
Ein soziales Projekt der Stiftung Tosam www.tosam.ch
Ayaan Hirsi Ali war schon immer eine
kraftvolle Erscheinung. Weltweit bekannt wurde sie mit dem Bestseller «Ich
klage an» (2006), einer vehementen Kritik an der weiblichen Genitalverstümmelung, deren Opfer sie selbst als Kind geworden war. In weiteren Büchern wie
«Mein Leben, meine Freiheit» (2007) und
«Ich bin eine Nomadin» (2010) richtete
sie ihren Fokus verstärkt auf den Westen,
dem sie vorwarf, die Fehlentwicklungen
in der muslimischen Welt durch einen
falsch verstandenen Multikulturalismus
zu verharmlosen. Seit dem Mord am niederländischen Filmemacher Theo van
Gogh, mit dem zusammen sie den Film
«Submission» (Unterwerfung) realisiert
hatte, stand sie zeitweise unter Polizeischutz. Heute lebt sie in den USA, wo sie
mit dem Historiker Niall Ferguson verheiratet ist und einen Sohn hat.
Auch im neusten Buch «Reformiert
euch», das zeitgleich in den USA und in
Deutschland erscheint, bleibt die muslimische «Häretikerin», wie sie sich nennt,
bei ihrem Thema. Schärfer denn je kritisiert sie freiheits- und frauenfeindliche,
antisemitische, homophobe und gewaltbereite Tendenzen innerhalb des Islams.
Und aufrüttelnd ruft sie zur Aufklärung,
ja zu einer «Reformation» des Islam auf
– so wie das Christentum sie durch Luther und Co. erlebt hat.
Erschreckend wirkt nicht nur ihre
schier endlose Aufzählung islamistischer
Attentate in nichtmuslimischen Staaten
bis zum Überfall auf «Charlie Hebdo» im
Januar 2015, sondern auch der zahlreichen – im Westen kaum bekannten –
blutrünstigen Aktionen gegen dissidente
Muslime in Pakistan, Saudi-Arabien,
Bangladesh, im Irak und in Iran: Auspeitschungen, Steinigungen, Enthauptungen, Hand- und Fussabhackungen. Hirsi
REUTERS
Von Urs Rauber
Trotz düsterer
Entwicklungen glaubt
Ayaan Hirsi Ali an
eine grundlegende
Erneuerung des Islam.
Hier Kämpfer der
islamistischen Ansar
Dine im Nordosten
Malis (Juni 2012).
Ali verwahrt sich gegen die Schutzbehauptung, dass Intoleranz und Gewalt
nichts mit dem «friedlichen» Islam zu
tun hätten. Nein, findet sie, der Kern des
Islam enthalte auch das fundamentalistische, gewalttätige Gedankengut. Solange
sich diese Religion nicht wie das Judenund das Christentum von ihrem schrecklichen Teil verabschiedet habe und sie
Kritiker und Dissidenten weiterhin physisch mundtot mache, sei sie nicht im
21. Jahrhundert angekommen.
Nach Hirsi Ali zerfällt der Islam in drei
Gruppen: die militanten Fundamentalisten oder «Medina-Muslime», die die gewaltsame Durchsetzung der Scharia als
religiöse Pflicht betrachten; sie machen
gegen drei Prozent der Gläubigen aus.
Die zweite Gruppe, die «Mekka-Muslime», die die grosse Mehrheit bilden, bestehen aus glaubenstreuen und frommen Muslimen. Die dritte Gruppe, die
muslimischen Dissidenten oder «Reform-Muslime», ist ebenfalls sehr klein
und wird von lautstarken Islamisten
weltweit bedroht, verfolgt oder gar zum
Schweigen gebracht.
Die Autorin identifiziert fünf Bereiche, in denen der Islam reformiert werden müsse: die wörtliche Auslegung des
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Korans und Mohammeds Status als Halbgott; die Ausrichtung auf das Leben nach
dem Tod statt auf das Leben vor dem
Tod; der Anspruch der Scharia als umfassendes Rechtssystem; die soziale Kontrolle, mit der Muslime eigene Anhänger
auf Linie halten; die Notwendigkeit den
Dschihad (heiligen Krieg) zu führen. In
fünf Kapiteln zeigt sie, die selbst einmal
«Soldatin Gottes» war, wo die Schwierigkeiten, aber auch wo das Veränderungspotenzial liegt.
Trotz aller düsteren Entwicklungen
glaubt Hirsi Ali an die muslimische Reformation. Nicht zuletzt dank dem Internet, das «für die islamische Welt im
21. Jahrhundert das bewirkt, was die Erfindung des Buchdrucks im 16. Jahrhundert für das Christentum bewerkstelligte.» Sie würdigt namentlich muslimische
Dissidenten im Westen wie Necla Kelek
und Bassam Tibi in Deutschland und im
Nahen Osten – so den in Saudiarabien
ausgepeitschten Raif Badawi. Ihrem leidenschaftlichen Aufruf ist nichts beizufügen: «Die westliche Welt hat die Pflicht,
die Dissidenten und Reformer, die sich
der Bedrohung stellen, zu unterstützen
und ihnen da, wo es notwendig ist, auch
Schutz zu bieten.» ●
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26. April 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21
Sachbuch
Deutschland Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen pflegt einen unkonventionellen Politikstil.
Wird die CDU-Frau die nächste Bundeskanzlerin?
WiederVater,sodieTochter
Peter Dausend, Elisabeth Niejahr: Operation
Röschen. Das System von der Leyen.
Campus, Frankfurt a. M. 2015.
240 Seiten, Fr. 29.90, E-Book 17.90.
Ulrike Demmer, Daniel Goffart: Kanzlerin
der Reserve. Der Aufstieg der Ursula von
der Leyen. Berlin Verlag, Berlin 2015.
224 Seiten, Fr. 29.90, E-Book 17.90.
Von Gerd Kolbe
Auf den ersten Blick mag es merkwürdig
erscheinen: Zwei Autorenpaare, jeweils
eine Journalistin und ein Journalist der
Wochenzeitschrift «Die Zeit» und des
Magazins «Focus», haben sich zur selben
Zeit kritisch mit der CDU-Politikerin Ursula von der Leyen auseinandergesetzt.
Sollte etwa die Frau, die vor Jahresfrist
plötzlich und unerwartet zur ersten
deutschen Verteidigungsministerin aufstieg, «Kanzlerin der Reserve» sein?
Schon die Fragestellung hat ihren Reiz.
Die doppelte Autorschaft ist sinnvoll.
Denn die 56-Jährige betätigte sich
in Hannover und Berlin auf so
vielen Fachgebieten, dass
sich kein Journalist finden liesse, der sie ständig begleitet und beobachtet hätte.
Demmer und Goffart
vom «Focus» beginnen
ihr Buch mit einer
durchaus
aufschlussreichen Schilderung des
familiären Umfelds. Von
der Leyens Vater Ernst Albrecht war Kabinettschef
in der EWG-Kommission,
dann Generaldirektor für
Wettbewerb in Brüssel, und
wurde schliesslich Ministerpräsident des Bundeslandes Niedersachsen. Vater und Mutter Albrecht brachten es auf sechs Kinder, das Ehepaar von der Leyen auf
sieben. Vater und Tochter waren
sich, wie sich in beiden Büchern
nachlesen lässt, sehr ähnlich und
eng verbunden. Demmer und
Goffart verschweigen allerdings
nicht, dass der Vater die Tochter mitunter nicht richtig ernst nahm. Beide
pflegten und pflegen jedoch denselben Politikstil.
ein Gerücht – lässt die Ministerin ihre
Kinder auch schon einmal doubeln. Ihre
Botschaft lautet konstant: Sehr her, die
Berufstätigkeit der Frauen lässt sich sehr
wohl mit der Mutterrolle vereinbaren.
Die Konservativen in CDU und CSU runzeln die Stirn. Die «Zeit»-Journalisten
Dausend und Niejahr stiessen im Ministerbüro auf ein Kleinkind, das über den
Boden krabbelte. Welch ein Zufall: Papa
ist der stellvertretende Adjutant der Ressortchefin. Wenn sie bei der Bundeswehr
auftritt, dann belehrt der Presseoffizier
die Fotografen gelegentlich: «Denken Sie
daran, es geht um die besten Bilder.»
Helmut Kohls langjähriger Arbeitsminister Norbert Blüm, der Repräsentant
des Arbeitnehmerflügels der Christlichdemokraten, gab von der Leyen laut
Dausend und Niejahr den Rat: «Such dir
mehr Freunde, Mädchen. Am besten in
der CDU.» Genützt hat es kaum. Denn
immer wieder
bringt die
Politikerin Teile von Koalition, Partei
und Lobby gegen sich auf. Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt wandte sich direkt an Angela Merkel: «Frau Bundeskanzlerin, stoppen Sie diese Frau!» Nie
hatte sie Hemmungen, sozialdemokratische Ideen umzusetzen. Schon früh forderte sie den jetzt beschlossenen Mindestlohn. Mit grosszügigen Plänen zur
steuerlichen Berücksichtigung von Kinderbetreuungskosten scheiterte sie allerdings. Sie hatte übersehen, dass in ihrem
Steuermodell wohlhabende Eltern überproportional begünstigt wurden. Demmer und Goffart kommentieren: «Auf
dem gefährlich glatten Parkett der Bundespolitik in Berlin rutschte die flotte
Stürmerin aus der (niedersächsischen)
Provinz gründlich aus.»
Hoch gepokert
Geliebt und gehasst,
verehrt und verulkt:
Ursula von der Leyen
als Faschingssujet am
Rosenmontag in Köln,
16. Februar 2015.
22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. April 2015
RAPHAEL STÖTZEL / SCHNEIDER - PRESS
Permanentes Lächeln
Vom Vater hat die Tochter ihr
politisches Markenzeichen
geerbt, das unermüdliche
Lächeln und die Bereitschaft anzuecken. Öffentlichkeitsarbeit betreibt sie wie der Vater
mit Hilfe der grossbürgerlich heilen Familie
unter Einschluss von
zwei
Ziegen
und
einem Pony. Gelegentlich – so will es
Beinahe hätte sie es sich, als sie in der
CDU kämpferisch für die Frauenquote in
Unternehmensspitzen eintrat, sogar mit
der Bundeskanzlerin verscherzt. Doch
die Verstimmung hielt nicht lange an.
Merkel und von der Leyen, stellen die
Buchautoren fest, brauchen und brauchten einander für die Modernisierung der
CDU. Wer höher pokerte bei der Neubildung des Bundeskabinetts im vergangenen Herbst, Merkel oder von der Leyen,
ist noch offen. Die Ministerin wollte
hoch hinaus, die Kanzlerin offerierte ihr
als erster Frau das Verteidigungsministerium, bekanntlich den Schleudersitz der
Nation. Anfangs wollte die Ministerin
auch dort mit familienpolitischen Themen punkten. Doch schnell hatte sie eingesehen, dass die Ukraine-Krise andere
Antworten erfordert.
Sie war eine der Ersten, die die Deutschen ermahnte, mehr Verantwortung
in der Welt zu übernehmen, Auslandseinsätze der Bundeswehr inklusive. Der
sozialdemokratische
Aussenminister
Frank-Walter Steinmeier war wütend.
Die Zuständigkeit kann er ihr trotzdem nicht absprechen. Die Verteidigungsministerin ist seine Stellvertreterin im Bundeskabinett.
Dausend und Niejahr sind sich
einig: Endlich ist von der Leyen in
ihrer Welt, auf der internationalen
Bühne, angekommen. In Brüssel ist
sie geboren, in London und Stanford
hat sie gelebt. Englisch und Französisch
spricht sie perfekt. An der Harvard-Universität brauchte sie keinen Dolmetscher. Doch kann sie auch Bundeskanzlerin werden? Noch drückt sie sich um
eine Antwort. Angesichts von Rüstungsskandalen und Pannen ist bisher nur ein
ehemaliger Verteidigungsminister auch
Kanzler geworden: Helmut Schmidt.
An den Fakten lässt sich nicht rütteln.
Die beiden Bücher unterscheiden sich
deshalb nur in der Schilderung einzelner
Episoden und Begegnungen. Und wo es
um die Zukunft geht, schliessen beide
Autorengespanne ihre Biografien mit
Kaffeesatzleserei auf hohem Niveau. ●
Memoiren Schillernde Erinnerungen des grossen
deutschen Regisseurs Max Ophüls (1902–1957)
Max Ophüls: Spiel im Dasein. Eine
Rückblende. Alexander, Berlin 2015.
310 Seiten, Fr. 35.90.
Von Martin Walder
Am Anfang war eine kleine Bitte: Vier,
fünf Seiten Lebensbeschrieb und Filmografie, «you know, Max, the kind of
thing», zuhanden der Presseabteilung.
Die Produktionsfirma California Pictures
hat 1945 dem arbeitslosen Emigranten
Max Ophüls soeben eine Zukunft in Hollywood in Aussicht gestellt. Wenige Wochen später liefert dessen Sohn Marcel
über 300 Seiten Text, ins Englische übersetzt, ab.
Das Resultat ist unter dem Titel «Spiel
im Dasein» die bis zum Kriegsende erzählte Rückblende eines der grössten
deutschen Theater-, Film- und Rundfunkregisseure, der 1902 in Saarbrücken
als Max Oppenheimer geboren wurde.
Damit
ist
auch
eine
klassische
Künstlerautobiografie der Emigration in
der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
angezeigt: Flucht 1933 aus Deutschland
nach Frankreich und mit einem Abstecher 1940/41 in die Schweiz (Zürcher
Schauspielhaus) nach Hollywood. Meilensteine im Kino werden zum Beispiel:
«Die verkaufte Braut», die erste
Tonfilmoper (mit Karl Valentin), «Liebelei», «Letter from an Unknown Woman»,
«La Ronde» (immer wieder Schnitzler,
auch im Radio), zuletzt «Lola Montez».
1957 erlag Max Ophüls einem Herzlei-
den; seine Frau Hilde hat die Vita für die
Nachkriegszeit ergänzt.
Die Memoiren, 1945 beendet und 1959
postum erschienen, sind jetzt zusammen mit einem Annex und Marcel
Ophüls’ erstmals auf Deutsch publiziertem Kommentar neu greifbar. Ein multiples Lesevergnügen! Die Autobiografie
ist ja beinah ein Genre, gesättigt von Geschichte und Geschichten, oft auch nur
Geschichtchen, von Entbehrung und
Leid, Überlebenswillen und Glück – bestenfalls. Hunderte klingender Namen
passieren Revue, zu denen das erzählte
Leben schicksalshaft gehört und die es,
hübsches Paradox, singulär machen sollen. Das kann mühsam herauskommen.
In Ophüls’ Erinnerungen und Gedanken findet sich derlei zwar auch – und sie
sind doch viel mehr: die elegant funkelnde Rückblende eines unwiderstehlichen
Erzählers und Performers nämlich, der
sich rigoros weigert, das Spiel als Existenzform der Erfahrung des Schreckens
zu opfern. Der Titel des Buchs ist programmatisch und nahe bei Shakespeare
oder Calderon. Max Ophüls liebt und beherrscht die Pointe, aber nie, um sich am
Ende in schrecklicher Künstlereitelkeit
zu sonnen. Im Gegenteil lässt er seine
Anekdoten ständig in lakonischer Anmut
auf dem Boden des Menschlichen landen, das weiss, dass es erstens anders
kommt, als es zweitens denkt.
So sehr unterspielt Ophüls den bitteren Ernst der Zeit, dass dem Sohn ob der
«fast systematischen Flucht in die Ironie
und die Anekdote», ob solchem «Alibi
INTERFOTO
Rückblende
mitCharme
Filmregisseur
Max Ophüls in
einer Drehpause
(undatierte
Aufnahme, 50er
Jahre).
der Sorglosigkeit und einer gewissen romantischen Frivolität» auch etwas mulmig wird. Hat Marcel doch als Heranwachsender seinen Vater zu Hause pointiert als politischen Kopf wahrgenommen. Soweit vorgewarnt, verfallen wir
dem leuchtenden Charme dieser Rückblende natürlich prompt, und lesen sie
dann ein zweites Mal mit geschärftem
Sensorium – munitioniert durch das Vorwort, und vor allem durch den Kommentar mit Erläuterungen und Richtigstellungen aus dem immensen Fundus, auf
den der Herausgeber Helmut G. Asper als
Autor einer grossen Ophüls-Biografie hat
zurückgreifen können.
Geschmälert wird die «Wahrheit» dieser Art Erinnerungen damit nicht, sie beginnt im Gegenteil zu schillern als das,
was Autobiografie immer auch ist: Inszenierung. Max Ophüls macht sie so lustvoll wie besinnlich kenntlich als sein eigener, wunderbarer Regisseur. ●
Psychologie Klaus Theweleits Buch über Massenmörder lässt die Lesenden ratlos zurück
Killer, die sich als Retter sehen
Klaus Theweleit: Das Lachen der Täter:
Breivik u. a. Psychogramm der
Tötungslust. Residenz, Salzburg 2015.
245 Seiten, Fr. 26.90, E-Book 11.90.
Von Sieglinde Geisel
«Dieses Buch ist zu einem grossen Teil
gemacht aus Zeitung», bemerkt Klaus
Theweleit im Schlusswort zu einem
Buch, das man auch als kommentierten
Reader bezeichnen könnte. Seitenlang
werden Zeitungsartikel zu sämtlichen
Massenmorden des 20. und 21. Jahrhunderts zitiert: von der Shoa über Kambodscha, die NSU und Anders Breivik bis zu
Indonesien, Abu Ghraib, Ruanda und
dem IS. Erst nach Hunderten von Seiten
gelangt der Autor zu so etwas wie einer
These über das «Lächeln oder Lachen als
emblematisches Abzeichen des Killers».
Die modernen Killer, so der Befund,
verstecken ihre Untaten nicht, im Gegenteil: Sie stellen sie aus, «Mord als Feier»,
begleitet vom Gelächter der jubilierenden Täter. In diesem «allumfassenden
Gelächter der Körperzerstörung» sieht
Theweleit einen «Durchbruch in eine
neue, ‹gesichertere› Körperlichkeit» sowie «eine Abwehr der eigenen Todesangst». Die Mörder sehen sich dabei keineswegs als krank, sondern als Weltenretter, als «Mörder höheren Rechts», wie
etwa der lächelnde Killer Anders Breivik,
der Norwegen und die westliche Welt vor
dem «islamistischen Kulturmarxismus»
retten wollte – der Massenmord an 77
Menschen sollte, nach seinen eigenen
Worten, die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf sein 1500-Seiten-Manifest lenken.
Was die modernen Massenmörder
auszeichnet – und dies gilt für Selbst-
mordattentäter des IS ebenso wie möglicherweise für den Germanwings-CoPiloten, der 149 Menschen in den Tod
riss –, ist ihre erschreckende Normalität.
Gerade dies jedoch sollte niemanden
überraschen, so Klaus Theweleit: Die
«Mordlust» gehöre zum «soldatischen
Mann», wie er ihn selbst 1977 in seinem
Werk «Männerphantasien» beschrieben
hat. Das Töten diene der Spannungsabfuhr und stelle ein inneres Gleichgewicht
wieder her.
Wenn in einer Gesellschaft oder von
einer Organisation «der Normalfall des
Tötens» ausgerufen werde, verwandelten sich ganz normale Männer in Mörder.
Das Rätseln über die Frage, warum dies
so ist, überlässt der Kompilator Klaus
Theweleit leider weitgehend dem Leser.
Schade, macht er doch auf ein verstörendes Phänomen aufmerksam, das bisher
kaum wahrgenommen worden ist. ●
26. April 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23
Sachbuch
Palästina Der frühere israelische Artillerieoffizier Ahron Bregman zum Nahostkonflikt
EineOrdnungsmachtdemontiertsich
Ahron Bregman: Gesiegt und doch verloren.
Israel und die besetzten Gebiete. Orell
Füssli, Zürich 2015. 384 Seiten, Fr. 37.90.
Israel hat gewählt, aber die Wähler waren
vor keine reale Alternative gestellt. Vor
allem hat keine der Parteien Stellung bezogen zur fundamentalen Frage, welche
Zukunft ein Land hat, das diesseits der
Grenze von 1967 demokratisch organisiert ist und jenseits davon ein Besatzungsstaat, der seit bald 50 Jahren über
ein anderes Volk herrscht.
Was das bedeutet, beschreibt der israelische Kriegswissenschafter und Nahost-Historiker Ahron Bregman in seinem
Buch über die Besatzung von 1967 bis
2007, mit einer aktuellen Ergänzung bis
heute. Bregman kennt die Innensicht.
1958 in Israel geboren, hat er Jahre als Offizier gedient und am Libanonkrieg 1982
teilgenommen. Weil er sich weigerte, als
Reservist in den besetzten Gebieten zu
dienen, zog er nach London. Dort lehrt er
am King’s College und hat mehrere Bücher zum Nahostkonflikt verfasst.
Nüchtern, aber anschaulich zeigt der
Autor wie die Besetzung mit den Jahrzehnten immer gewalttätiger wurde, wie
sich die politische Debatte in der israelischen Führung veränderte, zählt die
trostlose Abfolge von Konferenzen und
Abkommen auf, jede von ihnen eine vertane Chance für eine (Zweistaaten-)Lösung oder für einen Frieden mit Syrien.
Bregman ist ein Kritiker der Besetzung,
doch sein Ton bleibt sachlich.
Ihm liegt fern, die palästinensische
Seite reinzuwaschen. Deren Fehler beschreibt Bregman genauso, insbesondere des einstigen PLO-Führers Yassir
Arafat. Doch die Hauptverantwortung
KEYSTONE
Von Claudia Kühner
Blick auf Shufat, das
palästinensische
Flüchtlingslager
in Ostjerusalem,
umgeben von
der israelischen
Sicherheitsmauer
(Dezember 2014).
liegt in seinen Augen in Jerusalem. Derjenige, der eine neue Vision hatte, wurde
ermordet: Yitzhak Rabin.
Der Historiker hatte auch Zugang zu
bisher unbekannten Geheimdienstinformationen. Sie offenbaren, wie man die
andere Seite eingeschätzt hat und welche Schlüsse man für das eigene Vorgehen zog. Und wie Meinungsumfragen
über politischen Mut siegten (Beispiel
Ehud Barak).
Es herrscht die allgemeine Tendenz,
im Nahostkonflikt von den «beiden Seiten» zu sprechen, als ob sie gleichgewichtig wären. Sie sind es nicht, und
Bregman betont dies eins ums andere
Mal. Palästinenser sind in jeder Hinsicht
unterlegen. Ihre blutige Gegenwehr, vor
allem die Selbstmordattentate in den
neunziger Jahren (denen stets der ebenso blutige Gegenschlag Israels folgte)
wertet Bregman als Kampfmittel jener,
die nicht über eine Armee verfügen.
Doch hat der Terror die Lage der Palästinenser nur verschlimmert.
Auf das israelische Besatzungskonto
gehen bis heute Häuserzerstörungen,
Misshandlungen, Vertreibungen, Sip-
penhaft, Inhaftierung von Kindern – von
den Kriegen mit Tausenden ziviler Opfer
in Libanon und Gaza nicht zu sprechen.
Der Geheimdienst etablierte ein Willkürsystem von Bewilligungen, Lizenzen,
Ausweisen, um sich die Bevölkerung gefügig zu machen und Kollaborateure zu
rekrutieren. Dazu kommt die Ausbeutung palästinensischer Arbeiter nach Bedarf. Die ökonomischen Gesichtspunkte
der Besetzung werden bei Bregman leider nur angedeutet – ein Manko.
Mit politischen Analysen – beispielsweise des politischen Gewichts der Siedlerbewegung – hält sich der Autor zurück
Ohne das jahrzehntelange Nachgeben
von Regierungen und Armee ist die Besetzung und der Unwille, sie zu beenden,
schlicht nicht zu erklären. Bregman diskutiert auch nicht die Frage, was eine
fortdauernde Besetzung hiesse: nämlich
das Ende des Zionismus, dessen Grundgedanke ein demokratischer jüdischer
Staat ist und nicht die Herrschaft über
eine palästinensische Mehrheit. Und
doch ist Bregman überzeugt davon, dass
die Palästinenser eines Tages einen Staat
haben werden. ●
Reisejournal Ein Naturforscher berichtet von seinen Erlebnissen auf Cooks zweiter Weltumseglung
Vom botanischen Zeichner zum Revolutionär
Jürgen Goldstein: Georg Forster. Zwischen
Freiheit und Naturgewalt. Matthes &
Seitz, Berlin 2015. 244 Seiten, Fr. 34.90.
Von Janika Gelinek
1772 bricht James Cook zu seiner zweiten
Weltumsegelung auf. Drei Jahre lang ist
er unterwegs: Von England in Richtung
des südlichen Polarkreises, von wo er
nach mühseligsten Versuchen in die Antarktis vordringt – weiter, als je ein Europäer vor ihm. Über die Osterinseln, Neuseeland, Tahiti und Südafrika kehrt er
am 30. Juli 1775 nach England zurück.
Mit an Bord war der damals erst 17-jährige Georg Forster (1754–1794), der 1777
seine bahnbrechende «Voyage around
the world» vorlegt, in welcher er «ohne
Rücksicht auf willkürliche Systeme,
24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. April 2015
bloss nach allgemeinen menschenfreundlichen Grundsätzen» seine «Entdeckungen in der Geschichte des Menschen, und in der Naturkunde überhaupt» darlegt. Damit beschrieb der
junge Mann ohne höhere Bildung, ursprünglich als botanischer Zeichner angeheuert, unbewusst sein Lebensprogramm: Ohne Rücksicht auf willkürliche
Systeme der eigenen Wahrnehmung vertrauend, den Menschen in seinen komplexen kulturellen und sozialen Zusammenhängen fest im Blick.
Mit diesem Primat der Empirie vor
jeder «Philosophie im Lehnstuhl» erklärt
der Philosoph Jürgen Goldstein im vorliegenden Band auch Forsters Einsatz für
die Mainzer Republik, die 1793 den Anschluss an das revolutionäre Frankreich
versuchte, bevor sie von preussischen
Truppen niedergeschlagen wurde. An-
ders als bei Rousseau oder Kant, so Goldstein, resultiert Georg Forsters Gesellschaftsutopie aus eigener Erfahrung:
«Aus dieser Differenz ergibt sich die unterschiedliche Radikalitätsbereitschaft
zur Revolution.»
Spannend und mit ausführlichen Zitaten schildert Goldstein Forsters grosse
Reise, deren Eindrücke und Strapazen
ihn ein Leben lang begleiten sollten.
Doch statt sie als Nukleus seiner kulturkritischen Wahrnehmung in den Mittelpunkt zu stellen, wird Forsters geistige
Entwicklung vom Reiseschriftsteller und
Naturforscher zum Revolutionär rekonstruiert, was zwangsläufig eine Homogenität evoziert, die dem in sich widersprüchlichen Denken Forsters nicht gerecht wird. Von der Revolution durchdrungen und an ihr verzweifelnd, starb
er 1794 einsam und verarmt in Paris. ●
Zweiter Weltkrieg Dem britischen Geheimdienst gelang die spektakuläre Entführung eines deutschen
Generals. Patrick Leigh Fermor leitete die Aktion und beschrieb sie später
JamesBondaufKreta
Patrick Leigh Fermor: Die Entführung des
Generals. Dörlemann, Zürich 2015.
304 Seiten, Fr. 36.90, E-Book 22.90.
Von Geneviève Lüscher
Ein Bond-Girl wird man in dieser Agentengeschichte aus dem Zweiten Weltkrieg
vergeblich suchen, es ist eine reine
Männerstory, die der bekannte Reiseschriftsteller Patrick Leigh Fermor hier
ausbreitet. Dafür hat sie den Vorteil, wahr
zu sein. Erzählt – 1957 sogar verfilmt –
wurde sie schon öfter, allerdings nie von
Fermor selber, der die Aktion in den kretischen Bergen damals geleitet hatte.
Patrick Leigh Fermor, geboren 1915 in
London, hatte ein ungewöhnliches
Leben. Nachdem er von etlichen Schulen
geflogen war, beschloss er 1933, durch
Europa nach Konstantinopel zu wandern. Er kam bis Athen und brauchte
dazu vier Jahre. Seiner während der
Wanderung erworbenen Sprach- und
Ortskenntnisse wegen wurde der britische Nachrichtendienst auf ihn aufmerksam. Es war der Anfang seiner Abenteuer
als Geheimagent und Kriegsheld. Nach
dem Krieg liess er sich in Griechenland
nieder und publizierte mit grossem Erfolg seine Reiseerlebnisse. Er starb 2011
in England.
Strapaziöse Gewaltmärsche
Erstaunlicherweise fand sich nun in seinem Nachlass ein Manuskript über seine
berühmteste Tat, die Entführung des
deutschen
Generalmajors
Heinrich
Kreipe, das er aber nie ganz publiziert
hatte. Es ist nun erstmals vollständig in
deutscher Übersetzung erschienen, angereichert mit etlichen Kriegsberichten
Fermors aus den Jahren 1942–1945. Das
Buch schliesst mit dem Kapitel «Die
Entführungsroute» von Chris und Peter
White, die den strapaziösen Weg durch
die kretischen Berge beschreiben, mit
Tipps für Autofahrer, Busbenützer und
Wanderer.
Kreta war seit 1941 von den Deutschen
besetzt. Kretische Partisanenverbände
hatten sich in das unwegsame Gebirge
zurückgezogen und fügten den Deutschen, in Zusammenarbeit mit dem britischen Geheimdienst, Nadelstiche zu, die
mit grausamsten Vergeltungsmassnahmen an der Zivilbevölkerung beantwortet wurden. Verantwortlich für die Gemetzel war Generalleutnant FriedrichWilhelm Müller, der «Schlächter von
Kreta». Der britische Geheimdienst beschloss, ihn zu entführen.
Die von Fermor geleitetet Aktion startete am 4. Februar 1944 von Kairo aus.
Eine Gruppe von Fallschirmspringern
landete in den kretischen Bergen, wo sie
von Partisanen empfangen wurden. Das
Auskundschaften des Geländes und die
Vorbereitungen dauerten Wochen. Unterdessen war allerdings Müller, dessen
Abscheulichkeiten sogar den Deutschen
Unter der Akropolis
stossen die
einstigen Feinde
an: der britische
Ex-Agent Patrick
Leigh Fermor (links)
und der deutsche
Ex-Generalmajor
Heinrich Kreipe beim
Wiedersehen 1972.
zu viel geworden waren, durch Heinrich
Kreipe ersetzt worden, dennoch wurde
am Plan festgehalten.
Am 26. April, nachts, wurde der Wagen
Kreipes von zwei verkleideten deutschen Soldaten, einer davon war Fermor,
angehalten und mit dem General entführt. Detailliert beschreibt Fermor die
Fahrt, auf der die Entführer 21 deutsche
Kontrollposten
passieren
mussten!
Schliesslich begann der Marsch durch
die Berge. Der General sollte von der
Nord- zur Südküste gebracht, dort von
einem Boot aufgenommen und nach
Kairo verfrachtet werden. Zusammen
mit den Partisanen marschierte die
Gruppe jeweils nachts von Unterschlupf
zu Unterschlupf. Da die schwer gedemütigten Deutschen nach ihrem verlorengegangenen General suchten, mussten
weite Umwege in Kauf genommen werden; die Männer waren 18 Tage im unwegsamen Gelände unterwegs.
Der Bericht Fermors ist kein militärischer Rapport, sondern die Geschichte
einer Annäherung: Entführer und Entführter lernten sich auf den bis 12-stündigen Gewaltmärschen, dem gemeinsamen Frieren, den kargen Mahlzeiten,
dem reichlich fliessenden Raki näher
kennen. Fermor berichtet berührend
über den zunehmenden Respekt, zu dem
beitrug, dass Kreipe kein Kriegsverbrecher war, nicht einmal ein überzeugter
Nazi. Der General sei erstaunt gewesen
über die Höflichkeit der Kreter und Briten, die sich um sein Wohlergehen bemühten, besonders als er eines Nachts
vom Maultier gefallen war und sich eine
Schulterverletzung zugezogen hatte.
Wesentlich älter als seine Entführer nahmen ihn die körperlichen Strapazen stär-
ker mit. Einen seltsamen Moment schildert Fermor, als sie eines Morgens die
weissen Gipfel des Idagebirges vor sich
sahen, und Kreipe selbstvergessen die
Anfangszeile eines Horaz-Gedichtes auf
Latein zitierte, und Fermor die restlichen
Zeilen auswendig ergänzte. «Fünf Minuten lang war der Krieg verschwunden.»
Grausame Rache
Die Entführung gelang, die Gruppe erreichte die Südküste. General Kreipe
wurde mit einem Boot ausser Landes gebracht. Über England gelangte er in ein
Kriegsgefangenenlager nach Kanada.
Weniger glimpflich verlief der «Husarenstreich», wie Kreipe die Aktion einmal nannte, für die Kreter. General Müller war zurückgekehrt und übte grausame Rache an den Bergdörfern. Dafür
wurde er 1946 in Athen vor ein Kriegsgericht gestellt und hingerichtet. Ungeschoren kamen seine Untergebenen
davon, kein deutsches Gericht sprach je
eine Verurteilung für die Greuel der
Wehrmacht auf Kreta aus.
Patrick L. Fermor musste gewusst
haben, welche Folgen seine Aktion
haben würde. Dass er seinen Bericht
über die Entführung nie publiziert hat,
mag vielleicht ein Schuldgeständnis am
Tod dieser Männer, Frauen und Kinder
sein, die sterben mussten für eine spektakuläre Heldentat, die zwar erfolgreich
war und die Partisanen moralisch unterstützt hatte, aber vom strategischen
Standpunkt aus keinen Sinn mehr machte. Kreipe war ein unbedeutender Mann,
Kreta ein Nebenschauplatz und die deutsche Niederlage absehbar. Dennoch verehren die Kreter Patrick L. Fermor bis
heute als einen ihrer Kriegshelden. ●
26. April 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25
Sachbuch
Informationsgeschichte Wie die frühneuzeitlichen Adressbüros und Fragämter funktionierten
Suchen in der Zeit vor Google
Anton Tantner: Die ersten Suchmaschinen.
Adressbüros, Fragämter, IntelligenzComptoirs. Wagenbach, Berlin 2015.
173 Seiten, Fr. 29.90.
Von Monika Burri
Suchdienste, Informationsportale und
Vermittlungsplattformen sind keine
Erfindung des Internetzeitalters. Schon
das frühneuzeitliche Adressbüro strebte
einen organisierten Informationsaustausch an.
Arbeits- und Unterkunftsvermittlung,
Pfandleihen, Reisebegleitungen sowie
der Verkauf von Waren aller Art gehörten
zur Dienstleistungspalette des Bureau
d’adresse, dessen Prototyp 1630 in Paris
eröffnet wurde.
Wer etwas suchen oder finden, kaufen
oder verkaufen wollte, konnte sein Anliegen gegen Gebühr in ein Register ein-
zu, die verstreuten Zeugnisse der meist
privat geführten Auskunftsbüros zu
einem plausiblen Unternehmensmodell
zusammenzufügen. Am Beispiel des
Auskunftscomptoirs skizziert er eine erhellende Geschichte frühneuzeitlicher
Informations- und Registriertechniken.
Die gespeicherten Daten weckten übrigens das Interesse der Obrigkeit, schon
die analogen Suchdienste des Ancien Regime mussten zwischen Privacy und
Kontrolle vermitteln.
Um die Reichweite des Informationsaustausches zu optimieren, gaben die
meisten Adressbüros Anzeigenblätter
heraus. Das «Tagblatt der Stadt Zürich»
oder die «Basler Nachrichten» sind aus
Adressstuben des 18. Jahrhunderts hervorgegangen. Wenn also heutige Verlagshäuser ihr Portfolio mit digitalen
Suchportalen und Tauschbörsen aufrüsten, liest sich das wie die Fortsetzung
einer alten Unternehmenstradition. ●
tragen lassen oder Auszüge aus dem Register erhalten.
Der Gründer des ersten Adressbüros,
der französische Arzt Théophraste Renaudot (1586–1653), verfolgte neben
kommerziellen Interessen auch karitative Motive. Die Arbeitsvermittlung sollte der Armutsbekämpfung dienen, für
städtische Unterschichten bot das Auskunftsbüro kostenlose medizinische
Beratung an. Die Entstehung der Informationsbüros korrespondierte mit der
Auflösung mittelalterlicher Beziehungsnetzwerke. Im 17. und 18. Jahrhundert
entstanden in den meisten europäischen
Metropolen Auskunfts- und Vermittlungsdienste nach Pariser Vorbild: die
Offices of Intelligence in London, die
Fragstuben in Wien, die Adresshäuser in
Preussen, die Frag- und Kundschaftsämter der Habsburgermonarchie.
Dem österreichischen Historiker Anton
Tantner kommt nicht nur das Verdienst
Das amerikanische Buch Steve Jobs – halb Genie, halb Despot
Als Autoren von Becoming Steve Jobs
(447 Seiten, Crown Business, März
2015) stehen Brent Schlender und Rick
Tetzeli offenkundig unter Rechtfertigungsdruck. Der Einstieg in den Text
wird durch Erörterungen der persönlichen Beziehung Schlenders zu dem
Hightech-Pionier erschwert, der dann
durchwegs «Steve» genannt wird. Nach
einem Dutzend Seiten nennen die Autoren ihr Problem dann beim Namen:
Nachdem der Apple-Gründer im Oktober 2011 einem Krebsleiden erlegen
war, erschien wenig später die von ihm
selbst autorisierte Lebensgeschichte
aus der Hand Walter Isaacsons «Steve
Jobs» (630 Seiten, Simon & Schuster,
Oktober 2011).
Damit demonstrieren Schlender und
Tetzeli ihre lange Erfahrung als Experten für die Computer- und Unterhaltungsindustrie, die sie seit Jahrzehnten
für Publikationen wie «Fortune» begleiten. Dennoch hält die amerikanische
Kritik zu Recht fest, ihre Vorwürfe an
26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. April 2015
KEYSTONE
Laut Schlender und Tetzeli zeichnet
der voluminöse Weltbestseller ein «eindimensionales Bild» von Jobs, der sein
Leben lang «halb Genie, halb Arschloch» geblieben sei. Deshalb legen sie
ihr Buch als Gegenentwurf an. Wie der
umständliche Untertitel «Die Evolution
eines rücksichtslosen Emporkömmlings zu einer visionären Führungspersönlichkeit» signalisiert, bauen die Autoren auf das Modell des Entwicklungsromans und wollen die Vielschichtigkeit von Jobs freilegen. Dies gelingt
ihnen speziell bei den schweren Jahren
ihres Helden zwischen seinem Hinauswurf bei Apple 1985 und seiner Rückkehr als Retter 1997 auf unterhaltsame
und detailreiche Weise.
in seinen Orbit zog. Aber selbst nachdem ihm Innovationen wie das iPhone
einen Platz im Olymp der Edisons und
Fords gesichert hatten, blieb Jobs arrogant, launisch und rachsüchtig. Selbst
engste Mitarbeiter hat er primär nach
deren Nützlichkeit behandelt. Auch
den Kontakt zu Schlender kappte Jobs
abrupt, nachdem der Journalist krankheitshalber nicht mehr über die Hightech-Branche berichtete. Schlender
und Tetzeli versuchen nicht, die Wurzeln dieser Distanziertheit freizulegen.
Computerpionier
Steve Jobs
(1955–2011) stellt
am 9. Januar 2007
das erste iPhone von
Apple vor.
Autor Brent Schlender
(unten).
Isaacson seien in keiner Weise gerechtfertigt. Tatsächlich weichen die Autoren
in ihrer Darstellung von Jobs nur unwesentlich von Isaacson ab, dem erfolgreichsten Verfasser von Biografien in
den USA (unter anderem zu Albert Einstein).
Wie Schlender selbst erlebt hat, war
Jobs zwar enorm lernfähig und hat während seines Exils von Apple zur Führung eines Konzerns notwendige Qualitäten wie Geduld und Disziplin entwickelt. Kombiniert mit technischem
Weitblick und einem aussergewöhnlichen Sinn für Ästhetik und Nutzerfreundlichkeit, ermöglichte ihm dies
eine einzigartige Laufbahn als Innovator und Unternehmer. Jobs war zudem
ein erstklassiger Delegierter, dessen
Sachverstand hochkarätige Spezialisten
Isaacson wies dabei auf Jobs Kindheitserfahrung hin: Als unehelicher Sohn
einer Amerikanerin und eines syrischen Gaststudenten gab ihn die Mutter nach der Geburt zur Adoption frei.
Dennoch ist «Becoming Steve Jobs» lesenswert. Wer eine griffige und für
Laien verständliche Darstellung der
Evolution von Apple und der Computerbranche insgesamt sucht, wird hier
gut bedient. Um die Jahrtausendwende
herum erkannte Jobs, dass die rasanten
Fortschritte der Technik die Digitalisierung der Lebenswelt ermöglichen
könnten. Er und seine Expertenteams
entwickelten dazu Geräte wie das
iPhone, die heute den Alltag von Milliarden Menschen prägen. Damit gab
Jobs jedermann für ein paar hundert
Dollar Rechnerkapazitäten in die Hand,
die vor 20 Jahren nur in den «Supercomputern» des Pentagons oder von
Grosskonzernen verfügbar waren.
Wünschenswert wäre in diesem Zusammenhang jedoch ein Blick auf die
Schattenseiten dieser Entwicklung gewesen: Schliesslich kommt Apple zunehmend über die Abschöpfung von
Nutzerdaten und monopolistisches
Verhalten in die Kritik. ●
Von Andreas Mink
Agenda
Minnesang Die Manesse-Handschrift
Agenda Mai 2015
Basel
Dienstag, 5. Mai, 19.30 Uhr
Peter Wawerzinek: Schluckspecht.
Lesung. Kulturhaus Bider & Tanner,
Aeschenvorstadt 2. Gratiskarten:
www.biderundtanner.ch.
Dienstag, 12. Mai, 20 Uhr
Shlomo Graber: Denn Liebe ist stärker als
Hass. Lesung. Thalia, Freie Strasse 32.
Gratiskarten: Tel. 061 264 26 55.
Donnerstag, 21. Mai, 20 Uhr
Kenneth Bonert:
Der Löwensucher.
Lesung, Fr. 17.–. Literaturhaus, Barfüssergasse 3.
Info: Tel. 061 274 26 55.
Bern
UNIVERSITÄT HEIDELBERG
Sonntag, 3. Mai, 11 Uhr
Susanna Schwager: Freudenfrau. Lesung
mit Musik. Ausstellungseintritt. Zentrum
Paul Klee, Monument im Fruchtland 3.
Info: Tel. 031 359 01 01.
Der Codex Manesse ist die bedeutendste Handschrift
mit Liedern des deutschen Mittelalters. Entstanden ist
sie im frühen 14. Jahrhundert in Zürich. Heute liegt sie in
einem Tresor der Heidelberger Universitätsbibliothek.
Sie enthält neben den Liedern und Sprüchen nicht weniger als 137 ganzseitige Miniaturen, welche die Minnesänger bei ihren höfischen Aktivitäten zeigen. Die
Blätter entzücken uns bis heute durch ihre Frische und
Schönheit. Ein wunderbarer Geist der Frühe durchweht
sie. Lothar Voetz, emeritierter Germanist an der Universität Heidelberg, ist ein eminenter Kenner der Manessischen Liederhandschrift. In einer neuen und reich
illustrierten Monografie erklärt er die Entstehung,
Geschichte und Erschliessung des Werks. Sein Buch ist
gescheit und gründlich, richtet sich jedoch nicht in erster Linie an die Fachwissenschaft, sondern an ein Publikum interessierter Laien. Ein besonderes Anliegen von
Lothar Voetz ist es, die planvolle Anlage des Werks hervorzuheben. Unsere beiden Bilder zeigen Heinrich Hetzbold von Weissensee auf der Jagd (links) und Wernher
von Teufen mit einer Falknerin. Manfred Papst
Lothar Voetz: Der Codex Manesse. Lambert Schneider,
Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2015.
176 Seiten, Fr. 99.90.
Belletristik
Sachbuch
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
Jussi Adler-Olsen: Verheissung – Der Grenzenlose. DTV. 596 Seiten, Fr. 24.55.
Lucinda Riley: Die sieben Schwestern.
Goldmann. 544 Seiten, Fr. 25.40.
Milena Moser: Das Glück sieht immer anders aus.
Nagel & Kimche. 224 Seiten, Fr. 26.90.
Lukas Hartmann: Auf beiden Seiten.
Diogenes. 336 Seiten, Fr. 33.90.
Cecelia Ahern: Das Jahr, in dem ich dich traf.
Fischer Krüger. 384 Seiten, Fr. 21.90.
Peter Bichsel: Über das Wetter reden.
Suhrkamp. 150 Seiten, Fr. 28.90.
Viveca Sten: Tod in stiller Nacht.
Kiepenheuer & Witsch. 400 Seiten, Fr. 22.90.
Ian McEwan: Kindeswohl.
Diogenes. 224 Seiten, Fr. 29.90.
John Grisham: Anklage.
Heyne. 512 Seiten, Fr. 28.80.
Dienstag, 26. Mai, 20 Uhr
Arno Geiger: Selbstporträt mit Flusspferd. Lesung, Fr. 15.–. Stauffacher
Buchhandlungen, Neuengasse 25/37.
Reservation: Tel. 031 313 63 63.
Solothurn
Donnerstag, 14., bis Sonntag, 17. Mai
37. Solothurner Literaturtage. Programm
unter www.literatur.ch.
Bestseller April 2015
Martin Suter: Montecristo.
Diogenes. 320 Seiten, Fr. 33.90.
Mittwoch, 6. Mai, 19 Uhr
Werner Bätzing: Zwischen Wildnis und
Freizeitpark. Buchvernissage. Alpines
Museum, Helvetiaplatz 4.
Info: Tel. 031 350 04 40.
Giulia Enders: Darm mit Charme.
Ullstein. 288 Seiten, Fr. 22.85.
Thomas Maissen: Schweizer Heldengeschichten.
Hier + Jetzt. 240 Seiten, Fr. 29.90.
Wilhelm Schmid: Gelassenheit.
Insel. 118 Seiten, Fr. 12.90.
Jean Ziegler: Ändere die Welt!
Bertelsmann. 288 Seiten, Fr. 25.40.
Mahtob Mahmoody: Endlich frei.
Ehrenwirth. 416 Seiten, Fr. 24.55.
Walter Mischel: Der Marshmallow-Test.
Siedler. 400 Seiten, Fr. 32.20.
Kurt Lauber: Matterhorn, Bergführer erzählen.
Droemer/Knaur. 304 Seiten, Fr. 31.90.
Pascal Voggenhuber: Zünde dein inneres Licht
an. Giger. 160 Seiten, Fr. 37.90.
Karoline Arn: Elisabeth de Meuron von
Tscharner. Zytglogge. 320 Seiten, Fr. 36.90.
Duden. Die deutsche Rechtschreibung. 26. Aufl.
Bibliogr. Institut. 1216 Seiten, Fr. 37.90.
Erhebung Media Control® AG im Auftrag des SBVV; 14.4.2015. Preise laut Angaben von www.buch.ch.
Zürich
Freitag, 8. Mai, 22 Uhr
3. Zürcher Kriminalnacht mit Monika
Mansour, Michèle Minelli, Raphael
Zehnder. Fr. 35.–. Theater Rigiblick, Germaniastr. 99. Res.: Tel. 044 361 80 51.
Montag, 11. Mai, 18.30 Uhr
Martin Walker: Provokateure. Lesung
mit Gastmahl, Fr. 92.–. Bistro Le Puy,
Forchstr. 211. Res.: Tel. 044 380 48 08.
Dienstag, 19. Mai, 20 Uhr
Joseph O’Connor: Die wilde
Ballade vom lauten Leben.
Lesung, Fr. 25.–. Kaufleuten. Pelikanplatz 18. Karten: Tel. 044 225 33 77.
Dienstag, 26. Mai, 19.30 Uhr
Davide Longo: Der Fall Bramard.
Lesung, Fr. 18.– inklusive Apéro.
Literaturhaus, Limmatquai 62.
Info: Tel. 044 254 50 08.
Bücher am Sonntag Nr. 5
erscheint am 31.5.2015
Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am
Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60
oder E-Mail [email protected]. Oder sind
– solange Vorrat – beim Kundendienst der NZZ,
Falkenstrasse 11, 8001 Zürich, erhältlich.
26. April 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27
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nzz.ch/geschichte
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