SonntagsZeitung, 17.5.2015

sonntagszeitung.ch | 17. Mai 2015
Eine Entscheidung
Editorial
Das Misstrauen gegenüber
der moralischen
Urteilskraft ist unbegründet
Die Abstimmung zur Präimplantationsdiagnostik spaltet Familien
gehen? Wenn simple Parolen nicht mehr weiterhelfen: Paare erzählen,
Je näher der Abstimmungstermin rückt, desto
schriller werden die Töne in der Auseinandersetzung um die Präimplantationsdiagnostik (PID).
Diese Woche hat die Politologin Regula Stämpfli
in der «Basler Zeitung» zugeschlagen. Unter dem
Titel «Menschen schreddern» fährt sie alles auf,
was die moralische Empörung aufladen kann:
«Laborfabrikation von Menschen», «kapitalistische Eugenik», «mit Menschenmaterial rumdoktern», «eiskalte Repro-Lobby», «menschliche Niedertracht im weissen Kittel».
Wo religiöse, kulturelle, moralische Fragen ins
Spiel kommen, lässt man die betroffenen
Menschen selten gewähren. Begründet wird das
regelmässig mit dem Dammbruchargument:
Wenn man den Menschen nicht daran hindert,
öffnet er die Büchse der
Pandora. Dann brechen
alle Dämme, dann werden der skrupellosen
Geschäftemacherei Tür
und Tor geöffnet. Denn
der Mensch ist schwach,
egoistisch und moralisch
minderbemittelt.
«Wer sich
ein Kind
wünscht,
entscheidet
alles
andere als
leichtfertig»
Dass dem nicht so ist,
zeigen die nebenstehenden Porträts von
betroffenen Paaren eindrücklich. Vor das moralische Dilemma gestellt, gelangen sie mit guten
Gründen zu unterschiedlichen Schlüssen. Wer
sich ein Kind wünscht, entscheidet eben alles
andere als leichtfertig. Es gibt viele Eingriffsmöglichkeiten in das Leben, die missbräuchlich oder
nutzbringend eingesetzt werden können. Aber
das Misstrauen gegenüber der moralischen
Urteilskraft von Müttern und Vätern ist fehl am
Platz. Der Frau, die eine PID auf sich nimmt, und
dem Arzt, der sie durchführt, geht es darum, ein
Kind auf die Welt zu bringen, nicht um Selektion
und Tötung.
Die Dammbruchadvokaten verdrehen den
Sachverhalt. Noch nie in der Geschichte haben
Entscheide von betroffenen Individuen zum Unheil geführt. Jene von Machthabern und Staaten
dagegen schon. Das Naziregime hat die systematische Ermordung von behinderten Kindern
befohlen, nicht die Eltern. Das kommunistische
China hat die Einkindpolitik über die Köpfe der
Betroffenen hinweg erzwungen. Im katholischen
Irland steckten Behörden junge, «unmoralische»
Frauen in die unmenschlichen MagdalenenWäschereien. Im Iran, in Afghanistan, in Somalia
oder im Sudan wurden, gestützt auf die Scharia,
Frauen wegen Ehebruchs gesteinigt.
Man kann über die moderne Fortpflanzungsmedizin geteilter Meinung sein. Aber wie bei
vielen moralischen Fragen steht die Entscheidung nicht der Gesellschaft zu, sondern dem
direkt betroffenen Individuum. Wer einer Frau die
Freiheit zur PID nehmen will, braucht bessere
Argumente als die Panikmache vom Dammbruch.
«Wir dachten,
dass wir
auf Kinder
verzichten
müssten»
Regula und Christoph Gmür
sind Eltern einer
vierjährigen Tochter.
Alle drei sind gesund,
aber Träger der Erbkrankheit
zystische Fibrose
Foto: Samuel Trümpy
Armin Müller,
Autor und Textchef
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Regula Gmür war vollkommen
überrascht, als sie einen Routinetest auf eine Erbkrankheit machte. Das Ergebnis zeigte: Sie ist Trägerin eines defekten Gens für die
Stoffwechselerkrankung zystische
Fibrose (ZF), früher auch Mukoviszidose genannt. Die Krankheit,
bei der die Lunge und die Verdauungsorgane verschleimen, bricht
nur aus, wenn zwei defekte Gene
vererbt werden – eins vom Vater
und eins von der Mutter.
Das Niederschmetternde an der
Nachricht war, dass Regula Gmürs
Ehemann Christoph bereits lange
zuvor wusste, dass er ebenfalls
Träger eines defekten ZF-Gens ist.
Die beiden hatten vor, eine Familie zu gründen. Der Test war nur
zur Sicherheit, denn die Stoffwechselkrankheit ist die häufigste Erbkrankheit in der weissen Bevölkerung. Jeder 20. bis 25. ist Träger
eines krankhaft veränderten Gens
für ZF.
«Danach war für uns klar, dass
wir auf Kinder verzichten müssen»,
sagt Christoph Gmür. Die Wahrscheinlichkeit, ein krankes Kind zu
bekommen, liegt beim Ehepaar
Gmür bei 25 Prozent. «Ich wollte
nicht miterleben, wie mein Kind
stirbt.»
Christoph Gmür weiss, was es
bedeutet, einen geliebten Menschen sterben zu sehen. Seine jüngere Schwester kämpfte ihr Leben
lang gegen die unheilbare Krankheit. Mit 12 Jahren wurde ihr eine
Lunge transplantiert, nachdem ihr
das Atmen immer schwerer gefallen war.
«Einige Jahre lebte sie danach
unbeschwert und wohl so gut wie
noch nie zuvor», erinnert sich der
Bruder. Bis sie schliesslich an
Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankte. Vielleicht als Folge der
Medikamente, die sie nach der
Transplantation einnehmen musste, um das Immunsystem zu unterdrücken. Mit nur 19 Jahren –
verliebt, mitten in der KV-Lehre
und mit dem Wunsch, den Führerschein zu machen – starb Stefanie
Gmür im September 2005.
Eine Abtreibung kam für das
Paar nicht infrage
Die Erbkrankheit kann beim Ungeborenen mit vorgeburtlichen
Tests diagnostiziert werden. «Eine
Abtreibung kommt aber für mich
nicht infrage», sagt Regula Gmür.
Von einem Frauenarzt erfuhr das
Paar, dass es in der Schweiz eine
legale Möglichkeit gibt, zumindest
die Eizelle zu überprüfen, ob sie
das defekte Gen trägt. Die sogenannte Polkörperdiagnostik ist
aber nur bei einer künstlichen Befruchtung möglich. Gmürs entschlossen sich für eine solche
fruchtbarkeitsmedizinische Behandlung am Unispital Zürich.
Eine Präimplantationsdiagnostik
im Ausland zog das Ehepaar nicht
in Erwägung. «Es war so schon belastend genug, teilweise alle zwei
Tage nach Zürich zur Behandlung
zu kommen», sagt Regula Gmür.
Das Paar ist klar für die Präimplantationsdiagnostik in der
Schweiz. Die Argumentation der
Gegner, man könne Babys nach
Mass auswählen, hält Christoph
Gmür für «Zukunftsängste». Im
jetzigen Gesetzesentwurf gehe es
darum, Erbkrankheiten und Chromosomenanomalien zu entdecken.
Im November 2011 kam Aliyah
zu Welt, die gesunde Tochter der
Gmürs. Das Mädchen ist ebenfalls
Trägerin eines defekten ZF-Gens.
Sie hat es vom Vater geerbt und
könnte es an ihre Kinder weitergeben. «Mit einer Präimplantationsdiagnostik hätte eine Vererbung
des krankhaften Gens verhindert
werden können», sagt Christoph
Gmür.
Anke Fossgreen