Tagesspiegel, 24. April 2015 - Verlag für Berlin

BERLIN / BRANDENBURG
FREITAG, 24. APRIL 2015 / NR. 22 381
DER TAGESSPIEGEL
Brandenburger Kinderjahre
Zukunft des
Dragonerareals
wieder offen
Hans Otto Bräutigam
war von 1990 bis 1999
der erste Justizminister
Brandenburgs. Sein Chef
war Manfred Stolpe.
Nun erinnerten sich
beide an die ersten Jahre
Bundesrat billigt Verkauf
des Geländes noch nicht
Von Gerd Appenzeller
W
enn die Grauhaarigen in die
Vergangenheit eintauchen,
ist Vorsicht geboten. Sie erzählen dann gerne vom
Krieg, von den ganz großen und den kleinenSchlachten ihresLebens,unddiemeisten haben sie in der Erinnerung gewonnen, irgendwie auch die, die sie ausweislich der Geschichtsbücher verloren haben. Die zwei,die sich am Mittwochabend
in der brandenburgischen Landesvertretungin denMinistergärten verabredethatten, Hans Otto Bräutigam und Manfred
Stolpe, die erzählten nicht vom Krieg. Die
erzählten vom Frieden, als sie über ein
Buch redeten. Geschrieben hat das Hans
Otto Bräutigam. Der war von 1990 bis
1999 Minister fürJustiz, Europa- undBundesangelegenheitenin Brandenburggewesen,und Manfred Stolpe alsMinisterpräsident sein Dienstherr. Dementsprechend
heißt das Buch „Meine Brandenburger
Jahre. Ein Minister außer Diensten erinnert sich“. Stolpe und Bräutigam, 78 der
eine, 84 Jahre alt der andere, trafen sich,
über die gemeinsamen Jahre nachzusinnen. Kein Wunder, dass das Haus voll war
von Menschen, die man Weggefährten
nennt, der Sache und dem Geist nach.
Man muss beider Alter erwähnen,
denn da saßen zwei Männer, die höchste
geistige Präsenz und Wachheit ausstrahlten. Der jüngere, Stolpe, der seit einem
Jahrzehnt immer einen Schritt schneller
als seine Krebserkrankung ist, und Bräutigam, der ältere, dem man noch ein halbes
Jahrhundert nach seiner Zeit an der deutschen Botschaft in London britische Haltung anzusehen meint.
Dass die beiden überhaupt jemals in Berührung gekommen waren, hängt mit
dem zusammen, was Bräutigam vor seiner Brandenburger Zeit und einem anderthalbjährigen Intermezzo als deutscher Vertreter bei den Vereinten Natio-
13
Weggefährten. Manfred Stolpe, hier auf einem Foto aus dem vergangenen Jahr, war von 1990 bis 2002 Ministerpräsident des Landes Brandenburg. Seinem Regierungsteam gehörte
Fotos: Ralf Hirschberger, Peter Kneffel (dpa), Manfred Thomas
neben Regine Hildebrandt auch Hans Otto Bräutigam an, unten rechts mit Stolpe und dem Hochschulrektor Helmut Knüppel (re.).
nen beruflich gemacht hatte. Von 1982
bis 1989 leitete er die Ständige Vertretung der Bundesregierung bei der DDR,
was so etwas wie eine Botschaft war, was
man aber nicht so nennen wollte. In dieser von Bräutigam geleiteten Vertretung
in der Hannoverschen Straße gab es einen sorgfältig abgeschirmten Besprechungsraum, in dem sich Stolpe, der evangelische Kirchenmann aus der DDR, immer wieder vertraulich mit bundesdeutschen Politikern und Kirchenleuten treffen konnte. Da lernte er Bräutigam kennen und schätzen. Und erinnerte sich an
den Diplomaten, als nach der Wende
Nordrhein-Westfalen das bundesdeutsche Partnerland Brandenburgs wurde
und Ministerpräsident Johannes Rau
Stolpe nicht nur überredete, sich als Regierungschef zur Verfügung zu stellen,
sondern auch Bräutigam als Verbindungsmann und Justizspezialisten vorschlug.
Stolpe stimmte zu, erzählt er jetzt, und
begründete es so: „Ich kannte Bräutigam,
ich bewunderte ihn wegen seiner Sachkunde und seines Einfühlungsvermö-
gens. Er war für mich der beste Zugriff“.
Da lächelt der „Zugriff“ und berichtet,
dass er zwar vier Leute vorfand, die dem
noch zu gründenden Justizministerium
zugewiesen waren, von denen aber keiner Ahnung hatte, was ein Justizministerium ist. Dem ersten Kabinett Stolpe gehörten neben dem parteilosen Bräutigam
der damals parteilich ebenfalls noch ungebundene Matthias Platzeck sowie Minister von SPD, FDP und Bündnis 90 an. Warum keine CDU? Dazu Stolpe: „Es gab eigentlich keine politischen Gegensätze,
wir alle wollten ein Land, aber bei der
CDU hatte ich den Verdacht, Helmut
Kohl würde den CDU-Ministerpräsidenten sagen, wo es im Osten langgeht“. Diesen Verdacht fand er später, als Zaungast
bei Treffen in Bonn, bestätigt.
Die neunziger Jahre des vergangenen
Jahrhunderts waren tatsächlich Jahre des
Aufbaus, auch wenn es eine Phase des
Umbruchs in einer Region war, die man
wegen ihres vom Chef, von Manfred
Stolpe, vermittelten speziellen Brandenburger Heimatgefühls und seines Küm-
merns um alles und jeden, auch spöttisch
die kleine DDR nannte. Kein Ministerpräsident der neuen Länder hat so in einer
symbiotischen Einheit mit der Mehrzahl
der Bewohner gelebt wie Stolpe, der Kirchenjurist, der sich später wegen seiner
amtsbedingten Kontakte mit Repräsentanten der SED mit IM-Vorwürfen konfrontiert sah. Wie hat der damalige Justizminister Bräutigam die Angriffe gegen seinen Chef empfunden? Jurist Bräutigam
reagiert diplomatisch, klug und eindeutig
gleichermaßen: „Ich habe nie einen Zweifel an seinem Engagement für die Kirche
gehabt. Ich war fest überzeugt, dass es
Stolpe darum geht, die Freiräume der Kirche zu schützen und zu erweitern. Daraus ist letztlich die friedliche Opposition
entstanden. Die Kirchen waren die einzige freie, demokratische Institution in
der DDR, das ist Stolpe zu verdanken“.
Bräutigams Buch – es ist nicht sein erstes – führt in die aufregenden ersten Jahre
nach der Wiedervereinigung zurück. Es
sind nicht die üblichen Politikermemoiren mit deren verbreiteter Tendenz, ei-
gene Verdienste überzubetonen, sondern
eher akribische Protokolle des Geschehens. Man spürt, dass Bräutigam Tagebuch geführt hat. Seine Erinnerungen an
Regine Hildebrandt, die ihn wegen ihrer
unverstellten Offenheit beeindruckte,
sind genauso lesenswert wie die Schilderungen der gescheiterten Fusionsabstimmung 1996 oder seine nachdenklichen
Anmerkungen zum Erstarken des Rechtsextremismus in Brandenburg. Dass die
Wiedervereinigung kein Automatismus
war, dass der Prozess durchaus auch hätte
scheitern können, war eine Erkenntnis
des Abends über das Buch hinaus.
— Hans Otto Bräutigam: Meine Brandenburger Jahre.
Verlag für Berlin-Brandenburg, 288 Seiten,
22,99 Euro
Berlin - Die Zukunft des Dragonerareals
in Berlin-Kreuzberg ist noch nicht entschieden. Der Finanzausschuss des Bundesrats vertagte diesenPunktamDonnerstag bis Juni, wie Finanzsenator Matthias
Kollatz-Ahnen (SPD) mitteilte. Der Ausschuss habe sich jedoch dafür ausgesprochen, dass der Bund seine „Politik zur Erlösmaximierung“ korrigiere. Kollatz-Ahnen fühlt sich durch die Entscheidung des
Ausschusses bestätigt in seinem Widerstand gegen den Verkauf des Areals durch
den Bund, dem die Liegenschaft gehört.
„Die bisherige Liegenschaftspolitik des
Bundes steht auf dem Prüfstand.“ Länder
und Kommunen bräuchten mehr Gestaltungsraum, etwa beim sozialen Wohnungsbau. Das entspreche der Position
des Senats, der in Berlin bei der Veräußerung von öffentlichen Liegenschaften
nichtmehr nachdem PrinzipdesMeistbietenden verfahre, wenn öffentliche Interessen im Spiel seien.
Der Finanzsenator argumentiert, dass
bei der Veräußerung von Bundesliegenschaften an Länder und Kommunen der
Verkehrswert als Obergrenze dienen
müsse. Nur so ließe sich „eine sinnvolle
Mischnutzung aus sozialem Wohnungsbau, Kultur und Gewerbe gewährleisten“.
Das gelte gerade für Berlin mit seinem Bevölkerungswachstum. Der Verkehrswert
liegthäufig unter dem Wert einerImmobilie, der sich tatsächlich erlösen lässt.
Der Bund will das Dragonerareal an Investoren aus Wien für 36 Millionen Euro
verkaufen; Berliner Wohnungsbaugesellschaften hatten offenbar nur bis zu 20 Millionen Euro geboten. „Das Land Berlin ist
bereit, das Areal zu einem Preis zu kaufen,
der sozialverträgliche Mieten und eine
stadtteilverträgliche Mischnutzung ermöglicht“, sagte Kollatz-Ahnen. „Der Verkehrswert der Liegenschaft liegt deutlich
unterhalb des vereinbarten Kaufpreises.“
Die Berliner SPD-Bundestagsmitglieder Cansel Kiziltepe, Swen Schulz und
Klaus Mindrup lobten die Entscheidung:
„Es ist ein wichtiger Schritt, dass der Verkauf erst mal gestoppt wurde. Das bringt
Zeit, um andere Länder zu überzeugen,
dass die Liegenschaftspolitik des Bundes
geändert werden muss.“
Albert Funk
ANZEIGE
Zu geschönt, um wahr zu sein
Staatssekretär Feurig tritt wegen einer merkwürdigen Kriminalstatistik zurück.
Allein im Havelland gab es 60 Prozent mehr Einbrüche als offiziell vermeldet
Potsdam - Brandenburgs Innenstaatssekretär Arne Feuring gibt seinen Posten
auf. Das gab Innenminister Karl-Heinz
Schröter (SPD) am Donnerstag im Innenausschuss des Landtags bekannt. Feurig
war wegen der Affäre um die geschönte
Kriminalstatistik immer mehr in Bedrängnis geraten. Zuvor hatte die CDU-Opposition wiederholt die Entlassung des Staatssekretärs gefordert und zudem auf kurzfristige Anwesenheit von Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) bestanden.
Feuring habe ihm schon vor zwei Wochen mitgeteilt, dass er sich „beruflich
umorientieren wolle“, sagte Schröter.
Weitere Einzelheiten, auch zur Nachfolge, nannte der Innenminister nicht.
Unmittelbar zuvor hatte Woidke in derselben Sitzung noch erklärt, dass alle Minister, Staatssekretäre und leitende Beamten der Landesregierung sein Vertrauen
genießen. „Sollte das nicht der Fall sein,
werden Sie gegebenenfalls von mir hören“, sagte der SPD-Politiker, der selbst
früher Innenminister war. Debatten um
die korrekte Straftatenerfassung habe es
auch in anderen Bundesländern gegeben.
„Es ist kein Brandenburger Sonderproblem.“ Tatsächlich hatten andere Länder
und das Bundeskriminalamt seit Herbst
2013 diesen Brandenburger Weg bei der
Erfassung von Straftaten heftig kritisiert.
Nun zog Feuring selbst die Konsequenz aus den seit Frühjahr 2014 anhaltenden Schlagzeilen um seine Person.
ANZEIGE
MOBIL
Diesen Sonnabend in der Autobeilage:
왎 Weiß-Blauer Familienfreund: BMW bringt
seinen zweiten Van.
Ihr Anzeigenservice-Telefon (030) 290 21-570
Ehe er im November 2014 Staatssekretär
wurde, war er einige Jahre Landespolizeipräsident. Er war damit verantwortlich
für die massenhafte Falscherfassung von
Straftaten in den Jahren 2013/2014, die
gegen bundeseinheitliche Vorgaben verstieß und erst im März von Schröter gestoppt wurde. Der Minister ordnete auch
die nachträgliche Korrektur der Statistik
an. Mehr als 4000 Delikte, konkret zwei
Prozent der Gesamtzahl, mussten nachgemeldet und die Aufklärungsquote nach
unten korrigiert werden, in zwei von vier
Direktionen um mehr als drei Prozent.
Im Innenausschuss wurden am Donnerstag neue Zahlen zum Ausmaß der
Getrennte Wege. Ministerpräsident Dietmar Woidke (rechts) und der vorübergehende
Foto: Ralf Hirschberger/dpa
Staatssekretär Arne Feuring, hier auf einem Archivfoto.
Fehlstatistik bekannt. Allein im Havelland musste die Zahl von Einbrüchen
in Keller und Dachböden nachträglich
um 60 Prozent nach oben korrigiert werden. Für Cottbus und Potsdam fiel die Gesamtzahl der Straftaten nach der Korrektur um mehr als vier Prozent höher aus.
In den letzten Tagen hatte der Bund der
Staatsanwälte öffentlich beklagt, dass
Straftaten weiter falsch erfasst werden –
obwohl es, wie Schröter zugab, von
Staatsanwaltschaften entsprechende Hinweise gab.
Schröter teilte mit, dass er die Einhaltung der bundeseinheitlichen StatistikRichtlinien zur Chefsache erklärt habe.
Vorwürfe der Opposition, dass die Statistik auf Anordnung Feurings bewusst manipuliert wurde, wies Schröter aber erneut zurück – mit dem Argument, dass es
in den Polizeidirektionen Ost und Nord
kaum Fehler gegeben habe, die Direktion
West am stärksten betroffen sei, gefolgt
von der Direktion Süd. „Allein dieser Flickenteppich zeigt, dass es keinen Vorsatz
gibt“, sagte der Innenminister. Hätte man
manipulieren wollen, „hätte man es überall gleichmäßig gemacht“. Trotzdem sei
das alles kein Ruhmesblatt für Brandenburgs Polizei. Dies in Ordnung zu bringen, sehe er persönlich als „heilige
Pflicht“. Und er wolle, dass die Polizeibeamten wieder Vertrauen in ihre Führung
bekommen.
Wie berichtet, war mit Feurings Wissen
seit 2013 per Dienstanweisung in der DirektionWest beiderErfassungvon Einbrüchen und Diebstählen am Ministerium
vorbeigemauschelt worden. Im Polizeiapparat und im Ministerium ist es kein Geheimnis, dass damit die Zahlen geschönt
und passend für die seit Jahren umstrittene PolizeireformsamtPersonalabbaugemacht werden sollten. Feuring hat die Reform konzipiertund umgesetzt. Ursprünglich sollte die Zahl von derzeit 8200 auf
7000 sinken. Rot-Rot legte nachder Landtagswahl 2014 fest, es sollten nicht weniger als 7800 werden. Derzeit wird die Reformevaluiert,derEntwurfdesAbschlussberichts sieht 7855 Stellen vor. Schröter
aberwollte wegen deshohen Krankenstandes 8100 Stellen. Die Gewerkschaften
werfen Feuring und dessen Vertrauten
vor, die Ergebnisse der Experten missachtet undden Personalbedarfgedrückt zuhaben.
Thorsten Metzner,
Alexander Fröhlich
— Meinung, Seite 6
Genießen und
gewinnen!
l
Gewinnspie +
Vor teilnsepn agrcatkis
+ 4 Por tio
Entdecken Sie den Landgenuss und gewinnen Sie mit der Mecklenburger Küche Reisen in
die Genussregion Mecklenburg-Vorpommern oder einen von vielen weiteren tollen Preisen.
Mehr Informationen unter: www.mecklenburger-kueche.de
Unsere Produkte sind erhältlich bei:
EDEKA • Kaufland • REWE • famila • Globus • real,- • HIT • Kaiser‘s • Konsum Leipzig • Marktkauf • NP Niedrig-Preis