Leseprobe Teufelsstrand

Lisa Gallauner
Teufelsstrand
Kriminalroman
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Lisa Gallauner wurde 1978 in St. Pölten geboren. Sie ist verheiratet und hat einen Sohn. Ende der 90er Jahre ließ sie sich an
der PÄDAK Krems zur Diplompädagogin für Englisch, Musik und
evangelische Religion ausbilden. Später sollte auch noch die Diplomausbildung für Informatik folgen. 2008 erschien ihr erstes Kinderbuch, seit damals schreibt sie, neben ihrer Arbeit als Lehrerin
an einer Neuen Mittelschule, unaufhörlich. Nach zahlreichen im
renommierten österreichischen G&G-Verlag veröffentlichten Kinderbüchern, Theaterstücken, einigen Anthologie-Beiträgen sowie
Band 1-4 der Meierhofer-Reihe, ist Teufelsstrand nun ihr fünfter
Kriminalroman für Erwachsene.
Im Verlag federfrei bisher erschienen:
Teufelsstimmen * Teufelsmahl * Teufelssturz * Endstation Teufelsmauer
http://lisa.gallauner.at
Lisa Gallauner
Teufelsstrand
Kriminalroman
www.federfrei.at
© Verlag Federfrei
1. Auflage
Marchtrenk, 2015
www.federfrei.at
Umschlagabbildung: © lexuss, Fotolia
Lektorat: S. Bähr
Satz und Layout: Verlag Federfrei
Druck und Bindung: Finidr s.r.o.
ISBN 978-3-902784-56-8
Für Mama und Papa – weil auch wir es geschafft haben,
die herzliche Eltern-Kind-Beziehung
ins Erwachsenenalter zu retten.
Sämtliche Protagonisten dieses Romans, ihre Namen und ihre
Handlungen sind frei erfunden, etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen nicht beabsichtigt.
Obwohl der Roman in der wunderschönen Wachau spielt und
viele der erwähnten Orte tatsächlich existieren, entspringen die
Tatorte sowie die Außenstelle des Landeskriminalamtes Niederösterreich bewusst ebenfalls der Fantasie der Autorin.
Kapitel 1
Fröhlich vor sich hin summend, faltete Henriette Weißhuber
die rot-schwarz-grün-karierte Picknickdecke, bis diese in den
bereits auf dem Küchentisch wartenden weißen Korb passte. Danach überprüfte sie zum gefühlten hundertsten Mal, ob sie auch
wirklich alles eingepackt hatte. Belegte Brötchen, Gemüsespieße,
Kräuterdip, zwei Flaschen Wein, selbst gemachte Pralinen und ihr
unübertrefflicher Schokoladekuchen – ja, alles war da, wo es sein
sollte. Dem romantischen Blind-Date-Picknick stand also nichts
mehr im Wege. Fast nichts.
Immerhin galt es nun noch, die schwierige Wahl des perfekten
Outfits zu treffen. Obwohl sie gestern einige Stunden in dem
im Vorjahr eröffneten Kremser Shoppingcenter verbracht hatte
und nun im Besitz eines atemberaubenden roten Sommerkleides samt passendem Bolero, geblümtem Seidenschal und beinahe
mädchenhafter Ballerinas war, fühlte sie sich in dieser Frage unsicher.
Es war einfach schon viel zu lange her, dass sie sich für ein Rendezvous oder Date, wie man heute wohl sagte, zurechtgemacht
hatte. Nach dem Tod ihres Gatten war sie ganz froh gewesen, ihre
Ruhe von der Männerwelt zu haben. Die neu gewonnene Freiheit
hatte ihr gutgetan. Aber das war mittlerweile über zehn Jahre her,
und irgendwann hatte sie plötzlich diese Sehnsucht verspürt. Diese Sehnsucht nach einem Paar starker Arme, nach einer Schulter,
an die sie sich lehnen konnte.
Mittlerweile war Henriette von der Küche ins Schlafzimmer getänzelt, wo sie das auf dem Bett liegende rote Sommerkleid skeptisch betrachtete. War es nicht doch etwas zu jugendlich für sie?
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Schmeichelte es ihrer Figur tatsächlich, oder hatte die freundliche
Verkäuferin nur versucht, sie einzulullen, um das Kleid an den
Mann oder, besser gesagt, die Frau zu bringen? Langsam schlüpfte Henriette aus ihrem bequemen Jogginganzug, wobei sie einen
kurzen Blick in den großen Spiegel warf, der an der gegenüberliegenden Wand angebracht war. Zufrieden lächelte sie. Ihr Körper konnte sich durchaus noch sehen lassen. Dass sie bereits die
Sechzig überschritten hatte, sah man ihr wirklich nicht an. Das lag
vielleicht auch daran, dass sie nie Kinder bekommen hatte. Die
durchgemachten Schwangerschaften hatten den Figuren der Frauen in ihrem Umfeld nicht wohlbekommen. Das war ihr erspart
geblieben. Und vieles andere wohl auch.
Ein weiterer Blick in den Spiegel ließ sie erröten. Die hautfarbene Spitzenunterwäsche, die ihr die Verkäuferin zu dem roten,
etwas transparenten Sommerkleid empfohlen hatte, sah beinahe
sündig aus. Ein nervöses Kichern entkam Henriette, von ihren
Freundinnen früher Henni genannt. War es albern, dass sie sich
fühlte wie ein verliebter Teenager? Verschossen in einen Mann,
den sie noch nie gesehen hatte. Den sie im Internet kennengelernt hatte. Einen Mann, der zu ihr passte wie kein anderer. Der
die gleichen Interessen hatte, intelligent, humorvoll und gut aussehend war. Zugegeben, er war ein paar Jährchen jünger als sie,
aber das störte doch heutzutage niemanden mehr. Was weibliche
Hollywoodstars konnten, konnte sie schon lange.
Als Henriette sich das Kleid über den Kopf streifte, ging ihr
Summen in ein Singen über. Singen, auch das konnte sie noch
immer wie ein junges Mädchen. Das Kleid stand ihr wirklich außergewöhnlich gut. Fünfundvierzig, maximal fünfzig, mehr Jahre
hätte man ihr nicht gegeben, wenn man sie darin sah. Erst recht,
nachdem sie den leichten Bolero angezogen, den seidigen Schal
um ihren nur ein klein wenig faltigen Hals geschlungen hatte und
in die Ballerinas geschlüpft war. Ihr blondiertes, welliges, schulterlanges Haar würde sie offen tragen, das schmeichelte ihrem
Gesicht. Die schwarz umrandete Brille hatte sie abgelegt und ihre
Kontaktlinsen eingesetzt. So sah man die großen braunen Augen
besser. Ein letzter prüfender Blick in den Spiegel gab ihr die Sicherheit, sich doch für das richtige Outfit entschieden zu haben.
Sie sah einfach umwerfend aus. Genauso, wie man bei einem ersten Date eben aussehen sollte.
Die Aufregung nun immer stärker spürend, tanzte Henriette zurück in die Küche, um den weißen Picknickkorb zu holen. Die
Zeit drängte, immerhin wollte sie nicht zu spät zum ersten Blind
Date ihres Lebens kommen. Von dem kleinen einsamen Häuschen, das sie nach dem überraschenden Tod ihres Mannes bezogen
hatte, waren es zwar nur einige wenige Gehminuten bis zu dem
idyllischen, versteckten Donaustrand, den er als Ort des Rendezvous vorgeschlagen hatte, aber Pünktlichkeit war schließlich
eine Tugend. Oder ließ man jüngere Männer schon mal ein wenig
warten?
Ein dummer Gedanke, der ihr viel zu riskant erschien. Zu wichtig war ihr, dass heute nichts schieflief. Dieser Tag würde perfekt
werden, das musste er einfach. Als sie, noch immer summend, die
Haustür hinter sich zuzog, fiel Henriettes Blick auf die violette
Handtasche, in der sie ihr Notfallset aufbewahrte. Einen Moment
dachte sie daran, sie mitzunehmen. Schließlich entschied sie sich
kopfschüttelnd dagegen. Die klobige Tasche passte heute überhaupt nicht zu ihrem Outfit, und nachdem sie das Essen ohnehin
selbst zubereitet hatte, brauchte sie diese auch nicht.
*
»Also bitte, wir warten gespannt.Was wolltet ihr uns heute denn
unbedingt Besonderes mitteilen? Bekommt ihr vielleicht auch einen Hund?« Meierhofer blickte seine Tochter Marianne und Karl,
seinen Schwiegersohn, interessiert an. Dabei hielt er die Grillzange in der rechten Hand wie sein Volksschullehrer früher den
Rohrstab, während er mit der linken nach einer Dose Bier griff.
Alkoholfrei versteht sich.
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Marianne errötete, und Karl lachte kurz auf, bevor er erwiderte: »Knapp daneben. Wir bekommen keinen Hund, sondern ein
Kind.«
Meierhofer verschluckte sich an seinem Bier und begann bellend zu husten, was Einstein, den kleinen Malteserrüden, dazu
veranlasste, eine Runde mitzubellen. Irene, die gerade die Salate
ausgeteilt hatte, ließ das Salatbesteck fallen, klatschte begeistert in
die Hände und rief: »Nein, das gibt’s doch nicht! Ihr bekommt ein
Kind?! Lass dich umarmen, mein Schatz!«
»Aber ihr habt doch schon ein Kind«, meinte Meierhofer nüchtern, als er mit dem Husten fertig war. Marianne, die von Irene
beinahe erdrückt wurde, lächelte ihren Vater mitleidig an und antwortete: »Stell dir vor, Papa, es soll Leute geben, die sogar drei
oder vier Kinder in die Welt setzen.«
»Heißt das, du bist schwanger?«, hakte der Chefinspektor ungläubig nach.
Marianne stand auf, zog ihr weites T-Shirt in die Höhe und präsentierte ein klitzekleines Babybäuchlein. »Ja, das heißt es. Im Dezember ist es so weit. Es wird ein Schütze, so wie du, Papa.«
Meierhofer wusste nicht so recht, ob er sich über diese Nachricht freuen sollte. Er mochte seine Familie so, wie sie war. Irene und er, Marianne und Karl und Lukas, sein dreizehnjähriger
Enkel, der das Glück perfekt machte. Nicht, dass er Babys nicht
mochte, aber eine weitere Schwangerschaft bedeutete, dass er
wieder anfangen würde, sich Sorgen um seine Tochter zu machen.
Würde alles gut gehen? Würde sie die Schwangerschaft und die
Geburt heil überstehen? Durch Irenes Fehlgeburten war das Thema Schwangerschaft bei Meierhofer einfach nicht positiv besetzt.
Aber das konnte er Marianne natürlich nicht spüren lassen. Also
nickte er langsam und rang sich dann dazu durch, ein »Gratulation!« herauszupressen.
Lukas, der bisher geschwiegen hatte und der die Skepsis seines
Opas zu spüren schien, verdrehte die Augen und motzte: »Ich kapiere auch nicht, warum sie sich das nochmal antun.«
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Meierhofer konnte seinen Enkel bestens verstehen. Der war
über mehr als ein Jahrzehnt der alleinige Prinz der Familie gewesen, der Mittelpunkt des elterlichen und großelterlichen Universums. Diesen Platz nun mit jemand anderem teilen zu müssen, fiel
ihm sicher nicht leicht.
»Wisst ihr denn schon, was es wird?«, erkundigte sich Irene, der
das Glück ins Gesicht geschrieben stand. Meierhofer ahnte, dass
seine bessere Hälfte sich insgeheim immer eine Enkelin gewünscht
hatte, vielleicht ging dieser Wunsch ja nun in Erfüllung?
Marianne schüttelte den Kopf. »Nein, dafür ist es noch zu früh.
Außerdem wollen wir uns dieses Mal überraschen lassen.«
Irene war die Enttäuschung deutlich anzusehen. »Überraschen
lassen? Das heißt, ihr wollt uns nicht sagen, ob es ein Bub oder
ein Mädchen wird? Aber dann weiß ich doch gar nicht, ob ich rosa
oder blaue Babysachen stricken soll!«
Karl drückte sanft die Hand seiner Schwiegermutter und meinte
schmunzelnd: »Dann strickst du eben gelbe Hauben und Fäustlinge, die können beide tragen.«
Babysachen, Hauben, Fäustlinge in Gelb, Blau oder Rosa – Meierhofer verspürte das dringende Gefühl, vom Thema ablenken zu
müssen. »Die Würstel sind fertig!«, rief er ein wenig zu euphorisch. »Wer hat Lust auf Käsekrainer, wer möchte Berner Würstel? Dicke und dünne Bratwürstel habe ich auch anzubieten.«
Als wenig später alle mit Genuss Würstel in Irenes traumhafte
selbst gemachte Soßen tunkten, Meierhofers Grillkünste lobten
und sich über die knusprigen Ofenkartoffeln hermachten, fand
der Chefinspektor den Gedanken, noch ein Enkerl zu bekommen, nicht mehr ganz so schlimm. Ein wenig Windelwechseln,
Breifüttern und Kinderwagenschieben würden ihm schon nicht
schaden. Und wenn es ihm zu viel werden würde, konnte er sein
Enkerl einfach wieder bei Marianne und Karl abgeben. Das war
das Schöne am Opa-Dasein – man pickte sich die Rosinen aus
dem Kuchen, und den trockenen Teig überließ man den Eltern des
Kindes. Den trockenen Teig namens Erziehung.
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Meierhofers Blick fiel auf Marianne, die mit großem Appetit aß.
Sie sah glücklich aus, genau wie Karl. Anscheinend hatten sich die
beiden bewusst dafür entschieden, noch einmal Nachwuchs zu
bekommen. Ein zweites gesundes Kind, dieses Glück wünschte er
ihnen. Ein Glück, das Irene und ihm damals nicht gewährt worden war.
*
Die drei Jugendlichen lachen leise. Sie sind auf dem Weg zu ihrem geheimen Donaustrand-Stückchen. Dem kleinen Strandteil,
der zwischen dichten Büschen und Bäumen versteckt ist und den
nur wenige kennen. Der weiße Kies dort und die vorbeirauschende Donau machen ihn zu etwas ganz Besonderem. Man fühlt sich,
als wäre man plötzlich weit weg, nicht hier zu Hause, sondern
am Meer. Aber das ist den Jugendlichen eigentlich egal. Sie kommen nicht hierher, um die Landschaft zu bewundern. Ihnen ist es
wichtiger, nicht gesehen zu werden. So kann man einfacher das
machen, was man eigentlich nicht sollte. Darauf deutet auch die
Wodkaflasche hin, die einer der Burschen, der kaum älter als fünfzehn ist, in der Hand hält.
Für Mitte Juni ist es heute ziemlich heiß, vielleicht können sie
also sogar schwimmen gehen. Besser noch, bevor sie die Wodkaflasche geleert haben, immerhin ist die Strömung der Donau an
dieser Stelle nicht zu unterschätzen.
Als sie zwischen den Bäumen hindurchschlüpfen und sich ihrem
Strandstück nähern, merken sie sofort, dass etwas nicht stimmt.
Sie sind nicht alleine.
»Oida, so a Schaß. Wos wü die Oide do, Havara?«, murrt einer
der drei, ein schmächtiger Sechzehnjähriger, derb. Dass die Oide
nicht auf seinen Kommentar zu reagieren scheint, wundert ihn
nicht.
»Drah ma wieda um«, meint der Wodkaflaschenträger ebenfalls
frustriert.
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Der älteste der drei Jugendlichen schüttelt den Kopf. Er spürt,
dass hier etwas ganz und gar nicht in Ordnung ist. Langsam geht
er auf die Frau im roten Sommerkleid, die auf einer rot-schwarzgrün-karierten Decke liegt, zu.
»Hallo, geht’s Ihnen nicht gut? Brauchen Sie was?«, fragt er dabei
vorsichtig.
Als die Frau immer noch nicht reagiert, tritt er noch ein bisschen
näher an sie heran. So nahe, dass er ihr Gesicht sehen kann.
Die Shisha in seinen Händen fällt klirrend zu Boden, während er
einen schrillen Schrei des Entsetzens ausstößt. Er hat zwar schon
jede Menge Horrorfilme gesehen, aber das Bild dieser Frau, so
ganz in echt, übertrifft alles.
Ihr Gesicht und ihr Körper scheinen seltsam geschwollen, ihre
Haut, die Lippen und Nägel wirken bläulich, außerdem ist ihr
Kleid im Hüftbereich nass und bräunlich verfärbt. Der Junge
spürt, wie ihm übel wird.
»Scheiße, die Oide is im Oarsch«, murmelt er, bevor er sich auf
den weißen Kies übergibt.
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Kapitel 2
Meierhofer war eigentlich ganz froh, dass er angerufen worden
war, um zum Fundort eines weiblichen Leichnams zu kommen.
Wochenende hin oder her.
Nach Beendigung des Grillgelages hatte es bei ihnen zu Hause
plötzlich wieder nur ein Thema gegeben: das Baby. Irene hatte Marianne Löcher in den Bauch gefragt. Wörter wie Eisprung, Verhütung, Befruchtung, Einnistung, Schwangerschaftstest, Frauenarzt,
Ultraschalluntersuchung, Morgenübelkeit und Mutter-Kind-Pass
waren gefallen. Das war, bei aller Liebe, sogar einem modernen
Mann wie ihm zu viel. Schön und gut, dass Marianne ein zweites
Kind erwartete, aber musste man wirklich jedes kleinste Detail
dieses intimen Ereignisses be- beziehungsweise zerreden? Vor allem dann, wenn man noch gar nicht wusste, ob auch sicher alles
gut gehen würde?
Nun war Meierhofer unterwegs zu einem kleinen Donaustrandabschnitt, von dem er bisher noch nie gehört hatte. Sicher, die berühmten Donaustrände der Wachau, wie zum Beispiel
den in Rossatz-Arnsdorf, den bei Spitz oder den in Weißenkirchen, die kannten und liebten sie alle – die Einheimischen wie die
Touristen – aber das Stückchen Strand, von dem der uniformierte
Kollege am Telefon ihm berichtet hatte, war dem Chefinspektor
kein Begriff.
Stefano würde auch zum Tatort kommen – ein Gedanke, den
Meierhofer tröstlich fand – so hatte er wenigstens jemanden, dem
er von dem Schwangerschaftswahnsinn, der bei ihm zu Hause ausgebrochen war, berichten konnte.
Einige Streifenwagen lenkten die Aufmerksamkeit des Kriminal14
beamten auf sich. Hier musste es anscheinend sein.
Tatsächlich trat in diesem Moment ein wie immer todschick gekleideter Stefano Staudinger auf die Straße, um seinem Chef den
Weg zum Fundort der Leiche zu zeigen.
»Hallo, alter Mann. Tut mir leid, dass wir dich von deinen Würsteln weglocken mussten, aber die Arbeit ruft«, begrüßte er Meierhofer augenzwinkernd.
Der klopfte sich auf den Bauch und erwiderte schmunzelnd:
»Keine Sorge, Stefano, ein paar Käsekrainer und Berner Würstel
hab ich mir schon einverleibt gehabt, als du angerufen hast. Nur
um die Nachspeise falle ich jetzt leider um, aber das tut meiner
Wampe eh ganz gut.«
Staudinger lachte auf: »Von wegen Wampe! Dein Bauch hat
schon ganz anders ausgesehen, mein Lieber. Ich finde, du hältst
dich tapfer. Aber lass uns von etwas anderem sprechen. Dem
Grund, weshalb wir hier sind.«
»Gerne, Stefano. Also, warum genau sind wir hier?«
Der Gruppeninspektor deutete seinem Chef, ihm zu folgen,
und begann zu erklären: »Drei Jugendliche haben vor etwa einer
Stunde eine weibliche Leiche gefunden. Eine Zeit lang haben sie
gezögert, was sie tun sollen, wahrscheinlich, weil sie eine Shisha,
Zigaretten und Wodka dabeihatten, dann haben sie aber schließlich doch einen Notruf abgesetzt. Zum Glück – hätte sonst wohl
noch ein Weilchen gedauert, bis man die Gute gefunden hätte.«
Meierhofer nickte langsam. »Sieht es nach Fremdverschulden
aus?«
Staudinger schüttelte den Kopf. »Nein, der erste Eindruck lässt
nicht auf Fremdverschulden schließen. Sie hat keine äußeren Verletzungen, ist ziemlich blau im Gesicht, und ihr Körper ist angeschwollen. Außerdem ist ihr Kleid voller Urin und Kot.«
»Klingt nach einem anaphylaktischen Schock«, warf der Chefinspektor, der erst kürzlich im Fernsehen eine Doku zum Thema
Allergien gesehen hatte, ein. »Vermutlich ein Bienen- oder Wespenstich. Also ein mehr oder weniger natürlicher Tod.«
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»Daran habe ich auch gleich gedacht«, stimmte Staudinger zu,
»allerdings gibt mir der Fundort des Leichnams Rätsel auf.«
Meierhofer zuckte mit den Schultern. Sie hatten den kurzen
Strandstreifen nun erreicht, was aufgrund der dichten Büsche
und Bäume, die ihn umgaben, gar nicht so einfach gewesen war.
Das Rauschen der Donau, die warme Juniluft, der Blick auf das
gegenüberliegende Donauufer – der Chefinspektor verstand, warum man an einem Sonntag einen Ort wie diesen aufsuchte. Das
Panorama war atemberaubend.
»Aber geh, warum denn? Die Tote wird sich ein idyllisches Plätzchen gesucht haben, um den Ausblick auf die Wachau zu genießen.
Bienen und Wespen gibt’s halt leider sogar hier. Mich haben die
Biester beim Grillen vorhin auch beinahe in den Wahnsinn getrieben.«
»Zugegeben, es spricht nichts dagegen, an einem einsamen
Strandstück zu entspannen, aber wer tut das schon so?« Der
Gruppeninspektor trat einen Schritt zur Seite, um den Blick auf
die Leiche freizugeben.
Meierhofer stieß einen leisen Pfiff aus. Damit hatte er nicht gerechnet. Das sah tatsächlich so aus, als ob hier etwas faul wäre.
Die Tote lag auf einer karierten Picknickdecke, neben der ein weißer Korb stand. Auf der Decke waren verschiedenste kulinarische
Köstlichkeiten ausgebreitet. Ein halb volles Rotweinglas und ein
Teller, auf dem ein Stück Schokokuchen lag, von dem bereits ein
paar Bissen fehlten, machten das Sonntagspicknickbild perfekt.
»Hier möchte jemand uns den Eindruck vermitteln, dass unsere
Tote alleine an diesem Donaustrand gepicknickt hat«, murmelte
Meierhofer kaum hörbar, »aber wer picknickt sonntags schon alleine?«
»Vor allem in einem Outfit wie diesem?«, ergänzte Staudinger.
»Und wer schafft es schon, im Todeskampf das perfekte Picknickbild nicht zu zerstören? Wenn diese Frau an einem anaphylaktischen Schock gestorben ist, und das hier ganz alleine auf dieser
Decke, dann hätte sie dabei eigentlich das Weinglas, das auf den
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Kieseln unter der Decke ohnehin wackelig steht, umwerfen müssen.« Meierhofer kam nun in Fahrt.
Dem Gruppeninspektor ging es ähnlich. »Die Decke wäre nicht
beinahe faltenfrei ausgebreitet, die Brötchen, der Kuchen, die
Pralinen, das Gemüse – nichts davon würde so ordentlich hier
liegen, wie es das tut.«
»Du hattest recht, Stefano«, meinte Meierhofer, »auf den ersten
Blick sieht das hier nicht nach Fremdverschulden aus, auf den
zweiten allerdings schon.«
*
»Mann, bin ich heute wieder müde, Leute. Todmüde, wenn man
so will, ha, ha, ha. Simon lässt uns leider kaum schlafen, der kleine
Racker. Glaubt anscheinend, er versäumt was, wenn er schlummert – ts, das muss er eindeutig von meiner besseren Hälfte haben«, jammerte Gregor, der sympathische Forensiker, der sein
Ganzkörperkondom, wie er seine Arbeitskleidung stets liebevoll
nannte, trug und Fotos von dem Leichnam machte.
»Sosehr ich meinen Sohnemann vergöttere, ein zweites Kind
kommt mir sicher nicht so schnell ins Haus«, fuhr er fort, nachdem keiner der beiden Inspektoren auf seine Aussage reagierte.
Meierhofer musste an Marianne und Karl denken. Ob sie an die
Sache mit dem Schlafentzug gedacht hatten, als sie sich für erneuten Nachwuchs entschieden hatten?
»Aber geh, Gregor, schlafen kannst du auch noch, wenn du tot
bist«, warf Stefano, der später sehr gerne Kinder gehabt hätte, ein.
Nach momentanem Stand der Dinge war ihm das als Homosexuellem aber leider verwehrt.
Gregor gab einen grunzenden Laut von sich. »Du hast ja keine
Ahnung, Kumpel. Aber lass uns das Thema wechseln! Was glaubt
ihr, woran die Gute hier gestorben ist?«
Meierhofer ließ den Blick erneut über die Tote schweifen, dann
antwortete er: »Wir denken, dass es sich um einen anaphylakti17
schen Schock handelt. Eventuell ausgelöst durch einen Bienenoder Wespenstich.«
»Oder aber durch etwas, das sie gegessen hat. Wisst ihr, meine
Schwägerin, die ist gegen Pollen allergisch und hat eine Kreuzallergie. Wenn die Nüsse isst, bekommt sie alle Zustände. Wäre angeblich schon mal fast an einer Portion Studentenfutter erstickt«,
sprudelte es aus Gregor heraus, »deshalb kocht meine Frau auch
immer …«
»Ah, die Herren übernehmen wieder einmal meine Arbeit.
Dann kann ich ja eigentlich gleich wieder gehen!«, tönte es ein
wenig beleidigt aus dem Gebüsch, das den Strandabschnitt umgab.
»Nein, Ulrich, tu uns das bloß nicht an«, erwiderte Staudinger
übertrieben theatralisch. »Was sollen wir ohne den fachmännischen Rat des Herrn Doktors nur anfangen?«
Meierhofer, der Dr. Ulrich Fläderer nur bedingt liebenswert fand
und nicht verstand, warum Stefano einen Narren an ihm gefressen
hatte, räusperte sich laut. »Darf ich um ein wenig mehr Ernst bitten, Kollegen! Immerhin geht es hier um einen Todesfall.«
Ein dreistimmiges »Aber natürlich, Herr Chefinspektor!«, gefolgt von erfrischendem Gelächter, war die Folge.
»Ach, habt mich doch gern! Immer dasselbe mit euch. Ich frag
mich, wann ihr endlich erwachsen werdet«, murmelte Meierhofer, der sich ein Schmunzeln nicht verkneifen konnte, bevor er
wieder ernst wurde.
»Bitte, Ulrich, sag mir, dass wir mit unserem ersten Eindruck
richtigliegen! Das sieht doch nach den typischen Anzeichen eines
anaphylaktischen Schocks aus, nicht wahr?«, fragte er den Gerichtsmediziner, während er den Leichnam umkreiste – kritisch
beäugt von Gregor, der Sorgen um seine Spuren hatte.
Dr. Fläderer wandte sich der Toten zu und begutachtete diese
eine Weile stumm, bevor er eine erste Meinung abgab. »Ich glaube, ihr dürftet mit eurer Einschätzung tatsächlich ins Schwarze getroffen haben. Es könnte sich hierbei wirklich um tödliches Kreislaufversagen infolge einer Anaphylaxie handeln. Seltsam finde ich
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allerdings, dass jemand, der so intensiv allergisch reagiert, kein
Notfallset dabeihat. Das sollte doch heutzutage eigentlich nicht
mehr passieren.«
»Vielleicht wusste sie nicht, dass sie Allergikerin ist. Bei meiner
Schwägerin wurde die Allergie auch erst sehr spät diagnostiziert.
Ich glaube, sie war da schon vierzig oder so. Ist die ältere Schwester meiner Frau, müsst ihr wissen.«
Meierhofer schoss wieder einmal durch den Kopf, dass es unglaublich war, wie viel und schnell Gregor reden konnte. Dann
sagte er: »Ich vermute eher, jemand wollte, dass sie ihr Notfallset
nicht dabeihat.«
Dr. Ulrich Fläderer blickte erstaunt auf. »Denkt ihr etwa, dass
es sich hier um Tod durch Fremdverschulden handelt? Glaubt ihr,
man hat diesen anaphylaktischen Schock bewusst provoziert, um
die Frau zu töten? Sieht das für euch tatsächlich nach Mord aus?«
Staudinger nickte. »Allerdings, das tut es. Möglicherweise eine
Berufskrankheit, Ulrich. Was meinst du, wie lange ist sie schon
tot?«
Fläderer, der mittlerweile die Körpertemperatur der Verstorbenen gemessen hatte, zögerte einen Moment. »Genau kann ich
das natürlich nicht sagen, aber so, wie’s aussieht, noch nicht sehr
lange. Zwei Stunden, höchstens drei.«
»Zwei Stunden? Wenn das stimmt, hätten die Jugendlichen, die
sie gefunden haben, sie vielleicht noch retten können, wenn sie
etwas früher dran gewesen wären«, meinte Staudinger betroffen.
Meierhofer schüttelte skeptisch den Kopf. »Oder aber, sie hätten den Täter, so es einen gibt, bei frischer Tat ertappt und wären
selbst in Gefahr geraten. Es ist, wie’s ist. Das Schicksal hat zugeschlagen, und die Zeit kann leider nicht zurückgedreht werden.«
Dr. Fläderer unterbrach die philosophischen Gedankengänge
der beiden Kriminalbeamten. »Ich schlage vor, ihr lasst mich den
Leichnam in Ruhe obduzieren, und dann schauen wir weiter. Alles
andere ist momentan reine Spekulation. Gebt mir ein paar Tage
Zeit, dann wisst ihr Genaueres.«
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»Ein paar Tage?« Staudinger, der nicht allzu geduldig war, tat entsetzt.
Der Gerichtsmediziner lächelte. »Na gut, ich sehe, was sich
machen lässt. Vielleicht schaffe ich es ja auch schneller. Bis dahin
könnt ihr euch damit beschäftigen, wer die Dame hier überhaupt
ist beziehungsweise war, oder wisst ihr das schon?«
Meierhofer und Staudinger blickten einander an. Nein, das wussten sie noch nicht.
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