Fall 6

Univ.-Prof. Dr. Susanne Reindl-Krauskopf
Pflichtübung aus Strafrecht und Strafprozessrecht
SS 2015
Fall VI: Modulprüfung aus Straf- und Strafprozessrecht vom 27. 4. 2015
Die Schulband des Bundes-Gymnasiums Neulengbach (Bezirk St. Pölten Land) soll an einem Bandwettbewerb
im Gemeindesaal des Nachbarortes teilnehmen. Der Schulwart W (der einen Busführerschein besitzt), soll
die Bandmitglieder (fünf Schüler) samt Betreuern und technischem Personal (weitere fünf Personen) mit
dem schuleigenen Bus zum Veranstaltungsort führen. Der Bus ist trotz winterlicher Verhältnisse nur mit
Sommerreifen ausgestattet. Da der Schulwart W übermüdet ist, nimmt er seine Frau X mit, damit er am
Rückweg Unterhaltung hat. Der Weg führt über eine schneebedeckte Straße. Vor einer Kurve am Ortsende
bremst W aufgrund seiner Übermüdung zu spät, der Bus kommt von der Fahrbahn ab und rammt eine
Hauswand. Dabei erleiden fünf Personen Prellungen und Hautabschürfungen, der Gitarrist der Band bricht
sich den Arm, die anderen Passagiere kommen mit dem Schrecken davon. Auch der Schulwart und seine
Frau bleiben unverletzt. Der herzkranke Pensionist, der unmittelbar neben dem Unfallort am Gehsteig unterwegs war, erschrickt über den Unfall so sehr, dass er einen tödlichen Herzinfarkt erleidet. Der Schulwart
W verständigt mit seinem Handy die Einsatzkräfte und bittet seine Frau X, gegenüber der Polizei anzugeben,
sie wäre die Unfalllenkerin gewesen. Er fürchtet nämlich, im Falle einer Verurteilung seine Arbeit zu verlieren
und nicht mehr für die Familie sorgen zu können. So geben sie es bei den ersten Erkundigungen am Unfallort
gegenüber der Polizei an. Bei seiner förmlichen Vernehmung als Zeuge durch die Kriminalpolizei behauptet
W zunächst noch, seine Frau wäre gefahren. Als er jedoch mit den Auskünften konfrontiert wird, die bei ersten Erkundigungen von Passagieren eingeholt wurden, gibt er zu, dass er und nicht seine Frau X mit dem Bus
gefahren ist. X wird zeitgleich von anderen Beamten als Beschuldigte vernommen. Sie stellt den Vorfall in
der abgesprochenen Version dar, um ihren Mann vor einer strafgerichtlichen Verfolgung zu schützen.
Die Aufräumarbeiten nach dem Unfall dauern einige Stunden. Als die Bandmitglieder A (17 Jahre) und B (18
J), beide wohnhaft in Wien Hütteldorf (14. Bezirk), realisieren, dass sie nicht mehr rechtzeitig an den Veranstaltungsort kommen, beschließen sie die Austragung des Wettbewerbs zu verhindern. A schlägt deshalb B
vor, mit seinem Handy beim Polizeinotruf zu sagen, dass am Veranstaltungsort eine Bombe tickt. B hält das
für eine gute Idee und ruft mit den Worten an: „Im Gemeindesaal befindet sich eine scharfe Bombe!“ Daraufhin wird der Saal evakuiert und der Bandwettbewerb abgesagt.
C (17 J), die Freundin des verletzten Gitarristen, ist über W massiv verärgert, weil sie ihn für die Verletzung
ihres Freundes verantwortlich macht, und möchte sich an W rächen. Deswegen überredet sie ihre Schwester
D (20 J), mit ihr gemeinsam in Ws Haus einzudringen, um dort irgendeinen empfindlichen Schaden anzurichten. D hält dies für eine gerechte Strafe und willigt ein. Am nächsten Tag warten die beiden ab, bis W und X
weggefahren sind, und prüfen, wie sie sich Zutritt zum Haus verschaffen können. Schließlich brechen sie eine
Seitentüre auf (Reparaturkosten 650 €), zerschlagen die Scheiben einer Vitrine und holen aus dieser eine
Sammlung wertvoller Porzellanfiguren heraus. Sie zerschlagen Figuren im Wert von 2000 € (Wert der Glasscheiben: 350 €). Eine besonders niedliche Figur nimmt C heimlich an sich, um sie zu behalten (Wert 120 €).
Dann verlassen sie etwas zeitversetzt das Haus.
Die Nachbarstochter E (16 J) bemerkt den Vorgang erst, wie D aus dem Haus läuft. Sie nimmt an, dass diese
etwas gestohlen hat, und will sie aufhalten. Sie sieht keine andere Möglichkeit, als ihren Schäferhund Rex
mit dem Befehl „Fass!“ auf D zu hetzen. Der Hund bellt freudig und stürzt sich auf D. Diese wehrt die Attacke
mit einem Fußtritt ab und entkommt. Der Hund erleidet durch den Tritt einen Bruch des Brustkorbes.
Die Polizei sucht aufgrund der Personenbeschreibung der E die Gegend ab. Einige Straßen vom Tatort entfernt können zwei Beamte D aufgreifen. Als sie sehen, dass D Einbruchswerkzeug bei sich hat, nehmen sie sie
fest. Am Wachzimmer angekommen, wird D als Beschuldigte zum Sachverhalt befragt, wobei sie die Schuld
vollständig auf C schiebt. Nach der Befragung kann D nach Hause gehen.
Seite 1 von 2
1. Prüfen Sie die Strafbarkeit von A, B, C, D, E, W und X!
2. War die Festnahme von D rechtmäßig? Wie und mit welcher Erfolgsaussicht kann sie sich dagegen
zur Wehr setzen?
Nach Einvernahme der C, die sich geständig zeigt und auch die mitgenommene Figur zurückgibt, ist der
Sachverhalt hinreichend geklärt. C verzichtet auf Durchführung einer Hauptverhandlung, woraufhin das zuständige Gericht über sie mit schriftlicher Strafverfügung eine Geldstrafe verhängt. C sucht mit dem Schriftstück einen Strafverteidiger auf, der sie über den Bedeutungsgehalt einer Strafverfügung aufklärt.
3. Erörtern Sie, was der Verteidiger zu den Voraussetzungen einer Strafverfügung sagen und zu welchem Rechtsmittel er raten wird?
D wird vor dem zuständigen Gericht angeklagt. In der Hauptverhandlung legt W zusätzlich zu den oben unter
I. angeführten Schäden eine Rechnung für den Einbau der neuen Scheiben der Vitrine (Kosten: 150 €) vor
und beantragt den Ersatz dieser zusätzlichen Kosten. D bestreitet die Tat weiterhin und stellt den Antrag, eine Freundin zu vernehmen, die bezeugen könne, dass sie zum Tatzeitpunkt bei ihr war. Das Gericht lehnt
den Antrag ab und verurteilt sie. Die dem Urteil zugrunde gelegte Schadenshöhe basiert auf den Angaben
von W.
4. Welche Rechtsmittel kann D dagegen ergreifen?
Aufgrund der Aussagen des W und der anderen Mitfahrern geht die StA davon aus, dass W den Bus gelenkt
hat und klagt ihn vor dem zuständigen Gericht an. In der Hauptverhandlung wird die Strafregisterauskunft
des W, welche zwei bedingt nachgesehene Strafen mit offener Probezeit beinhaltet, verlesen. Die Richterin
entscheidet jedoch mit den Worten: „Der Widerruf wurde nicht von der Staatsanwaltschaft beantragt“ nicht
darüber. W wird anstelle einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen à
10 € und 5 Monaten Freiheitsstrafe (letztere bedingt nachgesehen auf 3 Jahre) verurteilt.
5. Welche Möglichkeiten hat die Staatsanwaltschaft gegen das Urteil vorzugehen?
Angenommen, die Verfahren gegen A und B werden gemeinsam durchgeführt: Am dritten Verhandlungstag
ist B unentschuldigt nicht erschienen. Das Gericht vernimmt an diesem Tag den Zeugen F. Beim nächsten
Termin, an dem B wieder teilnimmt, werden A und B zu kurzen Freiheitsstrafen (bedingt nachgesehen) verurteilt.
6. a) Welches Gericht oder welche Gerichte sind sachlich und örtlich zuständig? Dürfen/müssen die
Verfahren gegen A und B verbunden werden?
b) Mit welchem Rechtsmittel kann sich B gegen das Urteil wehren?
c) Welche Alternativen zu den verhängten Freiheitsstrafen wären in Betracht gekommen, und mit
welchen Rechtsmitteln kann auf diese hingewirkt werden?
Nach einigen Wochen wird das Urteil A und B zugestellt und sie erschrecken, da über Beide in der schriftlichen Ausfertigung mehrmonatige Haftstrafen ausgesprochen werden, die nicht bedingt nachgesehen sind.
7. Wie können die beiden erreichen, dass die verhängten Strafen wie in der mündlichen Urteilsverkündung ausdrücklich auch in schriftlicher Form bedingt nachgesehen werden?
E wird vom zuständigen Staatsanwalt wegen des Zwischenfalls mit dem Hund vernommen. Dabei macht E
auf ihn einen außergewöhnlich kindlichen Eindruck. Er bestellt daraufhin einen Sachverständigen.
8. Worauf zielt der Staatsanwalt damit ab? Wie kann sich E gegen die Bestellung eines konkreten
Sachverständigen zur Wehr setzen?
Seite 2 von 2