Universität Hamburg – Fakultät für Rechtswissenschaften Prof. Dr. Peter Wetzels (Abteilung Strafrecht und Kriminologie, Institut für Kriminologie an der Fakultät für Rechtswissenschaft, Universität Hamburg) Rechtshaus, Zimmer A 216 Tel.: 040-42838-4591 (Frau Billon, Sekretariat) email: [email protected] Sprechstunde: nach telefonischer Vereinbarung Homepage des Instituts für Kriminologie http://www2.jura.uni-hamburg.de/instkrim/kriminologie/Lehre/Lehre.html Besonderheiten des Verfahrens im Jugendstrafrecht 1 Besonderheiten desJugendstrafverfahrens Ergänzend zu den für das Strafverfahren insgesamt geltenden Grundsätzen, beispielsweise (Offizialprinzip (152 I StPO), rechtliches Gehör (103 I GG), Legalitätsprinzip (152 II, 160 I, 163 I StPO), Akkusationsprinzip (151 StPO), faires Verfahren, Unschuldsvermutung, (Art. 6 MRK) ist das Jugendstrafverfahrensrecht gekennzeichnet durch: eine erzieherische Ausgestaltung auch des Verfahrens eine damit verbundenen Täterorientierung des Verfahrens erhöhte Möglichkeiten der Entformalisierung Akzentuierung des Beschleunigungsgrundsatzes soweit Jugendliche (unter 18 Jahre) betroffen sind: gem. UN-Kinderrechtskonvention: Orientierung aller staatlichen Maßnahmen am Kindeswohl Beschleunigung und Persönlichkeitserforschung Täterorientierung beinhaltet unter anderem möglichst frühzeitige Erforschung der Persönlichkeit des Beschuldigten, um angemessen reagieren zu können Frühe Psychosoziale Diagnose (§ 43 JGG) • soll bereits mit Einleitung des Verfahrens beginnen • bezieht sich auf die Lebens- und Familienverhältnisse, den Werdegang, das bisherige Verhalten des Beschuldigten und alle übrigen Umstände, die zur Beurteilung seiner seelischen, geistigen und charakterlichen Eigenart dienen können • Adressaten sind StA, die JGH und auch das Gericht • Wenn erforderlich ist Untersuchung durchzuführen; diese soll nach Möglichkeit durch kundige Sachverständige erfolgen (§ 43 Abs. 2 JGG) • Zur Untersuchung des Entwicklungsstandes kann auch stationäre Unterbringung angeordnet werden, allerdings erst nach vorheriger Anhörung des Sachverständigen (§ 73 JGG) • § 43 JGG gilt sowohl für Jugendliche als auch für Heranwachsende (§ 109 I) • bei fraglicher Schuldfähigkeit gem. § 20 StGB greift § 81 StPO) 2 Beschleunigung und Persönlichkeitserforschung Beschuldigtenvernehmung schon vor Anklageerhebung wenn Jugendstrafe zu erwarten ist (§ 44 JGG) • dient sowohl der Tataufklärung, als auch der frühzeitigen Erforschung der Persönlichkeit Anordnung weiterer Maßnahmen Neben den Maßnahmen zur Erforschung der Persönlichkeit (inkl. ggf. Unterbringung zur Beobachtung) kann angeordnet werden Maßnahmen zur erzieherischen Einwirkung durch den Richter, § 71 • • • • • ist bereits im Ermittlungsverfahren möglich (hinreichende Tatverdacht nötig) betrifft weisungsähnliche Maßnahmen oder auch einstweilige Heimunterbringung es muss unverantwortlich erscheinen, bis zum Urteil abzuwarten es können auch Maßnahmen nach SGB VIII angeregt werden kaum praktische Bedeutung Einstweilige Unterbringung, § 126a StPO • In einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt • Vorwegnahme anstehender Maßnahmen nach § 7 Abs. 2 JGG 3 Untersuchungshaft bei Jugendlichen U-Haft gem. § 112 ff StPO ist im Strafverfahren generell eine verfahrenssichernde Maßnahme. Im Jugendstrafrecht gelten dazu weitere besondere Regelungen. §§ 72 ff JGG iVm §§ 112 ff StPO: • nur wenn Zweck nicht durch andere Maßnahmen erreicht werden kann (z.B. Meldepflicht oder einstweilige Unterbringung in Wohngruppe) • Verhältnismäßigkeit muss besondere Belastung für Jugendliche berücksichtigen • unter 16 Jahre: Haftgrundgrund Fluchtgefahr muss sich bereits manifestiert haben (Anstalten zur Flucht, bereits geflohen) oder kein fester Wohnsitz • wenn U-Haft, dann besondere Beschleunigung des Verfahrens • JGH ist sofort zu unterrichten • Problem: apokryphe Haftgründe (Warnschuss, zur Vorbereitung einer Bewährung etc.) Übungsfall Der 16jährige A ist bislang nicht strafrechtlich in Erscheinung getreten. Er wird nach zwei Diebstählen gem. §§ 242, 243 StGB von der Polizei gefasst. Der Beutewert beträgt € 85,und € 300,- Der zuständige Jugendrichter ordnet die Untersuchungshaft an, weil A keinen festen Wohnsitz hat und damit Fluchtgefahr bestehe. Er verweist weiter auch auf generalpräventive Überlegungen, weil die Diebstähle von Jugendlichen im letzten Jahr stark zugenommen hätten. a) Ist die Entscheidung rechtmäßig? b) Was versteht man unter „apokryphen Haftgründen“? c) Angenommen, alle Voraussetzungen für die Verhängung von Untersuchungshaft lägen vor: Gibt es für Jugendliche Alternativen zur U-Haft? Wie sieht das bei Heranwachsenden aus? 4 Lösung Vgl. LG Zweibrücken StV 1999, 161 a) Zwei Vergehen des Diebstahls mit einem Beutewert von € 85 und € 300 rechtfertigen bei einem zur Tatzeit 16-jährigen Ersttäter unter keinem Gesichtspunkt die Anordnung der Untersuchungshaft. Im Jugendstrafrecht dürfen außerdem generalpräventive Gesichtspunkte als Abwägungskriterien weder beim Haftgrund noch bei der Verhältnismäßigkeit berücksichtigt werden. b) Auch im Jugendstrafrecht gelten ausschließlich die Haftgründe der §§ 112 ff StPO. Apokryphe Haftgründe sind andere Gründe, die ggfs. mit der U-Haft verfolgt werden, die aber rechtlich nicht zulässig sind und unter dem Vorwand von Verfahrenssicherung umgesetzt werden. Solche andere, möglicherweise plausiblen Gründe (Krisenintervention, Schocktherapie, Förderung von Geständnis etc.) sind rechtswidrig. Dazu gehört auch das Ansinnen, durch kurze Freiheitsentziehung Abschreckung im Einzelfall zu bewirken. c) §§ 72 IV, 71 II JGG: Unterbringung in einem geeigneten Heim der Jugendhilfe. Findet auf Heranwachsende keine Anwendung. Übungsfall Der 14-jährige Z, der seit einem halben Jahr in einem Lehrlingswohnheim in H-Stadt wohnt und bisher nicht vorbestraft ist, ist beschuldigt am 15.10.2006 gemeinsam mit drei anderen 16- und 17jährigen Jungen einen schweren Raub begangen zu haben. Dabei wurde ein Wachmann lebensgefährlich verletzt – die Beute beläuft sich auf 35.000 €. Da Z bereits mehrfach von zu Hause ausgerissen ist – das letzte Mal war er 2 Monate bei Freunden auf einem Zeltplatz – hat der zuständige Richter vorgestern einen Haftbefehl erlassen und ihn in die Untersuchungshaftanstalt in H-Stadt eingewiesen. Als Grund für die Untersuchungshaft wurde Fluchtgefahr angegeben. Die zuständige Jugendgerichtshilfe und die Eltern des Z wurden in Kenntnis gesetzt. Von beiden wurde die Verhängung der Untersuchungshaft begrüßt. Sie sind Verteidiger der Z. Sie wollen einen Haftprüfungstermin beantragen mit dem Ziel, dass Z nicht weiter in U-Haft verbleibt. Bitte begründen Sie, warum die U-Haft-Anordnung in diesem Fall rechtswidrig war? 5 Lösung § 70 Abs. 2 JGG: U-Haft wegen Fluchtgefahr nur unter den hier normierten engen Voraussetzungen. Diese sind nicht gegeben. Abgesehen davon wäre eine explizite Prüfung und Begründung gem. 72 Abs. 1 S. 3 erforderlich gewesen. Diese wurde aber nicht durchgeführt bzw. in der Begründung des Haftbefehls findet sich dazu nichts. Besondere Verfahrensformen Strafbefehlsverfahren (§§ 407 ff StPO): bei Vergehen Staatsanwaltschaft hält Hauptverhandlung nicht für erforderlich schriftlicher Antrag der StA auf Festsetzung einer Strafe ohne Hauptverhandlung Geldstrafe, Verwarnung, Fahrverbot, Verfall, Einziehung, Entziehung der Fahrerlaubnis, bei Vertretung durch Verteidiger auch zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr bei Anwendung von Jugendstrafrecht nicht zulässig (§ 79 Abs. 1, § 109 Abs. 2) keine ausreichende Persönlichkeitsdiagnostik möglich 6 Besondere Verfahrensformen Beschleunigtes Verfahren nach ASR (§§ 417 ff. StPO): wegen einfachem Sachverhalt oder klarer Beweislage zur sofortigen Verhandlung geeignet sofortige Durchführung der Hauptverhandlung, ohne Entscheidung über Eröffnung keine Anklageschrift Ladung nur, wenn kein freiwilliges Erscheinen oder keine Vorführung Erweiterung der Verlesung von Zeugenaussagen (§ 420 StPO) Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr bei Jugendlichen nicht zulässig (§ 79 Abs. 2) s. ab er § 10 keine ausreichende Persönlichkeitsdiagnostik möglich im JGG existiert ein spezielles Verfahren (vereinfachte Jugendverfahren gem. § 76 JGG) Problem: Bei Heranwachsenden, die als Jugendliche zu behandeln sind, gilt ebenfalls § 43 (Persönlichkeitserforschung) - Die Anwendung des beschleunigten Verfahrens widerspricht in diesem Fall dem Sinn und Zweck des Gesetzes. Vereinfachtes Jugendverfahren (§§ 76 ff.) Voraussetzungen Nur bei Jugendlichen zulässig (109 II) Sache eignet sich für Vereinfachung • kleine oder mittlere Delinquenz • Rechtsfolgenerwartung beschränkt sich auf Weisungen, Erziehungsbeistandschaft, Zuchtmittel, Fahrverbot, Entzug der Fahrerlaubnis inkl. Sperre der Fahrerlaubnis von nicht mehr als zwei Jahren oder den Verfall, Einziehung • Nach RL Nr. 1 zu § 76 soll das vereinfachte Verfahren der Regelfall sein, wenn die Voraussetzungen vorliegen Keine Eignung insbesondere • wenn Jugendstrafe oder Anordnung der Hilfe zur Erziehung wahrscheinlich ist • wenn umfangreiche Beweisaufnahme erwartbar ist Verfahren Jugendstaatsanwalt stellt formlosen Antrag Antrag steht der Anklage gleich kein Zwischenverfahren wenn Ablehnung durch Jugendrichter, dann Anklageerhebung nötig 7 Vereinfachtes Jugendverfahren (§§ 76 ff.) Folgen Mündliche Verhandlung findet statt, aber jugendgemäße Gestaltung des Verfahrens: • • • • Verzicht auf Formen (keine Robe, außerhalb des Sitzungssaals möglich) kurzfristige Terminierung möglich Allerdings darf die „Erforschung der Wahrheit“ nicht beeinträchtigt werden erscheint der Beschuldigte ohne ausreichende Entschuldigung nicht, dann nur Vorführung, wenn in der Ladung auch angedroht Teilnahme der Staatsanwaltschaft nicht notwendig • Nimmt der Staatsanwalt nicht teil, ist die Zustimmung zur Einstellung oder zum Verfahren in Abwesenheit des Angeklagten nicht erforderlich (vgl. §§ 230 ff StPO) • StA kann aber Rechtsmittel einlegen Rechtsfolgen sind beschränkt (§§ 76 S. 1, 78 Abs. 1 S. 2 JGG) • • • • neben den allgemeinen Beschränkungen der Rechtsfolgenkompetenz keine stationären Hilfen zur Erziehung keine Jugendstrafe und (weil dieser nur vorgelagert) kein § 27 keine Unterbringung in Entziehungsanstalt Beschränkung der Opferrechte Die besondere Täterorientierung und die spezialpräventive Zwecksetzung des Jugendstrafrechts führt dazu, dass die im allgemeinen Strafverfahren geltenden, opferbezogenen Regelungen und Rechte eingeschränkt sind. Die betrifft insbesondere die Beteiligtenrechte des Opfers Privatklageverfahren Nebenklage Adhäsionsklage Klageerzwingungsverfahren In der Praxis und nach den Intentionen des Gesetzgebers spielen Opferinteressen und Bedürfnisse jedoch dann eine wichtige Rolle, wenn sie für soziales Lernen wichtig sind. Daraus folgt auch die zentrale Position des TOA. 8 Privatklage (§ 80 Abs. 1 JGG - §§ 374-394 StPO) Das Erheben der Privatklage ist gegen Jugendliche nicht zulässig Gegen Heranwachsende ist Privatklage zulässig (auch bei Anwendung von Jugendstrafrecht) Die Opferinteressen vertritt dafür die StA in stärkerem Maße. Erweiterung der Verfolgung durch die StA wenn • Privatklagedelikt vorliegt und • Gründe der Erziehung oder • berechtigtes Interesse des Verletzten, dass dem Erziehungszweck nicht entgegenstehen darf nicht entgegenstehen. Widerklage gegen Jugendlichen ist möglich • (Jug. hat als Verletzter selbst Privatklage erhoben und Beschuldigter verklagt nun Jug. weil dieser den Beschuldigten verletzt hat und beide Taten in Zusammenhang stehen.) • Dann aber nur Zuchtmittel möglich (§ 80 Abs. 2 S. 2, § 104 Abs. 4 S. 1) Nebenklage (§ 80 Abs. 3 JGG - §§ 395-402 StPO) Nebenklage ist im Falle von Jugendlichen nur eingeschränkt zulässig (§ 80 III JGG) • • • • • Verbrechen gegen das Leben, körperliche Unversehrtheit, sexuelle Selbstbestimmung, §§ 239 Abs. 3, 239a, 239b bei schw. seelischer oder körperlicher Schädigung § 251ff vor 2006 nicht zulässig Gegen Heranwachsende ist der Beitritt als Nebenkläger uneingeschränkt zulässig (auch bei Anwendung von Jugendstrafrecht) (§ 109 I, II JGG) 9 Übungsfall Der 17jährige T und der 20-jährige M haben gemeinschaftlich mit 2 weiteren Tätern, die jedoch durch die StA nicht ermittelt werden konnten, den 35-jährigen O überfallen und zusammengeschlagen. Dieser wird dadurch schwer verletzt. Tötungsvorsatz lag nicht vor, es handelte sich um eine gefährliche Körperverletzung gem. § 224 StGB. Dien StA erhebt Anklage vor dem Amtsgericht. Gegen T und M wird gemeinsam verhandelt. Bei dem M wird § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG bejaht. Das Opfer O beantragt, als Nebenkläger zugelassen zu werden. Das Jugendschöffengericht weist diesen Antrag auf Zulassung zur Nebenklage zurück. a) Der O ist mit dieser Entscheidung nicht einverstanden. Welches Rechtsmittel steht im zur Verfügung und welches Gericht wäre zuständig? b) Wie wird dieses Gericht in der Frage der Zulassung als Nebenkläger entscheiden? c) Wäre in dieser Frage anders zu entscheiden wenn der T 18 Jahre alt wäre? Fall gebildet nach LG Zweibrücken, ZJJ 2009 S. 61. a) Beschwerde gem. § 304 I StPO; zuständig ist Jugendkammer gem. § 41 JGG II 2, § 73 I GVG b) Anders als § 48 Abs. 3 JGG, der für Verfahren, in denen Heranwachsende oder Erwachsene mitangeklagt sind - in Abweichung vom Grundsatz der Nichtöffentlichkeit in Verfahren gegen Jugendliche - die Öffentlichkeit der Verhandlung vorsieht, trifft § 80 JGG eine vergleichbare Ausnahmeregelung nicht. Deshalb ist in Verfahren gegen mehrere Beschuldigte, von denen einer Jugendlicher ist, die Nebenklage auch gegen mitangeklagte Heranwachsende oder Erwachsene ausgeschlossen, jedenfalls wenn die Anklage Vergehen zum Gegenstand hat. Hätte der Gesetzgeber eine andere Regelung gewollt, hätte er sie bei Neufassung des § 80 Abs. 3 JGG zweifelsohne getroffen. Die hier im Streit stehende Konstellation hat er aber erkennbar nicht geändert, was die Annahme rechtfertigt, dass der Gesetzgeber an der Regelung des § 80 Abs. 3 JGG a.F. festhalten wollte, dass die Nebenklage bei weniger schwerwiegenden Straftaten Jugendlicher (Vergehen) unzulässig ist. Es gibt gute Gründe für einen solchen Vorrang jugendrechtlicher Belange. Es geht darum, den Schutz Jugendlicher zu gewährleisten. Die Nebenklage kann generell die gesamte Verhandlung nachhaltig prägen, wirkt sich mithin auch gegenüber dem Jugendlichen aus. Als Grundlage der Wahrheitsfindung ist sie nicht aufspaltbar . c) dann wäre Nebenklage uneingeschränkt zulässig. Generell § 109 I S. 1 schließt § 80 III aus Das gilt auch bei Anwendung von Jugendstrafrecht, § 109 II JGG. 10 Adhäsionsverfahren (§ 81 JGG - §§ 403-406c StPO) Das Adhäsionsverfahren ist gegen Jugendliche nicht zulässig Gegen Heranwachsende ist das Adhäsionsverfahren zulässig (auch bei Anwendung von Jugendstrafrecht) (§ 109 I, II JGG) vor 2006 war dies gegen Heranwachsende ebenfalls nicht zulässig • § 109 II S. 1 a.F.: „Wendet der Richter Jugendstrafrecht an (§ 105) so gelten auch die §§ 45, 47 I S. 1 Nr. 1, 2 und 3, II, III, §§ 52, 52a, 54 I, §§ 55 bis 66, 74, 79 I und § 81 entsprechend....“ Klageerzwingungsverfahren (§ 172 Abs. 2 StPO) Das Klageerzwingungsverfahren gem. § 172 Abs.2 StPO richtet sich gegen die Ablehnung der Erhebung der öffentlichen Klage. Es ist im Erwachsenenstrafrecht möglich wenn es sich nicht um ein Privatklagedelikt handelt keine Einstellung gem. §§ 153ff, 154ff StPO vorliegt Nach dem Wortlaut wäre die Klageerzwingung also immer dann zulässig, wenn es sich nicht um ein Privatklagedelikt handelt und keine Opportunitätsentscheidung gem. 153 f StPO vorliegt. Also auch im Falle von § 45 JGG? Da § 45 Abs. 1 JGG auf die Voraussetzungen des § 153 StPO verweist, ist im Wege eines Erst-Recht-Schlusses die Klageerzwingung auch bei Opportunitätsentscheidungen im Jugendstrafverfahren ausgeschlossen. Folglich: nicht zulässig bei Einstellungen gem. § 45 zulässig nur bei Einstellung gem. § 170 Abs. 2 11 Weitere Besonderheiten im Hauptverfahren nach Jugendstrafrecht Nichtöffentlichkeit (§ 48) Ausnahme für • Erziehungsberechtigte oder gesetzliche Vertreter • ggf. Bewährungshelfer oder Betreuungshelfer oder ggf. Erziehungsbeistand, ggf. Leiter einer Einrichtung zum Betreuten Wohnen, Heim • andere Personen zu Ausbildungszwecken (z.B. Studenten im Praktikum) verbundene Verfahren mit Heranwachsenden oder Erwachsenen sind grundsätzlich öffentlich • Öffentlichkeit kann aber ausgeschlossen werden, wenn dies im Interesse der Erziehung jugendlicher Angeklagter liegt Zeitweiliger Ausschluss des jugendlichen Angeklagten (§ 51 Abs. 1) Ausschluss von einzelnen Verhandlungsteilen wenn die Erörterung bestimmter Punkte zu Nachteilen in der Erziehung des Angeklagten führen können („soll“) Urteil (§ 54) erhöhte Begründungspflicht (auch bei HW bei Anwendung von JSR) ggf. Nichteröffnung aller Begründungen gegenüber dem Angeklagten (wenn Nachteile in der Erziehung zu befürchten sind) Rechtsmittel (§ 55) Der Beschleunigungsgrundsatz im Jugendstrafverfahren führt auch zu einer Beschränkung der Rechtmittel. Diese Beschränkung gilt in qualitativer Hinsicht (Ausschluss von Rechtsmitteln bzgl. der Art und Höhe weniger eingreifender Rechtsfolgen) und quantitativer Hinsicht (Anzahl der Rechtsmittel). Diese Beschränkungen betreffen Jugendliche und Heranwachsende bei Anwendung von Jugendstrafrecht. Verfassungsrechtliche Bedenken Schlechterstellung im Vergleich zu Erwachsenen? BVerfG: Die Gründe (Beschleunigung der Reaktion) sind sachlich tragfähig, daher kein Verstoß gegen Art. 3 GG (vgl. auch BVerfG NJW 1988, 477). Beschränkungen treffen Angeklagten sowie Staatsanwaltschaft gleichermaßen (daher kein Verstoß gegen fair trial und „Grundsatz der Waffengleichheit“).. 12 Rechtsmittelbeschränkung bei bestimmten Folgen (§ 55 Abs. 1) Rechtsmittel, die sich auf den Rechtsfolgenausspruch beschränken (Art und Höhe der Maßnahmen) sind ausgeschlossen, wenn lediglich Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmittel angeordnet oder die Auswahl und Anordnung von Erziehungsmaßregeln dem Familienoder Vormundschaftsrichter überlassen sind, Der Ausschluss betrifft den Umfang der Maßnahmen den Einwand, dass ggf. andere oder weitere Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmittel hätten angeordnet werden sollen die Tatsache, dass die Auswahl und Anordnung der Erziehungsmaßregeln dem Familien- und Vormundschaftsrichter überlassen worden sind. Ausnahme: Hilfen zur Erziehung nach § 12 Nr. 2 Gilt für Berufung, Revision und Beschwerden gegen Beschlüsse (z.B. § 65 Abs. 1, nachträglich beschlossene Weisungen) Beschränkung der Anzahl der Rechtsmittel (§ 55 Abs. 2) Grundsatz: Bei zulässig eingelegter Berufung kann gegen das Berufungsurteil keine Revision mehr erhoben werden. d.h. wenn beide Rechtsmittel (Berufung und Revision) möglich wären • nur bei erstinstanzlichen Urteilen des Jugendrichters oder Jugendschöffengerichts • gegen erstinstanzliche Urteile der Jugendkammer ist auch nach allg. Verfahrensregeln nur Revision möglich (§ 312 StPO) besteht ein Wahlrecht • Wahl kann noch innerhalb der Begründungsfrist getroffen werden • im Zweifel: Berufung jedem steht ein Rechtsmittel zu • Angeklagter, Erziehungsberechtigter und gesetzlicher Vertreter zählen bei Berufung als Eins (§ 55 Abs. 2 S. 2) • Angeklagter legt Berufung ein – StA kann dagegen Revision einlegen legt einer Berufung, der andere Revision ein, gilt die Berufung • dem Anderen geht die Revision nicht verloren, später gegen Berufung möglich hebt die Revisionsinstanz ein Urteil auf, gilt dies auch für den Mitangeklagten, der selbst keine Revision mehr einlegen konnte hat die Berufungsinstanz gegen das Verschlechterungsverbot verstoßen, ist Revision entgegen § 55 Abs. 2 doch möglich 13 Rücknahme der Rechtsmittel (§ 55 Abs. 3 - § 302 StPO) Es gelten die allgemeinen Verfahrensvorschriften ein eingelegtes Rechtsmittel kann durch Prozesserklärung wieder zurückgenommen werden. Eine Prozesserklärung ist unanfechtbar. ein durch die StA zugunsten des Angeklagten eingelegtes Rechtsmittel kann nicht ohne dessen Zustimmung zurückgenommen oder beschränkt werden Ein einmal zurückgenommenes Rechtsmittel kann nicht noch einmal eingelegt werden, in der Rücknahme liegt zugleich ein endgültiger Verzicht Zusätzlich gilt nach § 55 Abs. 3 hat ein Erziehungsberechtigter oder gesetzlicher Vertreter ein Rechtsmittel eingelegt, kann es nur mit Zustimmung des Angeklagten zurück genommen werden Dies gilt auch wenn der Angeklagte selbst auf Rechtsmittel verzichtet hatte Zum nächsten Termin bitte folgende zwei Übungsfälle lösen 14 Übungsfall 1 Der 16-jährige B wurde vom Amtsgericht X wegen schweren Diebstahls in fünf Fällen und wegen versuchten Betruges zu einer Einheitsjugendstrafe von 1 Jahr und 6 Monaten verurteilt. Eine weiteren angeklagten schweren Diebstahl hielt das Gericht indessen nicht für bewiesen. In dieser Hinsicht erfolgte ein Freispruch. Eine Entscheidung über die Strafaussetzung wurde vom AG zurückgestellt. Sowohl die Staatsanwaltschaft als auch der B legen gegen dieses Urteil Berufung ein, B zieht seine Berufung bereits am nächsten Tag wieder zurück. 1. Könnte B, nachdem er die Berufung einmal zurückgezogen hat, nochmals Berufung einlegen, wenn die Frist zur Einlegung des Rechtsmittels noch nicht abgelaufen ist? Die Berufungsinstanz hält die Verurteilung bzgl. der fünf Fälle (schw. Diebstahl) aufrecht. Der Schuldspruch bzgl. des versuchten Betruges wird ausgeweitet. Das Gericht nimmt hier bei gleicher Tatsachengrundlage nunmehr Hehlerei in Tateinheit mit versuchtem Computerbetrug an. Zusätzlich verurteilt das Berufungsgericht den B in einem weiteren Fall wegen schweren Diebstahls. Dies ist der Fall, in denen das AG den B noch freigesprochen hatte. 2. Kann B gegen diese Entscheidung Rechtsmittel einlegen? Welches Rechtsmittel wäre das und bzgl. welcher Entscheidung im Einzelnen wäre das Rechtsmittel statthaft? Übungsfall 2 Der heute 19jährige J hat im Dezember 2012 gemeinsam mit vier Freunden drei räuberische Erpressungen und tatmehrheitlich dazu zwei gefährliche Körperverletzungen begangen. Bis dahin war er noch nie mit Straftaten aufgefallen. Er war ein guter Schüler und verstand sich mit seinen Eltern gut. Mitte 2013 trennten sich seine Eltern. J lebt seitdem bei seiner Mutter in Hamburg. Seine Schulleistungen sind viel schlechter geworden. Er hat sich neuerdings einer Gruppe Jugendlicher angeschlossen, die oft mit körperlichen Übergriffen auf Fußballfans von Gegnern des HSV auffällt. Die StA hat Anklage vor dem zuständigen Gericht erhoben. J legte in der HV ein Geständnis bezogen auf die Vorfälle im Dezember 2012 ab. Die StA beantragte eine Jugendstrafe wegen schädlicher Neigungen in Höhe von 18 Monaten, die zur Bewährung ausgesetzt werden könne, sofern entsprechende Weisungen und Auflagen erteilt würden. Das Gericht stellte im März 2014 in seinem Urteil fest, es sei zweifelhaft, ob zum Tatzeitpunkt überhaupt bereits schädliche Neigungen vorgelegen hätten. Zum Urteilszeitpunkt lägen indessen entsprechende Hinweise vor, dass diese aktuell wohl gegeben seien. Deren Umfang sei aber noch nicht eindeutig festzustellen. Das Gericht stellte in seinem Urteil die Schuld des J fest und setzte die Verhängung einer Jugendstrafe wegen schädlicher Neigungen gem. § 27 JGG für zwei Jahre zur Bewährung aus. Das Gericht erteilte J gem. § 23 Abs. 1 JGG die Weisung, sich künftig von seiner neuen Clique fernzuhalten. Weiter erteilte das Gericht dem J die Auflage, sich bei den Opfern seiner Taten zu entschuldigen. Das Gericht belehrte J gem. § 70 JGG ausführlich über die Bedeutung der Bewährung gem. § 27 JGG und die Folgen eines Verstoßes gegen Weisungen und Auflagen. Zusätzlich verhängte das Gericht gem. § 16a JGG Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 i.V.m. § 8 Abs. 2 S. 2 JGG gegen den K einen Jugendarrest in Form eines Dauerarrests von zwei Wochen. Diesbezüglich führte das Gericht aus, dieser Arrest sei neben der Aussetzung der Verhängung der Jugendstrafe geboten, um J das Unrecht seiner Tat zu verdeutlichen und um ihn zeitweise aus dem schädlichen Umfeld seiner Clique herauszunehmen. Belehrung, Auflagen und Weisungen seien nicht ausreichend. 15 Fragen zum Übungsfall 2 1. Vor welchem Gericht wird die StA erstinstanzlich die Anklage erhoben haben? Geben sie dazu bitte die vollständige Normkette an und begründen sie ihre Feststellung. 2. Wie beurteilen sie die Entscheidung des Gerichts hier gem. § 27 JGG die Verhängung einer Jugendstrafe auszusetzen aus jugendstrafrechtlicher Sicht in normativer Hinsicht? 3. Wie ist die Entscheidung, einen Koppelungsarrest gem. § 16 a JGG zu verhängen, aus jugendstrafrechtlicher Sicht normativ zu bewerten. 4. Hätte J gegen diese Entscheidung des Gerichts vorgehen können? Welche Rechtsmittel hätten ihm zur Verfügung gestanden und wie wären seine Erfolgsaussichten gewesen? 16
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