Kolt - Michael Hugentobler

Dolmas
langsame
Rückkehr
Dolma Knell kam in Tibet zur Welt und wuchs bei Pflegeeltern
in der Schweiz auf. Eine Geschichte mit mehreren Anfängen.
Text von Michael Hugentobler
Fotos von Claude Hurni
A
n einem Tag wie jeder andere fand
Dolma Knell die Tibeterin in sich.
Sie spazierte die Münstergasse in
Bern entlang und sah einen Laden
voll Rollbilder, Buddhastatuen und
Gebetsketten. Natürlich wusste sie, woher die
Bilder, Statuen und Ketten stammten, aber das
hatte keine besondere Bedeutung für sie. Dolma
Knell war eine Schweizerin Mitte vierzig, hatte
eine glückliche Kindheit in Lostorf im Kanton
Solothurn durchlebt, mit Sommerferien im Tessin und Sportferien in Klosters, und das einzige,
was sie gerade bedrückte, war ihre laufende
Scheidung. Das war vor elf Jahren.
Heute sitzt Dolma Knell am Esstisch ihrer Wohnung in Olten, im dritten Stock eines Altstadthauses. Auf ihre früheste Kindheit angesprochen, kehrt sie zurück zur Zeit vor Lostorf, zu
den Erinnerungsfetzen einer Vierjährigen: Wie
sie von einem Jungen in den Armen gehalten
wurde, und ein Gefühl sagte ihr, dass der Junge
ihr Bruder sei. Wie Frauen zum Rhythmus von
Musik tanzten, und Ärmel flatterten durch die
Luft. Wie sie laufen musste, laufen, laufen, laufen, bis ihr die Füsse weh taten, und irgendwo
knallten Schüsse.
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Vor ihr auf dem Tisch liegen Fotos und ein
Paar Schuhe. Es sind sehr kleine Schuhe. Das
schwarze Leder ist ein wenig zerknittert, denn
die Schuhe sind fast ebenso alt wie Dolma Knell.
In diesen Schuhen ging sie zu Fuss über den
Himalaya, ging durch die Räume des Kinderheims in Indien und bestieg das Flugzeug in die
Schweiz.
Sie ist eines der rund 200 Pflegekinder, die ab
1960 vom Industriellen Charles Aeschimann
in die Schweiz geholt wurden. Nach offiziellen
Angaben handelte es sich um Waisenkinder, später stellte sich aber heraus, dass nur 19 der Kinder ohne Eltern waren. Von diesem Thema handelt auch der Dokumentarfilm «Tibi und seine
Mütter», der vor zwei Jahren in den Kinos lief.
Der Tibeter Tibi wurde seiner leiblichen Mutter entrissen, und sie sahen sich erst wieder, als
Tibi erwachsen war. Nach der Veröffentlichung
des Films meldeten sich ehemalige Pflegekinder
in den Medien, sie vertraten dort allerdings die
Ansicht, es sei unfair, die «Affäre Aeschimann»
als dunkles Kapitel schweizerischer Zeitgeschichte zu bezeichnen, denn dunkel sei für die
Kinder die Situation in Tibet und Indien gewesen, nicht aber die in der Schweiz.
Dolma Knell sagt: «Charles Aeschimann
wollte uns ein besseres Leben ermöglichen, darum brachte er uns hierher.» In
ihrem Reisepass von damals steht zwar
der Name einer Mutter, aber sie kann sich
an ihre Mutter nicht erinnern, nur an die
Arme des Jungen, die sie hielten. Auf dem
Passfoto ist ein kleines Mädchen in eng
geschnürter wollenen Chuba zu sehen,
und sie blickt misstrauisch zum Fotografen hoch.
Auf dem nächsten Foto, drei Jahre später,
trägt sie eine gestreifte Strickjacke, links
neben ihr duckt sich ein Hund ins Bild.
Hund und Mädchen, beide scheinen grosse Freude am Fotografen zu haben. Der
Hund gehörte Dolma Knells erster Pflegefamilie in Zürich. Es wurde ein kurzer
Aufenthalt: «Ich war ihnen zu viel.» Als
die Familie ins Ausland zog, brachten sie
Dolma zu Charles Aeschimann und der
suchte eine neue Familie.
«Ich bin
Dolma Knell
und will
zurück
zu meinen
Wurzeln.»
Dolma Knell sagt: «Manchmal vergass ich
sogar, dass ich anders aussehe.» Die Eltern
schlugen vor, sie solle Tibeterclubs besuchen und sich mit Landsleuten treffen, aber sie
wollte nicht Tibeterin sein, sondern Schweizerin.
Im November 1976 wurde sie eingebürgert. Sie
bildete sich in Bern zur Pflegerin aus und arbeitete in einem Altersheim. Sie heiratete einen
Schweizer und wurde Mutter eines Sohnes. Hin
und wieder bekam sie Briefe von Frauen in
Tibet, die behaupteten, Dolma sei ihre Tochter,
aber die Frauen waren entweder zu alt oder zu
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Die Jahre verstrichen, ihr Sohn wurde
erwachsen, ihre Ehe scheiterte, sie verliebte sich und zog mit ihrem neuen Partner in die Altstadtwohnung in Olten. Und
dann spazierte sie die Münstergasse in
Bern entlang und betrat den Lhasa-Laden
mit den Rollbildern, Buddhastatuen und
Gebetsketten. Sie kam mit den zwei Besitzerinnen ins Gespräch, und zu ihrer Verwunderung ging sie später in den Laden
zurück, immer wieder, und die Frauen
wurden zu ihren Freundinnen. Zwei erste
tibetische Freundinnen.
Das war der Anfang der Tibeterin Dolma,
sagt sie, aber woher dieser Anfang genau
kam und warum in diesem Moment, kann
sie nicht sagen. Sie begann, jeweils am
Jahrestag des chinesischen Einmarsches,
die Tibetfahne an den Balkon zu hängen.
Sie trat der «Gesellschaft SchweizerischTibetische Freundschaft» bei, und als sie
sich an der Generalversammlung in den
Vorstand wählen liess, sagte sie: «Ich bin
Dolma Knell und will zurück zu meinen
Wurzeln». Und sie zeigte den Brief des
Mannes mit dem weissen Hut den Frauen
in Bern, die Frauen übersetzten: Der
Mann sei ihr Bruder, die Frau ihre Mutter.
Wenn Dolma Knell heute «meine Eltern»
sagt, dann meint sie eine schlanke Frau
und einen Herrn mit Berner Akzent in
Lostorf. Dies ist der Anfang der Schweizerin, die auf Schlittschuhen Pirouetten
dreht, auf Skis die Berghänge hinunter saust und im Sommer in der Badi
plantscht. Ein Klassenfoto aus der Primarschule zeigt ein lächelndes Mädchen
inmitten weiterer lächelnder Mädchen,
und wäre ihre Haut nicht etwas dunkler,
würde sie nicht auffallen.
Hinter Charles Aeschimanns Aktion stand
der Dalai Lama, der ein Jahr vorher Tibet
verlassen hatte. Gemäss offiziellen Dokumenten hatte der Dalai Lama die Absicht,
in der Schweiz die zukünftige Elite seines
Volkes heranzubilden. Er hoffte, dass sie
als Ärzte, Ingenieure und Architekten
zurückkehren. Er gab Aeschimann die
Erlaubnis, Pflegeeltern für die Kinder zu
finden. Aber der Plan misslang, Kinder
blieben in der Schweiz.
Hut, und seine Lippen standen leicht
offen. Neben ihm stand eine ältere Frau
mit kahlgeschorenem Kopf, ihr Körper
war in eine Mönchsrobe gehüllt und in
der Hand hielt sie eine Gebetskette. Dolma
Knell hob den Brief und die Fotos auf.
Heute finden sich in Dolma Knells
Wohnung Gegenstände, die auf ihre Herkunft
hindeuten. Das war nicht immer so.
jung. Die Briefe lösten nichts aus, denn da war
kein Gefühl, das sie mit einer tibetischen Mutter
verband.
Dann kam der Brief eines Mannes. Dolma Knell
konnte die Zeilen nicht lesen, die er geschrieben hatte, aber sie konnte die beigelegten Fotos
anschauen. Er trug schwarze Schuhe, die glänzten, in der Hand hielt er einen grossen weissen
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Sie suchte im Internet nach dem Namen
des Mannes und fand das Foto eines buddhistischen Abts, der mit einem angeknabberten Melonenschnitz in der Hand
in die Kamera schaut. Es könnte der Mann
mit dem weissen Hut sein. Könnte. Aber
woher sollte sie wissen, dass es wirklich
der Junge ist, dessen Arme sie damals
spürte?
In ihrer Altstadtwohnung hängen heute
zwei Rollbilder, eines mit einer grünen
Tara und eines mit einer weissen Tara,
den Zeichen für Mitgefühl und Weisheit.
Auf einem Büchergestell liegt eine Gebetsmühle. An ihrem Hals und ums Handgelenk baumeln Gebetsketten.
Es ist 53 Jahre her, seit sie Tibet verliess. Will sie
jemals zurück? «Vielleicht», sagt sie, «zu einem
Besuch.» Hinterliess denn der Mann mit dem
weissen Hut einen Absender?
Das weiss sie nicht mehr. Der Brief sei in der
Zwischenzeit verloren gegangen.