Was ein Ungar vor 200 Jahren im indischen Himalaja suchte 42 GLOBETROTTER-MAGAZIN sommer 2011 nordindien Z Zanskar Auf den Spuren eines Suchers anskar, das einstige Königreich im hohen Norden Indiens, ist gut bewacht. Kun und Nun, die 7000 Meter hohen Eisriesen beherrschen den Zugang im Norden. Die vom Sturm getriebenen Schneefahnen auf ihren Gipfeln wirken auf uns wie das Fauchen von Drachen, so als wollten sie Eindringlinge davon abhalten, das buddhistische Wunderland zu betreten. Tatsächlich konnte sich Zanskar mit seinen Klöstern, seinen tibetisch anmutenden Dörfern und Traditionen den Einflüssen der modernen Welt entziehen. Acht Monate im Jahr ist die Gebirgsregion wegen der verschneiten Pässe isoliert. Die einzige Strasse, die nach Zanskar führt, ist nur in den Sommermonaten befahrbar und nicht viel mehr als eine 240 Kilometer lange Rüttelpiste. Sie wurde 1978 fertiggestellt, ihr Belag ist schon längst zerbröselt. Der Tacho hüpft selten über die 20er-Stundenkilometermarke. Wir sind bemüht, auf dem Höllenritt das Gleichgewicht zu halten, um Blessuren oder gar einen ausgerenkten Nackenwirbel zu vermeiden. Das Autoradio löst sich schon sehr bald aus seiner Verankerung und fällt zu Boden. Das Wagenblech droht scheppernd aus den Fugen zu geraten. Der Lärm ist ohrenbetäubend. Überall ist Staub, der unter die Augenlider, in die Kleidung, in den Hals kriecht. Muhammed Achmed steuert seinen Jeep vom muslimischen Kargil aus durch das Surutal. Allmählich ändert sich die Gegend. Die fruchtbaren Felder weichen grauen Hochtä- Text und Fotos: Jörg Kersten eigentlich wollten der Autor Jörg Kersten und seine Partnerin eva im abgelegenen Zanskar die buddhistischen Klöster besuchen und durch die fantastische Berglandschaft wandern. Doch als sie von einem europäer vernahmen, der vor bald zwei Jahrhunderten auf einer eigentümlichen persönlichen Forschungsreise hierher gekommen war, entwickelte sich ihre Tour immer mehr zu einer spurensuche. Spektakulär. Das Höhlenkloster Phuktal klebt an den Felsen (links). Mönchsjungen. Viel Spass beim Beobachten von Klosteraktivitäten (oben). lern aus Geröll, an deren Rändern Gletscherzungen lecken. Über Stunden folgen wir der Piste hinein in die Hochgebirgswüste. Es ist eine raue leere Gegend ohne nennenswerte Vegetation und ohne Menschen. Aber dann sichten wir die ersten Gebetsfahnen und weisse Chörten. Wie Leuchttürme in schwerer See, so erscheinen uns die glockenförmigen Reliquienschreine der Buddhisten. Aus Steinen geschichtete Manimauern mit ein43 gravierten heiligen Mantras zeigen uns an, dass wir uns Zanskar nähern. Im Schnittpunkt von fünf Tälern gelegen taucht endlich das Kloster Rangdum, das «Kloster der langen Trompete», vor uns auf. Die festungsähnliche Anlage gilt als die am weitesten im Westen gelegene sakrale Stätte des tibetischen Kulturkreises. Von hier an herrschen tibetische Gottheiten über das Gebirge. Grimmige Schutzgötter. Wegen der ungewohnten Höhe schwanken wir wie betrunkene Matrosen auf Landgang den Hügel zur Abtei hinauf und bitten um Einlass. Uns öffnen tief vermummte Mönche, die in der Einsamkeit der Hochtäler ein trotziges Leben gegen den eisigen Wind und den Verfall der Klostermauern führen. Sie zeigen uns gern die Figur des Yeshe Dragspa, der einst von Zentraltibet auf einem Adler hierher flog und dort, wo das Gebäude heute steht, meditierte. Keiner der Klosterbrüder bezweifelt die Wundertaten des Yogis. Legenden und Mythen sind in Zanskar wirklich wahr. Durch das Fenster im angrenzenden Raum der Schutzgottheiten fällt nur schwaches Licht. Grimmig starrende Gottheiten dominieren die Wandbemalung. Inmitten lodernder Flammen tanzen sie mit hervorquellenden Augen, wirren Haaren, aufgerissenen Mäulern und Totenschädeln auf einer Schlangenbrut. Sie bilden die passende Kulisse für die Masken der zornvollen Gottheiten, die nur auf den Tempelfesten zum Leben erwachen. Im Klosterhof tanzen sie dann ihren Reigen. Das Mysterienspiel gleicht denen in Tibet: Die Mönche tanzen, unter Brokattrachten verborgen, die Geschichte von Padmasambhava. Der Magier besiegte nach alten Legenden den vorbuddhistischen Bönglauben. Gebannt folgen die Zuschauer dann den Drehungen der Tänzer. Die Zanskaris achten und fürchten die gruseligen Masken mit den Fangzähnen und aufgerissenen Mäulern auch heute noch bis hinein in ihre Träume. Jetzt starren uns die Fratzen an, die an den Pfosten des Raumes hängen und stumm auf ihren nächsten Einsatz warten. Verhüllte Standbilder, die das Kloster vor Krankheiten und Unglück schützen, beherrschen Furcht einflössend die russgeschwärzten Ecken des Raums, der ein Geheimnis birgt: Die Regale sind gefüllt mit Büchern, die die Mönche nach der Invasion der Chinesen in Tibet über die Bergpässe bis nach Zanskar schleppten. In den vergessenen Abteien des kleinen Königreichs schienen sie vor den chinesischen Invasoren, die in den Klöstern Tibets randalierten, doch recht sicher. Leider bleibt uns nicht viel Zeit, den unheimlichen Ort zu erkunden, denn die Schmelzwasser der umliegenden Schneegiganten schwellen mit jeder vorgerückten Stunde weiter an. Eiswasserbäche entwickeln sich mit der zunehmenden Wärme des Tages zu kleinen Flüssen. Mitunter kreuzt das Wasser bedenklich hoch und breit die Strasse und droht bei 44 GLOBETROTTER-MAGAZIN sommer 2011 einer Passage den Motor zu überschwemmen. Tatsächlich bleiben wir irgendwann mitten in einer Furt hängen. Die Bodenplatte des Wagens hat aufgesetzt. Wir stecken fest und müssen aussteigen. Mit nackten Füssen im Eiswasser schreien wir gegen die Kälte an und graben mit blossen Händen Gesteinsbrocken unter dem Wagen hervor. Irgendwann versagt auch noch die Kupplung auf freier Strecke. Wir stranden kurioserweise nach einer letzten Gangschaltung direkt vor einem blauen windschiefen Schild, das uns darüber informiert, dass wir uns jetzt auf dem 4401 Meter hohen Penzi-LaPass befinden – ausgerechnet der höchsten Stelle auf der gesamten Strecke. Keine Men- Zanskar-Ebene. Immer wieder grüne Flecken vor der kargen Bergkulisse (oben). Kleiner Mensch. Zwei Mönche als rote Punkte in der gigantischen Felswand (unten). Rast unterwegs. Eva mit Dorffrauen (rechts oben). Gut bewacht. Buddhas vor Csomas Kammer (r. u.). schenseele weit und breit, die uns helfen könnte. Allein ein paar fette Murmeltiere, die Granitblöcke als Ausguck nutzen, verpfeifen unsere Gegenwart. Und dennoch: Die Aussicht ist fantastisch. Scheinbar aus dem Himmel stürzt wie eine gigantische Eisstrasse der Durung-Drung-Gletscher ins Tal. Er gilt als einer der grössten Gletscher im Himalaja. Zum nordindien Glück hat ein vorbeikommender Jeepfahrer aus Zanskar genügend Hydrauliköl dabei, um uns aus der misslichen Lage zu befreien. Der Sucher Csoma. Der erste Europäer, der nach Zanskar gelangte, war Alexander Csoma de Körös, ein ungarischer Gelehrter. Csoma reiste vor knapp 200 Jahren unter weitaus abenteuerlicheren Umständen in die abgeschiedene Region. Er kam zu Fuss, dem Zanskarfluss entlang und über schwankende Hängebrücken. Auf die Spur des frühen Globetrotters stossen wir am nächsten Tag im Dorf Zangla, der einstigen Hauptstadt des Zanskarreichs. Vom Aufstieg auf die Burg über dem Ort noch ganz ausser Atem, begrüsst uns eine Gruppe junger ungarischer Studenten. Sie seien dabei, den Palast zu restaurieren, in dem einst Zanskars Könige residierten. Drei Monate im Jahr, so erzählen die Volunteers, richten sie eingefallene Mauern wieder auf, verputzen Wände, spachteln an gebröselten Treppen und wuchten neue Holzbalken in die Höhe. «Eine ziemlich schwere Arbeit», meint Balázs Irimiás, Initiator des Projekts. 2007 stiess der Architekturstudent auf seiner Reise durch Zanskar auf den verlassenen mehrstöckigen Bau aus Lehm, der allerdings in einem schlechten Zustand war. Natürlich wollen wir wissen, was ausgerechnet ungarische Studenten dazu bringt, unentgeltlich in der Hitze der Sommermonate in einem Himalajadorf ohne fliessend Wasser und Strom, ohne Internet und Telefon, an der einsturzgefährdeten Residenz ehemaliger Zanskarkönige herumzuwerkeln. «Wir wollen das Andenken an Alexander Csoma de Körös bewahren. Vom Sommer 1823 bis zum Herbst 1824 war der ungarische Gelehrte Gast in diesem Haus.» Und dann hören wir die unglaubliche Geschichte des Mannes, der zu Fuss, ausgerüstet mit kleinem Rucksack und Wanderstock, von Ungarn aus nach Zanskar wanderte, um ein Gelöbnis einzulösen. Csoma, so erzählt uns Balázs Irimiás, beschäftigte zeitlebens die Frage, woher die Ungarn ursprünglich kamen. Die Sprache der Ungarn, so grübelte der ungewöhnliche Mann, der immerhin siebzehn Sprachen beherrschte, war doch so ganz verschieden von denen der Völker im europäischen Raum. Einer Legende nach, so fabulierten die intellektuellen Kreise um Csoma, sei das Rätsel um die Herkunft der Ungarn in Asien zu lösen. Waren sie ursprünglich Uiguren, Skyther, Mongolen? Oder kamen sie gar aus Tibet? Entschlossen, das Rätsel um die mythische Heimat seines Volkes zu lösen, verliess Csoma Ungarn. Seine abenteuerliche Reise führte ihn schliesslich nach Zanskar, ins kleine Königreich im Himalaja. «Mit fünf Pfund Tee und einem Empfehlungsschreiben des Premiers von Ladakh in der Tasche, klopfte er an die Tore der Zanglaburg, wo man dem seltsamen Fremden Unterschlupf gewährte», schildert Balázs. Csomas Kammer wird noch heute gut bewacht: Dutzende von fein gearbeiteten Buddhafiguren, weiss gepudert vom Staub der Jahrhunderte, erwarten uns wie ein Begrüssungskomitee aus der Vergangenheit. Vergilbte Gebetsschals, geheimnisvolle Amulette, vertrock- nete Opfergaben und abgebrannte Butterlämpchen machen den dämmrigen Raum zu einer Tempelstätte. Silberne, mit Juwelen dekorierte stufenförmige Urnen, in denen die Überreste von Lamas ruhen, die die Buddhaschaft erlangten, stehen, schief und von Spinnweben überzogen, auf modrigen Tischchen. Die sakrale Stätte zwingt uns zum Flüstern. Manche der Buddhastatuen seien mehr als fünfhundert Jahre alt, so versichert uns der Archäologe leise. «Die Figuren sind zu heilig, als dass man sie berühren würde. Niemand hat sie umgruppiert, niemand hat sie gestohlen. Csoma war ihr Gast. Nichts hat sich verändert.» – In Zanskar ist Geschichte greifbar nah. Die Tür zu Csomas Kammer ist kaum einen Meter hoch, und die niedrige Decke zwingt uns Besucher zu gebückter Haltung. Die einzige Fensterluke lässt nur wenig Licht hinein. «Hier», so sagt Balàzs, «hat sich Csoma mit dem Abt des Klosters von Zangla, Sangye Phuntsog, sechzehn Monate lang eingeschlossen.» Gemeinsam sassen der Mönch und der Gelehrte in der winzigen Kammer, die gerade einmal sieben Quadratmeter misst, und studierten den Kanon buddhistischer Lehren. Csoma hoffte, in der Sammlung Hinweise auf das mythische Land der Ungarn zu finden, denn er hatte das Gelübde abgelegt, nicht ohne einen Erfolg seiner Expedition nach Ungarn zurückzukehren. Das ungleiche Paar, das die Stube nie verliess, verständigte sich auf persisch. Ihre Nahrung bestand oft nicht aus viel mehr als aus fettigem Buttertee, Schafsblutsuppe und Tsampa, dem gerösteten Gerstenmehl. In Schafsfelle gehüllt trotzten der seltsame Mann aus Europa und der buddhistische Lama im Winter der unerbittlichen Kälte. «Csoma», erzählt uns Balázs, «verzichtete auf wärmende Kohlebecken, da der Rauch in den Augen brannte und ihn beim Lesen störte. Zeitzeugen berichteten, dass es an ein Wunder grenzte, dass Csoma mit seinem Lehrer hier nicht erfror.» Hartes Klosterleben. Csomas Geschichte hat uns neugierig gemacht. Wir erkunden die buddhistischen Klöster, die schon standen, als Csoma nach Zanskar kam. Die Gompas thronen wie mittelalterliche Trutzburgen über den Dörfern der Ebene. Die Luft hier in viertausend Metern Höhe ist dünn und der Aufstieg zu den verschachtelten weiss getünchten Klostergebäuden ein anstrengendes Unternehmen. Die Mühe wird belohnt von fantastischen Ausblicken hinunter in die Ebene. 45 Als Tourist bereist man Zanskar nur im Sommer, wenn sich die Gebirgsregion von ihrer freundlichen Seite präsentiert. Es ist die Jahreszeit, in der die Kornfelder der Bauern wie saftig grüne Teppiche auf grauem Grund ausgerollt erscheinen. Butterblumen, Astern, Geranien und die Königin unter den Blumen im Himalaja, der Blaumohn, überziehen die Almen. Hinter der Hochebene erheben sich die bis zu siebentausend Meter hohen Eisriesen der Zanskarkette. Ihre Gletscher glitzern vor strahlend blauem Himmel. Herden von Yaks und Schafen fressen sich auf fetten Hochweiden satt. Nach wie vor zahlen die Bauern Steuern an den Klerus, und noch immer ist jede Familie stolz, wenn ein Sohn sich für ein Leben hinter den Klostermauern entscheidet, denn ein Mönch geniesst in Zanskar hohes Ansehen. Im Nonnenkloster Tschu Tschik Schal werden wir freundlich in den Versammlungsraum gebeten. Die Nonnen kichern aufgeregt, denn Besuch aus der fernen modernen Welt gibt es nur selten. Jeweils fünfzehn bis dreissig Frauen leben in den sechs Nonnenklöstern, die es in Zanskar gibt. Unsere ganze Bewunderung gilt den Mädchen und Frauen, die mit ihrem fröhlichen Wesen, ihrer Unbekümmertheit und natürlichen 46 GLOBETROTTER-MAGAZIN sommer 2011 Zangla-Burg. Hier wohnte Csoma monatelang in einer kleinen Kammer (oben). Restaurierung. Ungarische Studenten bewahren die Burg vor dem Zerfall (rechts oben). Klosterbibliothek. Tendsin zeigt uns geheimnisvolle alte Bücher (rechts unten). Trekking. Über dem reissenden Fluss (ganz r.) Art uns Europäer geradezu beschämen – und dabei haben es die Nonnen nicht leicht. Um ihren Lebensunterhalt zu sichern, müssen sie auf den Feldern der Bauern arbeiten. Da bleibt nicht viel Zeit für Spiritualität und Bildung. Von einem Ungar, der einst den Buddhismus in Zanskars Klöstern studierte, haben sie jedenfalls noch nichts gehört. Es ist eher das Schicksal und weniger die Suche nach Spiritualität, die die Frauen und Mädchen ins Kloster bringt. Dölma erzählt uns, dass sie Nonne wurde, weil die ältere Schwester heiratete und für sie kein Perak, kein mit Türkisen besetzter Brautschmuck, übrig war. Migmar ist als uneheliches Kind zur Welt gekommen und schon mit neun Jahren in das Kloster geschickt worden, da sich die Familie ihrer schämte. Nyima, sicherlich schon über achtzig Jahre alt, hockt im Schneidersitz auf dem kalten Boden und rezitiert unablässig murmelnd heilige Texte. Sie lässt sich auch durch unsere Anwesenheit nicht stören. Nur manchmal schmunzelt sie während unserer Unterhaltung mit Dölma zu uns herüber. Die halbblinde und von Rheuma geplagte Nonne versucht, wie alle Zanskaris, gesundheitliche Probleme mit Kräuterpillen, Amuletten und Gebeten in den Griff zu kriegen. Die Bedingungen hinter den Klostermauern haben sich seit Csomas Aufenthalt vor zweihundert Jahren nicht geändert. Nach wie vor ist das Leben der Nonnen und Gelbmützenmönche in den Gompas, den Tempelanlagen, recht beschwerlich. Es gibt weder fliessend Wasser noch Strom oder gar eine Heizung, die die Räume hinter den Mauern behaglicher machen könnte. Die Nahrung beschränkt sich gerade in den Wintermonaten, wenn die Vorräte an Fleisch und getrockneten Früchten verbraucht sind, auf Tsampa, das Gerstenmehl, das mit fettigem Buttertee gemischt Grundnahrungsmittel der Zanskaris ist. «Im Winterhalbjahr sind wir monatelang vollkommen von der Aussenwelt abgeschnitten und auf uns gestellt.» Tendsin Gyeko, der Mönch aus dem Kloster Tongde, knabbert am Fruchtriegel, unserem Mitbringsel zum Buttertee. Das «German Tsampa», so murmelt er an- nordindien schichte. Aus seidenen Gebetsschals wickelt er ein altes Buch, bestehend aus tausend übereinander gelegten Blättern. Die tibetischen Schriftzeichen können wir nicht lesen, und so bleibt das, was Tendsin Gyeko da mit Ehrfurcht murmelnd aus den Seiten liest, sein Geheimnis. Csoma de Körös indes war darauf versessen, die buddhistischen Werke, die in Zanskars Klosterbibliotheken ruhten, zu entschlüsseln. Er glaubte fest daran, dass sich in ihnen ein Hinweis auf die sagenumwobene Heimat der Ungarn finden liess. Zugleich aber avancierte er durch die Lektüre zu einem Tibetologen, zu einem Fachmann in buddhistischer Lehre, deren Philosophie in Europa bis dahin gänzlich unbekannt war. Von Ländern wie Zanskar oder Ladakh hatte man dort noch nie gehört, und Tibet war zu Csomas Zeiten ein verbotenes Land. Csomas Lebenstraum wurde zur fixen Idee und trieb ihn immer weiter hinein in die Berge. Würde es einen Hinweis im Höhlenkloster von Pukthal geben? Auch dort, vier Tagesritte von Zangla entfernt, gab es tibetische Schriften. Waren sie vielleicht der Schlüssel zum Rätsel? erkennend, sei nicht schlecht. Manchmal, so gesteht er flüsternd, habe er das heimische Gerstenmehl doch ziemlich satt. Auf Csoma de Körös angesprochen, nickt der Mönch eifrig. Csoma, so weiss er, war ein Lama, der wie kaum ein anderer den Buddhismus kannte – aber das sei lange her. Ob wir nicht noch einen Becher von dem grünenTee trinken möchten... Tendsin schlurft vor uns her in den Gebetsraum, in dem die Klosterbrüder am Morgen ihre Puja, ihre Andacht, unter den Augen Buddhas Shakyamuni abhalten. Auf Sitzkissen an niedrigen Tischchen rezitieren sie heilige Texte, schlagen Trommeln und entlocken mit Ornamenten und Türkisen verzierten Schneckenmuscheln schrille Töne. Tendsin streicht liebevoll über ein eingerahmtes Schwarzweissfoto, das den Potalapalast in Lhasa zeigt, und berührt zum Zeichen der Verehrung in der Klosterhalle den stets freigehaltenen Thron des Dalai Lama mit seiner Stirn. «Seine Heiligkeit hat uns 2007 einen Besuch abgestattet.» Er erinnert sich noch genau, welchen Spass das geistige Oberhaupt der Tibeter hatte, auf einem Yak den steilen Klosterweg hinauf zu reiten. «Tibet und Zanskar standen schon immer in enger Verbindung. Unsere Länder waren einst durch einen See miteinander verbunden. Damals ruderte der Yogi Marpa in einem Lederboot aus Tibet herüber und gründete unser Kloster. Tausend Jahre ist das her.» Tendsin führt uns in die Klosterbibliothek und zieht vorsichtig ein Paket aus der Sammlung von Schriften. Csoma, so weiss er zu erzählen, kannte den Kanjur und Tanjur, zwei umfangreiche Enzyklopädien tibetischer Ge- Trittsichere Pferde. Wir folgen Alexander Csoma auf seinem Weg. Es ist, wie sich bald herausstellt, ein nicht ungefährliches Unternehmen, denn wie ein vernarbter Schnitt im Fels zieht sich der Pfad kaum einen halben Meter breit an der Schlucht des Lingtiflusses entlang. Von Gletschern gespeist, fliesst der Lingti zu Tal. Mal wirkt er wie ein brodelndes Ungeheuer, mal wie ein leicht rauschendes silbernes Band. Ein Fehltritt nur, oder ein Stolpern des Ponys, vielleicht aus Müdigkeit – es wäre das Ende unserer Reise in die Vergan47 Reisetipps Zanskar Anreise: Nach Zanskar gelangt man von Leh, der Hauptstadt Ladakhs, in zwei Tagen mit dem Geländewagen. Leh wird von Delhi aus täglich von mehreren Airlines angeflogen. Unterkünfte: In Padum, dem Hauptort, gibt es nur bescheidene Unterkünfte. Häufig fällt der Strom aus. Luxus darf man nicht erwarten. Reisezeit: Eine Reise nach Zanskar ist nur in den Sommermonaten von Juni bis August möglich. Die wenigen Unterkünfte sind nur in diesen Monaten geöffnet. Rundreise: Eine Rundreise zu den Klöstern ist per «Taxi» möglich. Fahrzeuge können bei der Taxi-Union in Padum gebucht werden. Pferde werden über die Gästehäuser vermittelt. Wer mehrere Tage unterwegs ist, sollte ein Zelt mitnehmen. Geld: Es gibt in Zanskar keine Bezugs- oder Wechselmöglichkeiten. Deshalb genug indische Rupies mitbringen. Csoma-Projekt: Einen Einblick in die Tätigkeit der ungarischen Studenten erhält man über deren Website http://csomasroom.kibu.hu/ en/description. Über diese kann man auch die Sponsorensteine kaufen. Reiseliteratur: «Ladakh & Zanskar», Jutta Mattausch, Reise Know-How, ISBN 978-3-8317-2024-8 48 Kargil Indus Lamayuru Suru Rangdum ZANSKAR ZANSK A R Zanskar Penzi-La-Pass 4401 m Zangla Stod INDIEN Padum Phuktal Lingti genheit. Links unten tobt der Fluss, rechts steht der Berg, für Mensch und Tier bleibt nicht viel Platz. Unsere Nerven sind bis aufs Äusserste angespannt. Tendsin hatte uns vorgewarnt. Der Weg zum sagenumwobenen Höhlenkloster Phuktal sei weit, drei Tage müssten wir reiten. Jetzt kommen uns, festgekrallt am Sattel, doch Bedenken. War es richtig, sich wegen dieses Alexander Csoma de Körös hier auf den Pferderücken zu schwingen? Der schmale Pfad windet sich in schwindelerregender Höhe um Felsnasen, schlängelt sich durch Geröllhalden und führt hinab in Schluchten, wo sich die Pferde eine Furt durch strudelnde Bäche suchen müssen. Aufregend wird es, wenn Yaks und Transportkarawanen mit Pferden unseren Weg kreuzen. Bei dem Gedränge auf dem schmalen Sims ist ein Absturz der Tiere in den Leh Abgrund nicht auszuschliessen. Wir suchen dann eine Nische und warten ab, bis die Gefahr vorüber ist. Beruhigend auf die angespannten Nerven wirken das Pfeifen des Treibers, das leise Bimmeln der Pferdeglocken und das Wissen, dass die Reittiere der Gegend als besonders trittsicher gelten – in Ladakh zahlt man für Zanskarponys ein Vermögen. Wir schlafen in den Gehöften der Bauern, die dort siedeln, wo sich die grauen Bergfaltungen zu grünen Oasen weiten. Damals wie heute breiten die Bauern Buchweizen, Gerste und Mais zum Trocknen auf den Flachdächern ihrer Häuser aus. Frauen schleppen Heuladungen, die häufig um ein Vielfaches grösser sind als sie selbst, die steilen Hänge zu den Gehöften hinauf. Sie lagern das Futter für Yaks, Ziegen und Pferde in den Ställen im untersten Stock. Am Abend geniessen wir die Gastfreundschaft der Familien, die unsere Ankunft als willkommene Abwechslung in ihrem Alltag empfinden. Die Nachbarn laufen zusammen und gemeinsam, um den mit Yakmist befeuerten Kanonenofen geschart, gelingt mit der sprachlichen Unterstützung unseres Führers eine Unterhaltung über die Freuden und Nöte hier am Ende der Welt. Nein, Alexander Csoma de Körös, den kennen sie nicht. «Wer soll das sein?» Das Lagern des Gerstenmehls, das Sammeln von Brennmaterial, die Zubereitung von Butter und das Einlagern von Changbier für den langen Winter ist den Bergbauern allemal wichtiger als das Hirngespinst eines Europäers, der vor 200 Jahren vielleicht ein Gast im Dorf war. Wir befragen unsere Gastgeber, wie es denn sei hier im Gebirge im Winter, bei Temperaturen bis 40 Grad unter Null und Schneefällen, die jeden Zugang zu den Siedlungen unmöglich machen. Unser besorgtes Gesicht gibt Anlass zu Heiterkeit. Man lobt die dunkle Zeit des Jahres als die beste. Wenn es draussen stürmt, kuschelt sich die Familie in der Küche zusammen, die als einziger Raum im Haus warm gehalten wird. Man vertreibt sich die Zeit mit viel Schlaf und Plaudereien, mit Kartenspiel und Essen. «Changbier», so bekennt Lanbu lachend, «trinken wir im Winter jeden Tag.» Die angeheiterte Gemeinde trifft sich dann auch mal im Gehöft der Nachbarn, um Familienfeste zu feiern, oder man pilgert zur Gompa, zum Kloster hinauf, um mit Gebeten die guten Kräfte des Himmels zu locken und die bösen Dämonen zu vertreiben. Zanskar, so wird uns versichert, sei im Winter ein schönes weisses Land. Der Eremit im Höhlenkloster. Un- ser Respekt gegenüber Csoma wächst mit jedem Tag: Wie konnte der Mann die mangelnde Hygiene und die nächtlichen Angriffe von heimischen Flöhen und Wanzen über Jahre hinweg ertragen? Auch uns versuchen die blutrünstigen Tierchen anzuzapfen. Während die Attacke von unten aus den betagten Matratzen und Strohmatten erfolgt, rieselt von oben, aus dem Biotop der Zwischendecken, ständig eine brisante Mischung aus Pilzsporen, Insektenmist, Milben und Holzstaub auf uns herab. Zwei Französinnen, die über den Sommer in der Dorfschule von Raru einen freiwilligen sozialen Dienst leisteten, erzählen uns, wie sie sich gegen unliebsame Krabbeltiere schützten: Sie stellten zum Erstaunen der Zanskaris kurzerhand ihr Igluzelt in der Stube auf, in der sie schliefen. Unvorstellbar karg gestaltete sich Csomas Aufenthalt im Höhlenkloster von Phuktal. Es gilt, noch eine Hängebrücke über den reissenden Lingtifluss zu überqueren und einen Steilhang zu bewältigen, bevor das sagenumwobene Kloster vor uns liegt. Der Anblick des Gemäuers ist atemberaubend. Wie ein Adlerhorst klebt die Gompa in einer Felswand. Weisse Chörten und Manimauern flankieren unseren Weg zum Eingang des Klosters. Drinnen huschen Mönche, gekleidet in rote abgewetzte Roben und mit vergilbten Filzhüten auf dem Kopf, durch die dunklen Gänge. Brisante Gerüche steigen aus offenen Abwasserkanälen. Im russgeschwärzten Gewölbe dampfen schwere Bottiche, gefüllt mit Buttertee und Gerstenbrei. Küchenabfälle werden durchs Fenster in den Abgrund gekippt. Weiter oben sammeln sich vermummte Klosterbrüder zur Andacht. Übernachtungsort. Auf dem Pferdetrekking wird in Bauerngehöften übernachtet (linke Seite). Kloster Phuktal. Schwindelerregende Aussicht über das Flusstal. (oben). Im Sattel. Autor Jörg Kersten auf dem Rücken eines trittsicheren Zanskarponys (unten). In Phuktal ist Vergangenheit Gegenwart. Wir haben Alexander Csoma eingeholt und sind kaum überrascht, eine Ritzung in der Tempelhöhle zu finden: Eingekratzt in den Fels steht dort, dass Csoma von August 1825 bis November 1826 im Kloster Phuktal lebte. Wir malen uns aus, wie er in einer kargen Zelle des Klosters hauste, in einer höhlenartigen feuchten Unterkunft ohne Bett. Einsam wie ein Eremit, so heisst es, habe er auf dem Vorsprung vor seiner Zelle die Zeit verbracht und sich im Wesen gewandelt. Religiöse Lehre und Selbstkasteiung machten aus dem Europäer einen neuen Menschen. Die Mönche nannten ihn Phyi-Glin-Gi-Grwapa, den fremden Schüler. Der Abt erzählt uns, dass die Mönche des Klosters Csoma noch immer hoch verehren: «Sein Leben als Einsiedler, sein beharrliches Studium und sein Wissen über den tibetischen Buddhismus haben ihn zu einem der unseren gemacht.» Vor unserer Abreise aus Zanskar zurück in die Gegenwart besuchen wir noch einmal Balázs Irimiás, den Archäologen aus Budapest, in der Zanglaburg. Von ihm erfahren wir das Ende der Geschichte jenes Ungarn, der sich einst mit «klaren, freudig strahlenden Augen» von seinem Lehrer verabschiedete, um sich erneut auf die Suche nach dem Ursprung seines Volkes zu machen. 1834 veröffentlichte Csoma in Kalkutta ein tibetisch-englisches Wörterbuch, für die Briten sozusagen der Schlüssel nach Tibet. Seine Abhandlungen über die tibetische Kultur machten ihn auch in der wissenschaftlichen Welt des Westens bekannt. Csoma kam also doch noch zu dem Ruhm, von dem er träumte. In Japan erklärte man ihn 1933 gar zu einem Bodhisattwa, zu einem Heiligen, da er durch seine Schriften auch den Europäern einen Weg zur Erleuchtung eröffnete. Einen Hinweis auf die Urheimat der Ungarn allerdings hat der Globetrotter auch in Zanskar nicht finden können. Seine ganze Hoffnung richtete sich daher auf Lhasa, die Hauptstadt des verbotenen Königreichs Tibet. Auf dem Weg dorthin starb er aber am 11. April 1842 an Malaria, ohne das Rätsel gelöst und ohne seine Heimat Ungarn je wieder gesehen zu haben. Balázs Irimiás möchte seinem Landsmann Csoma ein Denkmal errichten. «Ich war besessen von der Idee, den Palast von Zangla, in dem Csoma so lange lebte, wiederherzurichten. Also suchte ich Sponsoren und bat die Universität in Budapest um Unterstützung.» Da die Mittel nicht reichten, hatte Balázs eine besondere Idee, um das Projekt zu finanzieren. Die aus Kuhmist, Häcksel und Lehm geformten Ziegel, die auf dem Hof der Burg in der Sonne trocknen, sind käuflich zu erwerben. «Wir gravieren den Namen des Sponsors in einen der Adobesteine und verbauen ihn in dieses tausend Jahre alte Gebäude. Stell dir vor, du bist dann Teil eines Denkmals im Himalaja!» Balázs Irimiás lacht. Seine Idee, über Internet Steine an Sponsoren zu verkaufen, hat sich schon bewährt. Inzwischen überragt die fünfhundert Jahre alte Anlage, die in unserem Reisehandbuch noch als «nicht sonderlich interessante Ruine» beschrieben wird, wieder recht imposant die weite Ebene des Zanskarflusses. [email protected] © Globetrotter Club, Bern nordindien sommer 2011 GLOBETROTTER-MAGAZIN 49 Weitere exklusive Reisereportagen lesen? Für 30 Franken pro Kalenderjahr liegt das Globetrotter-Magazin alle 3 Monate im Briefkasten. Mit spannenden Reise geschichten, Interviews, Essays, News, Tipps, Infos und einer Vielzahl von Privatannoncen (z.B. Reisepartnersuche, Auslandjobs etc.). 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