Wie DDR-Kinder erzogen werden sollten. Die neun

Ursula Schröter, März 2015
Wie DDR-Kinder erzogen werden sollten. Die neun Pädagogischen Kongresse
der SBZ/DDR 1946 - 1989 im Rückblick1
Bei der Analyse der Erziehungsabsichten in der DDR konnte ich mich darauf stützen, dass in
der Schulpolitik ebenso wie in den pädagogischen Wissenschaften, oft auch in den
Kulturwissenschaften, von zwei zentralen und zusammen gehörenden Erziehungszielen
ausgegangen wurde. Kindern und Jugendlichen sollten sowohl allgemein menschliche
Tugenden als auch klassenmäßige Tugenden anerzogen werden, das eine nicht nur
neben dem anderen, sondern für das andere. Mit Bezug auf Erziehungsvorstellungen in der
deutschen Arbeiterbewegung kam eine klassenmäßig neutrale Erziehung von Anfang an
nicht in Betracht. Weil das gesellschaftliche Ziel im Heranwachsen glücklicher und allseitig
gebildeter Menschen bestand, musste entsprechend dem politischen Verständnis die
Klassenfrage gelöst werden, musste die Ausbeuterklasse entmachtet werden und die
Arbeiterklasse die politische Macht übernehmen. Die Lösung der Klassenfrage wiederum
erforderte mutige, ehrliche, kluge Menschen. Insofern speiste sich diese Erziehungspolitik
einerseits aus der kommunistischen Theorie und Bewegung, andererseits aus dem
humanistischen Anliegen der europäischen Aufklärung.
Zu den Pädagogischen Kongressen allgemein: 25 Jahre nach dem Ende der DDR muss
sicherlich an die große Bedeutung erinnert werden, die den Pädagogischen Kongressen
zukam. Hier ging es sowohl um die politische Bewertung der vergangenen Bildungs- und
Erziehungsarbeit in dem zentral geleiteten Schulsystem als auch um die Fixierung der
nächsten Aufgaben, nicht nur für den Schulbetrieb, sondern auch für die pädagogische
Wissenschaft. Dementsprechend waren die Delegierten ausgewählt.
Insgesamt fanden neun Kongresse statt, die allerdings sehr ungleichmäßig auf die einzelnen
Jahrzehnte verteilt waren. Von 1946 bis 1949 gab es in jedem Jahr einen Pädagogischen
Kongress. Das heißt bis zur Gründung der DDR hatten bereits vier Kongresse stattgefunden,
1956 – kurz nach dem XX. Parteitag der KPdSU - der fünfte, 1961, unmittelbar vor dem
Mauerbau, der sechste und in der zweiten Halbzeit der DDR dann noch drei, der letzte im
Juni 1989, als die Grenzen in Ungarn schon geöffnet waren.
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Der Text war Grundlage eines Vortrages am 19. März 2015 im Bundesarchiv und bezieht sich auf eine
Publikation, die von der Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin als Manuskripte Nr. 13 veröffentlicht wurde: Renate
Ullrich, Eva Kaufmann, Ursula Schröter, 2015, Kinder-Bilder in der DDR, Nachträgliche Entdeckungen in
ausgewählten bildungspolitischen Dokumenten, Literarischen Werken und DEFA-Filmen für Erwachsene, Drei
Studien
1
Zu den ersten vier Kongressen: Nach der Befreiung vom Faschismus gab es in allen
Besatzungszonen Bemühungen, die Deutschen, insbesondere die Jugend „umzuerziehen“,
in den westlichen Zonen unter dem Stichwort: Re-Education. Aber nur in Ostdeutschland
waren die Umerziehungsziele eingebettet in Vorstellungen von einer völlig neuen
Gesellschaft, getragen von neuen Menschen. Die Sowjetische Militäradministration verfügte
„als einzige über ein ideologisches Programm einer langfristigen radikalen ‚Umerziehung‘ im
Sinne der in der Sowjetunion herrschenden Gesellschafts- und Geschichtsauffassung“
(Anweiler 1994: 24).
Dieses Programm orientierte neben der physischen Absicherung (Aktion „Rettet die Kinder“)
auf den möglichst schnellen Übergang zur pädagogischen Normalität. Mit Befehl Nr. 40 vom
August 1945 wurden der „Schulbeginn und die Säuberung der Schule und Lehrerschaft von
faschistischen Einflüssen“ angewiesen. Vorausgegangen waren im Juli mit Befehl Nr. 17 die
Bildung der Schulabteilungen bei den Landes- und Provinzialverwaltungen und die Bildung
der Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung.
Die Erziehungsziele dieser allerersten Zeit sind aus den historischen Dokumenten klar zu
identifizieren. Es ging um Wiederbesinnung auf das Mensch-Sein, auf die allgemein
menschlichen Tugenden, die der Faschismus versucht hatte zu verschütten.
Der Lehrer und Wissenschaftler Karl Trinks (1891–1981) brachte die pädagogische Aufgabe
jener Zeit so auf den Punkt: „Der Unvergleichlichkeit der geschichtlichen Lage unseres
Volkes entspricht die Einzigartigkeit und Schwere der pädagogischen A:ufgabe. ... Die
deutsche Schule bedarf der Besinnung auf die schlichten selbstverständlichen Tugenden,
die in allen … Systemen als Grundbestandteile gelten: Duldsamkeit, Wahrheitsliebe, Gefühl
für Menschenwürde und Gerechtigkeit, Mitleid, Güte und Zuverlässigkeit. Das bedeutet nicht
eine Unterbewertung der rationalen Mittel der Bildung und des realen Wissens, sondern
fordert erst recht eine Wiederherstellung des objektiven und logischen Denkens und die
Zurückdrängung der irrationalen Elemente, die uns so verhängnisvoll geworden sind.“
(Trinks 1946)
Auf den ersten vier Kongressen ist von demokratischer Erziehung die Rede. Im Sinne der
Orientierung auf Menschlichkeit, aber auch - von Kongress zu Kongress mehr – im Sinne der
Tugenden, die die neue Gesellschaft braucht. Und mir scheint, in den ersten Jahren fühlten
sich die Redner verpflichtet, zu begründen, warum es in der konkreten Situation nicht
ausreicht, Kinder zu anständigen Menschen zu erziehen. So sagte Paul Wandel 1946:
„Unser Erziehungsziel der Herausbildung eines demokratischen Menschen ist kein
Gegensatz zum Menschlichen schlechthin und damit zu der immer wieder aufgestellten
großen Forderung für die Pädagogik…Die Zielsetzung wird bestimmt von der großen
nationalen Aufgabe der Schaffung eines friedlichen demokratischen Deutschlands.“ (Wandel
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1955: 22). Und Max Kreuziger begründete das gleiche Anliegen 1947 so: „Die Schule erfüllt
eine gesellschaftliche Funktion. Ihre Zielsetzung erhält sie nicht allein aus dem Wesen des
Menschen, sondern aus den realen gesellschaftlichen Gegebenheiten“. (Kreuziger 1947: 70)
Der I. Pädagogische Kongress fand im September 1946 unter dem Thema
«Demokratisierung der deutschen Schule» statt. Zwei Monate vor dem Kongress war das
entsprechende Gesetz verabschiedet worden, das die Erziehung zu «wahrer Humanität» in
den Mittelpunkt der schulischen Aufgaben stellte und das sich zu drei Prinzipien der neuen
Schule bekannte – zur Einheitlichkeit, Staatlichkeit und Wissenschaftlichkeit. An diesen
drei Prinzipien wurde über vier Jahrzehnte und über alle politischen Turbulenzen hinweg
nicht gerüttelt.
Das Prinzip Einheitlichkeit meinte nicht nur einheitliche Lehrpläne, sondern auch gleiche
Chancen für alle Kinder, also auch die Abschaffung der Ein-Klassen-Schulen auf den
Dörfern, von denen es zunächst noch mehr als 4000 gab. Meinte auch gleiche Chancen für
Jungen und Mädchen und deshalb von Anfang an Ko-Edukation. Während der Stadt-LandUnterschied auf den folgenden Kongressen – bis zum V. - immer wieder zur Sprache kam,
die Erfolge gewissermaßen abgerechnet oder angemahnt wurden, spielte der
Geschlechterunterschied später keine sichtbare Rolle mehr. Bis zum Ende der DDR
dominierte in den recherchierten Dokumenten das geschlechtslose Kind: der Schüler.
Das Prinzip Staatlichkeit meinte die uneingeschränkte Verantwortung des Staates für die
Schule. Es führte dazu, dass der Bildungserfolg der Kinder nicht (wie heute) von der sozialen
Situation der Eltern abhing. Es bewirkte aber auch, dass bei der Förderung junger Leute das
staatliche Interesse zu berücksichtigen war. In den ersten Jahren wurden gezielt Arbeiterund Bauernkinder zum Studium geführt. Das funktionierte allerdings nur bis Ende der 50er
Jahre. Dann gab es, entgegen den parteipolitischen Wünschen, eine Selbst-Rekrutierung der
Intelligenz (vgl. Lötsch 1993).
Das Prinzip Wissenschaftlichkeit meinte vor allem die Trennung von Kirche und Staat. Für
Christenlehre, Konfirmandenunterricht usw. stand die Schule nicht zur Verfügung. Ich
vermute, dass es deshalb aufklärerisches Gedankengut in der DDR leichter hatte, in die
Kinderköpfe einzudringen (Lessings Ringparabel), kenne allerdings keine Analysen dazu.
Unbestreitbar ist, dass Ostdeutsche bis heute Kirche und Religion für weniger wichtig halten
als Westdeutsche.
Überhaupt scheint es mitunter so, als seien diese drei seit 1946 wirksamen Prinzipien der
„neuen Schule“ bis heute als Ost-West-Unterschiede in Meinungsbefragungen präsent.
Gleichzeitig orientierte jeder Kongress noch auf ein spezifisches Ziel. Auf dem zweiten
wurden ganz unverblümt die Erziehungsziele genannt, die über die Brücke Lehrer-Kinder3
Eltern die Erwachsenen erreichen sollten. Paul Wandel sprach von Aufbaumoral, von
Überwindung nationaler Überheblichkeit, vom Kampf gegen das Monopolkapital und für eine
Volksherrschaft, vom Kampf um einen einheitlichen demokratischen deutschen Staat und
ganz besonders von ehrlicher Arbeit.
Auf dem dritten Kongress standen die Neulehrer und –lehrerinnen im Mittelpunkt, aber auch
immer wieder die gravierenden Folgen des Krieges für den Schulbetrieb. Max Kreuziger
sprach davon, dass 41 Prozent der 14-jährigen Jungen und 36 Prozent der 14-jährigen
Mädchen das Ziel der 8. Klasse nicht erreicht haben.
Der vierte Kongress ist oft als derjenige hervorgehoben worden, der den
reformpädagogischen Traditionen/Wurzeln eine Absage erteilte. Hans Siebert sagte auch
sehr deutlich, dass eine pädagogische Logik „vom Kinde her“ entwicklungsfeindlich sei und
deshalb für die neue Gesellschaft nicht infrage kommt. Damit war verbindlich definiert, wer
erzieht und wer erzogen werden muss.
Allerdings ist dieser Eindeutigkeit auf dem IV. Kongress noch widersprochen worden, und
zwar von Gottfried Grünberg, der an die Respektierung der kindlichen Persönlichkeit
erinnerte: Man sollte „bei der Behandlung von Erziehungsfragen das Kind selbst nicht
vergessen. Das Kind hat sein Eigenleben – wir Pädagogen betrachten es jedoch allzu oft nur
als Objekt unserer Arbeit. Das Eigenleben des Kindes ist aber sehr reich, vielfältig und aktiv,
das Streben des Kindes zu neuen Erkenntnissen und zum selbständigen Handeln
außerordentlich groß… Wir wissen dies zwar alles, aber wir handeln zu wenig danach.“
(Grünberg 1949: 57)
Weil im Sommer 1949 auf die staatliche Einheit nicht mehr zu hoffen war, spielte die
kulturelle Einheit und insofern die Schlüsselstellung des Deutsch-Unterrichtes auf dem IV.
Kongress eine herausragende Rolle. Sowohl Paul Wandel in den einleitenden Worten als
auch Hans Siebert in seinem Referat kamen darauf zu sprechen, «denn die Beschäftigung
mit der Muttersprache, ihre Meisterung, die Kenntnis der fortschrittlichen nationalen Literatur
[…] sind für die Erhaltung der kulturellen Einheit der Jugend, d. h. der Zukunft unseres
Volkes […] von außerordentlicher Wichtigkeit» (Siebert 1949: 33).
Gleichzeitig – im Gegensatz dazu? – wurde dem naturwissenschaftlichen Unterricht eine
umfassende Bildungsfunktion zugeschrieben. Wie in den Naturwissenschaften müssten auch
in der Pädagogik „nur“ die Gesetzmäßigkeiten aufgedeckt und schließlich befolgt werden.
Entsprechend hochgesteckt waren die Erwartungen an die pädagogische Wissenschaft.
Ein Artikel, der vor dem IV. Kongress veröffentlich wurde, verdeutlicht die damaligen
Vorstellungen: „Wenn es gelingt, den naturwissenschaftlichen Unterricht so zu gestalten,
dass Menschen erzogen werden, deren Urteilskraft, an den strengen Gesetzmäßigkeiten der
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naturwissenschaftlichen Disziplinen gereift, sich auch im Leben bewährt, haben die
Naturwissenschaften ihren Teil zur Erreichung des Ziels der Umerziehung des deutschen
Menschen beigetragen […]. Herangewachsen, werden sie bewusst daran gehen, ihre
Umwelt neu und brauchbar zu gestalten, die Mängel zu bannen; sie werden ihr Werk mit
einer Sicherheit und Zuversicht tun, die ihnen aus ungezählten gelungenen physikalischen,
chemischen und biologischen Versuchen erwachsen sind.“ (Müller-Krumbholz 1949: 40)
Alles in allem haben mich die Dokumente der 1940er Jahre oft berührt und nicht selten
betroffen gemacht: das ehrliche Suchen nach neuen Wegen, das selbstverständliche
Eingeständnis der eigenen Unsicherheit, die respektlose Kritik an übergeordneten
Einrichtungen. Das gab es später nur noch selten.
Als Beispiel noch mal Gottfried Grünberg: „Die Jungen Pioniere sind keine Paradeattraktion.
Es ist üblich geworden, dass die Jungen Pioniere auf den verschiedensten Veranstaltungen,
Konferenzen usw. auftreten, Begrüßungsworte sprechen, Blumen überreichen usw. Oft
treten sie in Veranstaltungen auf, deren Sinn sie unmöglich begreifen können, …, sprechen
auswendig gelernte Begrüßungstexte, die sie nicht verstehen. Nimmt man noch hinzu, dass
solche Veranstaltungen während der Schulzeit oder gar am späten Abend stattfinden und die
Pioniere einfach hinbeordert werden, so ist klar, wie schädlich sie sich auswirken können.“
(Grünberg 1949: 63)
Zum V. Kongress Mai 1956: Der Kongress fand fast 7 Jahre nach dem vorangegangen
statt. Dazwischen lagen die 2. Parteikonferenz der SED, die auf den Aufbau des Sozialismus
orientierte, Stalins Tod, 17. Juni, Pariser Verträge, Warschauer Pakt, und drei Monate vor
dem Kongress die berühmte Geheimrede, in der Chruschtschow erstmals über Stalinistische
Verbrechen gesprochen hatte.
Das zentrale Referat hielt der Volksbildungsminister Fritz Lange und er begann mit einer
massiven Kritik an den pädagogischen Zielen des IV. Kongresses. Es hätte eine
Überbetonung der Geisteswissenschaften gegeben. „Ein anderer Mangel der letzten Jahre
ist in der einseitigen überspitzten Betonung der intellektuellen Bildung auf Kosten der
Erziehung und des Erwerbs praktischer Fähigkeiten zu sehen» (Lange 1956: 53).
In der konkreten Situation der 50er Jahre kam es offensichtlich vor allem auf das Bekenntnis
„zur Sache“ an, zumindest galt nun neben dem Aufbau von Mittelschulen die patriotische
Erziehung der Kinder als eine der wichtigsten schulischen Aufgaben (vgl. Lange 1956: 33),
wobei unter Patriotismus die Liebe zu einem Deutschland nach dem Vorbild der DDR
verstanden wurde. Und patriotische Erziehung sollte vor allem klassenmäßige Erziehung
sein. «Die Erziehung zum Patriotismus, zur grenzenlosen Ergebenheit und
unerschütterlichen Treue zu unserer Republik, zur Sache des Sozialismus, zur
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Arbeiterklasse und ihrer Partei muss die zentrale Aufgabe jeder Erziehung sein» (Lange
1956: 66).
Dahinter stand ein konsequent dualistisches Freund-Feind-Denken. «Eine solche Jugend
muss auch vom Hass gegen die Feinde unseres friedlichen Aufbauwerkes erfüllt sein» (ebd.:
65). Das heißt, die allgemein menschlichen Tugenden – Karl Trinks hatte zehn Jahre zuvor
beispielhaft auch von Duldsamkeit, Mitleid, Güte gesprochen – standen nun nicht nur im
Zusammenhang, sondern im Dienste der klassenmäßigen.
Auch die Dokumente dieses Kongressen sprechen dafür, dass das Erziehungskonzept nicht
nur auf die Kinder wirken sollte, sondern auch über die Kinder auf die Erwachsenen, denn
der Minister ist beim Thema patriotische Erziehung unzufrieden, weil es bisher nicht
gelungen sei, «die Diskussion über diese Grundfrage der Erziehung gleichzeitig in die
Arbeiterklasse und in die Elternschaft hineinzutragen» (Lange 1956: 63).
Als wichtigster Schritt hin zur patriotischen Erziehung wurde die Verbindung des Lernens mit
produktiver Arbeit gesehen, in dem Zusammenhang auch die Verbesserung des
Werkunterrichtes und die bessere Nutzung von Patenschaftsverträgen mit Betrieben.
Spätestens seit dieser Zeit spielte in der DDR-Pädagogik die polytechnische Bildung und die
entsprechende «Erziehung zu arbeitsfreudigen Menschen» (ebd.: 59) eine zentrale Rolle.
Damit war ein Programm verkündet, das sowohl die Bildungslandschaft der DDR als auch
die Erziehungsintentionen nachhaltig prägte und das ebenfalls bis heute für Ost-WestUnterschiede sorgt (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2012). Zu den Spätfolgen
gehört die enge Verbindung zwischen Kinderleben und Leben der Erwachsenen oder auch
die im Westvergleich durchlässigere Trennwand zwischen beruflichem und privatem Leben
(vgl. Kirchhöfer 2003).
Wie auf den Kongressen zuvor wurde auch 1956 eine angemessene wissenschaftliche
Unterstützung vermisst, aber diesmal setzten sich die Wissenschaftler zur Wehr. Gerhard
Harig etwa, Staatssekretär für Hochschulwesen, und Robert Alt von der Humboldt-Uni teilten
die generelle Kritik des Ministers nicht. Alt prägte in seinem Diskussionsbeitrag den Begriff
des Neu-Wissenschaftlers, der ähnlich dem Neu-Lehrer auf die Unterstützung der Politik
angewiesen sei.
Zum VI. Kongress, Juni 1961: Es war die Zeit, in der die Abwanderung überwiegend
junger, überwiegend gut ausgebildeter Menschen aus der DDR in die Bundesrepublik
Deutschland Höchstzahlen erreichte.
Zu diesem Kongress muss ich eine methodische Bemerkung vorausschicken. Im
Unterschied zu den Referaten der acht anderen Pädagogischen Kongresse liegt das Referat
für den sechsten Kongress in den infrage kommenden Archiven nicht als offizielles DDR6
Dokument vor. Zwar wurde auch 1961 eine Dokumentation zum Kongress veröffentlicht, in
der beispielsweise die «Empfehlungen für die Schule», die vom Kongress verabschiedete
«Politische Willenserklärung», auch Teile der Diskussion und das Schlusswort des Ministers
enthalten sind – aber nicht das zentrale Referat. Und das, obwohl Alfred Lemmnitz, der
damalige Volksbildungsminister, vor den Abgeordneten der Volkskammer, die er einen
Monat später über den Kongress informierte, angekündigt hatte, dass die Referate und die
wichtigsten Diskussionsbeiträge bis zum Beginn des neuen Schuljahres veröffentlicht
vorliegen werden (Lemmnitz 1961c: 6). Hier gab es offenbar in den Wochen nach dem
Kongress andere Entscheidungen. Ich beziehe mich, wenn vom Referat die Rede ist, auf das
Stenografische Protokoll, das für alle Konferenztage angefertigt wurde und archiviert ist, und
auf ein Tonband mit Teilen des Referats, das mir Klaus Lemmnitz, der Sohn des damaligen
Ministers, zur Verfügung gestellt hat.
Dem Kongress vorausgegangen war eine für das Thema bedeutsame Tagung des ZK der
SED, auf der die Weichen gestellt worden waren sowohl für die einheitliche polytechnische
Bildung als auch für die 10-Klassen-Schule für alle Kinder mit damit verbundenem neuen
Lehrplanwerk und mit allen Auswirkungen auf die Berufs- und Hochschulbildung. Diese
beiden Bildungsvorhaben – einheitliche polytechnische Bildung und 10-Klassen-Schule –
spielten folglich auch auf dem sechsten Kongress eine zentrale Rolle, sowohl in ihrer
emanzipatorischen Bedeutung, vor allem im Vergleich zum Schulsystem der Bundesrepublik,
als auch in ihrer aktuellen Problematik. Zur Problematik gehörte, dass Anfang der 1960er
Jahre ein Schulbesuch bis zur 10. Klasse durchaus nicht für alle Kinder und deren Eltern
selbstverständlich war. Im Referat des Ministers ist von derzeit 81 Prozent Bereitschaft die
Rede.
Aus diesen beiden Bildungsvorhaben leitete der Minister vier Forderungen nach
intensiverem Lernen ab: Erstens müsste in der Unterstufe, sogar schon in der
Ältestengruppe des Kindergartens systematisch und nicht nur „nebenbei“ Lesen, Schreiben
und Rechnen gelernt werden. Zweitens müssten die Mängel im Fach Deutsch überwunden
werden, drittens die in Mathematik und Naturwissenschaften, viertens die im
Fremdsprachenunterricht. Obwohl die Kinder vier oder sechs Jahre Russischunterricht
haben, seien sie nicht in der Lage, sich russisch zu unterhalten. Gegenüber den
GenossInnen der Parteihochschule, die er unmittelbar nach dem Kongress informierte,
bezeichnete Lemmnitz diese vier Forderungen nach intensiverem Lernen als die
Schwerpunkte des VI. Pädagogischen Kongresses.
Das Kongressreferat als Ganzes, aber auch das Schlusswort des Ministers sprechen
allerdings eher dafür, dass die Schwerpunkte des Kongresses Erziehungsfragen waren. Die
Erziehung hieß jetzt nicht mehr patriotische, sondern sozialistische. Und zu ihr gehörten
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ausdrücklich die allgemein menschlichen Tugenden – mit Bezug auf die pädagogischen
Traditionen seit dem 18. Jahrhundert, insbesondere mit Bezug auf die Humanitätsauffassung
von Johann Gottfried Herder. Auch für Alfred Lemmnitz ist die «Erziehung zur
Menschlichkeit» verbunden mit einer Erziehung «zum Hass gegen jeden, der sie schändet».
Fußnote: Ein Jahr nach dem Kongress fand eine Konferenz unter dem Thema „Schule und
Nation“ statt, auf der die gebildete sozialistische Nation im Mittelpunkt stand und auf der
auch die sozialistische Erziehung definiert wurde, nicht mehr mit Hass auf die Kriegstreiber,
sondern mit „kämpferischer Liebe zum Frieden“.
Im Interesse einer so aufgefassten sozialistischen Erziehung forderte Lemmnitz die
Verbesserung des Staatsbürgerkundeunterrichts, aber auch ein sehr grundsätzliches
Nachdenken über das Verhältnis der Generationen zueinander. Notwendig sei bei der
Erziehung schonungslose Offenheit und nicht Schönfärberei.
Ausgangspunkt all dieser Überlegungen und Debatten zur schulischen Erziehung war der
sogenannte Karin-Brief, in fast allen Kongressdokumenten erwähnt und später – wie es
scheint – aus dem kollektiven DDR-Gedächtnis gestrichen. Auch Kurt Hager bezog sich in
seinem Diskussionsbeitrag auf diesen Brief (Hager 1961: 291). Ein 14-jähriges Mädchen
hatte an die Deutsche Lehrerzeitung geschrieben, dass das, was es in der Schule über den
Sozialismus erfährt, nicht wahr sein könne, weil seine Mutter – SED-Mitglied –
Westschmöker lesen und in West-Berlin einkaufen würde. Dieser Brief war im Vorfeld des
Kongresses veröffentlicht worden und sorgte für heftige Debatten über die Wirksamkeit der
sozialistischen Erziehung in der Schule.
Erwähnenswert, dass es im selben Zeitraum eine öffentliche Diskussion unter Eltern zu
diesem Thema gab. In der Zeitschrift Wochenpost wurden Meinungen von LeserInnen
veröffentlicht, die unter dem Titel standen: «Unsere Tochter macht uns Sorgen».
Alfred Lemmnitz stellte in diesem Zusammenhang die Frage, ob wir die Jugend wirklich
kennen und ob wir sie ernst genug nehmen. Er befand sich zu diesem Zeitpunkt mit solchen
Fragen auf dem Boden der offiziellen SED-Politik, denn er konnte sich auf ein Kommuniqué
des Politbüros der SED beziehen, das wenige Monate vor dem Kongress erschienen war
und später genau wie der Karin-Brief konsequent beschwiegen wurde.
Lemmnitz zitierte in seinem Referat: „Im Kommuniqué des Politbüros heißt es deshalb: Aus
all dem entstehen bei den jungen Menschen viele Fragen und sogar Konflikte, aber nicht das
ist schlimm. Schlimm ist, wenn der Jugendliche damit allein gelassen wird oder durch
Ungeduld und Schulmeisterei auf den Gedanken kommt, lieber den Mund zu halten, um
nicht anzuecken oder «schief zu liegen». Schlimm ist, wenn über die Köpfe der Jugendlichen
hinweg gesprochen … wird. Der Jugendliche fragt mit Recht, wohin der Weg geht.“
(Lemmnitz 1961a: 51)
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Geradezu beschwörend wandte sich der Minister, auch in seinem Schlusswort, an die
KongressteilnehmerInnen, die Mängel in der Erziehung nicht zu vertuschen. Vertrauen
zwischen den Jungen und Alten sei wichtiger als strenges Durchgreifen. Verbindung von
Schule und Leben wäre eben mehr als Unterrichtstag in der Produktion. Offenheit sei
notwendig, weil der «gegenwärtige Stand der sozialistischen Entwicklung» neue Fragen
stellt. Und zu den neuen Fragen zählte, dass «die Entwicklung der Selbständigkeit und
Selbsttätigkeit» der jungen Menschen in den Mittelpunkt der pädagogischen Debatte gehört.
An anderer Stelle ist von Selbsterziehung und von Individualität, die zu respektieren ist, die
Rede.
In der Diskussion zum Referat spielte das Recht der Jugendlichen auf Zweifel dann eine
große Rolle. Der einzige auf dem Kongress anwesende Vertreter der westdeutschen
Lehrerschaft, Herbert Langner, hatte sich in seinem Diskussionsbeitrag für dieses Recht
ausgesprochen. Er verstand nicht so recht die Aufregung, die es um den Karin-Brief gab,
und hielt es für selbstverständlich, dass die jungen Menschen durch eine Periode des
Zweifelns hindurch müssten.
Als der Minister einen Monat nach dem Kongress in der Volkskammer Bericht erstattete, war
seine Kritik noch heftiger und auch umfassender:
- Die Schule erfüllt ihre Erziehungsaufgabe nicht, weil sie nur das Ideal unserer Gesellschaft
vermittelt und nicht die damit verbundenen Probleme.
- Die Staatliche Plankommission und die Wirtschaftsräte stellen das Materialkontingent für
den Werkunterricht nicht angemessen zur Verfügung.
- Die Lehrkräfte brauchen bessere Lebensbedingungen (Versorgung mit Wohnung, mit TV,
mit PKW).
- Das Schulbauprogramm wurde nur zu 75 % erfüllt.
- Für die materiellen Voraussetzungen des Schulbetriebes müsste mehr getan werden
(Reinigung, Heizung, Instandsetzung).
- Die Versorgung mit Schulmaterial ist ungenügend. In einer Schule in Teterow, in der nicht
genügend Schreibhefte zur Verfügung standen, hätten die Kinder nach Westdeutschland
geschrieben und um Schreibhefte gebettelt.
- Die Bürokratie in seinem eigenen Ministerium und in anderen Institutionen der Volksbildung
sei zu hoch.
Alles in allem: Offensichtlich war die Zeit reif, um in der Öffentlichkeit neu über die Rolle und
die Erziehung der jungen Generation nachzudenken. Im Privaten, zumindest dort, wo die
Mutter berufstätig war, galten Kinder in jener Zeit ohnehin schon als ernst zu nehmende
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Familienmitglieder, die mit anspruchsvollen Aufgaben betraut werden konnten
beziehungsweise betraut werden mussten.
Dieses neue Nachdenken über die junge Generation – aus meiner Sicht ein Nachdenken
über die Weiterentwicklung der sozialistischen Utopie - ist auch in einigen Dokumenten zu
finden, die nach dem Kongress erschienen: im Jugendkommunique des Politbüros von 1963,
in dem das Bedürfnis, aber auch die Befähigung der Jugend nach Selbst-Erziehung betont
wird. Und vor allem im zugehörigen Jugendgesetz von 1964. Hier ist, nach meiner Kenntnis
einmalig in Deutschland, von der Gleichberechtigung zwischen Jungen und Alten die Rede.
Es war immerhin Gesetz, wenn auch nicht lange gültig, wenn auch nie gesellschaftliche
Wirklichkeit.
All diese Bemühungen um Grundsatzprobleme des Sozialismus (um Überwindung des
Stalinismus), die in der Kulturpolitik, in der Frauenpolitik, in der ökonomischen Politik ihre
Analogien hatten, wurden Ende 1965 auf dem berüchtigten 11. Plenum des ZK, abrupt
beendet. Die Dokumente kamen kaum noch in den Geschichtsbetrachtungen vor oder
wurden, wie das Referat des VI. Kongresses, nicht archiviert.
Im Unterschied dazu passte das „Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem
der DDR“, das zeitgleich, aber offensichtlich von anderen Personen, erarbeitet wurde, auch
nach dem 11. Plenum noch gut in die politische Landschaft. Neben dem Bekenntnis zu den
drei Prinzipien, die seit 1946 die Schulpolitik bestimmen, wird hier vor allem betont, dass der
jungen Generation die Liebe und Fürsorge des Staates gilt und dass die Jugend diese
Angebote nutzen soll. Und Fürsorge – das lässt sich mit einzelnen Textpassagen gut
nachweisen – hieß immer auch Kontrolle.
Zu den beiden Kongressen der 1970er Jahre: Mai 1970 und Oktober 1978: In der politökonomischen Literatur wird der Beginn des Neoliberalismus weltweit mit den späten 1970er
Jahren in Zusammenhang gebracht. Seit dieser Zeit sahen die internationalen Kapital- und
Machtzentren keine Notwendigkeit mehr, „ein soziales Mäntelchen“ umzulegen. Für sie war
wohl absehbar, dass sich das Tot-Rüsten als erfolgreiche Strategie im weltweiten
Klassenkampf bewähren wird.
In der DDR war das noch nicht absehbar. Es schien sogar zunächst deutlich aufwärts zu
gehen. Dazu nur Stichworte: weltweite diplomatische Anerkennung, Erhöhung des
Warenangebots, Orientierung auf Leistung, Wunschkinder, vielfältige kulturelle Höhepunkte.
Die Kehrseite dieser Orientierung auf sozial abgesicherten Konsum (notfalls mithilfe von
Staatskrediten): Um eine «völlig neue Gesellschaft» mit neuen Menschen ging es wohl von
dieser Zeit an nicht mehr. Heute wird in dem Zusammenhang von einem Bedeutungsverlust
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der sozialistischen Gegenkultur gesprochen, der nicht zufällig mit der Durchsetzung des
Neoliberalismus begann (vgl. Werner 2013).
Auf den beiden Pädagogischen Kongressen der 70er Jahre zeigt sich dieser
Bedeutungsverlust in (für mich) beklemmender Weise. Die Erziehung hieß jetzt
kommunistisch, und neben dem Klassendenken, der Orientierung auf «unsere Sache»,
schien es nichts anderes mehr zu geben. Einerseits wird die klare Hierarchie zwischen Alt
und Jung vorgeführt, andererseits wird Gleichberechtigung zwischen den Generationen
verkündet und werden Konflikte zwischen ihnen in Abrede gestellt. Die gäbe es nur im
Propagandaapparat der bürgerlichen Ideologen. Auch die Beziehungen zwischen Schule
und Elternhaus waren problemlos, weil die Interessen der Eltern voll mit dem Bildungs- und
Erziehungsziel der Schule übereinstimmen. Der Staatsbürgerkundeunterricht wurde nicht
mehr, wie von Alfred Lemmnitz angemahnt, als Ort verstanden, an dem zwischen
gesellschaftlichem Ideal und Wirklichkeit vermittelt werden muss, sondern als ein wichtiges
Fach, das die historische Mission der DDR bewusst macht.
Moralische Eigenschaften der Jugend wie bewusste Disziplin und Opferbereitschaft würden
immer größere Bedeutung erlangen. Die Forderung nach Opferbereitschaft blieb übrigens
nicht auf die Pädagogik beschränkt. Auch nach dem Wörterbuch der Soziologie, das 1977
herauskam, ist Opferbereitschaft die erste Eigenschaft, die sozialistische Persönlichkeiten
auszeichnen soll. Wie in keinem Zeitraum zuvor und auch danach ist in den Dokumenten der
1970er Jahre von «Vollendung der gesellschaftlichen Entwicklung» und von
«Vervollkommnung» des dabei agierenden Menschen die Rede. Vom Recht der Jugend auf
Zweifel, von ihrem Bedürfnis und ihren Befähigungen nach Selbsttätigkeit, Selbsterziehung
ist keine Rede mehr.
Ich wähle aus der Fülle der Zitate, die meine Wertungen belegen könnten, nur ein einziges
heraus, aus dem Referat des VIII. Kongresses 1978: „An uns liegt es, … wie wir die Jugend
vorbereiten, bewusst, sinnvoll zu leben, wie wir sie befähigen, das Werk ihrer Väter
fortzusetzen.“ (Honecker 1978: 22)
Was die Jugend wirklich vom Werk der Väter hielt, zeigen nicht nur Kunstwerke, die in den
1970er Jahren z. T. leidenschaftlich diskutiert wurden. Zeigen auch soziologische
Forschungen (Befragungen, Beobachtungen), die an der Akademie der Pädagogischen
Wissenschaften Berlin und am Jugendforschungsinstitut Leipzig durchgeführt wurden. Es
schien so zu sein, dass die polytechnische Bildung, die Arbeitserziehung die jungen Leute
auch sensibel machte für die Beurteilung des schulischen Alltags. Offensichtlich wussten die
Kinder und Jugendlichen inzwischen besser als die Lehrkräfte, wie es in der sozialistischen
Produktion wirklich aussah. Aber sie machten die Erfahrung, dass ihre Auffassungen nicht
11
gefragt waren. Die FDJ-Arbeit und der Staatsbürgerkundeunterricht bekamen bei solchen
soziologischen Forschungen besonders schlechte Noten.
Beim Rückblick auf die 1970er Jahre und das damalige Erziehungskonzept ergibt sich für
mich allerdings die Frage, wie dennoch das jugendliche Selbstbewusstsein entstehen
konnte, dass im Herbst 1989 wirksam wurde. Die Kinder, die in den 70er Jahren in die
Schule gingen, waren als junge Erwachsene maßgeblich an den Protestaktionen beteiligt,
waren also keine Duckmäuser geworden, vor allem opferbereit und bewusst diszipliniert. Ich
kenne keine Debatte zu dieser Frage.
Zum IX. Pädagogischen Kongress, Juni 1989: Im Unterschied zu den anderen acht
Kongressen wurde dieser letzte im Rahmen der so genannten Aufarbeitung der DDRGeschichte sehr intensiv reflektiert. Dabei wurden die Dokumente mehrheitlich abfällig
kommentiert. Der Kongress sei eine Demonstration der Reformunwilligkeit der Ministerin
gewesen oder eine Abschottung der regierungsamtlichen Politik gegenüber sämtlichen
Reformüberlegungen oder auch ein Zurschaustellen realitätsblinder Selbstherrlichkeit.
Ich habe aus den Dokumenten etwas anderes herausgelesen, vielleicht weil ich auch das
historische Umfeld anders wahrgenommen habe. Zu den 1980er Jahren gehören aus
östlicher Sicht die Kriegsangst, die mit der Stationierung neuer Mittelstreckenraketen erst in
Baden-Württemberg, dann in Sachsen verbunden war und die Entstehung einer
Friedensbewegung. Die Jugendlichen stellten mit dem Aufnäher „Schwerter zu
Pflugscharen“ die DDR-Friedenspolitik infrage. Kriegsspielzeug und Wehrunterricht wurden
immer lauter kritisiert, auch in Kunstwerken dieser Zeit. Die Soziologen der APW stellten
fest, dass die Kriegsangst bei Kindern größer war als bei den Eltern.
Zu den 1980er Jahren gehören auch die Hoffnungen, die die ersten Reden von Michael S.
Gorbatschow auslösten, auch die für die DDR neuen „grünen“ Apelle zur Erhaltung der Erde
und damit zu einem Denken über Klassenschranken hinweg.
In der pädagogischen und soziologischen Wissenschaft war bereits seit Ende der 70er Jahre
darauf aufmerksam gemacht worden, dass die weitere gesellschaftliche Entwicklung
individuelles Engagement braucht, dass eine Anpassung an kollektive Normen nicht
ausreicht, weil ein entwickeltes Urteilsvermögen jedes einzelnen notwendig ist.
Das ist aber von Kindern, die vor allem bewusst diszipliniert und opferbereit sind, kaum zu
erwarten.
In dieser Situation entstanden Dokumente mit der klaren Aussage, dass «nicht mehr ebenso
erzogen werden kann, wie in den Jahrzehnten davor» (Bilanzmaterial 1988: 7), dass in den
Erziehungszielen «objektiven Individualisierungstendenzen Rechnung zu tragen» sei
(Kirchhöfer 1995: 328), dass über die Dialektik der beiden zentralen Erziehungsziele
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Allgemeinmenschliches und Klassenmäßiges neu nachzudenken ist. Es gab auch erste
Forschungen zum Generationsverhältnis im Sozialismus, auch Befragungen von
Jugendlichen zu ihrem Verhältnis zu den Alten und zu vielen anderen Themen (Mietpolitik,
Ausreisemotive), die bis dahin nicht beforscht wurden.
Nach meiner Erinnerung waren solche Überlegungen im vollen Gang, als der Kongress
stattfand. Auf dem IX. Pädagogischen Kongress ist nicht mehr von kommunistischer Moral
oder kommunistischer Erziehung die Rede, sondern – wenn überhaupt ein Attribut
verwendet wird – wieder von sozialistischer. Die Kategorie Menschlichkeit und der Blick
auf die Menschheit als Ganzes spielen eine sehr viel größere Rolle als zehn Jahre zuvor.
Sowohl beim Reflektieren der Vergangenheit als auch bei Absichtserklärungen wurden von
der Ministerin die allgemein menschlichen Tugenden, beinahe wie auf dem I. Pädagogischen
Kongress 1946, besonders betont. Sie waren zwar ausdrücklich in der sozialistischen Moral
«aufgehoben», aber sie wurden – anders als in den 1970er Jahren – konkret als
klassenmäßig neutrale Normen benannt. Die Jugend wäre auf eine Gesellschaft
vorzubereiten, in der der Mensch frei, selbstbewusst, gut, hilfsbereit und ehrlich sein könne.
Es sei ein Geschichtsbild zu vermitteln, das der Bewegung und Entwicklung der
Menschengesellschaft entspricht. In diesem Kontext war auch von neuen schulischen
Vorhaben der Umwelterziehung die Rede.
Auffällig ist weiterhin eine (wieder) verstärkte Betonung der individuellen Stärken der Kinder.
Die Schule müsste diese individuellen Stärken erkennen. Die Herausbildung der
Individualität aller Gesellschaftsmitglieder stünde auf der Tagesordnung. So ähnlich war das
auch schon drei Jahre zuvor auf dem XI. SED-Parteitag gesagt worden.
Zur besseren Respektierung der individuellen Stärken der Kinder gehörte wohl auch die im
Referat geäußerte Absicht, die fakultativen Kurse an den Schulen zu erweitern und
Lebensfragen aufzugreifen, die junge Menschen «in diesem Alter bewegen».
Damit im Zusammenhang wurden auch die Auffassungen zur Zensierung und Bewertung
relativiert. Die Lehrkräfte sollten sich von formalen Bewertungspraktiken trennen und die
Qualität der Gesamteinschätzung weiter erhöht.
Und der Auftrag an die junge Generation lautet jetzt auch nicht mehr, das Werk der Väter zu
vollenden. Stattdessen heißt es mit Bezug auf Clara Zetkin, dass die reife, kämpfende
Generation des klassenbewussten Proletariats verpflichtet ist, für das Heranwachsen eines
Geschlechts zu sorgen, das ihr eigenes Werk im besten geschichtlichen Sinn weiterführt. Die
Weiterführung im besten geschichtlichen Sinn – das lässt der jungen Generation Raum für
Eigenes.
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Alles in allem lässt sich aus den Dokumenten schließen: Dass nicht mehr ebenso gebildet
und erzogen werden konnte wie in den Jahrzehnten zuvor, war auf höchster politischer
Ebene angekommen – auf der Grundlage der Reformüberlegungen aus den pädagogischen
Wissenschaften und sicherlich auch unter dem Druck der Massenflucht von jungen Leuten –,
wie stattdessen gebildet und erzogen werden sollte, war auf politischer Ebene wohl nicht
geklärt. Insofern sprechen die Dokumente des IX. Kongresses aus meiner Sicht vor allem für
Hilflosigkeit. Vergleichbar mit Kunstwerken aus dieser Zeit. Ich denke da z. B. an den Film
„Jadup und Boel“, der mit der Botschaft an die Kinder endet: Macht es besser als wir!
Schlussgedanke: Seit 25 Jahren sammle ich Erfahrungen mit einer Gesellschaft, in der
hohe Allgemeinbildung für alle Kinder und langjähriger gemeinsamer Schulbesuch nicht
mehr angestrebt werden und in der der Fürsorge des Staates für Kinder enge finanzielle
Grenzen gesetzt sind. Gerade weil aus dieser Sicht die Vorzüge des Schulsystems in der
DDR deutlich werden, müssen die Defizite beim Namen genannt werden. Möglichst nicht nur
von denen, die mit Arroganz auf den sozialistischen Versuch schauen, sondern auch von
denen, denen es weh tut, weil sie eine Alternative zum Kapitalismus wollten. Dazu zähle ich
mich.
Und zu den Defiziten gehört, dass ein Erziehungskonzept, das auf Menschlichkeit und
gleichzeitig auf Klassentreue orientiert, unter den Bedingungen der
Systemauseinandersetzung nicht realisierbar war. Wahrscheinlich muss man das noch
grundsätzlicher sehen: Eine Gesellschaftsidee, die sich nur auf das Wissen und die
Erfahrungen der Arbeiterbewegung stützt und nicht gleichermaßen auf andere
Menschenrechtsbewegungen der vergangenen Jahrhunderte, ist nicht tragfähig.
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