Rede des israelischen Staatspräsidenten Reuven Rivlin beim

Rede des israelischen Staatspräsidenten Reuven Rivlin
beim Staatsbankett
anlässlich „50 Jahre diplomatische Beziehungen Israel-Deutschland“
am 11. Mai 2015 im Schloss Bellevue Berlin
- Es gilt das gesprochene Wort -
(Anrede)
Über 60 Jahre sind seit der Unterzeichnung des
„Wiedergutmachungsabkommens“ zwischen dem Staat Israel, den Vertretern
der Claims Conference und der Bundesrepublik Deutschland, damals
Westdeutschland, vergangen.
Die Unterzeichnungszeremonie, die in einem Festsaal des Rathauses von
Luxemburg stattfand, dauerte weniger als zwölf Minuten.
Die Stimmung, so bezeugten es die Anwesenden, blieb eisig.
Die Distanz war deutlich und minutiös geplant.
Es wurden keine Reden gehalten und keinerlei Herzlichkeit war zu spüren.
Die Parteien saßen beidseits eines massiven Tisches und unterzeichneten
schweigend die Dokumente.
In Israel sprach man von einem „Zahlungsabkommen“, was Rückgabe von
geraubtem Vermögen und Entschädigung der Opfer der Schoa und ihren
lebenden Vertretern heißen sollte.
In Deutschland erhielt dieses historische Ereignis den Namen
„Wiedergutmachung“, was ein positiv besetzter Begriff der Versöhnung und der
Wiederherstellung des Guten war.
Versöhnung war das damals nicht, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Der junge und kleine Staat Israel meiner Jugend kämpfte damals auf
zahlreichen unterschiedlichen Gebieten um seine Existenz, sei es im Bereich
der Sicherheit, der Wirtschaft, der Gesellschaft oder der Kultur.
Auf allen genannten Gebieten waren die Narben der Schoah der europäischen
Juden deutlich zu spüren und traten in aller Frische hervor.
Das geteilte Deutschland jener Jahre war nicht das verfluchte Dritte Reich,
jedoch war es nicht möglich, zwischen den beiden eine vollständige
Unterscheidung zu treffen.
Es vergingen weitere Jahre, bevor sich eine Versöhnung abzuzeichnen begann.
Ich kann mich gut an die Ankunft von Rolf Pauls, dem ersten deutschen
Botschafter in Israel, erinnern.
Auch damals, dreizehn Jahre, nachdem Adenauer und Moshe Sharett das
Entschädigungsabkommen unterzeichnet hatten, war für mich persönlich die
Aufnahme der diplomatischen Beziehungen mit Deutschland schwierig, obwohl
ich, wie die übrigen Bürger Israels, deren Wert verstand.
Der junge Staat Israel benötigte in jenen Jahren deutsche Hilfe zur
wirtschaftlichen Stabilisierung, zur Verringerung der Staatsschuld, zur
Integration der Einwanderer und zur Stärkung auf dem Gebiet des Militärs und
der Sicherheit.
Und so wurde der Beginn der Beziehungen zwischen Deutschland und Israel,
deren 50jähriges Jubiläum wir heute begehen, von politischer Vernunft geleitet,
die dem Pragmatismus gegenüber Empfindungen und Gefühlen den Vorzug
gab.
Meine Damen und Herren,
Die Beziehungen zwischen uns entstanden aufgrund politischer Vernunft,
indessen wuchsen, reiften und entwickelten sie sich im Laufe der Jahre zu einer
echten Partnerschaft und Freundschaft.
Im Laufe der Jahre entstanden feste und stabile Verbindungen zwischen
unseren beiden Staaten.
Diese Verbindungen sind nicht nur von der historischen Schuld der
Nachkommen der Mörder und Schergen gegenüber den Nachkommen der
Opfer geprägt.
Es sind Brücken, die sich auf das Fundament einer mutigen, sich Rechenschaft
ablegenden Nation stützen.
Deutschland gehört immer noch zu den wenigen Staaten, die sich offizell als
Nation zu ihrer Verantwortung für die Verbrechen gegenüber unserem Volk
bekannt hat.
[Deutschland hat im Laufe der Jahre seinen Schmerz zum Ausdruck gebracht,
sei es durch den Kniefall von Kanzler Willy Brandt oder sei es durch die
Entschuldigung von Bundespräsident Johannes Rau vor der Knesset im Namen
von West- und Ostdeutschland.]
Es ist bedauerlich und besorgniserregend, dass es auch heute Nationen gibt,
die sich nicht nur vor ihrer Verantwortung für die Verbrechen der Schoa
drücken, sondern sich sogar in aller Öffentlichkeit von dieser Verantwortung
lossagen.
Auf diesem mutigen und schmerzhaften Fundament haben sich die
diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Israel entwickelt,
woraus eine echte Freundschaft entstanden ist.
Rechenschaft ablegen, die Bitte um Vergebung und die komplexe
Auseinandersetzung mit der Vergangenheit haben zu einer Freundschaft
geführt, die sich nicht in Erklärungen und Reden erschöpft.
Heute äußern sich die Beziehungen zwischen uns auf dem Gebiet der
Wissenschaft und der Kultur und suchen hinsichtlich ihres Umfangs und der
gegenseitigen Bereicherung Ihresgleichen; sie drücken sich in intensiven
Handelsbeziehungen zwischen den Staaten selbst sowie zwischen Israel und
den Staaten der Europäischen Union aus und kommen in einer engen
nachrichtendienstlichen Zusammenarbeit zum Ausdruck.
Unsere Freundschaft findet ihre konkrete Verwirklichung in der Verpflichtung
zur Sicherheit Israels, zur Zukunft des jüdischen Volkes , zum Kampf gegen
Rassismus und gegen Fremdenhass.
Im Laufe der ersten fünfzig Jahre unserer diplomatischen Beziehungen teilen
Deutschland und Israel eine gemeinsame Verpflichtung gewaltigen Ausmaßes.
Es ist die Verpflichtung, die Werte und Interessen der freien Welt gegen die
globalen Gefahren, der sie ausgesetzt ist, zu verteidigen.
Die Last unserer gemeinsamen Geschichte einerseits und unsere tiefe
Freundschaft in der Gegenwart andererseits sind der Antrieb dafür, diese
Verpflichtung gemeinsam zu verwirklichen.
Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir, diese Rede mit einem Gedicht von
Jehuda Amichai, einem Dichter aus Jerusalem, der als Ludwig Pfeuffer in
Würzburg im Süden Deutschlands geboren wurde, abzuschließen.
Ein Mensch in seinem Leben
Ein Mensch hat in seinem Leben keine Zeit
Er hat nicht genügend Jahreszeiten
Um Jahrszeiten für jeden Zweck zu haben.
Der Prediger hatte Unrecht, als er das sagte.
Ein Mensch muss gleichzeitig hassen und lieben
Mit denselben Augen weinen
Und mit denselben Augen lachen
Mit denselben Händen Steine werfen
Und sie mit denselben Händen aufheben.
Im Krieg Liebe machen
Und Krieg in der Liebe
Und hassen und verzeihen, erinnern und vergessen
Und ordnen und verwirren, essen und verdauen,
Wofür die Geschichte viele Jahre braucht.
Dies ist sein Gedicht.
Ich wünsche uns noch viele Jahre gemeinsamen Schaffens.
Ihnen vielen Dank.
Seien sie gesegnet.