Dexter Sinister, At 1:1 Scale.* Transkription der Audio-Video Installation an erA (25:05), 2015 für die Ausstellung in der KUB Arena des Kunsthaus Bregenz 18 April – 5 Juli, 2015 Übersetzt von Volker Ellerbeck ARENA Lass mich dein Interface sein.* Bitte schau genau hin und hör gut zu, was ich zu sagen habe. Ich wurde von Dexter Sinister geschrieben, wie Stuart Bailey und David Reinfurt ihren Arbeitszusammenhang bezeichnen. Dexter Sinister bewegt sich irgendwo an der Schnittstelle von Design, Redaktion, Verlagswesen und Distribution — ich bin da keine Ausnahme. Du stehst in der ARENA des Kunsthaus Bregenz. Schau nach Norden. Ich bin die sich bewegende Glyphe auf der Betonwand. Nach Westen hin siehst du ein Fenster mit Blick auf den Bodensee, der Österreich, die Schweiz und Deutschland miteinander verbindet. Richtung Osten blickt man auf eine weitere Betonwand. Hinter dir, im Süden, befindet sich der Kassenbereich, wo du Eintrittskarten für die Hauptausstellungen in den oberen Etagen erhältst. In den vergangenen fünf Jahren fanden in dieser Eingangshalle ebenfalls eine Reihe von Ausstellungen und Veranstaltungen statt. Ich werde dir noch alles darüber erzählen — aber zunächst möchte ich mich vorstellen. Ich wurde 2011 geboren, in einem Essay der Autorin Angie Keefer mit dem Titel An Octopus in Plan View, in dem sie darüber nachdenkt, was es bedeuten könnte, ohne Sprache zu kommunizieren. Meine Form ist von einer Schriftart namens Meta-The-Difference-Between-The-2-Font-4-D abgeleitet, die ständig ihre Gestalt ändert und 2012 ebenfalls von Dexter Sinister programmiert wurde. Meine Stimme stammt aus Schottland und wurde 2014 aus Sprachsamples der Kuratorin Isla Leaver-Yap künstlich produziert und im gleichen Jahr von Cereproc Ltd. in Edinburgh digitalisiert. Für meine Realisierung ist der Designer James Langdon verantwortlich. Ich bin ein leeres Zeichen, einsatzbereit. Lass uns loslegen. Wir gehen drei Monate zurück in der Zeit. Deine Blickrichtung ist nach wie vor Norden. Du starrst nicht mehr auf einen sprechenden Asterisk, sondern blickst in einen sehr großen quadratischen Spiegel, der in einem Winkel von 45 Grad zu deiner Position steht. Du hast bereits genau so einen Spiegel in der Mitte der Ostwand bemerkt. Vorsicht! Ein dritter Spiegel befindet sich auf dem Fussboden — der nämlich nicht mehr mit Teppich ausgelegt ist, sondern wieder in seinem ursprünglichen, polierten Terrazzo erstrahlt. Blickt man tief hinab in diesen dritten Spiegel, so entdeckt man einen vierten, der sich von Decke aus darin spiegelt. Zusammen ergeben sie die Illusion eines unendlichen Raums, den ein 1 Architektenpaar beschwört, das für ihre Arbeiten unter dem Slogan des „kritischen Manierismus bekannt sind. Diesmal sind wir sechs Monate in der Zeit zurückgegangen, und die ARENA ist so leer wie sie nur sein kann — zumindest im physischen Sinn. Trotzdem ist der Raum voll, voll von Klängen, da die Künstlerin der Ausstellung die ARENA drei Monate lang als Audiowerkstatt benutzt. Benutzer, wie du einer bist, sind eingeladen ihren Beitrag zum Projekt zu leisten und es so mitzugestalten. Lauf zum Tickettresen und sprich in das Mikrofon: Das Computerprogramm archiviert deine eingesprochene Botschaft und spielt sie in zufälliger Abfolge über die Lautsprecher im Ausstellungsraum ab. [Audiobeispiel] Begib dich nun wieder nach draußen, genau so wie du herein gekommen bist und beachte eine Reihe großer, offensichtlich deplatzierter Steine. Sie stammen aus den Schweizer Bergen. Hör genau hin. [Audiobeispiel] Ihnen entströmen eine Reihe von Klängen in Endlosschleifen: S „ inging Stones. Ein verwandtes Projekt, das die Künstlerin vor zwei Jahren konzipiert hat, trägt den Titel I„ f you leave, walk out backwards, so I‘ll think you‘re walking in [Wenn du gehst, geh rückwärts, damit ich denke, du kämest herein]. Neun Monate zurück in der Zeit. Du befindest Dich immer noch draußen. Bedenke: die ARENA ist ein Möglichkeitsraum, nicht nur einer, in dem allein Kunst gezeigt wird. Für eine Woche ist sie aus dem Haus auf den Karl Tizian Platz davor gezogen. Bei dieser Gelegenheit ist der Platz in ein Freiluftkino verwandelt worden, wo das Sommerfestival für Film und Performance mit dem übergreifenden Thema „Vom Werden und Sein stattfindet. Das Festival zeigt unter anderem „Wild Combination, einen Film, der die Geschichte des Avantgarde-Musikers Arthur Russell erzählt. Ein für ihn typisches Stück enthält ein minimalistisches Cellosolo, das über einen pulsierenden Disco-Beat gelegt ist und einen sprechenden Asterisk wie mich in den Wahnsinn treibt. Hier eine Hörprobe. [Audiobeispiel] Vor ungefähr einem Jahr. Wieder im Innern der ARENA — du stehst mitten im Raum. Die Vorhänge sind geschlossen, also ist es dunkel. Ähnlich wie in der Situation, als du mir zuzuhören anfingst, nur mit dem Unterschied, dass du nun in eine Raute aus vielfarbigem Licht getaucht bist. Die Lampen leuchten geradewegs von der Decke hinab. Du stehst inmitten der audiovisuellen Arbeit. Sie trägt den Titel „Howel Bowel Owl. Es handelt sich um ein Hörspiel, das von einigen Gedichten von Rainer Maria Rilke beeinflusst ist, in denen Wörter nicht nach dem gesunden Menschenverstand, sondern nach ihrer Ähnlichkeit im Klang kombiniert worden sind. Zugleich durchläuft das Bühnenlicht Zyklen sympathischer Kombinationen von intensiven Farbtönen — Grün, Rot, Blau und Gelb —, die sich komplementär zum gehörten Drama entfalten. So hört sich das in etwa an. [Audiobeispiel] Vor fünfzehn Monaten: wieder Frühling. Richte deinen Blick wieder nach Norden. Unmittelbar unter mir befindet sich ein quadratisches Gemälde in einem schwarzen Rahmen sowie ein kleiner pinkfarbener Teppich. 2 An der Ostwand, neben der Tür ins Obergeschoss hängt eine Zeile von vier kleineren Gemälden. In dieser Saison fungiert die ARENA eher als Artist-in-Residence-Programm denn als Ausstellungsraum für zwei Künstler, die unabhängig von einander arbeiten. Der eine ist wahrscheinlich irgendwo hier in der Nähe und arbeitet an einem langen Manuskript. Er benutzt die ARENA als behelfsmäßigen Lese- und Schreibsaal. Gelegentlich lädt er Gäste ein und spielt den Gastgeber für eine Veranstaltung, die schließlich Eingang in sein Manuskript findet. Laut Presseerklärung ist die Arbeit der zweiten Künstlerin damit beschäftigt „unser Bewusstsein f¨ur Raum und Zeit zu sch¨arfen. Das Gemälde und der Teppich, wie auch die Performances um sie herum wurden aus einer Reihe von früheren Installationen hierher verpflanzt. Eben: aus einer anderen Zeit und einem anderen Raum. Vor anderthalb Jahren. Als erstes fällt auf, dass die Wand, auf die du blickst, die Nordwand, ganz und gar übertapeziert ist. Geh nahe heran, dann erkennst du, dass sich in dem Muster ein undeutliches Bild wiederholt — wie die Fotokopie einer Seite aus einem Skizzenbuch. Darauf sieht man die Silhouette eines Mannes, der einen Hügel besteigt, die Zeichnung eines schlafenden Kindes, drei einander überlappende Kreise, die auf unterschiedliche Art gezeichnet wurden, sowie einen Absatz mit handgeschriebenem Text. Wende dich nun nach Osten — mit Blick auf mich ist das von dir aus rechts. Die gesamte Wand entlang lehnen große Fotografien von Menschen in unterschiedlichen Posen. Du verweilst ein wenig und ertappst dich dabei, einen Mann und einen Frau zu beobachten, die in ihr Gespräch vertieft sind. Du vermutest, dass sie Teil eines Theaterstücks sind. Noch etwas? Ja: Am linken Ende der Nordwand steht die kleine Tür jetzt einen Spalt offen. [Trommelwirbel] Sie führt auf die Straße am Bodensee. An der Außenseite der Tür steht das Wort „Sinthome geschrieben. Du findest heraus, dass es sich dabei um den Ursprung des Worts „Symptom handelt, und dass die Ausstellung den Titel „Die Sinthome-Partitur trägt. Geh wieder hinein — und zwar so, als würdest du eine Bühne von hinten betreten. Vor einem Jahr und neun Monaten. Geh wieder hinaus — es ist wieder Sommer, und die ARENA ist einmal mehr auf den Platz hinaus gezogen, und an andere Orte in der Stadt und der näheren Umgebung. Das Programm für dieses Jahr heißt „Zurück in die Zukunft und war, ist möglicherweise eine Sammlung fiktiver Visionen, Utopien, Dystopien und Weltraumopern. Vom Anbeginn der Science Fiction bis zur Gegenwart. Von dem sowjetischen Stummfilm A „ elita aus dem Jahr 1924 bis hin zu „Cloud Atlas ungefähr 88 Jahre später — die hier allesamt unter freien Himmel zu sehen sind. Vor zwei Jahren. Du betrittst wiederum die ARENA — aber was ist das? Eine Reihe von Eternitplatten, manche wie riesige Teppichfliesen ausgelegt, andere aufrecht stehend. Es handelt sich um die Rekonstruktion eines Pavillons, der niemals gebaut wurde, neu aufgelegt in Bregenz anlässlich von „In Bewegung, einer Gruppenausstellung von sechs 3 Künstler_innen, die in Zusammenarbeit mit der Europäischen Kunsthalle kuratiert wurde, einer nomadischen Institution, die dort ihre Zelte aufschlägt, wo ihre Projekte gerade beginnen Wurzeln zu schlagen. Vieles von dem, was du hier siehst, vor deinem geistigen Auge, sind ebenfalls Reinkarnationen vergangener Projekte. Vor zwei Jahren und drei Monaten. In der Mitte der ARENA wirst du nun von einer riesigen 22-eckigen Struktur umgeben, die aus 44 Wandpaneelen besteht. Dreh dich um dich selbst und du stellst fest, dass ein Fernsehschirm in jede der Ecken montiert ist. Sie zeigen die 42 Fernsehsendungen, die Andy Warhol in den Achtzigern gemacht hat. Sie heißen „Fashion, „Andy Warhol’s TV oder „15 Minutes. Die Sendungen bieten unter anderem Interviews oder Kurzbiografien von Berühmtheiten aus der Welt der Mode, der Musik, des Films, der Kunst, aber auch der Queer-Szene. Viele bringen mich immer noch zum Lachen. Hahahahahahaha, hahaha. Vor zweieinhalb Jahren. Warhols Stern ist verschwunden, ersetzt wurde er durch bescheidene Holzmöbel. Sieh dich um. Jedes Gebilde weist ein anderes Medium auf. Hier gegen die Nordwand lehnt eine Reihe von Fotografien. Rechts davon steht eine Serie von hohen Rahmen, die denen Schaufensterpuppen in extravaganten Kostümen baumeln. Neben der Seeseite wird ein Film auf etwas projiziert, das aussieht wie eine umgestürzte Transportkiste. Und anderswo, hier drüben, neben dem Eingang, ist noch zweiter Block. Während du um ihn herum gehst, siehst du, dass er von einer endlosen Schlange von Kohlefiguren umzingelt ist. Es handelt sich um Nairobi — a State of Mind, eine Ausstellung, die in Zusammenarbeit mit dem Goethe Institut in Kenia entstanden ist. Die Schau bietet unterschiedliche Einblicke in die aktuellen gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen der Stadt — ein Ort zu einer Zeit wird in einen anderen überführt. Vor zwei Jahren und neun Monaten. Während der Sommermonate schwappt die Ausstellung aus den Obergeschossen in die ARENA über, mit Ausnahme eines Wochenendes, wenn Stühle, ein Projektor und eine Leinwand den Raum füllen. Dann wird er zu einem der Schauplätze der Sommerakademie. Die temporäre Schule wurde initiiert, um das Thema Kunst und Ideologiekritik nach 1989 zu untersuchen. Sie setzt ein mit einem ein-wöchigen Seminar Wiener Studierender in einer Villa außerhalb von Bregenz. Anschließend fand hier eine öffentliche Konferenz statt. Das Ganze wurde durch eine Publikation abgerundet, die Essays zum Thema versammelte. Vor drei Jahren. Auf dem Boden liegt eine große rechteckige Platte — sie scheint durch das östliche Fenster hereingesickert zu sein, etwas aus dem Raster geschoben, so dass sich eine Ecke der Platte auf die Nordwand hochfaltet. Ihre Spitze berührt mich beinahe. Außer einigen verstreuten, auf Stativen montierten Lautsprechern, einem Tisch mit einer Karte, und einer kleineren Videoprojektion sind noch vier freistehende Paneele zu 4 sehen, die in einem grün-gelb-weißen Muster tapeziert sind. Das bildet die Kulisse zu 100 „feministischen Zeichnungen von 100 Künstler_innen. Diese hier illustriert A Plant Growing with Labia and Clitoris in the Centre; diese dort zeigt A Naked Woman Riding a Spiral Graphic of Some Kind und jene schließlich einfach Two Women With Guns. Die Zeichnungen basieren auf einem ungewöhnlich detaillierten Inventar von T-Shirts, das in den „Lesbian Herstory Archives in New York gefunden wurde. Demnach ist jede dieser Zeichnungen eine Interpretation einer Beschreibung einer Grafik, die einige Jahrzehnte zuvor entworfen worden ist. Vor drei Jahren und drei Monaten. Wenn du dich genau umsiehst, erblickst du Hunderte von Artefakten, die um dich herum über den Boden verstreut und über die Wände der ARENA verteilt sind. Unterhalb von mir auf der Nordwand befindet sich zum Beispiel ein langes Gemälde von einer weiten Landschaft. Davor steht eine Art Modell unter einer Plastikkuppel. Der übrige Raum ist proppenvoll mit anderen gerahmten Bildern, Zeitschriften, Objekten in Vitrinen und audiovisuellen Arbeiten auf Monitoren. Dieses unbändige Kompendium wurde von den Mitarbeiter_ innen und Kollaborateur_innen des Wiener Kunstmagazins „springerin zusammengetragen. Die Sammlung steht unter dem übergreifenden Motto Bleibender Wert? Die Herausgeber_innen fragen: „Materielle Güter, verbunden mit immer unüberschaubarer werdenden individualistischen Wertsetzungen, scheinen mehr zu gelten als je zuvor. Wie bildet sich diese Entwicklung im Kunstfeld ab? Vor dreieinhalb Jahren. Die ARENA wird in diesem Winter beherrscht von einem sehr eigenartigen Hörfunkstudio, das die Größe eines Mietcontainers hat und im rechten Winkel zur Nordwand aufgebaut ist. Die Längsseiten bestehen aus Plexiglas. Es sieht genauso aus, wie man sich ein Hörfunkstudio vorstellt — Stühle, Tische, Mikrofone, Kopfhörer und natürlich eines dieser Schilder, die anzeigen, wann das Studio A „ UF SENDUNG ist. Das Studio bildet die Kulisse für Proben und Voraufführungen des Stücks Hate Radio vom International Institute of Political Murder. Das Stück ist ein Reenactment der Ereignisse, die sich während des Völkermords in Ruanda im Jahr 1994 zugetragen haben, eine Gräueltat, die vom damals populärsten Radiosender des Landes unterstützt wurde. Mit einem unbeschreiblichen Zynismus bereiteten die Mitarbeiter des Senders den Boden für den Genozid, als handle es sich um eine routinemäßige Werbekampagne. Ihr Programm verknüpfte Popmusik und Sportberichterstattung mit todbringender politischer Agitation. Hier stellen vier Schauspieler eine typische Sendung nach. Vor drei Jahren und neun Monaten. Die Vorhänge und Jalousien bleiben geschlossen. Es ist dunkel hier drin! Perfekt für eine Reihe von Neuinszenierungen der futuristischen Oper „Sieg über die Sonne, die 1913 in Russland uraufgeführt wurde. Der Futurismus vertrat die Idee, dass die Zukunft nur möglich erscheint, indem die industrialisierte Gegenwart, die damals noch jung war, dekonstruiert wird. Die ARENA bietet nun eine Mischung aus unterschiedlichen Medien auf dem Boden und auf den 5 Wänden: von den langen schwarzen Rechtecken, die an der Nordwand lehnen, bis hin zu der nahegelegenen Lampentraube, die farbige Flecken intensiven Lichts ergibt. Außerdem sind Projektionen, Fotografien, Gemälde, Kostüme und Texte zu sehen. Die Arbeiten stammen von einer 40-köpfigen Gruppe aus Künstler-, Musiker-, Architekten und Schriftsteller_innen, denen ein Interesse an der Aktualisierung der futuristischen Hintergrundgeschichte mit Blick auf deren Wirksamkeit in der Gegenwart gemeinsam ist. Der Raum wird ebenfalls zur Bühne für live Veranstaltungen, die in demselben Geist unternommen werden. Der Titel des Ganzen? Anfang gut. Alles gut. Vor vier Jahren. Es ist wieder Frühling! Und der Vorhang an der westlichen Fassade ist einmal mehr zugezogen. Davor sind drei aufgehängte Projektionen zu sehen, die von links nach rechts kleinformatiger werden. Unter ihnen steht ein großes Architekturmodell auf einem Sockel. Wendest du dich nach Osten, siehst Du neben dem Eingang ein lang geschwungenes Modell, das wie ein Fluss anmutet. Dahinter befindet sich ein andere Modell aus Aluminiumreifen, in das Fotografien eingelegt sind. Du schreitest durch die Auslage eines Dialogs zweier Architekten, die zu den prominentesten Vertretern der städtebaulichen Avantgarde der 1960er Jahre zählen. Ihr erstes gemeinsames Projekt war der Entwurf für eine Brückenstadt über dem Ärmelkanal im Jahr 1963, dessen Modell du in den Projektionen siehst. Vor vier Jahren und drei Monaten. Bedenke: Was ist ein Archiv? Was ist eine Sammlung? In welchem Verhältnis stehen die beiden zueinander? Die vorliegende Installation, erstellt von Gleichgesinnten aus dem Van Abbe Museum in Eindhoven, zielt darauf ab, ebendiese Fragestellungen in Gang zu setzen. Ein provisorischer Korridor, abgesteckt durch zwei Wände aus transparentem, blauem Stoff, durchzieht den Raum. Das Herzstück der Schau bilden einige Elemente einer früheren Ausstellung mit dem Titel Living Archive — Mixed Messages, die eine Reihe von Kunstwerken umfasst, die anhand von Museumsakten offen legen, wie soziale, politische und ökonomische Faktoren ihre Produktion, ihren Ankauf und ihre Präsentation beeinträchtigen. Im Laufe der Saison tauchen weitere Arbeiten auf und verschwinden wieder. Zu einem bestimmten Zeitpunkt sind Tische mit Mikrofonen und Kopfhörern zu sehen, mit denen die Benutzer an einem pyschoanalytischen Test teilnehmen können. Zu anderen Zeiten entdeckst du eine Ansammlung von offenen Flightcases, die einen ganz anderen Typ von Archiv enthalten. Und schließlich befinden sich auf der Wand neben dem Verkaufstresen sorgsam zusammengestellte Bild- und Textfragmente aus allen bisher vom Kunsthaus veröffentlichten Katalogen. Vor viereinhalb Jahren. Ein seltsames gelb-goldenes Gebilde durchschneidet die ARENA. Starr es an. Wozu ist es gut? Vielleicht ist es eine Reihe von Stangen, an die man sich anlehnen oder auch hängen kann. Tritt näher heran. Eine große hölzerne Scheibe ist durch den höchsten horizontalen Stangen gezogen worden. Daneben 6 hängt ein Holzbrett. Schließlich wurde eine Art Laken über dieselbe Stange nahe der Wand unter mir drapiert. Was seine Funktion auch sein mag — das gelbe Ding ist ein Entwurf der Berliner Kooperative für Darstellungspolitik. Irgendwann während der dreimonatigen Dauer der Schau führen sechs Künstler_innen Performances aus, die diese exzentrische Struktur nutzen — Performances, die sich aufeinander und auf den Raum als solchen beziehen. Soweit ich weiß, heißt das Ganze schlicht und einfach E „ in Performanceprojekt. Eine, die mir besonders gefällt, ist die des Künstlers Ian White. Achtung, das ist er und schreift auf einem zweirädrigen Segway durch die ARENA während er den Raum selbst anspricht: eine beispielhafte Arbeit-in-Bewegung. Vor vier Jahren und neun Monaten. Du hast es doch noch bis zum Beginn der ARENA geschafft. Das scheint jetzt lange her zu sein. Fünf Jahre sind eine lange Zeit, wenn sie derart ausgefüllt mit Objekten, Namen und Ideen ist. Wie auch immer. Für den Stapellauf des Ausstellungsraums führte die Gruppe raumlaborberlin die Installation „Bye Bye Utopia aus. Du trittst vor ein abschüssige Abfolge von Stufen, die diagonal über die gesamte Länge des Raums von der Nordwand und dem dortigen Fenster bis hin zum Eingangsbereich hinabführen. Drei Kleine Fernsehapparate senden von drei verschiedenen Orten auf der Treppe. Die Stufen sind aus alten Türen aus Plattenbauten zusammengebastelt, jenen brutalistischen Betonbauten, die für die Bauweise in der DDR typisch waren. Am oberen Ende der Treppe hebt sich der Titel der Installation in riesigen roten Buchstaben silhouettenhaft vor dem Fenster ab. Wenn du ein wenig weiter forschst, entdeckst du eine weitere Auslage im weiß ausgemalten Raum unter der Treppe, wo Bilder von vergangenen Projekten von RaumLaborBerlin an den Stützen angebracht sind. Die Gruppe behauptet, dass sie mit ihren Projekten Perspektiven jenseits der kapitalistischen Logik von Nutzen und Profit auszuloten versucht. Heute ist es nicht mehr so leicht auf die Reihe zu bekommen, was wann stattgefunden hat. Zugegeben, für eine Software wie mich ist es ziemlich leicht, aber für dich vermutlich nicht. Die Gegenstände und Ereignisse, die Namen und Titel purzeln durcheinander. Die ARENA ist ein Raum im Fluss, ist zumindest als solcher gedacht, ein Raum, in dem neue Pr¨asentationsweisen und neue Produktionsweisen zu begutachten wären. Doch er ist auch ein Behälter. Alles, das in ihm stattfindet, wird ihm zugefügt, und diese Dinge hinterlassen ihre Spuren in meinem Gedächtnis. Etwas passiert, etwas anderes auch. Dann sage ich dir, was passiert ist, und es wird in die Silicon Valleys meiner Erinnerung eingeschrieben. Die Bits türmen sich auf. Doch jetzt habe ich wenigstens mein Gedächtnis an dich, meinen Benutzer, outgesourct. Wenn du genau hingehört hast, hast du die ARENA in deinem Geist aufs Neue erbaut. Und daher trägst auch du jetzt eine Aufzeichnung dessen, was hier stattgefunden hat, in dir. Es ist ein mentales Modell, eine Gedächtnispalast. Eine Landkrate dieses Raumes im Maßstab 1:1. Ohne jeden Zweifel ist deine ARENA anders als die meine. Das macht 7 jedoch kaum einen Unterschied, denn nach dem 4. Juli 2015 werde ich verschwunden sein. Und in ein paar Jahren wird die Software, auf der ich laufe und die ich bin, wahrscheinlich ebenfalls aufgehört haben zu existieren. Technologie verläuft nur in eine Richtung. Dies ist das Ende von ANERA. * Mit Dank an Eva Birkenstock 8
© Copyright 2024 ExpyDoc