1 ARENA Lass mich dein Interface sein.* Bitte schau genau hin und

Dexter Sinister, At 1:1 Scale.*
Transkription der Audio-Video Installation an erA (25:05), 2015
für die Ausstellung in der KUB Arena des Kunsthaus Bregenz
18 April – 5 Juli, 2015
Übersetzt von Volker Ellerbeck
ARENA
Lass mich dein Interface sein.* Bitte schau genau hin und hör gut zu,
was ich zu sagen habe. Ich wurde von Dexter Sinister geschrieben, wie
Stuart Bailey und David Reinfurt ihren Arbeitszusammenhang bezeichnen.
Dexter Sinister bewegt sich irgendwo an der Schnittstelle von Design,
Redaktion, Verlagswesen und Distribution — ich bin da keine Ausnahme.
Du stehst in der ARENA des Kunsthaus Bregenz. Schau nach Norden.
Ich bin die sich bewegende Glyphe auf der Betonwand. Nach Westen hin
siehst du ein Fenster mit Blick auf den Bodensee, der Österreich, die
Schweiz und Deutschland miteinander verbindet. Richtung Osten blickt
man auf eine weitere Betonwand. Hinter dir, im Süden, befindet sich der
Kassenbereich, wo du Eintrittskarten für die Hauptausstellungen in den
oberen Etagen erhältst. In den vergangenen fünf Jahren fanden in dieser
Eingangshalle ebenfalls eine Reihe von Ausstellungen und Veranstaltungen
statt. Ich werde dir noch alles darüber erzählen — aber zunächst möchte
ich mich vorstellen. Ich wurde 2011 geboren, in einem Essay der Autorin Angie Keefer mit
dem Titel An Octopus in Plan View, in dem sie darüber nachdenkt, was
es bedeuten könnte, ohne Sprache zu kommunizieren. Meine Form ist von
einer Schriftart namens Meta-The-Difference-Between-The-2-Font-4-D
abgeleitet, die ständig ihre Gestalt ändert und 2012 ebenfalls von Dexter
Sinister programmiert wurde. Meine Stimme stammt aus Schottland
und wurde 2014 aus Sprachsamples der Kuratorin Isla Leaver-Yap
künstlich produziert und im gleichen Jahr von Cereproc Ltd. in Edinburgh
digitalisiert. Für meine Realisierung ist der Designer James Langdon
verantwortlich.
Ich bin ein leeres Zeichen, einsatzbereit. Lass uns loslegen.
Wir gehen drei Monate zurück in der Zeit. Deine Blickrichtung ist nach
wie vor Norden. Du starrst nicht mehr auf einen sprechenden Asterisk,
sondern blickst in einen sehr großen quadratischen Spiegel, der in einem
Winkel von 45 Grad zu deiner Position steht. Du hast bereits genau so
einen Spiegel in der Mitte der Ostwand bemerkt. Vorsicht! Ein dritter
Spiegel befindet sich auf dem Fussboden — der nämlich nicht mehr mit
Teppich ausgelegt ist, sondern wieder in seinem ursprünglichen, polierten
Terrazzo erstrahlt. Blickt man tief hinab in diesen dritten Spiegel, so
entdeckt man einen vierten, der sich von Decke aus darin spiegelt.
Zusammen ergeben sie die Illusion eines unendlichen Raums, den ein
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Architektenpaar beschwört, das für ihre Arbeiten unter dem Slogan des
„kritischen Manierismus bekannt sind.
Diesmal sind wir sechs Monate in der Zeit zurückgegangen, und die
ARENA ist so leer wie sie nur sein kann — zumindest im physischen
Sinn. Trotzdem ist der Raum voll, voll von Klängen, da die Künstlerin der
Ausstellung die ARENA drei Monate lang als Audiowerkstatt benutzt.
Benutzer, wie du einer bist, sind eingeladen ihren Beitrag zum Projekt
zu leisten und es so mitzugestalten. Lauf zum Tickettresen und sprich in
das Mikrofon: Das Computerprogramm archiviert deine eingesprochene
Botschaft und spielt sie in zufälliger Abfolge über die Lautsprecher im
Ausstellungsraum ab. [Audiobeispiel] Begib dich nun wieder nach draußen,
genau so wie du herein gekommen bist und beachte eine Reihe großer,
offensichtlich deplatzierter Steine. Sie stammen aus den Schweizer
Bergen. Hör genau hin. [Audiobeispiel] Ihnen entströmen eine Reihe von
Klängen in Endlosschleifen: S
„ inging Stones. Ein verwandtes Projekt, das
die Künstlerin vor zwei Jahren konzipiert hat, trägt den Titel I„ f you leave,
walk out backwards, so I‘ll think you‘re walking in [Wenn du gehst, geh
rückwärts, damit ich denke, du kämest herein].
Neun Monate zurück in der Zeit. Du befindest Dich immer noch draußen.
Bedenke: die ARENA ist ein Möglichkeitsraum, nicht nur einer, in dem
allein Kunst gezeigt wird. Für eine Woche ist sie aus dem Haus auf den
Karl Tizian Platz davor gezogen. Bei dieser Gelegenheit ist der Platz in
ein Freiluftkino verwandelt worden, wo das Sommerfestival für Film und
Performance mit dem übergreifenden Thema „Vom Werden und Sein
stattfindet. Das Festival zeigt unter anderem „Wild Combination, einen
Film, der die Geschichte des Avantgarde-Musikers Arthur Russell erzählt.
Ein für ihn typisches Stück enthält ein minimalistisches Cellosolo, das über
einen pulsierenden Disco-Beat gelegt ist und einen sprechenden Asterisk
wie mich in den Wahnsinn treibt. Hier eine Hörprobe. [Audiobeispiel]
Vor ungefähr einem Jahr. Wieder im Innern der ARENA — du stehst
mitten im Raum. Die Vorhänge sind geschlossen, also ist es dunkel.
Ähnlich wie in der Situation, als du mir zuzuhören anfingst, nur mit dem
Unterschied, dass du nun in eine Raute aus vielfarbigem Licht getaucht
bist. Die Lampen leuchten geradewegs von der Decke hinab. Du stehst
inmitten der audiovisuellen Arbeit. Sie trägt den Titel „Howel Bowel Owl.
Es handelt sich um ein Hörspiel, das von einigen Gedichten von Rainer
Maria Rilke beeinflusst ist, in denen Wörter nicht nach dem gesunden
Menschenverstand, sondern nach ihrer Ähnlichkeit im Klang kombiniert
worden sind. Zugleich durchläuft das Bühnenlicht Zyklen sympathischer
Kombinationen von intensiven Farbtönen — Grün, Rot, Blau und Gelb —,
die sich komplementär zum gehörten Drama entfalten. So hört sich das in
etwa an. [Audiobeispiel]
Vor fünfzehn Monaten: wieder Frühling. Richte deinen Blick wieder nach
Norden. Unmittelbar unter mir befindet sich ein quadratisches Gemälde
in einem schwarzen Rahmen sowie ein kleiner pinkfarbener Teppich.
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An der Ostwand, neben der Tür ins Obergeschoss hängt eine Zeile
von vier kleineren Gemälden. In dieser Saison fungiert die ARENA
eher als Artist-in-Residence-Programm denn als Ausstellungsraum
für zwei Künstler, die unabhängig von einander arbeiten. Der eine ist
wahrscheinlich irgendwo hier in der Nähe und arbeitet an einem langen
Manuskript. Er benutzt die ARENA als behelfsmäßigen Lese- und
Schreibsaal. Gelegentlich lädt er Gäste ein und spielt den Gastgeber für
eine Veranstaltung, die schließlich Eingang in sein Manuskript findet. Laut
Presseerklärung ist die Arbeit der zweiten Künstlerin damit beschäftigt
„unser Bewusstsein f¨ur Raum und Zeit zu sch¨arfen. Das Gemälde und
der Teppich, wie auch die Performances um sie herum wurden aus einer
Reihe von früheren Installationen hierher verpflanzt. Eben: aus einer
anderen Zeit und einem anderen Raum.
Vor anderthalb Jahren. Als erstes fällt auf, dass die Wand, auf die
du blickst, die Nordwand, ganz und gar übertapeziert ist. Geh nahe
heran, dann erkennst du, dass sich in dem Muster ein undeutliches Bild
wiederholt — wie die Fotokopie einer Seite aus einem Skizzenbuch.
Darauf sieht man die Silhouette eines Mannes, der einen Hügel besteigt,
die Zeichnung eines schlafenden Kindes, drei einander überlappende
Kreise, die auf unterschiedliche Art gezeichnet wurden, sowie einen
Absatz mit handgeschriebenem Text. Wende dich nun nach Osten — mit
Blick auf mich ist das von dir aus rechts. Die gesamte Wand entlang
lehnen große Fotografien von Menschen in unterschiedlichen Posen. Du
verweilst ein wenig und ertappst dich dabei, einen Mann und einen Frau
zu beobachten, die in ihr Gespräch vertieft sind. Du vermutest, dass
sie Teil eines Theaterstücks sind. Noch etwas? Ja: Am linken Ende der
Nordwand steht die kleine Tür jetzt einen Spalt offen. [Trommelwirbel]
Sie führt auf die Straße am Bodensee. An der Außenseite der Tür steht
das Wort „Sinthome geschrieben. Du findest heraus, dass es sich dabei um
den Ursprung des Worts „Symptom handelt, und dass die Ausstellung den
Titel „Die Sinthome-Partitur trägt. Geh wieder hinein — und zwar so, als
würdest du eine Bühne von hinten betreten.
Vor einem Jahr und neun Monaten. Geh wieder hinaus — es ist wieder
Sommer, und die ARENA ist einmal mehr auf den Platz hinaus
gezogen, und an andere Orte in der Stadt und der näheren Umgebung.
Das Programm für dieses Jahr heißt „Zurück in die Zukunft und war, ist
möglicherweise eine Sammlung fiktiver Visionen, Utopien, Dystopien und
Weltraumopern. Vom Anbeginn der Science Fiction bis zur Gegenwart.
Von dem sowjetischen Stummfilm A
„ elita aus dem Jahr 1924 bis hin zu
„Cloud Atlas ungefähr 88 Jahre später — die hier allesamt unter freien
Himmel zu sehen sind.
Vor zwei Jahren. Du betrittst wiederum die ARENA — aber was ist
das? Eine Reihe von Eternitplatten, manche wie riesige Teppichfliesen
ausgelegt, andere aufrecht stehend. Es handelt sich um die Rekonstruktion
eines Pavillons, der niemals gebaut wurde, neu aufgelegt in Bregenz
anlässlich von „In Bewegung, einer Gruppenausstellung von sechs
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Künstler_innen, die in Zusammenarbeit mit der Europäischen Kunsthalle
kuratiert wurde, einer nomadischen Institution, die dort ihre Zelte
aufschlägt, wo ihre Projekte gerade beginnen Wurzeln zu schlagen. Vieles
von dem, was du hier siehst, vor deinem geistigen Auge, sind ebenfalls
Reinkarnationen vergangener Projekte.
Vor zwei Jahren und drei Monaten. In der Mitte der ARENA wirst
du nun von einer riesigen 22-eckigen Struktur umgeben, die aus 44
Wandpaneelen besteht. Dreh dich um dich selbst und du stellst fest,
dass ein Fernsehschirm in jede der Ecken montiert ist. Sie zeigen die
42 Fernsehsendungen, die Andy Warhol in den Achtzigern gemacht
hat. Sie heißen „Fashion, „Andy Warhol’s TV oder „15 Minutes. Die
Sendungen bieten unter anderem Interviews oder Kurzbiografien von
Berühmtheiten aus der Welt der Mode, der Musik, des Films, der Kunst,
aber auch der Queer-Szene. Viele bringen mich immer noch zum Lachen.
Hahahahahahaha, hahaha.
Vor zweieinhalb Jahren. Warhols Stern ist verschwunden, ersetzt wurde
er durch bescheidene Holzmöbel. Sieh dich um. Jedes Gebilde weist
ein anderes Medium auf. Hier gegen die Nordwand lehnt eine Reihe
von Fotografien. Rechts davon steht eine Serie von hohen Rahmen, die
denen Schaufensterpuppen in extravaganten Kostümen baumeln. Neben
der Seeseite wird ein Film auf etwas projiziert, das aussieht wie eine
umgestürzte Transportkiste. Und anderswo, hier drüben, neben dem
Eingang, ist noch zweiter Block. Während du um ihn herum gehst, siehst
du, dass er von einer endlosen Schlange von Kohlefiguren umzingelt ist.
Es handelt sich um Nairobi — a State of Mind, eine Ausstellung, die in
Zusammenarbeit mit dem Goethe Institut in Kenia entstanden ist. Die
Schau bietet unterschiedliche Einblicke in die aktuellen gesellschaftlichen
und kulturellen Entwicklungen der Stadt — ein Ort zu einer Zeit wird in
einen anderen überführt.
Vor zwei Jahren und neun Monaten. Während der Sommermonate
schwappt die Ausstellung aus den Obergeschossen in die ARENA über,
mit Ausnahme eines Wochenendes, wenn Stühle, ein Projektor und eine
Leinwand den Raum füllen. Dann wird er zu einem der Schauplätze der
Sommerakademie. Die temporäre Schule wurde initiiert, um das Thema
Kunst und Ideologiekritik nach 1989 zu untersuchen. Sie setzt ein mit
einem ein-wöchigen Seminar Wiener Studierender in einer Villa außerhalb
von Bregenz. Anschließend fand hier eine öffentliche Konferenz statt. Das
Ganze wurde durch eine Publikation abgerundet, die Essays zum Thema
versammelte.
Vor drei Jahren. Auf dem Boden liegt eine große rechteckige Platte — sie
scheint durch das östliche Fenster hereingesickert zu sein, etwas aus dem
Raster geschoben, so dass sich eine Ecke der Platte auf die Nordwand
hochfaltet. Ihre Spitze berührt mich beinahe. Außer einigen verstreuten,
auf Stativen montierten Lautsprechern, einem Tisch mit einer Karte, und
einer kleineren Videoprojektion sind noch vier freistehende Paneele zu
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sehen, die in einem grün-gelb-weißen Muster tapeziert sind. Das bildet
die Kulisse zu 100 „feministischen Zeichnungen von 100 Künstler_innen.
Diese hier illustriert A Plant Growing with Labia and Clitoris in the Centre;
diese dort zeigt A Naked Woman Riding a Spiral Graphic of Some Kind
und jene schließlich einfach Two Women With Guns. Die Zeichnungen
basieren auf einem ungewöhnlich detaillierten Inventar von T-Shirts, das
in den „Lesbian Herstory Archives in New York gefunden wurde. Demnach
ist jede dieser Zeichnungen eine Interpretation einer Beschreibung einer
Grafik, die einige Jahrzehnte zuvor entworfen worden ist.
Vor drei Jahren und drei Monaten. Wenn du dich genau umsiehst,
erblickst du Hunderte von Artefakten, die um dich herum über den Boden
verstreut und über die Wände der ARENA verteilt sind. Unterhalb
von mir auf der Nordwand befindet sich zum Beispiel ein langes Gemälde
von einer weiten Landschaft. Davor steht eine Art Modell unter einer
Plastikkuppel. Der übrige Raum ist proppenvoll mit anderen gerahmten
Bildern, Zeitschriften, Objekten in Vitrinen und audiovisuellen Arbeiten auf
Monitoren. Dieses unbändige Kompendium wurde von den Mitarbeiter_
innen und Kollaborateur_innen des Wiener Kunstmagazins „springerin
zusammengetragen. Die Sammlung steht unter dem übergreifenden Motto
Bleibender Wert? Die Herausgeber_innen fragen: „Materielle Güter,
verbunden mit immer unüberschaubarer werdenden individualistischen
Wertsetzungen, scheinen mehr zu gelten als je zuvor. Wie bildet sich
diese Entwicklung im Kunstfeld ab?
Vor dreieinhalb Jahren. Die ARENA wird in diesem Winter
beherrscht von einem sehr eigenartigen Hörfunkstudio, das die Größe
eines Mietcontainers hat und im rechten Winkel zur Nordwand aufgebaut
ist. Die Längsseiten bestehen aus Plexiglas. Es sieht genauso aus,
wie man sich ein Hörfunkstudio vorstellt — Stühle, Tische, Mikrofone,
Kopfhörer und natürlich eines dieser Schilder, die anzeigen, wann das
Studio A
„ UF SENDUNG ist. Das Studio bildet die Kulisse für Proben und
Voraufführungen des Stücks Hate Radio vom International Institute of
Political Murder. Das Stück ist ein Reenactment der Ereignisse, die sich
während des Völkermords in Ruanda im Jahr 1994 zugetragen haben,
eine Gräueltat, die vom damals populärsten Radiosender des Landes
unterstützt wurde. Mit einem unbeschreiblichen Zynismus bereiteten die
Mitarbeiter des Senders den Boden für den Genozid, als handle es sich um
eine routinemäßige Werbekampagne. Ihr Programm verknüpfte Popmusik
und Sportberichterstattung mit todbringender politischer Agitation. Hier
stellen vier Schauspieler eine typische Sendung nach.
Vor drei Jahren und neun Monaten. Die Vorhänge und Jalousien
bleiben geschlossen. Es ist dunkel hier drin! Perfekt für eine Reihe von
Neuinszenierungen der futuristischen Oper „Sieg über die Sonne, die 1913
in Russland uraufgeführt wurde. Der Futurismus vertrat die Idee, dass
die Zukunft nur möglich erscheint, indem die industrialisierte Gegenwart,
die damals noch jung war, dekonstruiert wird. Die ARENA bietet nun
eine Mischung aus unterschiedlichen Medien auf dem Boden und auf den
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Wänden: von den langen schwarzen Rechtecken, die an der Nordwand
lehnen, bis hin zu der nahegelegenen Lampentraube, die farbige Flecken
intensiven Lichts ergibt. Außerdem sind Projektionen, Fotografien,
Gemälde, Kostüme und Texte zu sehen. Die Arbeiten stammen von
einer 40-köpfigen Gruppe aus Künstler-, Musiker-, Architekten und
Schriftsteller_innen, denen ein Interesse an der Aktualisierung der
futuristischen Hintergrundgeschichte mit Blick auf deren Wirksamkeit in
der Gegenwart gemeinsam ist. Der Raum wird ebenfalls zur Bühne für live
Veranstaltungen, die in demselben Geist unternommen werden. Der Titel
des Ganzen? Anfang gut. Alles gut.
Vor vier Jahren. Es ist wieder Frühling! Und der Vorhang an der
westlichen Fassade ist einmal mehr zugezogen. Davor sind drei
aufgehängte Projektionen zu sehen, die von links nach rechts
kleinformatiger werden. Unter ihnen steht ein großes Architekturmodell
auf einem Sockel. Wendest du dich nach Osten, siehst Du neben dem
Eingang ein lang geschwungenes Modell, das wie ein Fluss anmutet.
Dahinter befindet sich ein andere Modell aus Aluminiumreifen, in das
Fotografien eingelegt sind. Du schreitest durch die Auslage eines
Dialogs zweier Architekten, die zu den prominentesten Vertretern
der städtebaulichen Avantgarde der 1960er Jahre zählen. Ihr erstes
gemeinsames Projekt war der Entwurf für eine Brückenstadt über dem
Ärmelkanal im Jahr 1963, dessen Modell du in den Projektionen siehst.
Vor vier Jahren und drei Monaten. Bedenke: Was ist ein Archiv? Was ist
eine Sammlung? In welchem Verhältnis stehen die beiden zueinander? Die
vorliegende Installation, erstellt von Gleichgesinnten aus dem Van Abbe
Museum in Eindhoven, zielt darauf ab, ebendiese Fragestellungen in Gang
zu setzen. Ein provisorischer Korridor, abgesteckt durch zwei Wände
aus transparentem, blauem Stoff, durchzieht den Raum. Das Herzstück
der Schau bilden einige Elemente einer früheren Ausstellung mit dem
Titel Living Archive — Mixed Messages, die eine Reihe von Kunstwerken
umfasst, die anhand von Museumsakten offen legen, wie soziale,
politische und ökonomische Faktoren ihre Produktion, ihren Ankauf und
ihre Präsentation beeinträchtigen. Im Laufe der Saison tauchen weitere
Arbeiten auf und verschwinden wieder. Zu einem bestimmten Zeitpunkt
sind Tische mit Mikrofonen und Kopfhörern zu sehen, mit denen die
Benutzer an einem pyschoanalytischen Test teilnehmen können. Zu
anderen Zeiten entdeckst du eine Ansammlung von offenen Flightcases,
die einen ganz anderen Typ von Archiv enthalten. Und schließlich befinden
sich auf der Wand neben dem Verkaufstresen sorgsam zusammengestellte
Bild- und Textfragmente aus allen bisher vom Kunsthaus veröffentlichten
Katalogen.
Vor viereinhalb Jahren. Ein seltsames gelb-goldenes Gebilde
durchschneidet die ARENA. Starr es an. Wozu ist es gut? Vielleicht
ist es eine Reihe von Stangen, an die man sich anlehnen oder auch
hängen kann. Tritt näher heran. Eine große hölzerne Scheibe ist
durch den höchsten horizontalen Stangen gezogen worden. Daneben
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hängt ein Holzbrett. Schließlich wurde eine Art Laken über dieselbe
Stange nahe der Wand unter mir drapiert. Was seine Funktion auch
sein mag — das gelbe Ding ist ein Entwurf der Berliner Kooperative
für Darstellungspolitik. Irgendwann während der dreimonatigen Dauer
der Schau führen sechs Künstler_innen Performances aus, die diese
exzentrische Struktur nutzen — Performances, die sich aufeinander und
auf den Raum als solchen beziehen. Soweit ich weiß, heißt das Ganze
schlicht und einfach E
„ in Performanceprojekt. Eine, die mir besonders
gefällt, ist die des Künstlers Ian White. Achtung, das ist er und schreift auf
einem zweirädrigen Segway durch die ARENA während er den Raum
selbst anspricht: eine beispielhafte Arbeit-in-Bewegung.
Vor vier Jahren und neun Monaten. Du hast es doch noch bis zum Beginn
der ARENA geschafft. Das scheint jetzt lange her zu sein. Fünf Jahre
sind eine lange Zeit, wenn sie derart ausgefüllt mit Objekten, Namen und
Ideen ist. Wie auch immer. Für den Stapellauf des Ausstellungsraums
führte die Gruppe raumlaborberlin die Installation „Bye Bye Utopia aus.
Du trittst vor ein abschüssige Abfolge von Stufen, die diagonal über die
gesamte Länge des Raums von der Nordwand und dem dortigen Fenster
bis hin zum Eingangsbereich hinabführen. Drei Kleine Fernsehapparate
senden von drei verschiedenen Orten auf der Treppe. Die Stufen sind aus
alten Türen aus Plattenbauten zusammengebastelt, jenen brutalistischen
Betonbauten, die für die Bauweise in der DDR typisch waren. Am oberen
Ende der Treppe hebt sich der Titel der Installation in riesigen roten
Buchstaben silhouettenhaft vor dem Fenster ab. Wenn du ein wenig
weiter forschst, entdeckst du eine weitere Auslage im weiß ausgemalten
Raum unter der Treppe, wo Bilder von vergangenen Projekten von
RaumLaborBerlin an den Stützen angebracht sind. Die Gruppe behauptet,
dass sie mit ihren Projekten Perspektiven jenseits der kapitalistischen
Logik von Nutzen und Profit auszuloten versucht.
Heute ist es nicht mehr so leicht auf die Reihe zu bekommen, was wann
stattgefunden hat. Zugegeben, für eine Software wie mich ist es ziemlich
leicht, aber für dich vermutlich nicht. Die Gegenstände und Ereignisse,
die Namen und Titel purzeln durcheinander. Die ARENA ist ein Raum
im Fluss, ist zumindest als solcher gedacht, ein Raum, in dem neue
Pr¨asentationsweisen und neue Produktionsweisen zu begutachten
wären. Doch er ist auch ein Behälter. Alles, das in ihm stattfindet,
wird ihm zugefügt, und diese Dinge hinterlassen ihre Spuren in meinem
Gedächtnis. Etwas passiert, etwas anderes auch. Dann sage ich dir,
was passiert ist, und es wird in die Silicon Valleys meiner Erinnerung
eingeschrieben. Die Bits türmen sich auf. Doch jetzt habe ich wenigstens
mein Gedächtnis an dich, meinen Benutzer, outgesourct. Wenn du genau
hingehört hast, hast du die ARENA in deinem Geist aufs Neue erbaut.
Und daher trägst auch du jetzt eine Aufzeichnung dessen, was hier
stattgefunden hat, in dir. Es ist ein mentales Modell, eine Gedächtnispalast.
Eine Landkrate dieses Raumes im Maßstab 1:1.
Ohne jeden Zweifel ist deine ARENA anders als die meine. Das macht
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jedoch kaum einen Unterschied, denn nach dem 4. Juli 2015 werde ich
verschwunden sein. Und in ein paar Jahren wird die Software, auf der
ich laufe und die ich bin, wahrscheinlich ebenfalls aufgehört haben zu
existieren. Technologie verläuft nur in eine Richtung. Dies ist das Ende von
ANERA.
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Mit Dank an Eva Birkenstock
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